IMPRESSUM

BACCARA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2019 by Janice Maynard
Originaltitel: „A Contract Seduction“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: DESIRE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARA
Band 2122 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Victoria Werner

Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733726072

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

 

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

1. KAPITEL

Ein Tumor. Inoperabel. Bösartig.

Jonathan Tarleton umfasste das Steuer seines Wagens fester und starrte durch die Windschutzscheibe, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Der Verkehr auf dem Autobahnring fünfhundertsechsundzwanzig, der die Stadt Charleston umgab, war um die Mittagszeit nur schwach. Dennoch wäre es wahrscheinlich besser gewesen, nicht selbst zu fahren. Ganz zweifellos stand er unter Schock.

Er wollte nur noch eines: nach Hause.

Um allein zu sein. Um das Unvorstellbare zu begreifen.

Glücklicherweise hatte seine Schwester vor Kurzem geheiratet und lebte jetzt bei ihrem Mann, Jonathans bestem Freund. Wäre er Mazie in dem großen Haus am Strand über den Weg gelaufen, hätte sie sofort gewusst, dass etwas nicht stimmte. Sie beide standen sich sehr nah.

Unter normalen Umständen hätten weder Jonathan noch Mazie in dem Haus gelebt, in dem sie beide aufgewachsen waren, aber ihr Vater wohnte allein dort und wurde von Tag zu Tag schwächer. Obwohl etliche seiner Freunde inzwischen in Seniorenresidenzen gezogen waren, wo sie Gesellschaft hatten und eine gute medizinische Versorgung, klammerte Gerald Tarleton sich an sein Haus auf der Düneninsel.

Jonathan fuhr den Wagen auf den Parkplatz unter dem Haus und legte für einen Moment die Stirn auf seine Hände. Er hatte Angst. Und er war wütend. Wie sollte das alles gehen? Er war verantwortlich für die Reederei seiner Familie. Der Name seines Vaters stand zwar noch auf dem Briefkopf, aber die gesamte Verantwortung lastete allein auf Jonathans Schultern.

Sein Zwillingsbruder hätte hier sein sollen, um ihm zur Seite zu stehen, aber Hartley war verschwunden – nachdem es ihm auf unerklärliche Weise gelungen war, das Firmenkonto um eine Million Dollar zu erleichtern. Sein Vater hatte Hartley daraufhin aus dem Testament gestrichen. Seither wurde er in der Familie nicht mehr erwähnt.

Der Betrug hatte Jonathan schwer getroffen. Es war ein Schmerz, der an ihm fraß wie der Krebs an seinem Körper. Er und sein Vater waren die Einzigen, die wussten, was passiert war. Sie behielten es für sich, weil sie Mazie nicht das Herz brechen wollten. Nichts sollte das Bild von ihrem großen Bruder trüben.

Mit bebender Hand stellte Jonathan den Motor ab. Kaum war die Klimaanlage ausgeschaltet, drang die Hitze ins Wageninnere. Jonathan war das Klima South Carolinas von klein auf gewohnt, aber die Sommerhitze konnte auch für ihn brutal sein.

Er stieg aus dem Wagen und ging nach oben zum Haus. Aus Sicherheitsgründen hatten die Tarletons zwei komplett ausgestattete Büros im Haus, zusätzlich zu denen in der Firmenzentrale. Diese Regelung verschaffte Jonathan oft die nötige Ruhe zum Arbeiten und ermöglichte es ihm, während der Arbeitszeit ein Auge auf seinen Vater zu haben. Gelegentlich war dieses Arrangement für sein Privatleben etwas hinderlich, aber er hatte ein Apartment in der City, in dem er Zuflucht finden konnte.

Für einen Mann von einunddreißig – fast zweiunddreißig – war sein Sozialleben ein Witz. Hin und wieder hatte er einmal ein Date, aber nur wenige Frauen hatten Verständnis dafür, dass er so viel Zeit in die Arbeit investierte. Das Familienunternehmen war für ihn gleichermaßen Fluch und Segen. Er konnte sich schon gar nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal wirklich etwas für eine Frau empfunden hatte, weder körperlich noch sonst wie.

Er brachte dieses Opfer gern. Er war stolz auf das, was die Tarletons geschaffen hatten. Stolz und fest entschlossen, die Firma auch weiterhin auf Erfolgskurs zu halten.

Im Wohnzimmer blieb er kurz stehen, um einen Blick durch das riesige Panoramafenster auf das Meer zu werfen, das im Licht der Junisonne glitzerte. Der Ausblick hatte sonst immer etwas Beruhigendes, nicht aber an diesem Tag.

Die unendliche Weite des Meeres erschien ihm im Moment wie Hohn. Menschen waren nur winzige Staubkörner im Kosmos – ein Nichts in Anbetracht der grenzenlosen Weite des Universums.

All diese Klischees enthielten einen Funken Wahrheit. Im Angesicht des eigenen Todes bekam alles eine andere Bedeutung. Die Zeit, die einem für gewöhnlich zwischen den Fingern zerrann, war plötzlich wertvoller als alles andere.

Wie lange hatte er noch? Der Arzt gab ihm sechs Monate. Vielleicht mehr, vielleicht auch weniger. Wie sollte Jonathan es seiner Schwester sagen? Und seinem Vater? Was wurde aus der Firma, dem Vermächtnis seiner Familie? Mazie hatte ihre eigenen Interessen, ihr eigenes Leben.

Wenn Jonathan und Gerald nicht mehr da waren, war Mazie die Alleinerbin des Unternehmens. Bisher hatte sie nie Interesse an Tarleton Shipping bekundet. Vielleicht würde sie verkaufen. Möglicherweise war das am besten. Das Ende einer Ära.

Der Gedanke schmerzte ihn mehr, als er zu sagen vermocht hätte. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, wie sehr er an der Firma hing. Seine Arbeit war nicht einfach ein Job für ihn. Es war sein Geburtsrecht, die Firma zu führen, und die Firma war ein Symbol für die Bedeutung seiner Familie in der Geschichte von Charleston.

Jonathan fand seinen Vater schlafend in einem Sessel im Wohnzimmer vor. Er weckte ihn nicht, weil ihm im Moment nicht der Sinn nach Fragen stand. Außerdem hatte er höllische Kopfschmerzen.

Diese Schmerzen hatten vor ungefähr einem Jahr begonnen. Zunächst kamen sie nur sporadisch, dann häufiger. Ein Arzt meinte, es sei nur Stress. Ein anderer hielt sie für Migräneattacken.

Er hatte wohl ein Dutzend Medikamente ausprobiert und wieder abgesetzt, weil sie alle nichts brachten. Heute hatte der Arzt ihm ein paar Tabletten zum Testen mitgegeben, zusammen mit einem Rezept, falls er mehr brauchte. Er könnte jetzt eine nehmen, sich hinlegen und mit etwas Glück über die Schmerzattacke hinwegschlafen.

Aber das war natürlich keine Lösung.

Dennoch: Die Vorstellung, wenigstens für eine Weile Schlaf zu finden, war fast unwiderstehlich. Er hatte einfach genug von diesem Tag. Aber als er in die Küche kam, siegte die Vernunft: Er ließ sich ein Glas Wasser einlaufen und spülte damit ein paar schmerzlindernde Tabletten hinunter.

Er trug Verantwortung. Eine Verantwortung, die er nicht einfach abtun konnte. Das Einzige, was sich geändert hatte, war die Zeit, die ihm blieb.

Jonathan funktionierte am besten unter Druck. Sobald er an einem Projekt saß und einen festen Termin vor Augen hatte, lief er zu Höchstform auf. Der Adrenalinkick trieb ihn dazu, härter zu arbeiten, als er musste.

Diese Fähigkeit würde ihm in den kommenden Monaten vielleicht helfen.

Verdrossen lehnte er sich gegen die Arbeitsplatte – und traf die erste Entscheidung nach der Diagnose: Er wollte zunächst einmal alles für sich behalten. Es bestand kein Anlass, Familie und Freunde zu beunruhigen. Sie sollten nicht um ihn trauern – dazu blieb Zeit genug, wenn er nicht mehr da war. Im Moment wollte er einfach nur den Status quo erhalten.

Zuerst einmal musste er einen Plan machen. Einen guten Plan. Vage, von Verzweiflung getriebene Ideen rasten ihm durch den Kopf, eine verrückter als die andere. Es musste eine Lösung geben. Er konnte nicht einfach in den legendären ewigen Sonnenuntergang reiten und alles sich selbst überlassen.

Lisette Stanhope gab den Code der Alarmanlage ein und wartete darauf, dass die großen Tore zur Seite glitten, bevor sie langsam auf das Grundstück der Tarletons rollte. Obwohl sie bereits seit sechs Jahren für Jonathan Tarleton arbeitete, bewunderte sie das Haus seiner Familie jedes Mal aufs Neue.

Die Tarletons lebten seit Jahrzehnten am Ende einer kleinen Düneninsel im Norden von Charleston. Die sechs Hektar Land boten mehr als genug Platz für das Haupthaus und die Nebengebäude.

Ein imposanter schmiedeeiserner Zaun begrenzte das Grundstück auf der Landseite. Das Haus wurde durch eine große Mauer vor dem Wasser geschützt. Der Strand selbst war öffentlich, aber niemand konnte von dort aus in das Grundstück der Tarletons eindringen, sei es aus Neugier oder aus gefährlichen Motiven. Hurrikans und die Erosion verursachten horrende Kosten für den Erhalt der Mauer, aber der derzeitige Patriarch der Familie war von Natur aus paranoid und misstrauisch, daher war die Sicherheit ihm jeden Cent wert.

Als Lisette Jonathans Wagen auf dem Parkplatz stehen sah, geriet ihr Entschluss ins Wanken. Normalerweise war er zu dieser Zeit nicht zu Hause. Sie hatte vorgehabt, schnell ins Haus zu schlüpfen, Gerald Hallo zu sagen und dann den Umschlag auf Jonathans Schreibtisch zu legen.

Sie hätte ihm den Umschlag natürlich auch in der Firmenzentrale hinterlassen können, wo sie die meiste Zeit arbeitete, aber dieser spezielle Vorgang verlangte eine gewisse Diskretion. Die Entscheidung, ihre Stelle zu kündigen, verursachte ihr Magenkrämpfe. Jonathan würde entweder aufgebracht oder verständnislos reagieren – oder beides.

Er würde eine Erklärung verlangen. Natürlich. Sie hatte sich auch schon ihre Worte zurechtgelegt. Routine. Neue Herausforderungen. Mehr Zeit zu reisen. Vor dem Badezimmerspiegel hatte es fast glaubhaft gewirkt. Was ihr zusetzte, war die Tatsache, dass Jonathan und seine Familie sehr gut zu ihr gewesen waren.

Lisettes Mutter hatte einen Schlaganfall gehabt, als Lisette noch studierte. Fast sieben Jahre lang hatte Lisette zwei Jobs gehabt und es dennoch nur mit Mühe geschafft, das Essen für sie beide auf den Tisch zu bringen und das Heer der Frauen zu bezahlen, das sich um ihre Mutter kümmerte.

Vor sechs Jahren hatte sie dann den Job bei Tarleton Shipping bekommen. Das großzügige Gehalt und die Zulagen lösten ihre finanziellen Probleme und ermöglichten es ihr, sich auch selbst intensiv um ihre Mutter zu kümmern.

Im vergangenen Herbst hatte ihre Mutter einen zweiten Schlaganfall bekommen und war kurz darauf gestorben. Jonathan hatte darauf bestanden, dass Lisette sich Zeit nahm, um zu trauern und sich um die Angelegenheiten ihrer Mutter zu kümmern. Nicht viele Firmeninhaber wären derart großzügig gewesen.

Und nun war Lisette drauf und dran, sich für Jonathans Fürsorge zu revanchieren, indem sie die Firma verließ … Genauer: indem sie ihren Boss verließ.

Es würde ihn überraschen, aber sie hatte keine andere Wahl.

Sie wollte eine Familie haben – einen Mann und ein Kind und ein ganz normales Leben. Wenn sie sich noch ein weiteres Jahr oder zwei oder fünf nach ihrem Boss verzehrte, half ihr das nicht, diesem Ziel näher zu kommen. Sie hatte sich in Jonathan verliebt, aber er hatte nie in irgendeiner Weise auch nur angedeutet, dass er ihre Gefühle erwiderte. Sie musste irgendwo anders neu anfangen, wenn sie eine Chance haben wollte, Jonathan endlich zu vergessen und einen anderen Mann kennenzulernen. Ihr Privatleben lag nun schon seit Ewigkeiten auf Eis. Sie wusste gar nicht, wie sie es anfangen sollte, neu durchzustarten, aber genau das musste sie tun, wenn sie ihren Traum verwirklichen wollte.

Der Mut drohte sie zu verlassen. Sie wollte Jonathan jetzt nicht gegenübertreten. Schuldgefühle und wirre andere Gefühle konnten ihren Plan noch gefährden.

Sie gab den Türcode ein, öffnete die Tür und betrat das Haus. Es war vollkommen still. Vielleicht war Jonathan doch nicht zu Hause. Vielleicht war er bei Mazie und J. B. Die Frischvermählten hatten gern Gäste.

Es überraschte sie nicht, Gerald Tarleton schlafend in seinem Lieblingssessel vorzufinden. Lisette huschte auf Zehenspitzen an ihm vorbei, um ihn nicht zu wecken. Falls Jonathan tatsächlich nicht im Haus war, konnte sie ja vielleicht doch unbemerkt ihren Umschlag hinterlegen und wieder verschwinden.

Im ersten Stock befanden sich die Privaträume der Familie. Das Erdgeschoss war Gerald vorbehalten, außerdem waren dort zwei Räume als Büros ausgestattet worden. Das kleinere war Lisettes Reich. Sie hatte als Buchhalterin bei Tarleton Shipping begonnen, war dann aber rasch aufgestiegen, bis sie vor drei Jahren Jonathans persönliche Assistentin geworden war. Ihre Aufgabe war es, ihm den Rücken frei zu halten.

Und das machte sie gut. Sehr gut sogar.

Rasch vergewisserte sie sich, dass niemand in den Büros war. Ihre Anspannung stieg. Sie holte den zerknitterten Umschlag aus der Tasche. Die Tür zwischen den beiden Büros stand offen.

Am vergangenen Abend hatte sie wohl ein Dutzend Entwürfe verfasst und wieder verworfen. Eine Kündigung per Brief war ziemlich feige, das musste sie zugeben. Jonathan hätte es verdient, dass sie ihm ihre Gründe persönlich darlegte, aber das konnte sie nicht. Sie fürchtete, er würde versuchen, sie umzustimmen.

Ihr brach der Schweiß aus. Wenn sie den Brief erst auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, gab es kein Zurück mehr. Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging Richtung Schreibtisch … als sie plötzlich eine männliche Stimme hinter sich hörte.

„Lisette! Was machst du denn hier?“

Sie fuhr herum und ließ den Umschlag dann schnell in ihrer Tasche verschwinden. „Jonathan! Du hast mich erschreckt. Ich dachte, du bist nicht da.“

Er lächelte leicht. „Ich wohne hier“, erinnerte er sie.

„Natürlich.“ Sie rieb ihre feuchten Hände an ihrem Rock ab. „Da du nicht im Büro warst, dachte ich, ich fahre her. Für den Fall, dass du mich brauchst.“ Die Lüge kam ihr leicht über die Lippen.

Jonathan schien ihre Nervosität nicht zu bemerken. Erst jetzt sah sie, wie bleich er war. Er wirkte angespannt, irgendwie anders als sonst.

„Jonathan? Stimmt etwas nicht?“ Er konnte doch wohl nicht geahnt haben, was sie vorhatte, oder?

„Es war nicht gerade ein guter Tag.“

„Das tut mir leid. Kann ich irgendwie helfen?“ Vielleicht bewahrte das Schicksal sie gerade vor richtig schlechtem Timing. Jonathan sah nicht aus, als hätte er mit Gleichmut auf ihre Kündigung reagiert.

„Ich weiß es nicht.“ Er wirkte wie benommen.

Nun begann sie sich Sorgen zu machen. Der Jonathan, den sie kannte, war immer hellwach und entscheidungsfreudig. Ein brillanter Boss, der sein Unternehmen mit starker Hand führte, dabei aber fair war.

Sie strich ihm spontan über den Arm. „Was ist los? Haben wir das Geschäft mit Porter verloren?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“ Er ordnete ein paar Papiere auf dem Schreibtisch. „Ich habe dir gestern Abend ein paar Mails weitergeleitet. Kümmere dich doch bitte darum. Dann könnte ich dir noch ein paar Briefe diktieren.“ Er verzog das Gesicht und fasste sich an den Kopf. Ihr fiel auf, dass er noch blasser geworden war.

Lisette wusste von seinen Kopfschmerzen. Sie arbeiteten eng zusammen, und sie ahnte, dass er bereits seit Monaten unter diesen Schmerzen litt.

„Hast du etwas genommen?“, fragte sie ruhig. „Ich sehe doch, dass du Schmerzen hast.“

Seine Miene sprach Bände. „Ja, aber es ist noch nicht lange her.“

„Wieso gehst du nicht nach oben und legst dich hin? Du kannst die Telefonate auf meinen Apparat umleiten lassen. Ich hole dich, falls etwas Dringendes ist.“

Sogar unter Schmerzen und sichtlich mitgenommen, war Jonathan Tarleton immer noch ein attraktiver, gut aussehender Mann. Er hatte die Aura absoluter Selbstbeherrschung. Ihn jetzt so verletzlich zu sehen, beunruhigte sie.

„Eine Stunde“, sagte er widerstrebend. „Nicht mehr. Ich stelle den Wecker auf meinem Smartphone.“

Langsam stieg Jonathan die Treppe hinauf. Die Wahrheit drang Stück für Stück zu ihm durch. Dieser Zustand würde nicht besser werden. Er konnte eine weitere Meinung einholen, aber wozu? Er war schon bei so vielen Ärzten gewesen. Nach dieser letzten Untersuchung hatte er nun eine eindeutige Diagnose erhalten.

Er fluchte leise, als er sein Schlafzimmer erreichte, und gestand sich ein, dass er die Tabletten wirklich brauchte. Er musste klar denken können, aber im Moment fühlte sich sein Kopf an, als spielte in seinem Hirn jemand Schlagzeug.

Sobald er sich auf dem Bett ausgestreckt hatte, lag er ganz still und wartete darauf, dass die Wirkung der Tabletten einsetzte. Das Wissen, dass Lisette unten im Haus war, half. Er schlief nicht, ließ seine Gedanken aber wandern. Allmählich entspannte er sich. Stress war ein Killer. Die Ironie entging ihm nicht.

Der Gedanke an Lisette war gleichermaßen beruhigend wie erregend. Sie war jetzt schon seit Langem ein fester Bestandteil seines Lebens. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, aber sein striktes Gefühl für Ethik untersagte es ihm, sich davon etwas anmerken zu lassen. Sie waren Kollegen, nicht mehr. Gelegentlich bedauerte er es, aber jetzt sollte er froh darüber sein. Er brauchte jemanden an seiner Seite, der das, was da auf ihn zukam, objektiv betrachten konnte.

Lisette war eine sehr ausgeglichene Person. Ihre Kompetenz und die Fähigkeit, in Krisen einen kühlen Kopf zu bewahren, hatten ihn gleich für sie eingenommen. Er wusste, dass auch vertrauliche Informationen bei ihr gut aufgehoben waren, ob sie Verhandlungen betrafen oder Finanzielles.

Mancher Mann hätte Lisette vielleicht übersehen. Ihr braunes Haar und ihre ruhige Art machten sie unauffällig. Sie hatte einen weiblichen Körper, aber sie betonte ihn nicht. Ihr ansprechendster Zug war ihr Verstand. Sie war eine ständige Herausforderung für ihn. Er wusste, dass sie ihm absolut ebenbürtig war, auch wenn sie stets darauf achtete, ihre Grenzen nicht zu überschreiten.

Es hätte Jonathan nichts ausgemacht, wenn sie es getan hätte. Er wusste, sie konnte bei jeder anderen Firma einen guten Job bekommen. Um ihr zu zeigen, wie sehr er sie schätzte, erhöhte er ihr Gehalt in regelmäßigen Abständen. Außerdem übertrug er ihr zunehmend mehr Verantwortung, nachdem sie ihre Loyalität zu Tarleton Shipping mehr als hinreichend bewiesen hatte.

Langsam wich die Anspannung aus seinen Muskeln. Der stechende Kopfschmerz ließ nach. Als er anfing, sich wieder halbwegs als Mensch zu fühlen, kam ihm plötzlich eine Idee.

Was, wenn er Lisette bat, ihn in den nächsten Monaten zu vertreten, falls er ausfiel? Die Schmerzen waren unberechenbar und konnten aus heiterem Himmel auftreten. Wenn Lisette die Befugnis hatte, Entscheidungen für die Firma zu fällen, konnte er sich vielleicht etwas entspannen.

Noch besser: Was, wenn sie in der Lage wäre, Tarleton Shipping für die nächste Generation zu erhalten? Sie hatte den nötigen Verstand dazu und wusste mit den Mitarbeitern umzugehen. Die Firma bedeutete ihr etwas. Es war nicht einfach nur ein Job.

Auf diese Weise konnte er es noch eine Weile hinauszögern, seiner Familie die Wahrheit zu sagen. Die Aussicht, den Menschen, die er liebte, Schmerz zuzufügen, war ihm extrem unangenehm. Wie konnte er ihnen diese Nachricht zumuten? Sie konnte seinen Vater umbringen. Mazie und J. B. versuchten verzweifelt, ein Kind zu bekommen – sie brauchten ganz eindeutig keine zusätzlichen Probleme.

Der Arzt hatte gesagt, er habe vielleicht auch mehr als sechs Monate. Gutes Essen und viel Ruhe, das schien das Wichtigste zu sein. Jonathan war bereit zu kämpfen, aber er hatte keine guten Karten. Wenn eine Heilung ausgeschlossen war, dann konnte er nur hoffen, genügend Zeit zu haben, um seinen Nachlass zu regeln und die Zukunft der Firma zu sichern. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr erschien ihm Lisette als die beste Lösung.

Schließlich erhob er sich und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Nachdem er sich etwas Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, betrachtete er sich im Spiegel. Er hatte schon viele Schläge im Leben einstecken müssen, aber dies war mit Abstand der härteste. Sollte er Lisette einweihen? Er erwog das Für und Wider. Er wollte kein Mitleid, wollte nicht wie ein Kranker behandelt werden.

Sie mussten sich auf ein paar Regeln einigen. Und sie musste wissen, dass sie nicht gezwungen war, seinen Vorschlag anzunehmen. Falls sie Nein sagte, würde er es auch allein schaffen.

Als er endlich auf Strümpfen wieder nach unten kam, waren fast zwei Stunden vergangen. Beide Büros waren leer. Er fand Lisette neben seinem Vater auf der Ottomane. Sie unterhielten sich. Es war ihr immer ein Bedürfnis, dem alten Mann das Gefühl zu geben, etwas Besonderes zu sein.

Gerald Tarleton war spät Vater geworden. Deswegen trug Jonathan schon mit einunddreißig die Verantwortung für ein riesiges Unternehmen. Sein Vater musterte ihn streng.

„Schlafen am hellichten Tag, Sohn? Ist das nicht eher etwas für mich?“

Jonathan setzte sich auf die Sofalehne. „Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen, aber jetzt fühle ich mich besser.“

„Wirklich?“ Lisette schien nicht überzeugt.

Er nickte. „Wirklich.“ Nach etwas Small Talk über das Wetter erhob Jonathan sich. „Du musst uns entschuldigen, Dad. Lisette und ich haben noch ein paar Sachen zu erledigen, bevor sie nach Hause fährt.“

„Natürlich. Ich muss mich sowieso noch darum kümmern, dass die Haushälterin das Essen fertig hat. Die Jungs kommen um sechs zum Pokern.“

Die „Jungs“ waren alle in Geralds Alter. Jonathan freute sich darüber, dass sein Vater noch soziale Kontakte pflegte. Sowohl Mazie als auch Jonathan hatten ihn immer wieder ermuntert, mehr aus dem Haus zu gehen. Im Winter war er ziemlich deprimiert gewesen, aber jetzt sah es schon besser aus.

Lisette folgte Jonathan zurück zu den Büros. „Ich habe alles erledigt, was du mir geschickt hast. Brauchst du heute sonst noch etwas? Falls nicht, dann sehen wir uns morgen früh in der Firma.“

Jonathan sah sie durchdringend an und vergaß für einen Moment seine übliche Reserviertheit. Lisette hatte alles, was er an einer Frau liebte, und mehr. Sie war hübsch, einfühlsam und witzig. Und unterschwellig sexy auf eine Art, die manchem Mann entgehen mochte. Was steckte hinter seinem Plan? Der Wunsch, das Familienunternehmen zu retten? Oder doch eher seine Libido?

Er wollte es herausfinden.

2. KAPITEL

Jonathan wusste, dies war eine Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen durfte. Lisette war außerhalb seiner kleinen Familie der einzige Mensch, dem er hundertprozentig vertraute. Er war bereit, nicht nur Firmengeheimnisse mit ihr zu teilen, sondern ihr die Zukunft des Unternehmens und sein persönliches Vermächtnis anzuvertrauen.

Der Plan konnte nur funktionieren, wenn Lisette voll dahinterstand. Sie musste sich ihrer Macht bewusst und bereit sein, sie auszuüben.

Im Grunde war das Ganze eine ziemliche Zumutung für sie. Vielleicht war es auch vollkommener Unsinn.

Lisette musterte ihn neugierig. Offenbar wirkte er doch nicht ganz so stoisch, wie er dachte.

„Ich muss mit dir reden“, sagte er schließlich. „Aber nicht hier. Es geht nicht um die Arbeit. Zumindest nicht nur.“

Ihre Neugier wich Verwirrung. „Wie meinst du das?“

Jonathan spürte, wie ihm heiß wurde. „Wenn es dir lieber ist, kann ich jemanden aus der Personalabteilung dazuholen.“

Sie riss die Augen auf. „Willst du mich feuern?“

„Großer Gott, nein! Bist du verrückt geworden? Wieso sollte ich die beste Mitarbeiterin entlassen, die ich je gehabt habe?“

„Worum geht es denn dann?“

Jonathan schluckte. „Gehst du mit mir essen?“, fragte er. „Wir fahren die Küste hinauf. Irgendwohin, wo uns niemand sieht. Die Sache, die ich mit dir besprechen möchte, ist brisant. Ich möchte dich aber nicht unter Druck setzen oder deine Freundlichkeit ausnutzen – du kannst selbstverständlich Nein sagen.“

Lisette schüttelte den Kopf. „Ich kenne dich nun schon sehr lange, Jonathan. Das Essen geht in Ordnung. Und wir brauchen niemanden dabei. Was auch immer du mir zu sagen hast, ist eindeutig wichtig. Ich bin gern bereit, es mir anzuhören.“

„Danke.“

Sie sah an ihrem ärmellosen Top und dem Khakirock herunter. „Kann ich so gehen?“

Er nickte. „Wir könnten auch ein Picknick machen, statt in ein Restaurant zu gehen.“ Das verringerte das Risiko, dass irgendjemand mithörte.

„Ganz wie du möchtest. Sollte ich fahren? Ich meine, wegen der Tabletten, die du genommen hast?“

„Nein. Diesmal nicht. Ich würde nie etwas tun, das dich in Gefahr bringt.“

Sie verabschiedeten sich von Gerald und verließen das Haus. Jonathan legte ein paar Strandstühle hinten in den SUV. Die Stimmung zwischen ihnen war angespannt. Lisettes Körperhaltung verriet ihre Unsicherheit. Dabei war es keine Hilfe, dass er nicht gut im Small Talk war.