Er entstand, wie alle Kriege der Geschichte: indem überreizte Menschen einander sinnlose Worte zuwarfen, so lange, bis aus den sinnlosen Worten sinnlose Taten hervorgingen.
Dieses Sinnvoll- Machen auch alles sinnlosen und unsinnigen Leidens kann aber– (wie wir schon andeuteten)– auf zweierlei Wegen erfolgen. Entweder indem man dem »Andern« die Schuld zuschiebt oder indem man die Schuld in sich selber sucht.
Indem der Jude ein leidvolles Schicksal sinnvoll zu begründen hatte, stieß er auf die Schwierigkeit, daß nach jüdischer Lehre alles in Gottes Willen liegt und aus Gottes Ratschluß kommt. Das Judentum kannte und kennt keinen »Teufel«, keine diabolische Außengewalt, keine »Kontraposition Gottes«. Sondern: Alles ist Gott. Alles liegt in Gott. Alles kommt aus Gott. Also: Auch das Böse und Schlechte muß in Gott begründet liegen.
Wie kann da nun das Vorhandensein des Leidens und das ungerechte Völkerschicksal sinnvoll begründet werden? Einzig doch wohl dadurch, daß es aus dem falschen Verhalten oder aus den Verkehrtheiten der Menschennatur selber begründet wird. »Warum ficht dich so manches Übel an? Weil Gott dich vor dir selbst nicht schützen kann.«
Noch heute liegt es zutiefst in der Natur des jüdischen Menschen, bei jedem ihn treffendem Schmerz zu fragen: Wofür leide ich das? Womit habe ich das verdient? Eben dieser Hang, »die Schuld auf sich zu nehmen«, brachte den Juden im Wettlauf der Völker ins Hintertreffen. Es ist viel leichter, das jüdische Volk zu opfern als jedes andere Volk.
Das protestantische Schuldbekenntnis (mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa) bezieht sich durchaus auf das ganz persönliche Gewissen. Das jüdische Schuldgefühl und Schuldbekenntnis dagegen antwortet auf die Frage: »Wer trägt die Schuld?« mit der Antwort: »Wir alle tragen die Schuld.« Anders gesagt: »Jeder ist schuldig an jedem und ich bin der Schuldigste unter allen.«
Im fünfbändigen Jüdischen Lexikon (Jüdischer Verlag Berlin) findet der Leser weitere Belege für die Kollektivschuld der jüdischen Gesamtheitseele unter den Stichworten »Arewut« (Solidarhaftung); Kìlal Jisroel (Allheit des Volkes) und Widduj (Schuldbekenntnis). Einige wichtige Stellen seien hier angeführt:
»Das Bekenntnis zu allen erdenklichen moralischen Verfehlungen, die in Wirklichkeit sich kaum bei einem einzigen Menschen vereinigt finden dürften, entsprang dem Kollektivcharakter des jüdischen Gottesdienstes und Gebets; hier betet weniger der einzelne Jude als vielmehr die jüdische Gesamtseele. Zugleich wurde es als wohltuend empfunden, daß, indem alle sich zu allen Sünden bekannten, dem Einzelnen die Beschämung erspart blieb, seine tatsächliche besondere Sünde zu nennen.«
Hinter der als Antisemitismus bezeichneten soziologischen Erscheinung (wodurch eine ganze Volksart als »odium generis humani« gekennzeichnet wurde) steht also durchaus nicht allein der böse Wille, der nationale Egotismus, oder der Neid und Haß des völkischen Wettbewerbs. Es steht ein Gesetz dahinter. Ein Gesetz der »Sinngebung des Sinnlosen«. Und dieses Geschichtsgesetz steigt aus einer letzten Tiefe.
Wir Menschen müssen alle, um überhaupt leben zu können, manche »Schuld« auf uns nehmen. Wir müssen zum Beispiel eine wundervolle, in sich vollendete, ursprünglich uns überlegene Tierwelt ausrotten. Wenn wir die großen Raubtiere, Löwen und Leoparden, vernichten, so gehen wir dabei sehr böse vor; wir sagen daher: das Raubtier sei böse. Wenn wir die großen Schlangen ausrotten, so verwenden wir dazu viel Hinterlist; wir sagen daher: die Schlangen seien hinterlistig.