Inhalt

Vorbemerkung des Autors

Der nachfolgende Roman beschäftigt sich mit einer Zeitspanne Teneriffas, die ähnlich düster war wie die der Eroberung der Insel und der Unterwerfung seiner Ureinwohner durch die Spanier.

Anders als die Eroberung überzog der Spanische Bürgerkrieg jedoch ganz Spanien mit blutigen Auseinandersetzungen.

Die damaligen Geschehnisse sind bis zum heutigen Tag nicht zu Ende erforscht. Wichtige Quellen blieben bewusst der Forschung verschlossen. Sie befinden sich zum Beispiel im Besitz einer Franco-nahen Stiftung, die sie nicht für Forschungszwecke freigibt.

Bei mehreren Lesarten der Abläufe habe ich für den Roman, ohne Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit, die für mich plausibelste gewählt und ausgeschmückt.

Die Schicksale der Familien Navarro und Moya wurden wirklichen Begebenheiten nachempfunden und in die realen Ereignisse eingebettet, um diese lebensnah und anrührend auszufüllen.

Dr. Volker Himmelseher

Spanien, Februar 1936, Wahlsieg der Volksfront

Spanien hatte gewählt. Die linke Volksfront aus Republikanern, Kommunisten und Sozialisten siegte, wenn auch nur knapp, weil erstmals die Gewerkschaften Confederación Nacional del Trabajo, CNT und Federación Anarquista Ibérica (FAI) die Wahlen nicht boykottierten, sondern zur Unterstützung des Linksbündnisses aufgerufen hatten. Der galizische General Francisco Franco sorgte ungewollt für die Initialzündung zu diesem Sieg. 1934 ließ er von seinen Truppen in Asturien auf brutalste Weise einen Bergarbeiteraufstand niederschlagen. 13 000 Tote und 30 000 Gefangene versetzten ganz Spanien in einen Schockzustand.

Die Volksfront versprach in ihrem Wahlkampf, dafür Sorge zu tragen, dass, sollte sie siegen, die Gefangenen sofort freikämen. Dies fand die Zustimmung der Gewerkschaften.

Diego Abad de Santillán, Mitarbeiter der FAI und späterer Wirtschaftsminister, erklärte den darauffolgenden gewerkschaftlichen Unterstützungsaufruf so: „Wir gaben die Macht den Linksparteien in der Überzeugung, dass sie unter den gegebenen Umständen ein geringeres Übel darstellten.“ Santillán war ein besonnener Mann.

Unter der vorangegangenen konservativen Regierung hatte ein horrendes soziales Ungleichgewicht geherrscht. Der katholischen Kirche, den Grundbesitzern und der Armee standen Tausende Arbeiter, Tagelöhner und Bauern schlecht ausgebildet, schlecht ernährt und ausgebeutet gegenüber. Das war auch auf den Kanaren der Fall. Alle Volksfrontwähler hofften nun auf Besserung.

Trotzdem dachten in Spanien zu viele wie Cervantes’ Figur Don Quichotte: immer noch rückwärtsgerichtet!

Die Wahlsieger feiern auf Teneriffa

Der niedrige Innenraum der Guachinche Isidoro, die unterhalb von Icod nahe La Rambla del Mar lag, war bis auf den letzten Platz mit Plantagenarbeitern gefüllt.

Genauso verhielt es sich andernorts im Tal. Die hart arbeitenden Männer feierten den Sieg über die rechten Herren. So mancher Kanarienvogel wurde zum Zeichen der Befreiung aus dem Käfig gelassen!

Das ganze Orotavatal bis runter nach Icod hatte links gewählt und träumte von einschneidenden Änderungen, die das harte Arbeiterleben endlich verbessern würden. Rotwein und Bier flossen in Strömen, und der Raum war mit Tabakrauch so vernebelt wie oft die Hänge vom Atlantik hinauf bis zum Teide.

Salud!, Prost!, waren an diesem Abend die Lieblingswörter. Mit zunehmendem Alkoholkonsum glänzten die Augen der Feiernden mehr, und ihre Stimmen überschlugen sich vor Eifer.

Draußen hörte man Böllerschüsse. In den reicheren Gemeinden um Orotava brannten sogar bunte Feuerwerkskörper ab. Raketen stiegen auf und teilten sich in Garben farbiger Lichtkugeln.

„Manuel Azaña wird schon dafür sorgen, dass das Geld besser verteilt wird und Gerechtigkeit einkehrt!“, tönte Esteban Pado voll Zuversicht. Der neue Präsident war als Hoffnungsträger in aller Munde.

Einer der wenigen Kirchgänger am Tisch plapperte Worte nach, die er vom Pfarrer aufgeschnappt hatte: „Der heilige Augustinus hat gesagt: Nimm die Gerechtigkeit weg, was ist der Staat dann mehr als eine große Räuberbande, und das war unser Staat bisher wirklich!“ „Hört, hört!“, mischte sich Manolo Moya ein. Er war ein mittelgroßer Mann mit strengem Stoppelhaarschnitt und einem guten, verlässlichen Gesicht. Solche Bemerkungen konnten ihn in Harnisch bringen. „Wie kann man es nur mit der verdammten Kirche halten! Was die Pfaffen uns seit Hunderten von Jahren einreden, ist keine wirkliche Hilfe. Es ist nur Betrug und ein Mittel, um Macht über uns auszuüben. Gerechtigkeit, die aus dem Mund eines Kirchenmannes kommt, dient allein den Grundbesitzern und ist uns gegenüber nur ein Lügengespinst. Eine Lüge aber funktioniert wie ein Schneeball vom Teide: Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er.“

Die Runde an seinem Tisch dankte ihm den launigen Widerspruch mit großem Gelächter, und der Fromme machte sich ganz klein.

Enrique Salcedo trat Moya wortstark an die Seite: „Die Macht der Kirche muss gebrochen werden. In ihren Augen sind wir nur ‚Populacho‘, Pöbel. Wir haben nur den Beutel, und sie hat das Geld! Wir gehören nicht zusammen, merkt euch das. Wo sie noch Macht hat, gibt es keinen gerechten Staat! Bleibt die Bildung in ihren Händen, so werden unsere Kinder, genau wie wir, nicht mal lesen und schreiben lernen!“

„Auch die Leitung der Plantagen gehört in andere Hände! Ihre Besitzer arbeiten mit Peitsche und Kandare, dabei wäre Milde ein viel besserer Ansporn. Natürlich brauchen wir Gerechtigkeit und eine vernünftige Entlohnung. Von uns gewählte Räte sollten künftig das Sagen haben“, träumte ein anderer die Gedanken weiter.

„Sachte, sachte“, wiegelte ein Besonnener ab. „Mit mächtiger Leute Arsch ist nicht leicht durchs Feuer fahren. Vergiss nicht die Armee, die steckt doch mit Kirche und Grundbesitzern unter einer Decke. Wir würden in Teufels Küche kommen, wenn sie, wie so oft zuvor, wieder eingreift.“

Viele nickten nachdenklich, denn der Einwand ließ sich nicht von der Hand weisen.

„Aber träumen wird man doch dürfen!“, rief einer in die Runde und hellte die ernst gewordene Stimmung wieder auf.

So gab noch über längere Zeit ein Wort das andere, bis die ersten Vernünftigen an morgen dachten.

„Ahora saigo“, ich geh jetzt, meinte Moya. „Morgen heißt es wieder früh aufstehen und auf der Plantage schuften.“

„Meine Frau wird schon schimpfen, wenn ich so spät heimkomme!“, rief ein Zweiter dazwischen.

„Frauen kann man nicht verstehen, höchstens begreifen!“, wusste Esteban, ganz nach Machoart, und blieb sitzen.

Mit weinseligen Umarmungen und vielen „Hasta mañana“ leerte sich allmählich der Raum.

Ein Witzbold meinte: „Hasta después!“, bis nachher!

Ein Banañero rekapituliert sein Leben

Es war eine laue, sternklare Nacht. Manolo Moya empfand es als wohltuend, draußen in der frischen Luft wieder durchatmen zu können, und machte sich bettschwer auf den Heimweg. Das Mondlicht ließ kleine Schaumkronen auf dem Atlantik blitzen und zeigte ihm den holprigen Weg.

Seine Gedanken gingen zu dem, was ihm wichtig war. Da war sein geweißeltes Häuschen. Aus Bruchstein, mit einem Dach aus selbst gebrannten Ziegeln und einem flachen Anbau, war es komfortabler als viele andere Hütten der Plantagenarbeiter.

Er wohnte darin mit Frau Maria und den Söhnen Pedro, Antonio und Rafael in drei kleinen Zimmern. An denen lief ein Korridor vorbei, der als Küche und Wohnraum genutzt wurde.

Die Fenster des Häuschens waren klein, damit es drinnen kühl blieb. Sie waren auf frühe Dunkelheit bedacht, die nach der harten täglichen Arbeit schnelle Erholung und frühen Schlaf garantierte.

Vor der Haustür stand ein Tisch mit grob gezimmerten Bänken. Das Holz war nicht gestrichen und zeigte seine natürliche Maserung. Hier pflegten die Familienmitglieder in den kühleren Morgen- und Abendstunden das Zusammenleben.

Mit ihrem bescheidenen Besitz gehörten die Moyas zu den begüterten Bananenarbeitern, und Manolo war stolz darauf, was Maria und er zusammen erreicht hatten. Beharrlichkeit und Fleiß bis zu fünfzehn Stunden am Tag führten eben zum Ziel.

Die Familie war Manolo wichtig. Er liebte Maria, auch wenn sie oft unterschiedliche Meinungen hatten.

Obwohl er dagegen gewesen war, hatte Maria auf einem Zwischenbalken einen Hausaltar errichtet. Dort standen, stets von frischen Blumen umgeben, eine bemalte Gipsfigur der Heiligen Jungfrau von Candelaria und ein leidender Christus am Silberkreuz.

Als eingefleischter Sozialist hegte Manolo einen tiefen Widerwillen gegen das heuchlerische Christentum, das diese Figuren symbolisierten. Für ihn schlugen sich die Pfaffen immer auf die Seite der „Hacendados“, der Großgrundbesitzer, und es gab keinen Gott, der dagegen einschritt.

Maria hatte ihm abgerungen, zwischen der Heiligen Dreifaltigkeit und deren weltlichen Kirchenvertretern einen Unterschied zu machen. Sie hatte ihm eingebläut, dass seine persönlichen Probleme viel zu gering waren, als dass Gott sich ihrer sofort annehmen musste, aber ganz überzeugt hatte sie ihn nicht.

Körperliche Liebe passte oft gar nicht mehr in seinen ermüdenden Tagesablauf, aber wenigstens hatte er als junger Mann drei gesunde Jungen erzeugt. Seine Kinder, siebzehn-, fünfzehn- und neunjährig, waren wohlgeraten und trugen schon zum Unterhalt der Familie bei. Sie waren ihren Eltern gute Söhne.

In einem hatte sich Manolo durchgesetzt: Er frühstückte allein, weil seine Frau Wert darauf legte, mit den Kindern beim Frühstück zu beten. Dabei wollte er nicht mitmachen. Auch der Satz von Marias Mutter: „Eine Familie, die zusammen betet, bringt niemand auseinander!“, hatte ihn nicht vom Gegenteil überzeugt. Er hatte seine Schwiegermutter zwar zu ihren Lebzeiten verehrt, doch ihre Aufforderung zu beten war für ihn kein akzeptables Ritual geworden.

Inzwischen hatte Manolo das Haus erreicht und versuchte möglichst leise einzutreten. Maria arbeitete wie er hart und brauchte ihren Schlaf.

Er entledigte sich schon im Wohnraum seiner Kleidung. Dort hatte er vor dem Weggehen sein Nachthemd hingelegt. Dann schlich er sich leise in die Schlafkammer.

Von Maria war kein Tönchen zu hören. Er kroch unter die Bettdecke, drehte sich zu ihr hin und konnte sich nicht beherrschen, kurz nach ihr zu greifen.

Sie zeigte keinerlei Reaktion. Das tat sie nie, wenn er vom Trinken kam, dann waren seine Berührungen nicht willkommen.

Er seufzte einmal kurz auf, dann war er schon eingeschlafen. Er musste schließlich einige Stunden Schlaf nachholen…

Maria war bereits aufgestanden und hatte das Frühstück aufgetischt. Es roch einladend nach Kaffee, als sie ihn weckte.

Nach einer kurzen Begutachtung seines Aussehens meinte sie spöttisch: „So sehen keine Sieger aus.“

„Vielleicht doch, nach einer Siegesfeier.“ Er grinste und drückte sie an sich.

Er wusch sich, tauchte den Kopf einige Sekunden lang ins kalte Wasser und kleidete sich an. Dann ging er vor das Haus, wo die aufgehende Sonne noch mit der Dunkelheit kämpfte.

Er roch den Anis im Brot, bevor er sein Frühstück auf dem Holztisch sah. Er bekam jeden Morgen das Gleiche, denn er war ein Gewohnheitstier: Er aß weißes Brot mit Aniskörnern, dazu Tomaten aus eigenem Garten, Oliven und ein Stück fette Paprikawurst. Die Chorizo schnitt er mit seinem Taschenmesser sorgsam in dünne Scheiben, pickte sie auf und aß sie voll Freude zum Brot. Er liebte es morgens deftig, denn er brauchte viel Kraft für den langen Arbeitstag.

Manolo war stolz auf seinen Beruf, den auch schon sein Vater ausgeübt hatte.

Es dauerte etwa neun Monate, bis eine Staude von gut 200 Bananen herangereift war und um die 40 Kilo wog. Der Weg bis dorthin war sorgenreich. Die Pflege der jungen Pflanzen, das stetige Wässern, all das verlangte Sachverstand und Fleiß.

Wenn die Erntezeit kam, trugen „menschliche Lastesel“ die mit der Machete abgeschlagenen Fruchtstände bis zur Packstation.

Man hatte diese Höllenarbeit zunächst durch Esel verrichten lassen, doch wenn die Tiere die Tonnenlast grüner Bananen durch die Plantage gezogen hatten, war allzu viel kaputtgegangen. Menschen gingen mit den weichen Früchten einfach behutsamer um.

Damit die zeitlichen Vorgaben eingehalten werden konnten, erwartete man von ihnen aber rasche Bewegung und Transport im Laufschritt.

Solche ganztägigen Strapazen hielten nur junge Männer durch. Manolos Sohn Pedro war dafür bald im richtigen Alter.

In eingespielten Vierergruppen schafften die jungen Kraftprotze pro Tag bis zu 200 Stauden.

Aus dem Alter war Manolo Moya schon lange heraus. Er zehrte mittlerweile von seiner Erfahrung und wurde für Spezialaufgaben eingesetzt. Er entfernte überzählige junge Triebe, kappte Blüten oder schnitt die männlichen Auswüchse am unteren Ende der Stauden ab, damit beim Reifen alle Kraft in die Früchte ging. Diese Arbeiten mussten exakt ausgeführt werden. Davon hing das Gedeihen der empfindlichen Pflanzen ab.

Auf der riesigen Fläche der Plantage befanden sich Bananen in allen Wachstumsphasen. Entsprechend unterschiedliche Arbeitsgänge waren in den einzelnen Sektionen zu verrichten. Die Arbeiter rollierten täglich und lernten so mit der Zeit, alle Tätigkeiten zu beherrschen.

Heute musste Manolo Tüten über die Fruchtstände stülpen, um die Früchte gegen Sonne und Ungeziefer zu schützen. Die Schutzhüllen wurden, zur Kennzeichnung des jeweiligen Reifegrades der Bananen, mit verschiedenfarbigen Bändern zugebunden. Es lag an ihm, die Reife der einzelnen Stauden richtig zu bestimmen. Diese Aufgabe forderte Akkuratesse, ging aber bei seiner Erfahrung relativ leicht von der Hand.

Maria hatte noch vieles im Haus zu tun und saß deshalb während des Frühstücks nicht bei ihm draußen. Vielleicht war ihre Abwesenheit aber auch ein stiller Vorwurf, weil er so stur das gemeinsame Beten boykottierte.

Maria kam nur einmal heraus und brachte ihm die Dose mit dem Essen und die Wasserflasche für die Siesta. Beides verstaute Manolo mit einem Wort des Dankes in seiner Leinentasche, dann brach er auf.

Die heutige Sektion war nicht weit entfernt. Er schritt für seine vierzig Jahre recht zügig aus. Er hatte das Bedürfnis, sich auszuarbeiten, um die Wirkungen des Alkohols aus dem Leib zu bekommen.

Sein leichtes Schuhwerk ließ ihn auf dem steinigen Weg jedes spitze Stückchen Lava spüren. Die Leinenschuhe hatte sein Vetter Pablo Cotarelo gefertigt. Er hatte den seltenen Beruf des Alpartageros, Leinenschuhmachers.

Manolo konnte die von ihm gefertigten Schuhe gegen Gemüse aus seinen Beeten eintauschen. Tauschgeschäfte hielten die wenigen Geldscheine, die ein Bananenarbeiter besaß, zusammen.

Rattenspiele

Rafael verließ kurz nach dem Vater das Haus.

Seine Mutter rief ihm nach: „Sei pünktlich, denk daran, dass mittags Pflichten auf dich warten!“ Maria wusste, der Junge verlor beim Spielen leicht jedes Zeitgefühl.

„Ja, ja“, schimpfte der vor sich hin, „Hühner- und Kaninchenställe säubern, Hühner füttern und für die Kaninchen Grünzeug sammeln…“

Seine Mutter war schon wieder im Haus verschwunden und schüttelte aus einem der kleinen Fenster das Bettzeug aus.

Die Decken waren nicht sehr üppig. Dünne Baumwolldecken reichten für das milde heimische Klima. Sie hielten unerwünschte Bettgenossen fern. Flöhe, Wanzen und Milben fühlten sich in den dicken Bettenbergen der Reichen wohler als bei den Armen. Bei Moyas war zudem dank Maria alles sehr reinlich. Es kam selten vor, dass Flohstiche einem von ihnen eine rote Perlenkette um den Hals malten.

Für die Reinlichkeit arbeitete sie hart. Der Seewind blies ihr als täglichen Ansporn die Regel des heiligen Benedikt ins Haus – ora et labora, bete und arbeite. Das machte die Mühsal etwas leichter. Es war der tüchtigen Hausfrau, als würden die Schultern des Heiligen ihr tragen helfen.

Rafael hatte sich mit Fernando Navarro zur Rattenjagd verabredet. Fernando war der jüngste Sohn des Plantagenbesitzers.

Die Jungen trafen sich auf der Wegkreuzung vor der Plantage. Der gleichaltrige Luciano Salcedo stieß etwas weiter unten dazu; danach war ihre Bande komplett.

Rafael wusste, welches Segment zurzeit brach lag.

Dort waren die Pflanzen abgeerntet, und nur junge Triebe ragten kurz über dem Boden aus den verrotteten Blättern der Altpflanzen hervor. Die alten Blätter hielten die Feuchtigkeit, vergingen und gaben Nährstoffe in die Erde zurück.

Dort, abseits von den Banañeros, hielten sich die Ratten am liebsten auf. Hier sollte für heute ihr Jagdgebiet sein.

Die drei Jungen trugen ihre Schleudern lässig im Hosenbund. Luciano führte das Wort. Er erzählte eine Schauergeschichte, die sie immer aufs Neue zu ihren Jagden antrieb:

„Es ist noch keine sieben Jahre her, da geschah bei der Familie Teslino etwas Schreckliches. Die Eltern waren für den Abend ausgegangen. Señor Teslino sollte bei einer Taufe Pate stehen, und das Paar wollte auch noch an der Festlichkeit teilnehmen. Ihr achtjähriger Sohn und die zweijährige Tochter blieben allein im Haus zurück.

Im Traum kam es dem Jungen vor, als würde sein Schwesterchen weinen, doch er wurde nicht richtig wach und schlief weiter.

Das Weinen war Realität gewesen. Sechs Ratten waren futtersuchend in die Hütte eingedrungen. Sich stoßend und übereinander-springend wühlten sie alles durch.

Auf dem Strohsack der Kleinen machten sie Halt.

Als die Teslinos nach Hause kamen, fanden sie den angefressenen Leichnam ihrer Tochter.“

Die Gruselgeschichte ließ in den drei Jungen das Hassgefühl gegen die grauen Biester richtig anwachsen.

Rafael fasste ihre Wut in kernige Worte: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, steht schon in der Bibel, und so wollen wir es heute mit den Grauen halten!“

„Mindestens sechs von ihnen sollen dran glauben“, bekräftigte Fernando die Worte seines Freundes.

Als sie den Plantagenabschnitt erreicht hatten, nahmen sie im Dreieck zwischen den jungen Pflanzen Wartestellung ein. Die Schleudern waren schnell mit Steinkugeln geladen und in Schussposition.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis es unter den Blättern zu rascheln begann. Der Kopf des Leittiers lugte vorsichtig heraus. Seine Barthaare zitterten nervös und die scharfen Zähnchen zeigten seine Wehrhaftigkeit.

Es witterte keine Gefahr und gab mit einem Pfeifton das Zeichen „Entwarnung“. Bald wieselten ein halbes Dutzend Tiere über die Blätter.

Die eifrigen Jäger kannten diese Prozedur und warteten geduldig. Dann gaben sie sich mit den Augen das Zeichen zum Angriff.

Sorgfältig zielten sie und drei Kugeln fanden mit einem satten Plopp ihr Ziel.

Die Jungen waren durch langes Üben zu wahren Experten geworden. Ihre Steinkugeln ließen die Rattenschädel förmlich explodieren. Die Tiere starben auf der Stelle, und keines von ihnen schaffte die Flucht zurück unter die abgestorbenen Blätter. Nur die unverletzten Ratten verschwanden darunter.

Rafael quälte vor Jagdfieber und Aufregung ein Schluckauf, als sie zu den kleinen Kadavern hineilten.

„Hast nicht richtig aufgepasst, mein Lieber“, sprach Luciano zu dem toten Leittier und grinste seine beiden Kumpane Beifall heischend an.

Es war Ehrensache, dass der Chefwächter der Grauen unter ihrer Beute war.

Diesen Vormittag wollte ihnen das Glück nicht weiter gewogen sein. Es blieb bei den drei erlegten Tieren. Nicht ganz zufrieden mit diesem Jagderfolg trollten sie sich nach Hause.

„Wir müssten eine Falle bauen, dann könnten die Viecher auch getötet werden, wenn wir nicht da sind“, meinte Fernando.

„Aber das macht doch längst nicht so viel Spaß wie mit der Schleuder“, wiegelte Luciano ab.

Großgrundbesitzer

Das Anwesen der Navarros war natürlich viel prächtiger als die kleine Finca der Moyas. Es lag auf einer leichten Anhöhe mitten in der Plantage mit freiem Ausblick in alle Richtungen. Wenn die Wetterlage es zuließ, konnte man den Teide sehen.

Miguel Navarro hatte das Haus von seinem Vater übernommen und nach seiner ersten Ehefrau „Casa Dolores“ benannt. Es lag als farbenfroher Fleck im Grün seiner Bananenplantagen nahe La Rambla del Mar. Mit gelb getünchten Wänden und einem lasierten Dach leuchtete es über seinem Besitz wie die Sonne über der Welt.

Don Miguel war stolz, von seinem Vater geschichtsträchtigen Boden ererbt zu haben: Auf seinem Areal befand sich der Ort, an dem der Guanchenkönig Bentor den Freitod gesucht haben soll, um nicht die Demütigung zu erleiden, von den spanischen Eroberern versklavt zu werden.

Miguel Navarro hatte diese Geschichte immer wieder zu hören bekommen. „Mut und Ehre stehen vornan, das erwarte ich auch von dir, mein Junge“, hatte sein Vater dazu gesagt.

Erst von Nahem offenbarte die Hazienda ihre ganze Großzügigkeit. Der Haupttrakt bot Platz für Wohn-, Arbeits- und Schlafräume. An einem Ende lagen die Versorgungsräume, die Küche, eine geräumige Vorratskammer und die Backstube. Am anderen Ende und in der Mitte befanden sich zwei wohl ausgestattete Badezimmer.

In einem Seitenflügel lagen Ställe, ein Raum für Fahrzeuge und Fuhrwerke, Vorratsräume, die Scheune sowie eine Werkstatt mit Brennofen für Dachziegel, Töpfe und Kannen.

Von den Wohnräumen ging eine große Terrasse ab, die mit bunten Kacheln geplattet war. Auf ihr standen in Kübeln, direkt vor der hüfthohen Umrandung, annähernd ein Dutzend Palmen. Ihre Kronen wiegten sich leicht im Wind, der ständig vom Atlantik hochwehte.

Don Miguel saß mit seiner Frau Laura beim Frühstück. Der Tisch war mit weißem Leinen und echtem Porzellan eingedeckt. Der erste Hahnenschrei war längst verklungen, denn die Navarros frühstückten weit später als ihre Arbeiter.

Mit der Kaffeetasse in der Hand fragte Don Miguel seine Frau: „Wo sind unsere Kinder?“

„Dolores ist noch nicht vom Kirchgang zurück. Deine Tochter macht übrigens große Fortschritte, sagt der Hauslehrer“, hörte er Donna Lauras Stimme, und die war bei dieser Antwort ganz weich.

„Das ist mir ziemlich egal“, erwiderte Don Miguel. „Sie ist nur ein Mädchen. Mir wäre viel lieber, Javier würde sich zum Besseren ändern, aber dagegen steht wohl sein ungutes Wesen“, ergänzte er verdrießlich.

Donna Laura zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, dann fuhr sie mit unbeweglicher Miene fort: „Fernando ist schon auf der Plantage, er wollte Ratten jagen, glaube ich. Dein Sohn, Javier, hat wie gestern nicht zu Hause geschlafen.“

Beim letzten Satz war ihre Stimme hart geworden. Don Miguel war nicht entgangen, dass sie bei Javier von seinem Sohn gesprochen hatte. Der Junge war aus seiner ersten Ehe.

Verärgert schlug er auf die Tischplatte. „Ich weiß wirklich nicht, von wem er seine Weibergeschichten hat!“

„Von dir sicher nicht“, dachte Donna Laura, denn Miguel hatte seit mindestens zwei Monaten nicht mehr das Bett mit ihr geteilt.

Auch Don Miguel hatte zerknirscht weitergedacht: „Es lässt sich nun mal nicht verleugnen, dass es in jeder Familie einen Taugenichts gibt.“ Er dachte immer öfter daran, Javier zum Militärdienst zu schicken. Auf der Militärakademie würden sie ihm vielleicht Gehorsam und Ordnung beibringen. Aber im Grunde seines Herzens mochte Miguel das Militär nicht, er hatte Angst vor gleichgeschalteten Hirnen. Zu oft hatte diese Soldateska in der Vergangenheit allein entschieden, was vermeintlich richtig war. Außerdem musste Javier in naher Zukunft sein Nachfolger werden. Er musste dem Jungen wohl oder übel die Flausen selbst austreiben.

Bei dieser Erkenntnis wurde sein Blick durchdringend, seine Stirn krauste sich und seine Adlernase bebte leicht.

Dass Fernando mit den Arbeiterkindern spielte, passte ihm ebenfalls nicht. Doch es war nicht der rechte Zeitpunkt, sich darüber zu erregen. Die Zeiten waren nicht danach. Er verbiss sich einen Kommentar, stand auf, ging zur Balustrade und ließ seinen Blick über die Plantage wandern.

Die Zeichen der Zeit standen nicht günstig für ihn und seine Familie. Die früher so lukrativen Bananenexporte waren infolge des Börsenkrachs und der weltweiten Wirtschaftsflaute von 1929 in eine Krise gerutscht, die bis heute anhielt.

Wenn man eine befriedigende Rendite erzielen wollte, musste man Kosten senken. Der größte Kostenfaktor waren die Löhne. Aber die Arbeiter schufteten schon zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, ohne dass er ihnen Überstundenzuschläge zahlte. An dieser Schraube konnte er schwerlich weiterdrehen.

Nun hatte das gesamte Tal auch noch links gewählt, das bedeutete zusätzlich Gegenwind von den Gewerkschaften.

Viele Begüterte waren direkt nach dem Wahlsieg der Volksfront ins Ausland gegangen und hatten ihr Vermögen mitgenommen. Das führte zu weiterem wirtschaftlichen Einbruch, Währungsabwertung, Teuerung und Streiks.

Don Miguel konnte da nicht mitziehen, denn eine Plantage war nicht einfach ins Ausland zu transferieren.

Aber er hatte die schlimmen Folgen der Fehlentwicklung vorhergesehen und seine Kumpanen davor gewarnt. Die meisten hatten nur abgewinkt und waren untätig geblieben.

„Die zu klug sind, sich zu engagieren, werden dadurch bestraft, dass sie von Dümmeren regiert werden“, dachte er bitter.

Er hatte es geschäftlich gut mit den Engländern gekonnt, auch hier waren jedoch Änderungen eingetreten. Seit 1930 löste sich die englische Gemeinde mehr und mehr auf, und die von ihm weniger geschätzten Deutschen traten in den Vordergrund.

Er stimmte normalerweise niemals mit der Linken überein, aber in einem gab er dem CNT-Genossen Manuel Perez recht. Der hatte unlängst erst die Verhältnisse auf der Insel drastisch, aber richtig kommentiert: „Zurzeit gibt es unzweifelhafte Beweise, dass die Insel eine deutsche Insel wird. Es existiert in Santa Cruz nicht ein Hotel, nicht ein Touristenzentrum, das einem Spanier oder einem Inseleinwohner allein gehört. Alles ist bereits Eigentum oder wenigstens Miteigentum der Deutschen. Die Metallwerkstätten, die Transportunternehmen, die Schifffahrt, die Industrie, der Handel und das wirtschaftliche Leben sind ebenfalls unter der Kontrolle Deutschlands…“

Don Miguel ärgerte am meisten, dass der deutsche Generalkonsul Jakob Ahlers inzwischen der mächtigste Grundbesitzer im gesamten Orotavatal war. Ahlers war in vielen Belangen, besonders aber in der gesellschaftlichen Präsenz, sein schärfster Konkurrent geworden.

Der Deutsche war schon vor Jahren wegen eines Lungenleidens auf die Insel gekommen. Er führte seit 1906 eine Compañía Consignataria de Buques im Hafen von Santa Cruz. Zu seinen Generalvertretungen für Produkte aus dem Deutschen Reich gehörten Agenturen für Bankdienstleistungen, für Reifen und für die Linienschifffahrt.

In Ahlers erweitertem Hinterhof in der Hauptstadt hatte die Compañía Española de Petróleos, CEPSA, zwischen April und November 1930 eine Ölraffinerie erbaut.

Sie raffinierte mittlerweile 5000 Barrel am Tag und war zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor der Insel geworden. Diversifikation zahlte sich eben aus.

Seit der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 in Deutschland waren die Firmen des Konsuls auf Teneriffa wie das Woermann-Haus auf Gran Canaria zu Zentralen von Nazioperationen geworden.

Inzwischen liefen regelmäßig acht deutsche Schifffahrtslinien die Inseln an. Deutsche Ingenieure und Marineexperten kontrollierten den Bau der neuen Hafenmolen. Deutsche waren überall präsent.

Don Miguel hatte beschlossen, zunächst Kreide zu fressen und abzuwarten, bis irgendwo der erste Fehler passierte. Sein gesamter Heimatort schien ihm auf einmal nur noch aus linken Dreckskerlen zu bestehen, vom Bürgermeister, dem Lehrer bis hin zum Feuerwehrmann und Briefträger waren alle rot.

Er würde nicht über die Dummheit der anderen lachen, ihre Dummheit konnte für ihn vielmehr zur Chance werden. Nicht ohne Grund erklärten ihn seine Widersacher für zäh wie Leder und besitzergreifend wie Efeu.

Er lächelte bei diesem Vergleich. Sollte Fernando also ruhig mit den Arbeiterjungen spielen.

Der Großgrundbesitzer machte sich grußlos zu einem Kontrollritt über die Plantage auf.

Seine Frau war ihm inzwischen eher zur Last geworden. „Sie ist kalt und hart“, dachte er auf dem Ritt. „Sie wird nur ein wenig weich und zeigt Gefühle, wenn sie in Muße mit einem ihrer verflixten Liebesromane für sich ist. Dann kann man Lauras halb geschlossenen Augen sehen, verhaltene Seufzer hören oder gar erleben, dass sie das Buch voll Inbrunst mit beiden Händen an ihren Busen drückt, als wolle sie damit die mir vorenthaltenen Zärtlichkeiten wenigstens sich selbst gönnen.“ Er fühlte sich von ihr wirklich nicht verwöhnt.

General Francisco Paulino Hermenegildo Teódulo Franco y Bahamonde Salgado Pardo

Der Militärgouverneur der Kanarischen Inseln, General Francisco Franco, saß in Santa Cruz, Rambla Pulido, an seinem übergroßen Schreibtisch und dachte nach.

Auf der Tischplatte stand in Silber gerahmt ein Bild von ihm. Eine Offiziersmütze mit drei Sternen auf dem Kopf, neben sich mehrere besiegte Rifkabylen, blickte er mit seiner Beute wie ein zufriedener Jäger in die Kamera.

Den Marokkanern waren die Hände auf den Rücken gebunden. In ausgelassener Laune, die selten bei ihm aufkam, erzählte der General, dass er die Gefangenen kurz darauf hatte liquidieren lassen.

Ein helles Klingen traf sein Ohr. Sein Blick strich vor seinem Fenster über den Platz und erfasste an dessen anderem Ende einen Schmied seiner Truppe, der mit schwingendem Hammer ein Pferd beschlug.

Bild und Ton wollten nicht zusammenpassen. Der Klang des Eisens erreichte sein Ohr immer etwas später als der herabsausende Hammer sein Auge.

Dieser Umstand zeitlicher Verzögerung gab dem Ganzen etwas Unwirkliches.

Schnell verlor der General das Interesse daran und konzentrierte sich wieder auf seine Gedanken.

Ihm blieb dafür nur wenig Zeit, denn es klopfte bald an der Tür. Mit einem scharfen „Herein!“ forderte er zum Eintreten auf.

Sein Adjutant öffnete die Tür, salutierte und vermeldete mit schnei diger Stimme: „Ihre Tagestermine, mein General!“

Franco nickte gnädig und schaute ihn abwartend an. Der Untergebene begann die Termine zu verlesen: „Neun Uhr dreißig Treffen mit dem Zivilgouverneur im Rathaus, zehn Uhr dreißig Leutnant Gonzales Campos zur Aussprache hier im Hause.“

„Die Aussprache ist bei beiden dringend nötig“, dachte der General. „Das sind unsichere Kantonisten, die muss ich auf Linie bringen!“

„Elf Uhr dreißig Aussprache mit Pressevertretern“, fuhr der Adjutant mit gleichmäßiger Stimme fort. „Bis dreizehn Uhr Mittagessen mit den Herrschaften, danach bis sechzehn Uhr Fahrt mit jungen Offizieren in den Esperanza-Wald.“

„Gut, gut, das reicht“, fiel ihm der General ungnädig ins Wort. „Manche meinen, ein ausgefüllter Terminplan bedeute ein ausgefülltes Leben.“

Er winkte dem Adjutanten mit der rechten Hand lässig zu und befahl ihm abzutreten.

Der Offizier wurde steif wie ein Besenstiel, salutierte und verließ ohne weitere Regung den Raum. Erst draußen grub sich Ärger in sein Gesicht. Er verabscheute die Arroganz des Generals, musste sie aber täglich erdulden.

Drinnen schaute General Franco auf seine Uhr.

Er war früh aufgestanden, und so blieb ihm bis zum ersten Treffen noch eine Stunde für sich.

Er begann über seine Situation nachzudenken. Sein Leben war bisher ein stetiger Aufstieg gewesen. Als zweites von fünf Kindern war er sorglos in der Familie eines Marineoffiziers aufgewachsen. Seine Mutter Maria, eine weitläufige Verwandte der galizischen Schriftstellerin Emilia Pardo Bazán, machte ihn neben den militärischen Anleitungen des Vaters auch mit musischen Freuden des Lebens bekannt.

Im Alter von fünfzehn Jahren trat er in die Infanterieakademie von Toledo ein. Schon drei Jahre später wurde er nach Spanisch-Marokko versetzt und kämpfte fünfzehn Jahre im dort wütenden Kolonialkrieg.