Memoiren einer Idealistin

 

Vorwort

Ich saß eines Tages auf einer der weißen Klippen, die eine natürliche Festung um das stolze Albion bilden. Die Wellen des Ozeans brachen sich zu meinen Füßen gegen die Felsen dieses Landes der Freiheit und – des Exils für mich sowohl wie für so viele andere. Ich dachte an mein Vaterland drüben, jenseits der Wogen, an den bitteren und schmerzlichen Kampf, durch den ich hindurchgegangen war, weil ich mein Leben meinen Überzeugungen gemäß hatte gestalten wollen. Ich dachte auch an den Tag, an dem die Emanzipation der Frau eine vollendete Tatsache sein wird; an dem sie ohne Widerspruch dasselbe Recht zur Entfaltung aller Fähigkeiten durch Unterricht und Studium haben wird wie der Mann; an dem sie gleich sein wird mit ihm vor dem Gesetz und befreit von dem Joch der Unwissenheit, des Aberglaubens, der Frivolität und der Mode.

Da kam mir der Gedanke, die Erinnerungen meines Lebens aufzuschreiben; ein bescheidenes Gemälde einer jener Existenzen unbekannter Pfadfinder, die den Weg noch in den Schatten der Nacht suchen, wenn eine neue Idee sich Bahn brechen will in der Geschichte, und die, wenn sie nicht als Narren oder Verbrecher behandelt werden, für Idealisten gelten, die Unmögliches verlangen. Ich beschloss, diese Erinnerungen den glücklicheren Schwestern zu weihen, die, wenn der Tag gekommen sein wird, sich in der freien Luft eines anerkannten Rechts werden entwickeln können. Vielleicht können sie diejenigen, die noch zweifeln oder zögern, ermutigen, oder wenigstens den andern ihr Glück noch fühlbarer machen.

Dieser Tag scheint mir jetzt zu kommen. Die Idee der Emanzipation der Frau erwacht von allen Seiten mit solcher Gewalt, dass sie nichts hinfort mehr wird unterdrücken können. Sie hat unter den Männern großmütige Verteidiger gefunden – viele ausgezeichnete Frauen arbeiten an ihrer Verwirklichung. Diese sind es vorzüglich, denen ich die nachstehenden Blätter als Zeichen meiner lebhaftesten Sympathie widme.

Bald am Ende meiner Laufbahn angelangt, sehe ich auf diese persönlichen Erlebnisse schon wie von einem andern Planeten herab, aber ich möchte sie noch im Dienste des gemeinsamen Zieles verwenden. Mein Name ist dabei überflüssig, wenn ich nur die Hoffnung mit in das Grab nehme, dass die Frau aufhören wird, ein Götzenbild, eine Puppe oder eine Sklavin zu sein, und bewusstes und freies Wesen, im Verein mit dem Manne an der Vervollkommnung des Lebens in der Familie, der Gesellschaft, dem Staat, in Wissenschaften und Künsten – kurz, an der Verwirklichung des Ideals im Leben der Menschheit arbeiten wird.

Die Verfasserin.

Vorrede zur ersten Auflage

Als vor mehreren Jahren der, aus nun unwesentlich gewordenen Gründen in französischer Sprache geschriebene, erste Band dieser Erinnerungen veröffentlicht wurde, geschah es fast gegen meinen Willen. Freunde bemächtigten sich des Manuskripts und beförderten es zum Druck. Das Buch wurde über mein Erwarten freundlich aufgenommen und brachte mir sowohl von den Seiten, wo ich es am meisten ersehnte, als wie auch aus der unbekannten Menge teure Grüße der Sympathie. Zugleich erging die Aufforderung an mich, noch Ferneres zu berichten.

Ich schwankte lange, ob ich dies tun solle, denn einesteils lag diese Vergangenheit noch nicht so fern, wie jene Jugendzeit, der ich schon ganz objektiv gegenüberstand, andernteils aber schien es mir auch gewagt, noch ferner von mir zu erzählen, da mein Leben nun immer weniger mit jenen öffentlichen Ereignissen in Zusammenhang kam, deren Darstellung auf ein allgemeines Interesse Ansprüche machen durfte. Dann aber fiel mir ein, dass es dafür in Beziehungen zu Persönlichkeiten trat, die es umso mehr verdienen, dass die Freundschaft ihnen gerechte Kränze der Erinnerung flicht, als die große Welle der Ereignisse ihr Andenken schon beinah hinweg gespült hat, und als ihr Streben in der Beleuchtung neuer geschichtlicher Phasen von vielen verkannt, von den meisten unterschätzt wird. Das bestimmte mich, den Versuch zu wagen.

Ich meine die politischen Flüchtlinge vom Jahr 1848. Sie waren die Pioniere von Ideen, für die die Zeit noch nicht reif war; deshalb wurde ihrem Streben der Erfolg nicht; deshalb gingen sie in ihrem Idealismus weit über die Grenze hinaus, die die Beschränktheit der historischen Entwicklung der Verwirklichung großer Ideen steckt, und deshalb konnten sie auch die rechten Mittel nicht finden, die im gegebenen Augenblick dem praktischen Reformator wie von selbst in die Hand fallen. Aber sie verdienen darum nicht minder eine ehrende und dankbare Erinnerung in den Herzen derer, für die sie kämpften und – litten. Ja, sie haben gelitten, alle und schwer! Sie waren die Kämpfer für ein Ideal, sie »hatten's gewagt« und Gut und Blut daran gesetzt, und solchen reicht das Schicksal als Vergeltung viel öfter die Dornenkrone als den Lorbeer.

Als ich, auch eine Geächtete, damals die deutsche Erde verließ, da gelobte ich mir, ich wolle mein Vaterland nicht eher wiedersehn, als bis es zu einem neuen, des deutschen Geistes würdigeren Leben erstanden sei. Ich trank den Kelch des Exils auch in all seiner Bitterkeit, in langer, vergeblicher Erwartung dieser Zeit. Endlich tagte es. Das Geschick schenkte Deutschland einen jener großartigen Menschen, wie sie zu Lenkern von Staaten berufen sind, die mit starker Hand in das Rad der Geschichte greifen und es zwingen, nach ihren kühnen Plänen, nach ihrem weltüberschauenden Blick zu gehen. Er konnte, was jene von 48 nicht gekonnt. Deutschland muss seinem Sterne danken, dass er ihm diesen großen Staatsmann gab, der es dazu geführt hat, das Achtung gebietende Zentrum von Europa zu sein. An Deutschland ist es nun, sich dieser großen Stellung wert zu zeigen, damit es ihm nicht gehe wie dem Schäfer, den sein Geschick die Wunderblume finden ließ, die ihm den schätzereichen Berg der deutschen Sage aufschloss, der aber, berauscht vom Anblick all der funkelnden Reichtümer, die warnende Stimme nicht mehr verstand, die ihm zurief: »Vergiss das Beste nicht!«

Ja, deutsches Volk, vergiss das Beste nicht: deinen ureigensten Geist, wie er sich dir in deinen Genien, in deinen großen Geistern spiegelt. Die großartige Form, die ein gewaltiger Mensch dir schuf, würde dir zum Unglück, wenn du sie nicht auch mit dem höchsten Inhalt fülltest, wenn du deine heilige Kulturaufgabe, dein Bestes, vergäßest. Deine Genien zeigen dir den Weg. Um sie schare dich, ihnen horche und gehorche, denn in ihnen ehrst du die ideale Vollendung deiner selbst.

Dann halte aber auch das Andenken jener wert, welchem Volke sie auch angehörten, die mit dem Kampf für politische Freiheit ein hohes, weitgreifendes Ideal verbanden und zum Lohn dafür nun schon meist auf fremder Erde im Grabe der Verbannung ruhen. Ihre Aufgabe ist zu Ende.

Die Zeit der politischen Revolutionen ist vorbei. Wenigstens würden sie jetzt nur von Seiten der Reaktion kommen. Jene waren zum Teil Träumer, aber sie hatten den Mut, alles für ihr Ideal zu opfern, und darum Ehre ihrem Andenken, zumal in einer Zeit, wo die materiellen Interessen so viel Macht über die Menschen gewinnen!

In ihrem Namen denn sei es diesen Blättern erlaubt, in die Öffentlichkeit zu treten.

Geschrieben in der »Herberge der Gerechtigkeit«, der Ebernburg im Nahetal, wo auch einst ein Kreis von jenen weilte, »die ihr Jahrhundert von sich stieß«.

Den 2. Juli 1875.

Die Verfasserin

Vorrede zur dritten Auflage

Und abermals soll ich diesem Buch ein begleitendes Wort mitgeben auf die Wanderung zu der unbekannten Menge, in der es sich seine Freunde suchen soll und sicher auch seine Feinde treffen wird?

Es ist eine eigene Empfindung, mit der man so ein Buch von sich scheiden sieht, gerade wie wenn man einen Freund hinausziehen muss: Was wird ihm, der dir so nahe stand, der einen Teil deiner selbst mit fortträgt, der dich ganz kannte und dem du völlig vertrautest, begegnen? Wird man ihn recht verstehen, ihm liebevoll entgegenkommen oder ihn zurückstoßen und anfeinden? – Es bleibt in dem einen und anderen Fall eben nichts übrig, als dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Das Buch muss seinen Weg machen so gut wie der Mensch; wohnt beiden ein wirklicher Wert inne, sind sie voll Wahrhaftigkeit und reiner Gesinnung, so dürfen sie hoffen, bei den Guten wohl aufgenommen zu werden und, was noch mehr ist, Gutes zu wirken. Sind sie nichtig und hohl, fehlt ihnen die Redlichkeit, aus der allein alles Gute und Schöne seine Weihe empfängt, so mögen sie untergehen. Wer, sei es Mensch oder Buch, mit seiner Existenz nicht einem höheren ethischen Zweck dient, wer nichts anderes sucht als seinen eignen Vorteil oder Ruhm, der falle der Vernichtung anheim, die gottlob, sei es auch erst nach einem glänzenden Lügenleben, alles erwartet, was den Blick nicht über die ephemere Bedeutung der Persönlichkeit hinaus auf ewige Ziele richtete. Frage ich mich nun: hatte dieses Buch einen ethischen Zweck und war das Persönliche darin nur gleichsam der Rahmen, der dazu diente, jenen einzufassen? so darf ich freudig sagen: ja. Und er wird immer vorherrschender, je mehr das Leben sich seinem letzten Abschluss nähert, je mehr die persönliche Vergangenheit nur noch, einem fernen Traumbild auf der unbewegten Fläche eines klaren Sees ähnlich, im weltentrückten Frieden des Gemüts sich spiegelt.

Ihm allein gilt also die Frage: Soll dieses Buch noch einmal seine Wanderschaft beginnen? – Wäre er vollständig erreicht, ließe sich nichts mehr in Beziehung darauf erinnern, so würde ich sagen: Nein, wozu? Es hat seine Aufgabe erfüllt, wenn es auch nur ein kleines Teil zu dessen Verwirklichung beigetragen hat. Leider aber ist jener Zweck, die Förderung der wahren Emanzipation der Frau, noch weit von seiner vollständigen Durchführung entfernt. Die Frage hat im allgemeinen Fortschritte gemacht; es öffnen sich immer mehr Wege zur Tätigkeit und damit zur ökonomischen Unabhängigkeit der Frauen: Man gesteht ihnen das Recht zu, sich lernend und ausübend auf Gebiete zu wagen, wo der Mann bis jetzt Alleinherrscher war; Mädchen und Frauen, von edlem Wissensdrang beseelt, ziehen ihre geistige Entwicklung jedem andern Erdenglück vor und erkaufen sie oft mit schweren Opfern. Aber dennoch fehlte noch viel. Zunächst ist die bürgerliche Gleichstellung der Frau mit dem Mann noch lange nicht ganz erreicht. Noch immer hört man dagegen den Einwand, dass es nicht wünschenswert sei, die Frau im öffentlichen Leben, in Parlamenten, Gerichtssälen usw. tätig zu sehen. Es ist schon öfter treffend darauf geantwortet worden. Wer möchte wohl wünschen, dass das Weib Unweibliches tue, sich einer Aufgabe unterziehe, um die man auch den Mann nicht beneidet? Und doch verlangt die Gerechtigkeit, dass für ein jedes menschliche Wesen die Freiheit da sei, alles werden zu können, wozu Natur und Befähigung treiben. So gut es ausgezeichnete Herrscherinnen gegeben hat, so gut kann es auch ausgezeichnete weibliche Deputierte oder weise Richterinnen geben, und warum sollte das unweiblicher sein als wie Schauspielerin, Sängerin, Tänzerin und dergl. zu werden? Hat doch schon Shakespeare einer seiner schönsten Frauengestalten, der edlen Porzia, die echt weibliche Feinheit des Gefühls und zugleich des Urteils zuerkannt, durch die sie alle Weisheit der Richter beschämt und dem Antonio das Leben rettet. Und wenn man mit Recht die Frauen bewahren möchte vor der Berührung mit Rohheit und Gewalt, vor der Teilnahme an heftiger Diskussion und widrigem Streit, so sollte man sie doch auch wieder gerade zulassen, wo es zu mildern, zu versöhnen und zu veredeln gibt, wo es eine unberechenbar wohltätige Wirkung haben könnte, die Zartheit der Sitte hinzubringen. Doch wird ja diese Art von Teilnahme am öffentlichen Leben immer nur Ausnahmen vorbehalten bleiben, aber die Freiheit muss da sein, sie auszuüben, wenn die Befähigung dahin treibt.

Dass die Frau vor dem Gesetz mit dem Mann völlig gleichgestellt werden müsse, ist schon zu oft gesagt, als müsste. Sie ist ebenso gut Staatsbürger wie der Mann; sie hat die wichtigste Aufgabe für den Staat zu erfüllen: ihm Bürger zu geben und zu erziehen und hat ein heiliges Anrecht, in ihren Interessen geschützt und unabhängig zu sein, gleich dem Mann. Es ist dies eine einfache Frage der vernünftig fortschreitenden Zivilisation und muss überall gelöst werden, wo sie es noch nicht ist.

Aber wichtiger noch als diese äußeren Bedingungen der Frauen-Emanzipation sind die inneren, die sich zusammenfassen in dem einen Wort: Bildung. Was ist denn wahre Bildung? Ist es die Anhäufung von Wissen auf den verschiedenen Gebieten der Forschung? Ist es die Beherrschung einer Spezialität? Ist es die formelle Ausübung religiöser Pflichten? Ist es die gesellige Liebenswürdigkeit der Salondame oder die wirtschaftliche Tätigkeit der »guten Hausfrau«?

Nein, meine jungen bekannten und unbekannten Freundinnen (denn an euch richte ich, wie immer, hauptsächlich meine Worte): Bildung im höheren Sinn ist weder bloßes Wissen, noch eine einzelne, besonders entwickelte Fähigkeit, noch die vollendete Beobachtung kirchlicher und weltlicher Formen, noch das Aufgehen in den Beschäftigungen des materiellen Lebens. Sie ist vielmehr die ethische Durchdringung des ganzen Wesens, die Zentralsonne, von der nach allen Richtungen die Strahlen ausgehen, der Brennpunkt, in dem sich alles Denken, Fühlen, Tun zusammenfindet. Sagt doch schon der Apostel: »Wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete, wenn ich alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis, und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.«

Die bloße Anhäufung von erlernten Dingen ist nicht Weisheit. Ein junges Mädchen klagte mir kürzlich über das Missverhältnis zwischen der Masse des mit Notwendigkeit zu Wissenden und der Kürze der Lebenszeit und meinte: die Naturwissenschaften müsse man doch kennen, die neuesten Literaturerzeugnisse der Hauptländer Europas auch, die Kenntnis der alten Sprachen sei unumgänglich nötig usw. – Ich musste lächeln über diese Universalität. Was heißt das: die Naturwissenschaften kennen, wenn ein einziger Zweig derselben das Leben eines Menschen vollkommen ausfüllt? Nein, so sehr ich gründlichen Unterricht und ernstes Studium für die Frauen befürworte, so sehr möchte ich warnen vor der Übertreibung, die hier wie überall dem wahren Wesen des zu erreichenden Zieles schadet. Man lasse um des Himmels willen nicht den Durst nach Wissen zur Modesache, zur Affektation werden. Wehe, wenn man anfängt, mit dem Heiligen zu spielen. Es wäre besser dann, für immer unwissend zu bleiben. Also nicht auf die Masse des Angelernten kommt es an, sondern darauf: die Sinne zu schärfen zu eignen, lebendigen, gesunden Anschauungen, das Denkvermögen zu klarem, scharfem Begriff und Ausdruck zu entwickeln und die Phantasie mit hohen Vorbildern und Eindrücken zu erfüllen, kurz: selbstdenkende, prüfende, schöpferische Menschen zu erziehen.

In gleicher Weise soll es gewiss nicht gesagt sein, dass die Frauen über dem Streben nach größerer intellektueller Entwicklung die Pflicht vernachlässigen sollen, die den meisten unter ihnen vorzugsweise zugewiesen ist: die Verwaltung des häuslichen Lebens. Aber auch da sollen sie nicht bloß erfahrene Verwalterinnen, sondern Pflegerinnen der Ordnung und Anmut sein, durch die auch die einfachsten Bedingungen der häuslichen Existenz wohltuend gestaltet werden, und die Sorge für die materielle Seite des Lebens soll nicht mehr Platz beanspruchen als nötig ist; soll nicht so Gedanken und Zeit einnehmen, dass außer der guten Hausfrau nichts übrig bleibt als ein langweiliges, unästhetisches, in Küche und Kinderstube versauertes Wesen.

Wer wollte endlich es bekämpfen, wenn ein wirkliches, inniges Bedürfen die Frauen zu der Beobachtung der Formen des religiösen Kultus treibt? Nur muss auch dies nicht ein bloßes Sich-Abfinden mit dem Kirchgang und einer damit erfüllten äußeren Form sein, mit dem das übrige Dasein nichts zu schaffen hat und dem nur zu oft Lieblosigkeit und Härte im gewöhnlichen Leben auf das schnödeste widersprechen. Sagte es Christus doch schon der Frau am Brunnen: »Nicht auf dem Berge, nicht im Tempel, sondern im Geist und in der Wahrheit sollt ihr anbeten.«

Ja, das ist der Inbegriff der wahren Bildung: Alles im Geist und in der Wahrheit sein und tun, die Harmonie des ganzen Menschen, die Übereinstimmung zwischen Gesinnung und Tat, die Wahrhaftigkeit des Wesens und der Erscheinung. Und durch solche Bildung wird sich die wahre Emanzipation der Frau vollziehen, die ihr den hohen Platz sichert, der ihr im Leben der Menschheit zukommt. Wie Raffael in seinen himmlischen Gebilden des idealen Weibes Blumen zu dessen Füßen sprießen lässt, so sollen vor dem reinen Wirken der Frauen die Blumen der Schönheit und Güte, des Mitleids und der Weisheit aufblühen. Unser größter deutscher Dichter fasste es zusammen:

Edel sei der Mensch, 
Hilfreich und gut! ... 
Unermüdet schaff' er 
Das Nützliche, Rechte, 
Sei uns ein Vorbild 
Jener geahnten Wesen!

Und so möge denn dies Buch noch einmal hinausziehen und es versuchen, etwas zur Erreichung des besprochenen Zwecks zu tun. Und wenn es auch nur ein Herz gewönne, um im Geist und in der Wahrheit und somit in echter Bildung zu leben, so hätte es sich das Recht erworben, da zu sein.

Rom, im Dezember 1881

Die Verfasserin

1. Kapitel

Früheste Erinnerungen

Es würde schwer sein, inmitten einer größeren Stadt ein besser gelegenes Haus zu finden, als das war, in dem ich geboren wurde und die ersten Tage der Kindheit verlebte. Das Haus lag in der Stadt Cassel und gehörte zu einer Reihe von Häusern, die eine Straße begrenzten, der man mit Recht den Namen Bellevue gegeben hatte, denn an der gegenüberliegenden Seite waren keine Häuser, sondern man genoss der herrlichen Aussicht auf schöne Garten- und Parkanlagen, die terrassenförmig in eine fruchtbare Ebene, durch die einer der größeren Flüsse Deutschlands, die Fulda, hinzieht, hinabsteigen. Ich war die Vorjüngste von zehn Kindern, die alle gesund und geistig begabt waren. Meine Eltern waren noch jung, als ich auf die Welt kam. Sie lebten in jener glücklichen Mitte zwischen dem Überflüssigen und dem Notwendigen, in der sich die meisten Bedingungen für häusliches Glück finden. Ich habe aus den ersten Kindheitstagen wie einen lichten Schein unendlicher Heiterkeit zurückbehalten. Nur drei bestimmtere Erinnerungen lösen sich von diesem hellen Hintergrunde ab.

Die erste dieser Erinnerungen ist das Wohnzimmer meiner Mutter, mit gemalten Tapeten, die Landschaften mit Palmen, hohem Schilfrohr und Gebäuden von fremdartiger Architektur enthielten. Meine kindliche Phantasie hatte Freude an dieser phantastischen Welt. Dazu kam, dass ein Freund des Hauses mir Märchen dabei erzählte; z. B. dass eines dieser wunderbaren Häuschen die Wohnung eines Zauberers sei, der Blumenbach heiße und dem die ganze Natur gehorsam sei. Bei dem Häuschen stand ein großer Storch auf seinen langen, steifen Beinen, den Kopf mit dem langen Schnabel auf die Brust gesenkt. Das sei Blumenbachs Diener, sagte mein Freund; er stehe da immer und warte der Befehle seines Herrn.

Die zweite der Erinnerungen ist die an einen Abend, wo meine Wärterin mir erzählte, dass meine kleine Schwester, die vor nicht langer Zeit geboren war, wieder gestorben sei. Gegen das Verbot meiner Mutter ließ sie mich durch eine Glastür in ein Zimmer sehen, in dem ein schwarzer Kasten stand; in diesem Kasten lag meine kleine Schwester schlafend, weiß wie Schnee und mit Blumen bedeckt.

Die dritte Erinnerung endlich knüpft sich an die Person des alten Fürsten, der das Kurfürstentum Hessen, den kleinen deutschen Staat, der meine Heimat ist, beherrschte. Sein Wagen fuhr jeden Tag an unserem Hause vorüber; zwei Läufer in Livree liefen vor dem Wagen her. Im Wagen saß ein Greis, in einer Uniform mit dem Schnitt aus der Zeit Friedrichs des Großen, und einem dreieckigen Hut auf dem Kopf. Seine weißen Haare waren hinten in einen Zopf geflochten und eine schreckliche Geschwulst bedeckte ihm die eine Backe. Das war die Krankheit, an der er starb. Ich sah sein Begräbnis nicht, aber meine alte Wärterin wiederholte mir unzähligemal die Beschreibung desselben. Man bestattete ihn nicht in der Gruft seiner Ahnen in der großen Kirche. Zufolge seines Wunsches setzte man ihn in der Kapelle eines Lustschlosses (auf der Wilhelmshöhe) bei, das er hatte bauen lassen und das sein Lieblingsaufenthalt gewesen war. Das Leichenbegängnis ging die Nacht vor sich, beim Scheine der Fackeln, nach alter Sitte. Ein Ritter in schwarzer Rüstung, auf einem schwarzen Pferd, musste dicht hinter dem Trauerwagen herreiten. Dieser Ritter wurde immer aus der hohen Aristokratie gewählt, aber er musste stets, wie die Sage erzählte, diese Ehre mit dem Leben büßen. Auch in diesem Fall wurde der Volksglaube nicht getäuscht. Der diesmalige Schauspieler in dem nächtlichen Drama, ein junger Edelmann voll Kraft und Gesundheit, wurde drei Wochen nach dem Begräbnis von einem Fieber hinweggerafft. War dieses Fieber einfach die Folge einer Erkältung in der kalten Eisenrüstung während des langen nächtlichen Zuges? Das Volk dachte nicht an eine solche Möglichkeit, und meine kindliche Einbildungskraft stimmte dem Volksglauben bei. Auch ergriff mich jedes Mal ein geheimer Schauer, wenn ich mit meinen Eltern das Lustschloss besuchte und in der Rüstkammer auf einem schwarzen hölzernen Pferd die schwarze Rüstung sitzen sah, die der unglückliche Kavalier in jener Nacht getragen hatte.

2. Kapitel

Öffentliche und persönliche Beziehungen

Der Tod des alten Herrn wurde nicht nur in meiner Familie die Ursache großer Veränderungen, sondern er bezeichnete, sozusagen, das Ende einer ganzen Epoche in der Geschichte meines kleinen Vaterlandes. Das regierende Haus, dem er angehört hatte, war sehr alt und zählte unter seinen Ahnen Mitglieder, die sich durch Tapferkeit und Charaktergröße ausgezeichnet hatten. Aber die letzten Generationen waren herabgekommen. Sie hatten ihr Privatvermögen auf schamlose Weise vermehrt, indem sie ihre Untertanen an fremde Mächte verkauften, um sie in fernen Kriegen zu verwenden. Maitressen regierten seit lange das Land. Die letzte Regierung war sonderbaren Wechselfällen unterworfen gewesen. Der Charakter des alten Fürsten hatte bei allen Fehlern eine gewisse Würde gehabt; bei der Annäherung des allgewaltigen Eroberers unseres Jahrhunderts verließ er freiwillig sein Fürstentum, da er wohl dass er nicht Macht hatte, es zu verteidigen, und seinen Untertanen unnütz vergossenes Blut ersparen wollte. Er zog die Verbannung der schmachvollen Unterwerfung anderer deutscher Fürsten vor. Die Hauptstadt seines kleinen Reichs wurde die eines großen Königreichs, das der Eroberer Jérôme, dem jüngsten seiner Brüder, schenkte. Die Eleganz, die Frivolität und die Leichtgläubigkeit der französischen Sitten ließen sich in den verlassenen Wohnungen der Zopfmenschen nieder. Der junge König schuf ein kleines Paris auf deutscher Erde.

Mein Vater, der seine Familie nicht in die Verbannung führen konnte, blieb und trat in den Dienst des neuen Staats. Meine Mutter war ganz jung und sehr schön; so war es nur natürlich, dass beide an dem lebhaften, fröhlichen Leben des jungen Hofes teilnahmen. Wie oft quälte ich meine Mutter, damit sie mir immer und immer wieder die Geschichte jener Tage, die lange vor meiner Geburt ihr Ende erreichten, erzähle! Wie begierig lauschte ich den Beschreibungen der glänzenden Feste und der schönen, reizenden Frauen, die mit ihren Familien aus Frankreich gekommen waren, um durch ihre Grazie den Hof des galanten Königs zu schmücken! Mit welchem Interesse untersuchte ich die Garderobe meiner Mutter, in der sich noch viele Überreste jener Zeit fanden! Wie mir diese Schäferkostüme, diese türkischen Kleider, diese antiken Draperien gefielen! Eine Menge Gedanken wurden in mir wach, wenn ich an das vorzeitige Ende all dieser Herrlichkeit dachte. Wie ein Traum war all das Prächtige verflogen. Die Russen waren an den Toren der Stadt erschienen, ihre Kugeln hatten durch die Straßen gepfiffen. Meine Eltern hatten ihre besten Sachen eingepackt und das Haus verlassen, das dem feindlichen Angriff zu sehr ausgesetzt war. Die alte Tante, die mit uns lebte, hatte viele Gegenstände in Fässer voll Mehl auf dem Boden versteckt. Eine Kanonenkugel traf das Haus und blieb in der Mauer stecken.

Indem ich diesen Erzählungen horchte, bedauerte ich von ganzem Herzen, nicht damals schon gelebt zu haben, damit ich die Gefahr mit meinen Eltern hätte teilen können. Ich wäre auch sehr begierig gewesen zu wissen, ob die Kosaken die Sachen, die im Mehl versteckt waren, gefunden hätten, im Fall die Stadt geplündert worden wäre.

Aber die Stadt sowohl wie meine Eltern wurden vor dem Ruin bewahrt. Der alte Fürst kehrte in sein Land zurück. Die Zöpfe und die Korporalstöcke nahmen wieder den Platz ein, den die französischen Grazien verlassen hatten. Das Land wurde abermals von einer Maitresse, der wenig liebenswürdigen Pflegerin eines siechen Greises, regiert. Günstlinge, die sich im Exil, das sie mit ihrem Fürsten teilten, bereichert hatten, erhielten die ersten Stellen im Staat. Das Volk, das unter den verschiedenen deutschen Stämmen für seine Anhänglichkeit an sein Fürstenhaus bekannt war, hatte den wiederkehrenden Regenten zuerst mit freudigem Entzücken begrüßt; bald aber wurde man inne, dass das Band zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerrissen war. Die Fürsten und die Völker hatten die nationale Erhebung und die Unabhängigkeitskriege in sehr verschiedener Weise verstanden. Die begeisterten Träume so vieler edler Herzen verflogen, und anstatt des Morgenrots der Freiheit, das die deutsche Jugend erhofft hatte, stieg ein neuer, düstrer, nebelverhüllter Tag herauf. Die Menschen der alten Zeit betrachteten den Zwischenakt der großen Komödie der absoluten Monarchie als beendet, um in Bequemlichkeit aufs Neue die alten Throne und die alte Herrschaft einzunehmen. Das Blut der Völker war umsonst geflossen. Die Geschichte stand wieder still.

Nur der Tod stand nicht still; er holte den Greis mit dem Zopf, und von diesem Augenblick an wurden wenigstens die Haare im ganzen Land von der Fessel der Vergangenheit erlöst.

Äußerlich veränderte sich vieles unter der neuen Regierung. Mein Vater, der als Kind ein Spielkamerad des Erbprinzen gewesen war, wurde in die Nähe des nunmehrigen Fürsten berufen, um eine bedeutende Stelle im Staate einzunehmen. Wir verließen das Haus, das ich im Anfang dieser Erzählung erwähnt habe, um ein größeres und glänzenderes, dicht beim fürstlichen Schlosse, zu bewohnen.

3. Kapitel

Unser Familienleben

Ich dass das Gefühl der Ehrfurcht mir eingeboren war, denn man hatte mich nie gezwungen, irgendeine Art von Kultus zu beobachten, und doch hatte ich einen solchen für meine Eltern und meine älteste Schwester. Sie war schon erwachsen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Sie erscheint mir in der Erinnerung wie eine der Madonnen der altdeutschen Maler, die die Typen der ausschließlich weiblichen Schönheit sind – jener Schönheit, die mehr im Ausdruck himmlischer Reinheit und Sanftmut besteht, als in der Regelmäßigkeit der Züge. Meine Verehrung für diese Schwester ging so weit, dass meine Mutter ein wenig eifersüchtig darauf wurde. Das war der erste Konflikt in meinem kindlichen Leben; er endete mit der Verheiratung meiner Schwester, die ihrem Gatten in seine Heimat folgte. Diese erste Trennung kostete mich viel Tränen.

Die Liebe zu meiner Mutter erwachte danach aber in ihrer ganzen Stärke. Ich erinnere mich noch des Entzückens, mit dem ich sie betrachtete, wenn sie, die noch immer schön war, sich zu einem Feste schmückte, besonders zu einem Ball bei Hof. Ich setzte mich dann an das Fenster einer dunkeln Stube, von wo aus ich die von Licht strahlenden Fenster des fürstlichen Schlosses sehen konnte. Da wartete ich, bis sie in die erleuchteten Prachtgemächer trat und an einem der Fenster die Vorhänge etwas auseinanderschob, damit ich hineinsehen könne. Ich sah die Damen in prächtigen Anzügen, die Herren in goldgestickten Uniformen zu beiden Seiten des Saales aufgestellt. Ich sah den Fürsten und seine Familie eintreten und an den Reihen der aufgestellten Personen entlanggehen, um einer jeden derselben ein paar Worte zu sagen. Man schien diesen Worten eine große Wichtigkeit beizulegen, weil es wie der Gipfel der Demütigung angesehen wurde, wenn eine Person übergangen und nicht angeredet worden war. Wie stolz war ich, wenn ich sah, dass man sich mit meiner Mutter länger unterhielt als mit andern! Ich glaubte fest, dass dies eine große Auszeichnung sein müsse. War denn ein Fürst nicht ein über die andern erhabenes Wesen? Warum war er denn sonst ein Fürst? Ich hatte ja in den Märchen der Tausend und Einen Nacht so viel von dem edlen, großmütigen Charakter Harun al Raschids gehört, war so durchdrungen von der ritterlichen Tugend des Kaisers Friedrich des Rotbarts, der im Kyffhäuser sitzt und auf den Augenblick wartet, um das herrliche deutsche Reich wieder herzustellen, dass ich nicht an der Erhabenheit der Fürsten zweifelte.

Mein Vater, der mit Geschäften überhäuft war, hatte nicht viel freie Zeit für seine Kinder; wenn er sich aber einmal mit uns abgeben konnte, so war es ein wahres Fest, denn es wäre unmöglich gewesen, eine redlichere, liebevollere, zärtlichere Natur zu finden, als die seine war.

Unsere Mutter war es, die sich damit beschäftigte, die künstlerischen Neigungen in uns zu wecken. Ihre Geistesrichtung gehörte jener geistigen Mitte der Zeit an, zu welcher die Humboldts, Rahel, Schleiermacher, die Schlegels und andere berühmte Zeitgenossen zählten. Diese Richtung, zugleich liberal, patriotisch und philosophisch, hatte auch eine eigentümliche Beimischung von dem Mystizismus, den die damals in höchster Blüte stehende romantische Schule hinzubrachte. Verbunden mit der unabhängigen Natur meiner Mutter, führte diese Richtung sie sehr häufig zur Opposition gegen die Konvention der Gesellschaft, an der die Stellung meines Vaters sie teilzunehmen zwang. Ganz besonders war dies der Fall bei der Wahl der Personen, aus denen sie ihren engeren Kreis bildete. Anstatt sie ausschließlich aus den Reihen der Aristokratie zu nehmen, wählte sie sie vielmehr nach den Eigenschaften des Geistes und Herzens, unbekümmert darum, welcher Schicht der Gesellschaft sie angehörten. Besonders gern zog sie die ausgezeichnetsten Mitglieder des Theaters herbei, deren Leistungen ihr Entzücken und Genuss gewährten, und die sie ihren übrigen Gästen vollkommen gleichstellte. Das war damals noch eine große Kühnheit, denn man sah die Theatermitglieder noch wie eine ausgeschlossene Kaste, eine Art Parias an, höchstens gut genug, den anderen Sterblichen die Langweile zu vertreiben, aber durchaus nicht berechtigt, sich Ihresgleichen zu wähnen. Auch wurde meine Mutter sehr deshalb getadelt, und selbst mein Vater teilte ihre Ansicht in dieser Beziehung nicht ganz. Er kam selten zu den kleineren Vereinigungen bei ihr. Meine älteren Schwestern und Brüder aber, die selbst alle sich der einen oder anderen Kunst gewidmet hatten, nahmen daran teil, und ganz besonders waren es treffliche musikalische Aufführungen, die häufig im Hause vorkamen. Meine Kindheit verging in dieser geistigen und künstlerischen Mitte. In unserem Familienleben waren die Kinder nicht so von dem Leben der Erwachsenen ausgeschlossen, wie dies z. B. in England der Fall ist. Meine Mutter war der Ansicht, dass die Berührung mit ausgezeichneten Menschen nur einen guten Einfluss auf die geistige Entwicklung der Kinder haben könne und allmählich ihr Urteil und ihren Geschmack entwickeln müsse. Ich glaube, dass diese Bemühungen, so weit sie möglich sind, eins der wichtigsten Elemente der Erziehung sein wussten es wohl, und die Lyzeen, wo ihre Philosophen und Weisen sich mit den Kindern unterhielten, trugen wahrscheinlich nicht wenig dazu bei, aus ihnen ein Volk zu machen, wie bis jetzt noch kein ähnliches dagewesen ist.

Wir erhielten keine sogenannte religiöse Erziehung. Ich erinnere mich nicht, wer mir zuerst von Gott sprach und mich ein kleines Gebet lehrte. Wir wurden niemals genötigt, unsere Frömmigkeit in Gegenwart der Diener oder fremder Personen zur Schau zu tragen, wie es in England geschieht. Ich für mein Teil befolgte, ohne es zu wissen, das Gebot Christi, das sagt, dass man allein sein muss, wenn man recht beten will. Jeden Abend, wenn ich in meinem Bett lag und keinen anderen Vertrauten hatte als mein Kopfkissen, wiederholte ich leise für mich mein kleines Gebet, mit der Andacht des wahren Glaubens. Niemand wusste etwas davon. Mein Gebet lautete: »Lieber Gott, ich bin klein, mach du mein Herz rein, dass niemand drin wohne wie der liebe Gott allein.«

Doch konnte ich es nicht verhindern, dass mein Herz noch andere geliebte Einwohner hatte. Ich erfand mir also selbst ein zweites Gebet, das ich jeden Abend im geheimen nach dem ersten betete, und in dem ich den Segen Gottes auf meine Eltern und Geschwister, auf meinen Lehrer und dessen Familie und schließlich auf alle guten Menschen herabrief. Wenn ich diese mir von mir selbst auferlegte Pflicht des Herzens erfüllt hatte, war mein Gewissen beruhigt und ich schlief den Schlaf des Gerechten.

Eines Morgens erwachte ich vor Tagesanbruch durch ein ungewohntes Geräusch im Schlafzimmer meiner Mutter, in dem auch meine jüngste Schwester und ich schliefen. Es war im Winter, das Feuer im Ofen wurde bereits angesteckt. Ich hörte meine Mutter weinen und die alte Tante, die an ihrem Bett stand, sagen: »Tröste dich, dein Kind ist jetzt bei Gott.« – Ich begriff, dass man von dem kleinen Bruder redete, der, erst einige Monate alt, seit mehreren Tagen krank gewesen war. Ich weinte auch still in mein Kopfkissen, ohne merken zu lassen, dass ich erwacht sei und die Worte gehört habe, die mir ein erhabenes Geheimnis zu enthalten schienen, das über meine Fassungskraft ging. Als die Zeit des Aufstehens für mich gekommen war, sagte man mir, mein kleiner Bruder sei gestorben. Ich hätte gern mehr über dies Geheimnis des Sterbens und der Vereinigung mit Gott gewusst, aber ich wagte nicht zu fragen, aus Furcht, die Betrübnis der andern zu vermehren.

Am Nachmittag kam eine kleine Freundin uns zu besuchen. Man führte sie in das Zimmer, wo der tote Bruder lag, aber mich und meine jüngere Schwester ließ man nicht eintreten. Das verwundete mich tief. Man hielt mich also für zu schwach, um den schmerzlichen Anblick zu ertragen, oder für unfähig, das Unglück zu begreifen! Ich sprach niemals davon, aber der Stachel war so tief in das Herz gedrungen, dass selbst jetzt noch, nach so viel größeren Täuschungen, ich seine Spitze fühle.

4. Kapitel

Die erste Reise

Zu der Zeit, von der ich rede, war ich gegen fünf oder sechs Jahre alt. Ich fing an, viel nachzudenken. Eines Tages fragte ich einen meiner älteren Brüder, wie es komme, dass unsere Stadt die Hauptstadt des Fürstentums Hessen sei und zugleich eine Stadt Deutschlands. Mein Bruder bemühte sich, mir, so gut es ging, auseinanderzusetzen, das Deutschland sich in viele kleine Länder teile, deren jedes eine Hauptstadt und einen besonderen Fürsten habe. Aber wie sehr er sich auch bemühte, ich konnte es nicht begreifen, dass man eine Menge einzelner Länder mit verschiedenen Namen als eine große Einheit ansehen solle.

Eine andere Frage beschäftigte mich auch auf das lebhafteste, nämlich was »die Ferne« sei. Bis dahin war ich nur so weit von meinem Geburtsort entfernt gewesen, um bequem am selben Tage dahin zurückkehren zu können. Mir aber vorzustellen, dass man so weit gehen könne, um nicht am selben Tag und nicht in vielen Tagen zurückkehren zu können – dass man in ganz anderen Ländern weilen und mit Menschen verkehren könne, die keine Beziehung zu uns hätten –, das erschien mir fast unmöglich.

Ich beschloss also, bei mir selbst zu erfahren, was »die Ferne« sei. Meine Mutter war mit meinen beiden ältesten Schwestern in ein Bad gereist. An einem schönen Sommermorgen nahm ich etwas Wäsche aus meiner Kommode, knüpfte alles in ein Taschentuch und ging die Treppe hinab, um mich geradewegs auf die Post zu begeben, mich in einen der großen Postwagen zu setzen, die ich so oft da hatte stehen sehen, und schnurstracks nach dem Orte zu fahren, wo meine Mutter weilte. Ich zweifelte nicht, dass man mir einen Platz im Wagen geben würde, wenn ich sagte, ich wolle wissen, was »die Ferne« sei.

Meine Wärterin hatte meine Abwesenheit noch zu rechter Zeit bemerkt, stürzte mir erschrocken nach, erfasste mich in der Straße und verhinderte mich so, meine Entdeckungsreise zu machen.

Den darauffolgenden Sommer aber konnte ich endlich meine Wissbegierde befriedigen. Meine Schwestern und ich machten eine Vergnügungsreise mit meinen Eltern. Zunächst gingen wir auf das Land zu einer Tante im Süden von Deutschland, und da lernte ich zuerst das eigentliche Landleben kennen. Das große Haus, eine alte Abtei mit endlos langen Gängen – den prächtigen Garten mit einer Fülle von Blumen und Früchten, die Felder, das Vieh, die unbeschränkte Freiheit, alles das zu genießen, im Garten, im Feld umherzulaufen, das schien mir das Paradies selbst. Was mich aber besonders anzog, das war die alte Kirche, die früher zur Abtei gehört hatte und in der ich zum ersten Mal die Zeremonien des katholischen Kultus sah. Eine lebhafte Erinnerung knüpft sich daran. Ein Kaplan, der zu der Kirche gehörte, kam häufig zu meiner Tante. Er war ein junger Mann, voller Talente, liebenswürdig in diesem Kreise fern von den Augen seiner Vorgesetzten – aber kaum wiederzuerkennen, wenn er, bleich und traurig, in der Kirche in priesterlichem Ornate erschien.

Er ging oft allein mit meiner Mutter im Garten spazieren, in anscheinend sehr ernste Gespräche vertieft, deren Gegenstand ich nicht kannte. Eines Tages fuhren wir in seiner Begleitung, um das königliche Schloss in Aschaffenburg in der Nähe zu besehen. Ich hielt meine Mutter bei der Hand, und er ging ihr zur Seite. Als wir in die Schlosskapelle kamen, wurde er sehr blass, neigte sich zu meiner Mutter und flüsterte ihr zu, indem er auf den Altar und das Kruzifix auf demselben zeigte: »Da war es; vor jenem Altar und vor jenem Bild.« – Meine Mutter sah ihn voll Mitleid an und sagte: »Armer Mann!« – Erst viele Jahre später erhielt ich den Schlüssel zu dieser Szene, als meine Mutter mir die Geschichte erzählte. Als ganz unmündiger Knabe noch war er von seinem Vater beredet worden, in den geistlichen Stand einzutreten, und in der eben erwähnten Kapelle hatte er das Gelübde abgelegt, auf ewig mit den Neigungen einer poetischen und leidenschaftlichen Natur zu brechen. Später hatte er die ganze Tragweite seines Irrtums und seines Unglücks begriffen, und da er seine Gelübde nicht brechen konnte, führte er ein Leben voll innerer Widersprüche und unsäglichen moralischen Elends. Meine Mutter hatte recht gehabt, zu sagen: »Armer Mann!«

Nach unserer Rückkehr nach Hause fing ich an, recht ernstlich zu lernen. Meine jüngste Schwester und ich bekamen Stunden im Haus, die mir damals viel vorzüglicher erschienen als der Schulunterricht; zunächst, weil der Lehrer sich ausschließlich uns widmete, und es mir daher schien, als wüssten wir alles gründlicher wie unsere Freundinnen, die Schulen besuchten; dann aber auch, weil wir am Nachmittag keine Stunden hatten; Stunden, die mir sehr peinlich vorkamen und mir noch jetzt so scheinen. Man kann sich nicht vorstellen, dass es gesund sein soll, unmittelbar nach dem Essen, in den ersten Stunden der Verdauung, auf die Schulbänke zurückzukehren, in Stuben, die den ganzen Morgen durch voll Menschen waren, und da die Aufmerksamkeit wieder ausschließlich auf mehr oder minder abstrakte Gegenstände zu wenden. Ich fand uns sehr glücklich, dass wir nach dem Essen in Freiheit in unserem Garten spielen, dort Blumen und Gemüse ziehen und Robinsonaden und Entdeckung neuer Welten nach Herzenslust aufführen konnten. Und dennoch hätte auch selbst bei uns der Anteil der Natur an der Erziehung, im Vergleich zu dem des Lernens, größer sein sollen. Ich würde dadurch vor einer Gefahr bewahrt geblieben sein, die aus meiner Liebe zum Wissen selbst herkam. Ich konnte kein Buch sehen, ohne mich dessen zu bemächtigen. Mein Geburtstag erschien mir fade, wenn er mir keine Bücher brachte. Hatte ich die erhalten, so saß ich den ganzen Tag und las und vergaß die wirkliche Welt über die der Phantasie. Meine Leidenschaft für das Lesen verleitete mich sogar, heimlich Bücher aus der Bibliothek meiner Mutter zu nehmen. Glücklicherweise fand ich nur solche, die mir nicht schaden konnten, aber die Tatsache beunruhigte mein Gewissen sehr, und ich beschloss, ernstlich gegen die Versuchung anzukämpfen. Doch trug die Leidenschaft noch öfter den Sieg davon in diesem Kampf. Endlich blieb ich Siegerin. Es war mein erstes Begegnen mit der Schlange, meine erste Handlung als Tochter Evas; aber es war auch mein erster ernster Sieg. Ich habe ein wenig in der Zeit vorgegriffen in Beziehung auf diese Kämpfe, nur um meine Überzeugung auszusprechen, dass wenn das Gleichgewicht zwischen dem Leben des Lernens und dem Leben in der Natur größer gewesen wäre in meiner Kindheit, so würde mir dieser vorzeitige moralische Kampf gewiss erspart worden sein. Ich liebte den Wald, die Wiese, die Blumen ebenso sehr wie das Lesen, und wenn man mir die Natur durch das Lernen verständlich gemacht hätte, hätte ich sicher daraus ebenso viele Eingebungen geschöpft wie aus der Welt der Fiktion.

Aber man war damals noch weit davon entfernt, die Naturwissenschaften bei der Erziehung überhaupt, insbesondere aber bei der der jungen Mädchen, als unentbehrlich anzusehen.

5. Kapitel

Träume und Wirklichkeiten

Ein geheimnisvolles Ereignis, das um diese Zeit das Publikum meiner Vaterstadt in Aufregung versetzte, beschäftigte auch meine Phantasie auf das lebhafteste, obgleich ich nur hier und da etwas davon hörte und mit Auslegungen, die ich nicht verstand. Dies Ereignis bestand in der plötzlichen Abreise des jungen Erbprinzen, der das Land insgeheim in demselben Augenblick verlassen hatte, in dem sein vertrauter Kammerdiener eines plötzlichen und unerklärlichen Todes gestorben war. Man flüsterte sich zu, dass er für ein anderes Opfer bestimmt gewesen sei, nämlich für den Herrn statt des Dieners. Die Fürstin folgte ihrem Sohn in das Exil, während eine schöne Dame, mit ebenso schönen Kindern, in ein Haus einzog, das dem unsrigen gegenüber und an der Seite des fürstlichen Schlosses lag. Ich hörte durch unsere Dienstmädchen, dass diese schönen Kinder die Kinder des Fürsten seien und deren Mutter seine Gemahlin. Nun begriff ich gar nicht, wie ein Mann zwei Frauen und zwei verschiedene Familien zugleich haben könne, aber ich nahm lebhaft Partei für den verbannten Prinzen und dessen Mutter, deren Tugend und hohe Geistesbildung von aller Welt gepriesen wurden. Meine Mutter war, soviel ich bemerken konnte, derselben Ansicht, denn sie beobachtete nie mehr, als die absolut notwendige Höflichkeit gegen die schöne Dame, um die sich alle huldigend drängten, die nach Beförderung und Ehren strebten. Mein Vater ging bei seinem Benehmen von einem anderen Gesichtspunkt aus, sein einziger Ehrgeiz war das Wohl des Landes, und um diesem zu dienen, setzte er bei dem Landesfürsten die mächtigsten Hebel in Bewegung. Der Fürst hatte ein gutes Herz, wenig Bildung, viel Leichtsinn und Anfälle von Heftigkeit, die an Wahnsinn streiften. Seine legitime Frau, die Tochter eines großen Königshauses, tugendhaft, gelehrt und Künstlerin, aber stolz und kalt, hatte ihm nie das häusliche Glück gegeben, das er verlangte. Ihre Charaktere waren zu verschieden. Der Fürst schloss sich dann in leidenschaftlicher Liebe an jene andere Frau an, die schön war, auch nicht ohne Verstand, aber wenig gebildet und gewöhnlich. Sie hatte eine beinah absolute Herrschaft über ihn erlangt. Meine Mutter konnte ihre Abneigung gegen diese Frau niemals ganz überwinden, und da mein Vater, um jener höheren Gründe willen, einige Rücksichten für sie verlangte, so wurde dieser Gegenstand zuweilen Ursache von Diskussionen zwischen meinen Eltern. Der Zufall machte mich einmal zur unbemerkten Zeugin einer solchen ziemlich lebhaften Diskussion, und diese Entdeckung eines Zerwürfnisses zwischen meinen Eltern, die ich gleicherweise liebte, kostete mir viele Tränen. Alle diese Wirklichkeiten, die ich nur halb sah und verstand, verwirrten und beunruhigten mich. Ich flüchtete mich mit doppeltem Entzücken in das Land der Träume und der Erfindung. Mein größtes Glück war ein kleines Theater, das man uns geschenkt hatte, und auf dem wir mittels Puppen, deren Rollen wir sangen und sprachen, große Opern und Dramen aufführten. Ich arbeitete wochenlang daran, um sie mit dem größtmöglichen Luxus in Szene zu setzen, und es war mir so heiliger Ernst damit, dass ich an einem Abend, wo wir die Euryanthe mit großem Pomp vor einem Publikum von Eltern und Geschwistern gaben, den Vorhang fallen ließ und vor Schmerz weinte, weil mein jüngster Bruder, der mit uns spielte, sich in einer tragischen Szene einen dummen Spaß erlaubte. Diese Leidenschaft für das Theater steigerte sich noch, als wir selbst anfingen, zu spielen, meine jüngere Schwester, ich und einige Freundinnen. Man sagte mir, dass ich gut spiele, und ich fühlte mich durchaus in meinem Beruf. Ich träumte nur eins: eine große Künstlerin zu werden.

Später habe ich in vielen intelligenten Kindern diese Leidenschaft für das Theater gefunden, und ich glaube, man müsste viel Gewicht auf dieses Element in der Erziehung legen, anstatt es zu unterdrücken, wie man gewöhnlich tut. Ich glaube sogar, dass man dabei sehr wichtige Fingerzeige in Bezug auf den Charakter und die Naturanlagen finden würde. Es gibt Kinder, die die bloße Maskerade, das Burleske, die Farce lieben, es gibt andere, denen der Ausdruck erhabener Gesinnung, des Heroismus Bedürfnis scheint. Vielleicht könnte man sich auch dieses Elements sehr vorteilhaft beim Unterricht in der Geschichte bedienen, und sicher hätte ein Knabe, der Wilhelm Tell, Spartacus usw. ein Mädchen, das die Jungfrau von Orleans, Iphigenie oder sonst heroische Persönlichkeiten der Geschichte selbst dargestellt hätte, lebhaftere Eindrücke von allem, was sich auf so hervorragende Gestalten bezieht, als ihnen die Geschichtsstunde auf ihren Schulbänken geben kann. Und welch ein weites Feld für Jugendschriftsteller, historische Stücke zum Vorteil der Erziehung zu schreiben, und für die Erzieher, die Aufführungen zu organisieren!

Außer dem Theater waren es die Helden und großen Charaktere der alten, besonders der griechischen Geschichte, denen meine heißesten Sympathien galten. Ich las voll Eifer eine populär geschriebene Weltgeschichte in vielen Bänden und mit ziemlich guten Kupfern, die sich in der Bibliothek meiner Mutter befand. Gewisse Gestalten und gewisse Tatsachen sind von da an für ewig meiner Erinnerung eingegraben geblieben. Wenn ich von dem glorreichen Tod des Leonidas und seiner dreihundert Braven las, wenn ich das Bild ansah, wo Examinondas den Speer aus seiner Wunde zieht und den Freunden, die weinen, weil er keine Kinder hinterlässt, sagt: »Lasse ich euch nicht zwei unsterbliche Töchter, die Schlachten bei Leuktra und Mantinea?« – wenn ich von Sokrates hörte, wie er dem Tode entgegenging, indem er seine Schüler über die erhabensten Dinge belehrte – dann vergoss ich Tränen freudiger Rührung. Mein Herz erglühte mehr und mehr für alles, was den Stempel des Erhabenen trug, und ich kann in Wahrheit sagen, dass der Kultus der Heroen die wahre Religion meiner Kindheit war.

6. Kapitel

Die erste Revolution

Mein Vater war mit dem Fürsten in ein entferntes Bad gereist, wo der letztere eine Kur brauchen sollte. Plötzlich verbreitete sich die Nachricht, der Fürst sei dort gefährlich erkrankt. Man flüsterte sich zu, die Wirklichkeit sei noch schlimmer als die Nachricht, ja man sprach von Todesgefahr. Das Land war in großer Aufregung. Die Nachrichten über die Julirevolution waren kurz zuvor aus Frankreich gekommen. Ein elektrischer Strom durchzuckte Europa. Alle Elemente der Unzufriedenheit, die seit langem in den Völkern gärten, wollten an das Licht. Ich hörte zum ersten Mal das Wort Revolution.

Ich war von dem allem sehr aufgeregt. Ein Vorgefühl von Dingen, die eine bis dahin ungekannte Wichtigkeit ahnen ließen, erfüllte mich. Aber wie es bei Kindern zu gehen pflegt, so hatten meine Gefühle einen ganz persönlichen Charakter: ich fürchtete Gefahren für meinen geliebten Vater. Die Unzufriedenen im Lande erhoben ihre Stimme und sagten, der Fürst habe die Reise nur seiner Maitresse zuliebe unternommen, der man die Bäder verordnet hatte. Man klagte deshalb alle an, die sich im Gefolge des Fürsten befanden, und mein Vater war die Hauptperson darunter. Man behauptete auch, die Wahrheit werde verhehlt, um den legitimen Thronerben zu hindern, aus der Verbannung zurückzukehren. Endlich murrte man, dass das Land sich in einem so kritischen Augenblick ohne Regierung befände. Die liberale Partei schrieb den Namen des Thronerben und seiner Mutter auf ihr Banner und verlangte stürmisch deren Zurückberufung.