MORITEX
Band I – Das Erz der Götter
Stefan Breuer
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Die MORITEX-Reihe:
Band I - Das Erz der Götter
Band II - Die Töchter der Zeit
Die Spiele des Apuleius (Ergänzungsband)
„Aber die Erde zuerst erzeugete,
ähnlich ihr selber, ihn den sternichten Himmel,
dass ganz er umher sie bedeckte,
stets unerschütterte Veste zu sein den seligen Göttern.“
Theogonie, Vers 125 bis 127
(im Jahre 46 der varronischen Ära)
Prolog
Die Explosion entlud sich in vollkommener Stille. Sie waren herausgetreten in die kosmische Weite. Hinter ihnen strahlte das Portal wie eine gewaltige Scheibe, ein flacher weißer Stern. Im nächsten Moment, als sie spürten, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte, fiel der Stern in sich zusammen, verdichtete sich auf ein Millionstel seiner Größe, wobei seine Helligkeit und Hitze rasant anstieg – um einen Wimpernschlag später in einer gewaltigen, lautlosen Explosion zu vergehen. Ein rasender Sturm riss Licht und Substanz des Sternenportals in alle Richtungen hinweg, und mit ihm jeden, der aus dem Portal getreten war, mit Ausnahme der Großen Drei. Xenion, Hippios und Stygis allein widerstanden dem Sturm, und mit all ihrer Kraft wandten sie sich unendlich langsam um und schauten auf die Stelle, wo bis eben noch ein Sternenportal zu einer anderen Welt und jetzt nur noch ein schwarzes Nichts war.
I
Seine Augen folgten seinen Fingern, die behutsam, ohne sie zu wecken, geschwungene Linien auf ihren nackten Rücken und ihre Schultern malten. Streicheln, erkunden, wortlose Schrift auf nackter Haut – er war gewandt mit den Fingern. Auf dieselbe Weise hatte er sie in der vergangenen Nacht in den Schlaf gestreichelt, nach dem Liebesspiel, das sie trotz all ihrer Erfahrung mehr erschöpft hatte als ihn. Eine Vereinigung auf Zeit, auf Minuten vielleicht nur, denn trotz oder gerade wegen seiner unbestreitbaren Fähigkeiten als Liebhaber wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, sich über die nackten Liebesstunden hinaus an eine Frau emotional zu binden, gar zu verpflichten. Verpflichtung und Enthemmung erschienen ihm schon immer als unvereinbar.
Er hätte sie als eine unvergleichliche Schönheit bezeichnet, wenn nicht zur anderen Seite, in seinem Rücken, ihre Schwester neben ihm gelegen hätte – in allem ihr wenige Jahre jüngeres Abbild, mit weniger Erfahrung, was das nächtliche Spiel umso abwechslungsreicher gemacht hatte. Ja, die drei hatten auch viel und herzhaft gelacht in den jetzt zerwühlten Laken.
Frauen waren für ihn wie ein Archipel aus Tausenden kleiner Inseln. Von oben betrachtet sahen alle Inseln gleich aus, aber jede erwies sich als neu und einzigartig, wenn er sie betrat. Und er betrat jede einzelne behutsam, nicht wie ein Eroberer, der seine Fahnenstange in den Strand stieß, sondern wie ein Entdecker, neugierig auf Erkundungen und in Erwartung von Überraschungen. Entdecken, nicht besitzen; Besucher auf Zeit, der gar nicht beabsichtigte, dauerhafte Spuren zu hinterlassen – mit dieser Maxime war er, wie er fand, gut gefahren. Zum Beispiel in diesem Moment im Bett zwischen zwei nackten Schönheiten, deren Erinnerungen an die vergangene Nacht – da war er sich sicher –ebenso angenehm waren wie die Seinen.
Langsam, um sie nicht zu wecken, richtete er sich auf und entstieg dem Bett. Durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden fiel Sonnenlicht ins Zimmer. Es war nicht mehr früh. In einem Bordell begann der Tag spät, und die Nacht dauerte lang. Das hatte er von Kindesbeinen an gelernt, und er hatte sich an diesen Rhythmus gewöhnt.
Er ging zum Fenster und stieß die Läden auf. Neben dem Licht drangen Lärm und Gerüche der Großstadt ins Zimmer: das Knarren von Wagenrädern auf dem Pflaster, die antreibenden Rufe eines Fuhrwerkers, Kreischen von Kindern, die um die Ecken rannten, der Geruch nach Leben und Hektik, den man auch als Gestank von menschlichem Zusammenleben auf engem Raum bezeichnen konnte. Er blickte nach unten. Vier Stockwerke tiefer verlief die schmale Seitenstraße, und wie überall in diesem Viertel neigten sich die oberen Geschosse der Häuser immer weiter in die Straßenmitte, als wollten sie sich vor dem gegenüberliegenden Haus, das sich ebenso verhielt, verneigen. Leinen verliefen von Haus zu Haus über die Straße, an denen Frauen die Wäsche zum Trocknen befestigten. Platz war knapp und kostbar in Tuska, der größten Stadt der bekannten Welt.
Er stemmte die Hände in die Hüften, reckte den Kopf mit geschlossenen Augen dem Sonnenlicht entgegen und atmete tief ein.
„Guten späten Morgen, mein Großer!“ Im gegenüberliegenden Haus auf gleicher Höhe mit ihm winkte eine vollbusige Matrone, ein Kleinkind auf dem Arm wiegend, und sie blickte dabei nicht auf sein Gesicht.
„Auch dir einen guten Tag, Priscilla!“, grüßte er zurück.
„Du solltest dir etwas anziehen.“
„Bist du sicher?“, lachte er.
Grinsend schüttelte sie den Kopf. „Verrückter Glücksspieler!“
„Was ist das Leben anderes als ein Glücksspiel?“, lachte er, aber sie hatte Recht. Es war Zeit, sich anzuziehen und dem Tag zu begegnen. Er trat ins Zimmer zurück und an den Tisch, auf dem Wasserkanne und Schüssel standen. Während er sich wusch, regte sich Leben im Bett. Chara gähnte, räkelte sich und streckte die Arme aus. Das Laken verhüllte weniger von ihrem Körper als es bedeckte. Dafni grummelte nur, ihren Kopf im Kissen vergraben.
Apuleius trocknete sein Gesicht, schlüpfte in Hemd und Hose und hockte sich auf einen Schemel, um sich die Sandalen um die Füße zu binden.
„Ich muss los“, sagte er in Richtung des Bettes.
„Bist du sicher?“ Chara lächelte ihn an und schlug das Laken vollständig zur Seite.
„Mein verschlafener Augenstern, du weißt, mein Tagwerk muss geschafft sein, bevor das Deinige beginnt.“
„Spielst du wieder?“
„Nein, heute nicht. Heute bedarf es nicht der Würfel, um ein gutes Geschäft zu erzielen. Und wenn alles läuft, wie ich es erwarte, so können wir heute Abend ein kleines Fest feiern, nur wir – drei.“
Sie lachte. „Du solltest besser erst deine ärgsten Gläubiger auszahlen, bevor du Feste feierst. Sonst nimmt deine Geschichte irgendwann ein schlimmes Ende.“
„Die besten Geschichten haben ein schlimmes Ende“, lachte er zurück. „Was ist langweiliger als ein glücklicher Ausgang? ‚Und die Liebenden sanken sich in die Arme und lebten glücklich und zufrieden bis an Ende ihrer Tage.‘ Wie fade.“
„Versink doch noch einmal in meine Arme und wir werden sehen, ob es fade ist.“ Sie streckte ihm lächelnd die Arme und ihre nackten Brüste entgegen.
„Es gibt nichts, was ich lieber täte, Chara. Mit Ausnahme dieser einen Sache, wegen der ich mich jetzt sputen muss.“ Er stand auf und wandte sich zur Tür. Mit gespieltem Schmollen drehte sie sich im Bett um und zog das Laken wieder über ihre Schulter.
Er verließ sein Zimmer und kletterte die offene Stiege hinab. In allen oberen Stockwerken war es noch ruhig. Einzelnen verschlafenen Mädchen, denen er auf dem Gang begegnete, nickte er freundlich zu. Hier oben begann der Tag erst mit Einbruch der Dämmerung.
Im Erdgeschoss dagegen war es bereits lebendiger. Statt in den Schankraum begab er sich direkt in die Küche. Zinovia, die Herrin des Hauses, stand vor einem der großen Küchentische und inspizierte das darauf abgestellte Geschirr. Sie war eine große, stämmige Frau, mit einem eindrucksvollen Busen, der sich durch ihr Gewand deutlich abzeichnete. Sie trug eine Tunika, die ihr bis kurz über die Knöchel reichte, so wie es anständige Frauen der Stadt taten, darüber eine lederne Schürze. Zinovia war keine Hure, sie beschäftigte nur welche. In einer anderen Umgebung hätte sie eine prächtige Matrone abgegeben.
„Sei gegrüßt, Zierde deines Standes!“
„Ah, der Herr bequemt sich in die Niederungen der Küche.“
„Wo ich hoffe noch eine kleine Stärkung vorzufinden, ehe ich mich den Wirrungen des Tages aussetze.“
„Du wirst wohl eher für Wirrungen sorgen, als dich ihnen auszusetzen“, spottete die Bordellmutter, wies aber zugleich auf eine Ablage neben einer der Kochstellen. „Dort stehen Brot und Käse.“
„Besten Dank!“ Apuleius nahm sich einen großen hölzernen Teller und belud ihn mit mehreren Brotscheiben und großen Käsestücken.
„Willst du dir einen Winterspeck anfressen, oder haben dich Dafni und Chara so sehr rangenommen?“ Zinovia grinste.
„Der Weise speist beizeiten gut und reichlich, dann werden seine Gedanken später am Tage nicht vom Hunger abgelenkt.“
„Dann, Weiser, setz dich mit deinem Teller nach vorne in den Schankraum. Ich muss das Inventar überprüfen, da lenken mich deine Sprüche nur ab.“ Beim Hinausgehen rief sie ihm noch hinterher: „Und denk daran, heute Abend nach dem Rennen wird es voll werden. Ich brauche dich rechtzeitig hier, damit du die allzu Verrückten mit deinen Geschichten bei Laune hältst!“
Er nickte kauend und steuerte über den Flur zwischen Küche und Stiege auf den großen Schankraum zu. Zwei Burschen waren hier damit beschäftigt, Tische, Stühle und Bänke auf ihre vorgesehenen Plätze zu rücken und sauber zu machen. Die letzte Nacht hatte wie immer ihre Spuren hinterlassen, und Zinovia legte Wert darauf, dass ihr Haus bis zum Abend wieder ordentlich und sauber aussah. Sauberkeit und Ordnung waren in ihrem Metier kein Selbstzweck. Ihre Gäste waren zwar selten von hohem Stand, aber auch keine hergelaufenen Tagelöhner oder Seeleute. Die Seeleute kamen über die billigen Häuser am Hafen, die den Namen Bordell nicht verdienten, kaum hinaus; und die Tagelöhner oder sonstiges Pack vom Lande stolperte in der Regel in die Kaschemmen unmittelbar hinter den Stadttoren. Zinovias Haus lag nahe dem Zentrum der Stadt, nicht weit vom Forum und den Spielstätten, der Arena der Gladiatoren und der Großen Rennbahn der Streitwagen. Ihre Gäste waren Bürger, Händler, Soldaten, Besucher mit etwas mehr Geld im Beutel. Sie erwarteten ordentliches Essen, trinkbaren Wein und saubere Mädchen. Zinovia nahm nicht jedes hergelaufene Flittchen bei sich auf. Sie behandelte sie gut (verglichen mit vielen anderen Etablissements der Stadt), dafür erwartete sie von ihnen absolute Professionalität, Disziplin – und Gehorsam.
Auch in Zinovias Freudenhaus ging zuweilen die Kontrolle verloren. Zuviel Wein, der Streit um dasselbe Mädchen, das es nicht schaffte, den einen Freier schnell zu befriedigen, um den zweiten zu bedienen, bevor dieser Amok lief, ein belangloser Streit, der aus dem Ruder lief – das waren die Situationen, in denen Apuleius sich verdient machte. Nicht, dass er sich Streithähnen in die Arme warf oder handgreiflich wurde; er war durchaus kräftig, aber Gewalt mied er wo immer möglich. Auch eine erfolgreiche Schlägerei war in der Regel schmerzhaft, und er sah keinen Sinn in schmerzhaften Siegen. „Feigheit ist der Mut zur Vernunft“, „Feiglinge leben länger“, „Lieber ein ängstlicher Weiser als ein furchtloser Idiot“ - das waren seine Grundsätze, und er hatte noch mehr davon. Nein, wenn Streit im Schankraum aufkam, so begann dieser meist mit Worten zwischen den Raufbolden. Und bevor die Fäuste flogen, schaltete sich Apuleius ein – mit Worten. Er nahm den Grund des Streites geschickt auf, machte einen klugen Witz, zog die Sache ins Lächerliche, so dass die übrigen Gäste in Gelächter ausbrachen und den Streithähnen selbst ihr eigenes Verhalten albern und kindisch vorkam. Dann gab es, wenn nötig noch von Zinovias Schankmädchen, die das Spiel kannten, einen kostenlosen Becher Wein für den letzten Störenfried, und das drohende Gewitter hatte sich verzogen. Half das alles nichts, nun, dann hatte Zinovia die von Apuleius herausgeholte Zeit dazu genutzt, die Nachtwache herbeirufen zu lassen, und deren Eintreffen beendete dann schlagartig jede Rauferei. Aber das geschah nur selten und war auch nicht in Zinovias Sinn, denn ihre Gäste bevorzugten einen ausgelassenen, aber skandalfreien Vergnügungsabend, und wenn sie den nicht garantieren konnte, dann gingen sie eben woanders hin. Und Zinovia war geschäftstüchtig genug, um das zu verhindern.
So hatte sie vor Monaten ein Arrangement mit Apuleius getroffen, nachdem sie erlebt hatte, wie dieser einen Streit zwischen einem Pferdehändler aus Rubicum und einem Getreideschiffer aus Arimino beendete, ohne ihn wirklich zu schlichten. Apuleius durfte seitdem kostenfrei im Bordell wohnen, Mahlzeiten inklusive (vom Wein abgesehen), und auch gegen gelegentliche Besuche ihrer Mädchen in seinem Zimmer im obersten Stockwerk hatte Zinovia nichts einzuwenden, solange deswegen kein Freier leer ausging; dafür verbrachte Apuleius die meisten Abende im Schankraum, unterhielt die Gäste mit Geschichten oder Brettspielen und hatte ein Auge auf die Mädchen. Denn auch das hatte Zinovia früh erkannt: Apuleius hatte ein Gefühl für die Mädchen. Er war einfühlsam, hörte sich ihr Gejammer an – und brachte sie am Ende dazu, einzusehen, dass sie es viel schlechter hätten treffen können als in diesem Haus. Mit Mädchen, die man zur Prostitution zwingen oder gar schlagen musste, konnte Zinovia nichts anfangen. Sie betrieb ein Geschäft, keine Sklaverei; so sah sie es jedenfalls, und sie warf jede hinaus, die ihre Geschäftsregeln nicht peinlichst befolgte.
Apuleius hatte sich auf diesen Handel auf Zeit gerne eingelassen. Er bot ihm eine angenehme und kostengünstige Basis für seine Aktivitäten, die er tagsüber außerhalb des Bordells verfolgte, seit er in die Hauptstadt gekommen war, um hier sein Glück zu machen. Er würde nicht auf Dauer hierbleiben, aber er machte keine Pläne, die länger als ein paar Tage in die Zukunft reichten. Die Zukunft war unberechenbarer als jede Frau. Und Zinovias Haus war wahrlich kein schlechter Unterschlupf. Er konnte das beurteilen, er hatte schon viele Bordelle gesehen. Nicht zuletzt war er in einem aufgewachsen.
Er ließ sich an einem bereits gesäuberten und ordentlich aufgestellten Tisch nieder und machte sich über sein Frühstück her. Ein dunkelhäutiges Schankmädchen brachte ihm einen Krug Wasser und einen Becher und stellte beides neben ihm ab. „Danke, Mirembe. Alles gut?“
Sie lächelte und nickte. „Zeigst du mir heute ein neues Spiel?“
„Später vielleicht, ich habe vorher noch etwas zu erledigen.“
Das Mädchen nickte und ging zurück an den Schanktisch. Brot und Käse kauend schaute er ihr nach. Im Schankraum trugen die Mädchen kurze Tuniken, die über dem Oberschenkel endeten und eine Schulter frei ließen. So zeigten sie genug und nicht zu viel von sich. Nur in den billigen Hurenhäusern am Hafen liefen die Mädchen mit nacktem Oberkörper zwischen den Tischen herum. Mirembe stammte aus Aithopia, jenseits des mittleren Meeres und noch weit jenseits der Provinz Iovia, aus einem Land, das vor einer Generation noch im Nebel von phantastischen und abenteuerlichen Geschichten gelegen hatte. Aber die Legionen des Kaisers waren letztlich auch durch die meridianische Wüste dorthin gezogen, und nun hütete Mirembe nicht mehr die Herde ihrer Familie, sondern vergnügte zahlende Gäste als exotisches Element im Angebot von Zinovias Bordell. Apuleius mochte Mirembe. Sie unterschied sich nicht nur durch ihre dunkle Hautfarbe (und ausgefallene Liebestechniken, von denen er nicht sicher war, ob sie sie – wie sie behauptete – aus ihrem Heimatland mitgebracht oder nicht einfach selbst ausgedacht hatte). Sie war klug, ohne viel zu wissen; und sie spielte gerne. Er war ein Spieler, und so erklärte er ihr die Regeln (und Tricks) tuskischer Spiele, während sie ihm zeigte, welche Spiele sie in Aithopia mit Stöcken und Steinen im Sand gespielt hatte.
Heute aber war kein Tag für Spiele. Apuleius beendete sein Frühstück, ließ Teller und Becher auf dem Tisch stehen und verließ mit einem stummen Gruß den Schankraum und das Bordell.
Draußen auf der Straße atmete er tief durch und eilte dann zügigen Schrittes in Richtung Forum. Als Treffpunkt war der Lacus Curtius vereinbart, der sakrale Brunnen vor der Rednerbühne. Die Seitenstraße, in der das Bordell lag, mündete in eine mittelgroße Verbindungsstraße, von dort ging es auf den cardo, eine der Hauptstraßen, die die Stadt rechtwinklig durchschnitten. Diese städtischen Hauptstraßen waren breiter als die meisten Reichsstraßen außerhalb der Hauptstadt und prächtig ausgestattet mit Säulen und Bögen. Wenn der Kaiser einen Triumphzug veranstaltete, zogen Fußsoldaten, Reiter und Streitwagen in der ganzen Breite die Straße entlang, und das Volk jubelte ihnen von den Gehsteigen zu, die breiter waren als manche Straße in den Provinzstädten.
Der cardo endete am Forum, einem der größten Plätze im gesamten Reich. Selbst in den Großstädten des Ostens, die älter als Tuska, aber jetzt nur noch Provinzhauptstädte des Reiches waren, gab es nur einige wenige Plätze, die sich hiermit messen konnten. Tempel und gewaltige Basiliken rahmten das Forum ein. Sie unterschieden sich in Stil, Ausstattung und Ausrichtung und zeigten, dass sie aus verschiedenen Epochen stammten. Tuska war nicht in einem Jahr entstanden, und das Forum ebenfalls nicht. Die große Rednerbühne am Ende des Platzes zeugte von einer Zeit, als hier noch politische Reden gehalten und Entscheidungen durch Mehrheitsbeschluss der Mächtigen getroffen wurden. Eine Herrschaft des Volkes, das heißt aller Bürger, hatte Tuska nie gekannt. Republik nannte man die Zeit, als die führenden Familien die Herrschaft gemeinsam ausübten und ihre wichtigsten Familienmitglieder dem Senat angehörten. Den Senat gab es immer noch, und die Familien waren immer noch mächtig. Aber jetzt nutzten sie ihre Macht zum persönlichen, vor allem wirtschaftlichen und finanziellen Erfolg. Die Herrschaft lag nur noch bei einem von ihnen, dem Kaiser, seiner Familie und seinem engsten Kreis. Darunter war eine Verwaltungsmaschinerie entstanden, die die Stadt und das ganze Reich bis in die hintersten Provinzen im Sinne des Kaisers organisierte und auch die zahlreichen Klientelherrschaften an den Reichsgrenzen nicht vergaß. In dieser Maschinerie spielten die Senatoren weiterhin eine wichtige, aber nicht mehr die alleinige Rolle. Zu groß war das Misstrauen des Kaisers, denn aus dieser Schicht war nicht nur er selbst auf den Thon gelangt, auch Widersacher und Usurpatoren, die ihm den Lorbeer streitig machen wollten, waren ausnahmslos Senatoren. Daher hatten bereits seine Vorgänger die Familien unterhalb des Senatorenranges, die Ritter, nachdrücklich gefördert und ihnen neu geschaffene wichtige Ämter übertragen. Der militärische Kommandeur der städtischen Praetorianer-Wache war Ritter, nicht Senator; ebenso der Statthalter der reichsten Provinz im Osten, Iovia. Ritter verdankten ihren Aufstieg dem Kaiser, waren dementsprechend loyal und stellten keinerlei Gefahr für einen Putsch gegen ihn dar. Senatoren waren weiterhin einflussreich, mächtig und vermögend. Aber sie hielten keine freien Reden mehr auf dem Forum, entschieden nicht mehr über Krieg und Frieden. Die Republik war Geschichte, wenn auch viele ihrer Verhaltensweisen und Insignien gepflegt wurden wie Rituale. Wie die Rednerbühne auf dem Forum, von der die jährlichen Beamten ausgerufen wurden nach ihrer „Wahl“, deren Ergebnis bereits vor der Stimmabgabe feststand.
Vor der Rednerbühne befand sich eine der ältesten Kultstätten der Stadt. Eine unregelmäßige Ummauerung umschloss einen kleinen Hof, in dessen Mitte ein Schacht in die Erde ging, dessen Randeinfassung einem Brunnen ähnelte. Es war jedoch kein Brunnen, denn der Schacht führte tief in die Erde, ohne auf Wasser zu stoßen. Warf man – etwa zum Geburtstag des Kaisers – wertvolle Opfergaben in den Schacht, so vernahm man kein Aufschlagen auf seinem Grund. Es hieß, der Schacht sei endlos oder führe direkt in die Unterwelt. Die alten Mythen erzählten, er sei in der Frühzeit der Gründung der Stadt entstanden, als die ersten Tusker hier eine Schlacht schlugen. Ein Blitz der Götter soll an dieser Stelle eingeschlagen, den gegnerischen Feldherrn getroffen und in den Boden getrieben haben. So gewannen die Tusker die Schlacht. Apuleius gefiel die Geschichte.
Hier traf er seine Auftraggeber für den heutigen Tag. Ein Dutzend Männer in fremdartiger Kleidung stand zusammen mit einem in typischer Toga gekleideten Tusker ein wenig abseits des Lacus Curtius. Auf diesen ging Apuleius zu und begrüßte ihn.
„Mein lieber Rufus, hier bin ich.“
„Spät wie immer!“ Der Angesprochene klang verärgert, besann sich aber rasch wieder. Vor der zahlenden Kundschaft machte ein Streit über das gute tuskische Prinzip der Pünktlichkeit keinen vorteilhaften Eindruck.
„Ich bedaure. Ein wichtiger Klient benötigte meinen Rat und hielt mich auf.“ Apuleius lächelte die Lüge seinem Partner und dem neben ihm stehenden Anführer seiner Auftraggeber freundlich ins Gesicht. Die Fremden trugen keine tuskische Kleidung, sondern weiße Untergewänder und darüber gelbfarbene Burnusse, einen vorne offenen Mantel, wie ihn die Bewohner der Wüstengebiete südlich und östlich des mittleren Meeres trugen. Um den Kopf hatten sie einen gleichfarbigen Schal kunstvoll gewickelt, so dass es mit etwas Abstand so aussah, als bildeten Kopftuch und Mantel ein einziges Kleidungsstück. In diesem Aufzug war die Gruppe unzweifelhaft als Fremde zu erkennen, aber das fiel in dieser Stadt, dem Zentrum des größten Reiches, das die Welt je gesehen hatte, nicht weiter auf. Da hätte schon eine Königin der Amazonen nackt auf einem Elefanten über das Forum reiten müssen, bevor sich ein echter Tusker auch nur danach umgedreht hätte.
„Ich bin Apuleius, Euer Redner.“ Er wollte dem Anführer die Hand reichen, doch dieser schlug sich nur mit der rechten Faust gegen die linke Brust. Also tat Apuleius es ihm nach und senkte dabei leicht sein Haupt.
„Ich bin Shahjahan, Gesandter von Europos.“
„Sei gegrüßt, Shahjahan von Europos. Die Bezahlung?“
„Habe ich erhalten“, antwortete Rufus für den Fremden und klopfte auf einen Beutel an seinem Gürtel. Rufus fungierte bei diesem Geschäft als Treuhänder: Er hatte Shahjahan und Apuleius, die sich gegenseitig bis zu diesem Moment nicht kannten, einander vermittelt. Er würde die Bezahlung verwahren, bis Apuleius seinen Auftrag zur Zufriedenheit abgeschlossen haben würde, abzüglich einer kleinen Gebühr für seine eigenen Bemühungen in dieser Sache.
„Nun, so ist wohl alles geregelt und wir können beginnen.“ Sprach’s und wandte sich in Richtung einer der großen Basiliken.
„Aber müsst Ihr nicht zuerst unseren Fall anhören?“, fragte Shahjahan.
„Rufus hat mich informiert, ich weiß alles, was notwendig ist.“
„Aber wir haben Rufus doch noch gar keine Einzelheiten erklärt.“
„Einzelheiten, mein guter Freund, sind das Letzte, das ich wissen muss. Im Gegenteil, sie würden mich nur von meiner Aufgabe ablenken.“
„Unsere Sache den kaiserlichen Beamten vorzutragen? Wie könnt Ihr dies ohne Kenntnis der Einzelheiten erfolgreich bewerkstelligen?“
Seufzend wandte sich Apuleius dem Fremden zu. „Ich werde ganz und gar nicht Eure Sache vortragen, dies ist nicht, worum Ihr mich gebeten habt. Rufus, erklär es ihm noch einmal!“
Shahjahan blickte sichtlich verwirrt den Treuhänder an. Dieser blieb stoisch ruhig und erklärte ein weiteres Mal, was in der nächsten Stunde geschehen würde.
„Dies ist Tuska, das Zentrum des Reiches. Jeden Tag kommen Gesandte aus allen Teilen des Reiches und aus den angrenzenden Gebieten, um dem Kaiser ihre Wünsche und Schwierigkeiten vorzutragen. Jeder will Gehör finden, aber es sind zu viele. Daher hat der kaiserliche Hof ein Verfahren eingerichtet, wonach jeder Bittsteller zunächst seinen Fall bei einer Erstinstanz vortragen muss. Dort wird entschieden, auf welcher Stufe der Hierarchie der Vorgang weiter behandelt wird: ob bei einem niederen Beamten, bei einem ritterlichen Geschworenengericht, einem Senatorenkollegium …“
„… oder beim Kaiser selbst!“, warf Shahjahan hoffnungsvoll ein.
„Nun, das wäre allerdings ein ganz außerordentlicher Glücksfall, und darauf solltet Ihr nicht hoffen. Euer Ziel muss es zunächst sein, aus der unübersehbaren Masse der Petitionen heraus wahrgenommen zu werden. Denn landet Euer Fall bei einem niederen Beamten, nun, dann liegt er erst einmal dort – und das womöglich für lange Zeit. Dann erscheint Ihr jeden Morgen bei diesem Beamten, fragt wie es weitergeht, und kehrt doch jeden Tag unverrichteter Dinge in Euer Quartier zurück. Das kann Wochen und Monate so weitergehen, ohne dass Ihr vorankommt.“
„Und hier komme ich ins Spiel“, unterbrach ihn Apuleius. „Ich werde Eure Sache voranbringen, beschleunigen, möglichst viele untere Stufen überspringen, bis die für Euren Fall zuständige Entscheidungsebene erreicht wird.“
„Welche wird das sein?“
„Keine Ahnung, ich kenne Euer Problem ja nicht.“
„Also müssen wir Euch instruieren!“
„Bloß nicht! Wir werden gleich zusammen vor die erste Instanz treten, ein Gremium aus Beamten unter Vorsitz eines Ritters oder Senators. Dort wird entschieden, wie mit Eurem Begehren weiter umgegangen wird. Meine Aufgabe ist es nicht, für Euch zu streiten oder gar zu argumentieren. Ich bin kein Anwalt oder Gelehrter. Nein, ich werde Euch – interessant machen!“
Er lächelte, während die Männer in den Burnussen nur verständnislos mit dem Kopf schüttelten.
„Es ist im Grunde ganz einfach: Niemand interessiert sich wirklich für Eure Probleme. Verzeiht, wenn ich das so unverblümt sage. Tuska interessiert sich nur für Tuska, und solange Eure Probleme nicht auch die Probleme Tuskas sind – und die Götter mögen verhüten, dass dies so ist – ist Euer Gesuch lästig. Ich sorge dafür, dass Ihr nicht länger lästig seid, sondern dass man Euch wohlgesonnen ist. Das wird auch für die letztendliche Entscheidung Eurer Sache, was immer das auch ist, gut sein, aber vor allem sorgt es dafür, dass Ihr überhaupt zu Euren Lebzeiten zu einer Entscheidung gelangt.“
„Zu unseren Lebzeiten?“ Shahjahan erschrak.
„Oh ja, ich habe schon Gesandte, die es falsch angestellt hatten, aber stur ausharrten, in dieser Stadt sterben sehen.“
‚Nicht übertreiben‘, dachte Rufus, aber Apuleius wusste, wie weit er gehen konnte. „Ihr tatet gut daran, Euch an Rufus zu wenden, und er hat mir alles mitgeteilt, was ich wissen muss. Mehr Einzelheiten würden mich nur von meiner eigentlichen Aufgabe ablenken.“
„Also sorgt Ihr dafür, dass unser Fall dem Kaiser vorgetragen wird?“
„Kaum. Wie ich schon sagte, Ihr könnt froh sein – und das wäre auch bereits der vereinbarte Erfolg, für den ich meinen Lohn erhalte – wenn es gelingt, dass Euer Gesuch direkt einem ritterlichen Geschworenengericht vorgelegt wird, statt im Haufen der Schriftrollen zu verrotten.“ Was bei städtischen Gesandtschaften in der Regel auch ohne sein Zutun geschah, aber Apuleius wollte die Latte nicht zu hoch hängen. Dies sollte heute leicht verdientes Geld werden.
„Nun denn, stellen wir uns in die Reihe!“
„Einen Moment noch!“ Shahjahan ließ sich von einem Begleiter ein Bündel und einen hölzernen Kasten reichen. „Zieht dies bitte über!“
„Ich soll mich verkleiden?“
„Damit Ihr ausseht wie einer von uns.“
„Niemand erwartet, dass ich aussehe wie einer von Euch.“
„Ich will es, also tut es.“
Widerwillig ließ sich Apuleius einen Burnus umhängen. Den Schal um den Kopf lehnte er aber energisch ab. „Mit dem Ding kann ich mich nicht konzentrieren.“ ‚Und vor allem sehe ich furchtbar damit aus!‘ „Ihr wollt doch, dass ich mein Bestes gebe. Und was ist das?“
Er deutete auf einen aufwendig mit Schnitzereien verzierten würfelförmigen Holzkasten, den Shahjahan noch in den Händen hielt.
„Ein Geschenk, für den Kaiser!“
Apuleius seufzte. „Mein Freund, so läuft das hier nicht. Ihr könnt den Kaiser nicht bestechen. Er ist – der Kaiser!“
Shahjahans Gesicht lief vor Ärger rot an. „Bestechung? Dies ist ein überaus wertvolles Geschenk, eines Imperators würdig! Unsere Stadt will ihm damit unsere Treue und Loyalität bekunden. Ehre sei dem Kaiser!“
„Ehre sei dem Kaiser!“, fielen seine Begleiter kopfnickend ein.
Apuleius schüttelte innerlich den Kopf. „Ehre, natürlich. Aber haltet Euch bitte mit Geschenken und sonstigen verrückten Ideen zurück und lasst mich machen.“
Damit wandte er sich um und wechselte noch einen Blick mit Rufus – der ein breites Grinsen wegen seines Aussehens in dem gelben Burnus über seiner tuskischen Kleidung weder unterdrücken konnte noch wollte –, bevor er auf die Macrinus-Basilika zuging, vor der sich bereits eine Schlange aus Bittstellern gebildet hatte. Shahjahan und seine Begleiter folgten ihm.
Sie mussten nicht lange warten. Die Bittsteller und Gesandtschaften wurden hinter dem Eingang aufgeteilt und in verschiedene Richtungen geleitet, ohne dass ein System darin zu erkennen gewesen wäre. Hier entschied bereits der Zufall, vor welcher Kommission ein Gesuch als Erstes landete. Dies diente der Korruptionsbekämpfung, da man so schon alle Kommissionen eines Gerichtstages hätte bestechen müssen, um sich die eine, der man zugeteilt wurde, gewogen zu machen.
Der große Innenraum der Basilika war großzügig mit hölzernen Schranken in mehrere Gerichtsräume aufgeteilt, weit genug voneinander entfernt, so dass das gesprochene Wort der einen Verhandlung die anderen nicht störte. Dadurch blieb die eindrucksvolle Wirkung dieses gewaltigen Hallenbaus erhalten, dessen Dach von zahlreichen massiven Säulen getragen wurde. Leicht hätte man weitere Stockwerke einziehen können, die leere Höhe zusammen mit den gewaltigen schmucklosen Wänden sollte jedoch den Besucher kleinmachen und verfehlte diese Wirkung nicht.
Neben jedem Gerichtsraum standen mehrere Praetorianer, Mitglieder der kaiserlichen Garde, mit Helm, Brustpanzer und Kurzschwert, aber ohne Schild und Speer.
Apuleius und seine Gesandtschaft warteten am Eingang des ihnen zugewiesenen Gerichtsraumes, bis der vor ihnen besprochene Fall zum Ende kam. Dies geschah rasch, denn die dort auftretende Gesandtschaft (Apuleius hielt sie ihres Aussehens nach für Iburer) hatten darauf verzichtet, sich von einem Rhetor begleiten zu lassen; mit der Folge, dass ihr mit Verve vorgetragenes Plädoyer nach wenigen Minuten vom Vorsitzenden abgebrochen und der Fall einem unteren Beamten zur formalen Prüfung übergeben wurde. Und das würde dauern.
„Seht Ihr“, flüsterte Apuleius Shahjahan zu, „wie gut Ihr daran tatet, mich mit Eurer Sache zu beauftragen? Habt Acht und haltet Euch vor allem zurück, solange ich Euch kein Zeichen gebe.“
Auf einen Wink des Liktoren betrat er mit der Gesandtschaft den Gerichtsraum. An dessen Ende auf einer hölzernen Empore saßen an einem langen Tisch in der Mitte der Vorsitzende der Kommission, ein Ritter (wie Apuleius an dem fehlenden Purpurstreifen seiner Toga sofort erkannte), links und rechts davon seine Berater (wohl Freunde oder Klienten des Vorsitzenden) sowie Schreiber (kaiserliche Sklaven oder Freigelassene). Neben diesen steckten zahlreiche Schriftrollen in Körben, weitere lagen auf dem Tisch. Vor dem Tisch stand ein Liktor, ein dem Vorsitzenden persönlich zugeteilter Beamter (dessen Aufgabe im Wesentlichen darin bestand, durch seine Anwesenheit kenntlich zu machen, dass der Ritter zu Recht als Vorsitzender fungierte). Um die Schranken, die den Gerichtsraum kennzeichneten, standen bereits zahlreiche Zuschauer. Verhandlungen wie diese, mehr noch Gerichtsprozesse waren traditionell öffentliche Veranstaltungen. Für Tusker gehörte es zum üblichen Zeitvertreib, in freien Stunden Prozessen und Verhandlungen beizuwohnen. Es könnte ja ein handfester Skandal dabei sein, über den am nächsten Tag die halbe Stadt sich das Maul zerreißen würde.
„Wer seid ihr, und in welcher Angelegenheit tretet ihr vor?“, fragte der Liktor mit aufgesetzter Förmlichkeit.
„Ich spreche für die Gesandtschaft von Europos unter der Führung des Edlen Shahjahan! Wir erbitten Beistand und Ratsschluss vom obersten Richter des Reiches.“
„Ehre sei dem Kaiser!“, rief der Liktor. „Ehre sei dem Kaiser!“, antworteten die Zuschauer, und damit war die formelle Einleitung abgeschlossen.
„Ehe ich zu unserem Gesuch komme, hoher Herr, lasst mich zunächst einige Worte der Begrüßung sagen, wie sie mir Shahjahan von Europos aufgetragen hat. Denn wir gelobten auf dem Weg zu Wasser und zu Lande, wenn wir wohlbehalten ankämen, euch, die Stadt Tuska und den Kaiser mit einer öffentlichen Rede zu begrüßen.“
„Hört, hört!“ Rufus hatte sich wie verabredet unter die Zuschauer gemischt.
„Die Stadt Tuska preisen zwar alle, und werden dies auch in Zukunft tun. Aber viele von ihnen täten besser daran zu schweigen; denn mit Schweigen könnten sie die Stadt zumindest nicht geringer machen als sie wirklich ist. So wie ein Maler, der einen Körper von vollkommener Schönheit im Gemälde abbilden will, dann aber hinter seinem Ziel zurückbleibt, besser daran täte, nicht zu malen. Denn es ist fast unmöglich, so über eure Stadt zu sprechen, wie sie es verdient.“
„Hört, hört!“
„Wenn jemand das gesamte Reich betrachtet, so wundert er sich darüber, dass dieses gewaltige Imperium von nur einer Stadt gelenkt wird. So er aber hierherkommt und eure Stadt sieht, so wundert er sich, dass es nicht der gesamte Erdkreis ist, der von einer so großen und gewaltigen Stadt beherrscht wird. Niemand anderes bestimmt die Grenzen eurer Herrschaft. Das Meer, das sich in der Mitte des Erdkreises befindet, bildet zugleich die Mitte des Reiches. Ringsherum erstrecken sich in gewaltiger Ausdehnung all die Länder, die diese Stadt reichlich mit allem versorgen, was sie benötigt. Es strömt aus jedem Land, jedem Fluss, jedem See und jedem Meer, was immer die Jahreszeiten wachsen und gedeihen lassen. Wenn jemand wissen will, was die Natur zu bieten hat, so muss er entweder alle Lande bereisen – oder hierherkommen, in die Stadt Tuska!“
„So ist es!“ Der erste zustimmende Zwischenruf, der nicht von Rufus stammte. So war der Ablauf zwischen ihnen geplant: Apuleius hielt eine Lobrede auf Stadt, Reich und Kaiser, und Rufus animierte unauffällig das Publikum zu Zustimmung und Applaus.
„Diese Stadt, euer Hafen, ist der gemeinsame Handelsplatz der ganzen Welt. Das Ein- und Auslaufen der Schiffe hört niemals auf, so dass man nicht nur über die Größe des Hafens staunen muss, ja man muss auch das Meer bewundern, das groß genug ist, all diese Lastschiffe zu tragen. Was man hier nicht sieht, existiert nicht und hat auch nie existiert. Und weil diese Stadt so überlegen allen Städten ist, die sind oder die je waren, so ist auch das Reich, das Imperium, allen Reichen überlegen, die je gewesen sind. Denn all diese Reiche sind untergegangen, nicht weil sie von außen bezwungen wurden, sondern weil ihre Führer nicht verstanden zu herrschen und ihre Untertanen daher nicht ihren Pflichten nachkamen; denn es ist unmöglich, auf die rechte Weise zu gehorchen, wenn die Regierenden schlechte Herrscher sind.“
„Ehre sei dem Kaiser!“ Das war wieder Rufus, aber sein Ruf wurde von mehreren Zuschauern zustimmend aufgenommen und wiederholt.
„Obwohl das Reich so groß und umfassend ist, so ist es doch noch weit größer durch die vollendete Ordnung, die in ihm herrscht, als durch die bloße räumliche Ausdehnung. Für alle ist überall die Herrschaft gleich. Eure Untertanen in den Bergen wie in den tiefsten Tälern, auf dem Festland wie auf den Inseln, in den Dörfern wie in den Städten, sie alle zeigen sich ruhig und gehorsam, wie wenn sie alle nur ein einziges zusammenhängendes Land und Volk wären. Alles, was nötig ist, wird auf einen Befehl oder bloßen Wink hin ausgeführt, leichter, als wenn man an einem Instrument eine Saite anschlägt. Es genügt, einen Beschluss zu fassen, und er wird umgesetzt. Die Statthalter, die in den Provinzen die Herrschaft ausüben über diejenigen, die ihnen unterstehen, sind gleichfalls Beherrschte gegenüber dem einen, dem großen Herrscher und Richter. Sind Statthalter oder Reichsbeamte hier in der Hauptstadt unsicher in einer Sache, die ihnen zugetragen wird, so scheuen sie sich nicht, ihn, den obersten Richter, um Rat zu fragen und seinen Bescheid zu erhalten.“ Bei diesen Worten blickte Apuleius den Vorsitzenden direkt an, um sich dann wieder mit großer Geste an die Gesamtheit der Zuhörer zu wenden.
„Deshalb hat es der Kaiser und oberster Richter auch nicht nötig, durch das Reich zu reisen und die einzelnen Fälle in den einzelnen Ländern und Städten zu regeln. Er kann es sich leisten, hier zu bleiben, im Zentrum, und den ganzen Erdkreis mit schriftlichen Befehlen zu regieren. Und obwohl der Kaiser das Reich kraftvoll und vollkommen unumschränkt regiert und beherrscht, so sind seine Untertanen doch nicht geknechtet wie Knechte in einem Haus, nein, vielmehr wie Bürger in einer Stadt, die von gewählten Bürgermeistern und Statthaltern zu ihrem Wohle geleitet werden. Denn die Provinz eines Statthalters ist nicht sein persönlicher Besitz, nein, sie ist ihm nur auf Zeit übergeben, auf dass er sich um sie kümmere, bis sein Nachfolger diese Aufgabe übernimmt. Und jeder Bürger, der an der Herrschaft dieser Beamten Anstoß nimmt, hat das Recht, hierher zu kommen und vor dem Kaiser Klage zu erheben. Man kann also sagen, dass heute die Menschen im Reich von den zu ihnen geschickten Statthaltern nur so weit beherrscht werden, als sie selbst damit einverstanden sind. Sagt, welches der früheren Reiche, die sich Volksherrschaften nannten, hatte je solche Freiheit seiner Untertanen gesehen?“
Einige Zuschauer applaudierten zustimmend. Auch der Vorsitzende und seine Beisitzer nickten wohlwollend. Apuleius hatte die richtigen Phrasen getroffen.
„Sämtliche Bewohner des Reiches – und was ist das Reich anderes als fast der gesamte Erdkreis – habt ihr in eine von zwei Gruppen eingeteilt: die Edlen und Gebildeten in allen Städten habt ihr zu euren Mitbürgern gemacht, ja ganz und gar zu euren Verwandten; die übrigen Reichsbewohner sind eure Untertanen. Weder das Meer noch eine große Entfernung zu Lande hindern einen Mann daran, vollwertiger Bürger des Reiches zu werden. Keiner ist ein Fremder, der sich eines Amtes oder einer Vertrauensstellung würdig erweist. Alle strömen zusammen, ein jeder um das zu erlangen, was ihm gebührt. Diese Stadt hat niemals jemanden abgewiesen, sie nimmt die Menschen aus allen Ländern auf, und wie das Meer nicht größer wird durch das Wasser der Flüsse, so vermag auch diese Stadt alle die Menschen aufzunehmen, und behält doch seine Größe. Denn es kommen nicht nur neue Bürger hierher, ihr schickt auch Bürger in die anderen Städte. So ist keine nennenswerte Stadt im Reich, in der es nicht in bedeutender Zahl tuskische Bürger gibt, und so ist Tuska überall, denn überall wo Tusker sind ist Tuska.“
„Tuska!“, riefen die Zuschauer begeistert.
„Das Reich sorgt für Sicherheit und Ordnung, auch für die, die beherrscht werden, und so übt der Kaiser die Macht über das größte Reich aus, dass der Erdkreis je gesehen hat, und herrscht doch nicht ohne Menschenfreundlichkeit. Und so ist es gar nicht notwendig, starke Besatzungen in die Städte des Reiches zu legen. Nein, die Legionen stehen an den Grenzen. Sie verteidigen das Reich und seine Bewohner, statt als Besatzer in den Provinzen zu lagern. Denn die Untertanen sehen, dass sie von Besseren beherrscht werden als sie selbst es sind, und so zahlen sie auch bereitwillig die Steuern und Abgaben, und sie fürchten wohl eher, dass der Kaiser sie verlässt, als dass sie selbst dem Reiche abtrünnig werden könnten. Und so kommen die Gesandten der Städte aus den fernsten Ländern, wie diese hier aus Europos“, er deutete auf Shahjahan und seine Begleiter, „hierher in die Hauptstadt des Reiches, um ihre Anliegen vorzutragen und den Beschluss des Kaisers und seiner Richter zu erbitten.“
„Ehre sei dem Kaiser!“ Der Zuschauerkreis hatte sich merklich vergrößert und applaudierte Apuleius und seiner Rede. Das Konzept war einfach, und er zweifelte nicht, dass er auch diesmal Erfolg haben würde: man lobte die Stadt und ihre Bürger, um Zustimmung aus dem Zuschauerkreis zu erhalten, gleichzeitig betonte man, wie wichtig die Entscheidungen und Beschlüsse des Kaisers und seiner untergeordneten Gerichte für den Zusammenhalt des Reiches waren. Dadurch sollte der Vorsitzende genötigt werden, den Fall, über den ja noch kein einziges Wort verloren worden war, an ein Entscheidungsgremium weiterzuleiten, statt ihn in die langsam arbeitenden Mühlen der Schriftrollen-Bürokratie zu geben.
„Gut gesprochen, Redner.“ Der ritterliche Vorsitzende hatte genug Lobhudelei gehört, war aber offensichtlich in wohlwollender Stimmung. „So sagt in kurzen Worten, worum es in Eurer Angelegenheit geht.“
„Wir führen Klage gegen unsere Nachbarstadt Tathmur“, ergriff Shahjahan das Wort, noch ehe Apuleius antworten konnte. Er überreichte wie vorher mit Rufus abgesprochen eine Schriftrolle mit der ausgearbeiteten Klage dem Liktor, der sie an einen der Schreiber am Tisch weitergab. „Und wir erbitten die weise Entscheidung des Kaisers.“ Das war kurz und somit gut gesprochen, dachte Apuleius. „Und – wir haben ein Geschenk für den Imperator.“ Das war ein Satz zu viel. Apuleius verdrehte die Augen.
„Ein Geschenk für den Kaiser?“ Der Vorsitzende runzelte die Stirn. „Glaubt Ihr, dass der Kaiser Eure Geschenke nötig hat, um Recht zu sprechen?“
Die so mühsam aufgebaute positive Stimmung drohte zu kippen, und rasch warf Apuleius ein: „Oh nein, Vorsitzender. Selbst die Götter könnten kein Geschenk erdenken, das dem Kaiser würdig wäre. Der Gesandte hat unbedarft ein unpassendes Wort gewählt, da er nicht in seiner Vatersprache spricht. Er meinte nicht Geschenk, sondern Gabe, als ein Zeichen der Loyalität von Europos an den Kaiser und die Stadt Tuska!“ Apuleius hoffte, damit die Zustimmung unter den Zuschauern zu erhalten. Und er hoffte, dass der Vorsitzende den feinen Unterschied zwischen Geschenk und Gabe akzeptieren würde.
„Nun, zeigt uns diese – Gabe.“
Shahjahan nahm einem seiner Begleiter die Holzkiste ab und übergab sie dem Liktor. Wie bereits draußen auf dem Forum musste Apuleius zugeben, dass die Kiste eindrucksvoll war: ein perfekter geometrischer Würfel mit kunstvollen Schnitzereien, in denen sich das Auge verlieren konnte.
„Eine Kiste?“ Der Vorsitzende grinste.
„Oh, die Gabe ist in der Kiste“, beeilte sich Shahjahan zu betonen.
„Na dann öffnet sie!“
Der Liktor drehte sich so, dass sowohl die Personen am Tisch aus auch Apuleius und die Gesandten die Kiste sehen konnten, und hob den Deckel an. Ein unsichtbarer Mechanismus klappte daraufhin drei der vier Seitenteile nach außen, so dass fast alle sehen konnten, was darinnen lag.
Ein Raunen ging durch die Zuschauer. In der Kiste lag die lebensgroße goldene Figur einer sich aufrichtenden Wüstenschlange. Jede einzelne Schuppe war filigran gearbeitet, das Reptil schien leibhaftig zu züngeln, und zwei blitzende Edelsteine bildeten seine Augen. Apuleius musste zugeben, dass dies ein äußerst kostbares und eindrucksvolles Geschenk war – für jeden anderen außer dem Kaiser.
Der ritterliche Vorsitzende sah das wohl ähnlich. „Stellt es dort auf dem Tisch ab. Wir werden euren Fall …“
„Wartet!“ Ein scharfer Zwischenruf unterbrach den Vorsitzenden. Verärgert fuhr dieser auf: „Wer wagt …“, und unterbrach sich sofort.
Aus der zweiten Reihe der Zuschauer trat ein Mann an die Schranke und gebot einem der nahe stehenden Praetorianer, diese zu öffnen. Apuleius wunderte sich nicht darüber, dass der Soldat dem stummen Befehl sofort nachkam. Der Mann trug die Toga mit rotem Saum und an den Füßen rote Schuhe: ein Senator!
„Cornelius Scipio Aemilianus!“ Der ritterliche Vorsitzende war ehrfürchtig aufgesprungen, und die übrigen Personen am Tisch taten es ihm nach. Apuleius wusste nicht, ob er erschrocken oder erfreut sein sollte. Wie jeder Bewohner der Stadt wusste er, wen der Vorsitzende da mit seinem Namen begrüßte: Cornelius Scipio Aemilianus, der noch über eine ganze Reihe weiterer Beinamen verfügte, die die Tradition und Ehrwürdigkeit seiner Familie zum Ausdruck brachten, war nicht irgendein Senator – was schon genug gewesen wäre –, nein, er war einer der beiden Präfekten der Praetorianer und damit einer der höchsten Würdenträger des Reiches. Traditionell wurden die Praetorianer von zwei Präfekten angeführt: einem militärischen Oberbefehlshaber, der aus dem Ritterstand kam, und einem Senator, der in dieser Funktion eine Art Chefdiplomat des Reiches war. Beide Präfekten unterstanden direkt dem Kaiser, und alleine das machte sie zu zwei der einflussreichsten Männer des Reiches. Was tat ein solcher Mann hier in der Macrinus-Basilika? Zufall? Apuleius glaubte nicht an Zufälle, und er mochte es ganz und gar nicht, wenn ein geplanter solider Ablauf in Unordnung geriet. Und Unordnung, das ahnte er, war noch das Geringste, was in den nächsten Minuten passieren konnte.
„Zeigt mir diese Kiste!“, befahl Scipio Aemilianus und streckte die Hand aus. Der Liktor, der ebenso überrascht und verwirrt war wie sein Vorsitzender, nahm die goldene Schlange aus der Kiste und überreichte letztere mit einer übertriebenen Verbeugung dem grauhaarigen Senator. Scipio klappte die Seitenteile hoch, bis sie hörbar einschnappten, dann drehte und wendete er die Kiste in seinen Händen, als suche er etwas in den filigranen Verzierungen, die das Holz durchzogen. Und wirklich schien er an drei der sechs Seiten etwas zu entdecken. „Fackel – Hund – Geier …“, hörte Apuleius, der nahe genug stand, ihn murmeln. Er verstand kein Wort, aber seine Unruhe stieg. Hilfesuchend drehte er sich nach Rufus um, der immer noch zwischen den Zuschauern stand, aber auch nur fragend mit den Achseln zuckte. Gerne hätte Apuleius versucht, durch eine elegante Bemerkung die Aufmerksamkeit wieder auf die Gesandtschaft zu lenken und die ganze Sache zu einem schnellen erfolgreichen Ende zu bringen, aber nicht einmal er wagte es, in Anwesenheit eines Senators ungefragt das Wort zu führen.
„Fackel, Hund und Geier!“, rief Scipio Aemilianus nun laut und blickte Shahjahan scharf an. „Woher …?“
In diesem Moment gellte ein schriller Schrei durch die Basilika. Alle Köpfe fuhren herum und starrten den Liktor an. Der Mann hielt sich mit aufgerissenen Augen eine Hand an den Hals, während er auf den Boden vor sich starrte. Dort wiegte sich langsam auf ihrem Schwanzende – eine goldene Schlange! Dieselbe, die der Liktor vor Sekunden noch in seinen Händen gehalten hatte. Nur dass ihre Schuppen jetzt zwar immer noch golden, aber beweglich waren, und ihre Augen nicht mehr aus Edelsteinen bestanden, sondern schwarz und golden glitzerten.
Der Liktor ließ die Hand von seinem Hals fallen, und die Umstehenden sahen zwei blutende Löcher in seiner Haut. Schaum trat aus seinem Mund, und er fiel in sich zusammen und zu Boden. Noch während er fiel, ließ die Schlange ein unnatürlich lautes triumphierendes Zischen vernehmen.
Panik brach aus. Schreiend liefen die Zuschauer auseinander und einem der Ausgänge der Basilika zu. Andere, die nicht wussten was geschehen war, eilten ihnen entgegen um zu sehen, was der Anlass für den Aufruhr war, wodurch das Chaos noch größer wurde. Die Schreiber des Vorsitzenden hatten in ihrer Panik den Tisch umgeworfen, und die Schriftrollen ergossen sich über den Boden. In all dem Durcheinander wiegte sich die goldene Schlange und zischte diabolisch in alle Richtungen.
Apuleius stand wie gelähmt nur wenige Schritte von dem toten Liktor entfernt. Denn dass dieser tot war, war ihm klar, noch bevor der arme Mann den Boden erreicht hatte. Scipio Aemilianus jedoch, Senator und praefectus praetorio, wich keinen Schritt vor der Schlange zurück, obwohl es Apuleius schien, als habe sie sich ihn als nächstes Opfer ausersehen. Mit ruhiger lauter Stimme rief Scipio den nahe stehenden Praetorianern Befehle zu, die Apuleius nicht verstand. Mit gezogenen Schwertern bildeten die Soldaten blitzschnell einen Kreis um das goldene Untier und hielten es in Schach. Das Zischen der Schlange wurde wütender, und ihr Kopf schoss immer wieder vor, um zwischen den Schwertern hindurch die Beine eines Soldaten zu beißen.