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Grete Hartwig-Manschinger

RENDEZVOUS IN MANHATTAN

Amerikanischer Roman

Herausgegeben und
mit einem Nachwort von

Vojin Sasa Vukadinovic

das vergessene buch

Rendezvous in Manhattan erschien erstmals 1948 im Verlag Rudolf Cerny, Wien.

Das Foto von Grete Hartwig-Manschinger stammt aus den Greta Hartwig Manschinger and Kurt Manschinger (Ashley Vernon) Papers, 1912–1995, die in den German and Jewish Intellectual Émigré Collections an der University of Albany, SUNY in den USA aufbewahrt werden.

Dank an Albert C. Eibl, Kevin Mitrega, Jodi Boyle und Ioannis Politis.

1. Auflage 2021

Das vergessene Buch | www.dvb-verlag.at

Copyright © by DVB Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Leandra Eibl, Wien

Satz: Kevin Mitrega, Schriftloesung

Grete Hartwig-Manschinger, April 1948

I.

Als die Nacht über Manhattan herunter sank, brachte auch sie keine Kühlung. Da lag die langgestreckte Insel mit ihrem Häusermeer, aus dessen Poren die tagsüber aufgespeicherte Hitze ungebrochen strömte. Nicht einmal an den Ufern der sie einsäumenden Gewässer konnten die erschöpften Menschen Linderung finden. Zu hunderttausenden flüchteten sie wohl an den Hudson, den East River, den Harlem-Fluß und den Hafen, dankbar für die geringste Brise, die über die feuchten Körper strich. In den Wohnungen war es unerträglich in solcher Sommernacht. Und doch mußte man schließlich nach Hause gehen, denn der normale New Yorker mußte ja in der Früh in die Arbeit. Sogar die Liebespaare, die auf dem Strande von Coney Island promenierten, mußten einmal nach Hause.

In den Straßen saßen die Leute auf den Stufen der Häuser, auf den Feuerleitern, im offenen Hausflur, auf den Fensterbrettern. In dem Proletarierviertel um die Mercer Street spielte sich in solchen Tagen und Nächten das ganze Privatleben auf der Straße ab. Männer spielten Karten, Burschen trainierten für Baseball, junge Mädchen drehten sich die Locken, Halbwüchsige horchten auf biologische Geheimnisse, Schulkinder machten Aufgaben, Mütter stillten ihre Säuglinge, all das inmitten von Geschrei, Streit, Gelächter, Flirt und Kameraderie. Nicht vor Mitternacht wurde die Straße leer. Auch dann bot sich durch die offenen beleuchteten Fenster das Privatleben dar. Dazu brüllten die Radioapparate, wurden Ehekämpfe ausgetragen, die nächste Generation erzogen und dem gedrängten Beisammensein allerhand Ventile geöffnet. Endlich wurde es ruhig; auch in der Scarlatti-Wohnung.

Edna konnte nicht schlafen; es war zu heiß. Die Feuchtigkeit der Luft lag wie ein Gewicht auf Kehle und Brust. Obwohl alle Fenster und Türen offen standen, wollte kein erlösender Luftzug entstehen.

Edna schlug das Leintuch zurück. Nun zog sie sich auch noch das Nachthemd aus. Je weniger man an hatte, desto besser. Auch Mona lag nackt. Die Bogenlampe Ecke Mercer und Spring Street warf Licht auf ihren schmächtigen Kinderkörper. Vielleicht schlief sie. Vor einer kurzen Weile war sie in die Küche gegangen, um zu trinken. Auch Edna hatte Durst, doch zweifelte sie daran, daß die warme, schale Flüssigkeit, die aus der halbzerbrochenen Pipe kam, auch helfen würde. Am besten war es, ruhig zu liegen. Die geringste Bewegung würde nur noch mehr Schweiß auf die Stirne treiben. Es war nicht Schweiß allein. Es war ein klebriges Gemisch von Transpiration und der von außen kommenden Feuchtigkeit. Es war der neunte Tag einer Hitzewelle, und das Wetterbüro meldete bedauernd, daß keine Aussicht auf Erleichterung war. New York kochte. Es war Mitte Juli. Dieses Wetter konnte unter Umständen bis Oktober andauern. Oh, es war nicht auszudenken. Man konnte das einfach nicht aushalten. Edna stöhnte.

Die reichen Leute konnten sich helfen. Nicht nur konnten sie in ihren Autos aus der Stadt hinausflitzen und ein kühles Plätzchen im Gebirge aufsuchen; sie konnten in luftgekühlten Büros arbeiten und ihre Abende und halbe Nächte in eiskalten Vergnügungslokalen verbringen. Aber ein Mädel wie sie?

Es war, weiß Gott, nicht das Wetter allein. Es war alles. Alles war schlecht. Ihr ganzes Leben. Und auch da keine Aussicht auf Besserung, Änderung, Erlösung.

Für die Armut an sich konnte und wollte sie ihre Eltern nicht tadeln. Wenn man arm geboren war, nie eine Chance hatte, nie ein bißchen Glück, niemanden, der einem half, dann war es schwer, sich hinauf zu arbeiten. Die Nachbarn waren auch arm; die ganze Mercer Street; das ganze Viertel. Die Häuser sahen alle gleich aus, schmutzig, vernachlässigt, dunkel; kein fließendes Wasser, keine Heizkörper; hier existierten die technischen Errungenschaften nicht, für deren Erfindung und Installierung Amerika berühmt war.

In der Scarlatti-Wohnung war kein Möbelstück ganz. Der Dreck häufte sich. Wanzen und Küchenschaben gediehen. Die Malerei fiel von den Wänden. Die gesprungenen Fenster wurden nicht repariert. Der Hausverwalter hatte immer andere Ausreden. Er vertröstete. Aber es hätte auch keinen Unterschied mehr gemacht, wenn er wirklich malen hätte lassen. Und wer hätte Schutt und Mörtel wegputzen müssen, sobald die Anstreicher mit ihrer Arbeit fertig waren? Nur sie. Der bloße Gedanke daran war widerlich.

Und doch brachte sie es nicht über sich, ihren Eltern Vorwürfe zu machen. Sie waren selbst unglücklich. Das versuchte sie auch Mona zu erklären, wenn sie unbekümmert Kritik übte. Edna erschrak oft über die Frechheit der Kleinen, über ihre respektlose Angriffslust. Sie wollte gar nichts erklärt haben. Sie verurteilte. Und in was für Worten. Wo sie die nur lernte? Sie trieb sich herum, kam nach der Schule nicht nach Hause. Wo war sie denn? Aber Edna hatte weder Zeit noch Kraft, ihr nachzulaufen. Und was sollte sie dem Kinde antworten, wenn es herausfordernd sagte: »Unser Heim kann mir nichts bieten. Ich bin froh, wenn ich den betrunkenen Vater nicht sehe und das ewige Jammern der Mutter nicht höre.«

Die arme Mutter. Sie war so krank. Edna wußte nicht genau, was es war. Irgend ein Frauenleiden, das man bekam, wenn man sich nach dem Wochenbett nicht schonen konnte. Mutter mußte oft viele Wochen im Bett liegen. Eine Operation hätte ihr vielleicht helfen können, aber sie konnte sich nicht dazu entschließen.

»Wenn sie einmal anfangen, an mir herumzuschneiden, dann werden sie nicht mehr aufhören. Solange Gott mich am Leben läßt, will ich leben. Die Ärzte wissen ja doch nichts. Sie würden mein Ende nur beschleunigen. Mit armen Leuten machen sie nicht viele Geschichten.«

Edna hatte tiefes Mitleid mit der Mutter. Aber Mona hatte auch hier eine harte und unkindliche Antwort bereit. »Mutter versucht ja nicht einmal, gesund zu werden. Es wäre ihre moralische Verpflichtung, ins Spital zu gehen. So vergiftet sie unsere Jugend und treibt den Schwächling in den Suff.«

Vater war seit drei Tagen nicht nach Hause gekommen. Es war nicht das erste Mal. Irgendwo schlief er sich wohl seinen Rausch aus. Wenigstens war man verschont von seinem Gebrüll und Türenschmettern, oder auch von seinem gelegentlichen Weinen und sich die Haare raufen, begleitet von scheußlichem Gekotze und widerlichem Gestank.

Trotzdem konnte sie auch ihm ihr Mitleid nicht versagen, während Mona nur verächtliche Worte für ihn hatte. Wahrscheinlich war auch er innerlich so betrübt wie sie, Edna, und konnte ohne diese zeitweise Betäubung überhaupt nicht leben. Und manchmal hatte er auch lichte Momente. Da ging er in die Arbeit und brachte sogar Geld nach Hause. Er war Aushilfskellner in einem Restaurant im Village. Wenn er ein fleißiger, nüchterner, anständiger Mensch wäre, dann hätte er den Posten vielleicht für ständig haben können. Geschulte Kellner waren gesucht. Besonders jetzt, wo so viele junge Männer zum Militär gerufen wurden. Man sprach vom Krieg. Und die Kellner, die hier blieben, waren in einer Gewerkschaft und bekamen guten Lohn. Es war gar nicht auszudenken, wie gut sie hätten leben können, wenn der Vater ein regelmäßiger Verdiener wäre. Man könnte ein paar neue Möbel kaufen, auch einmal einen besseren Bissen essen, einen Arzt für die Mutter rufen. Die reichen Leute werden doch nicht sofort aufgeschnitten. Bei denen nahm sich ein Arzt sicher mehr Zeit und Mühe. Aber das waren ja müßige Träume. Seit Monaten hatte Vater nichts Nennenswertes zum Haushalt beigetragen und wenn er ein paar Dollar nach Hause gebracht hatte, und wenn er sogar Mutter etwas davon gegeben hatte in einer flüchtigen Aufwallung eines alten Gefühles, so nahm er ihr bald darauf wieder weg, was sie nicht sofort in Milch, Brot und Fleisch umgesetzt hatte. Und die Mutter konnte nicht rasch treppauf-treppab laufen, auch wenn sie nicht gerade bettlägerig war. Seit Monaten mußte Edna ihren ganzen Verdienst zu Hause hergeben. Jeden Freitag nach der Auszahlung in der Fabrik versuchte sie drei oder wenigstens zwei Dollar für sich zu behalten, aber wie so die Woche ging und es jeden Tag so augenfällig an irgend etwas Wichtigem fehlte, gab sie dann noch und noch her, bis ihre schäbige kleine Börse leer war. Dann kam der nächste Zahltag, und dieselbe Tragikomödie spielte sich ab. Das Traurigste dabei war, daß, obwohl sie so schwer arbeitete und sich persönlich alles versagte – wenn Walter sie nicht hie und da ins Kino mitgenommen hätte, wäre sie überhaupt nirgends hingekommen –, es doch nicht genügte. Beim Kaufmann standen Schulden, und wie sie im Winter Kohle kaufen sollten, das war ihr bis jetzt rätselhaft. Ach, wozu sich über den Winter den Kopf zerbrechen, vielleicht starb sie bis dahin. So wie Claire, eines der Büromädchen in der Fabrik. Edna hatte sie ein paar Male im Waschraum getroffen, doch selten mit ihr gesprochen, da das Büropersonal klare Distanz hielt von der Fabriksbelegschaft, zu der Edna gehörte. Claire war etwas zugänglicher und immer lustig. Einmal rief sie einen Trubel im Waschraum hervor, indem sie – in gespieltem Schreck – flüsterte, der Feuerinspektor sei gerade im Lagerraum und werde gleich hier sein. Rauchen war strenge verboten. Die Dämpfe, die aus den kosmetischen Artikeln strömten, waren leicht entzündlich und in allen Räumen waren große Plakate »Achtung! Gefahr« angebracht. Trotzdem fanden die Arbeiter und Angestellten immer ein verborgenes Plätzchen, wo sie ihrer Leidenschaft unkontrolliert frönen konnten. Als aber Claire den Inspektor erwähnte, stürzten alle Raucherinnen in wilder Hast in die Klosette, um ihre brennenden Zigaretten in die Klosettschüsseln zu werfen. Lisa schrie auf und versetzte Bernie einen Stoß, weil diese ihr mit ihren ganzen hundert sechzig Pfund in der Hitze des Gefechtes auf den Fuß getreten war. Bernie stieß zurück, Lisa pfauchte wie eine Wildkatze. Eleanor riß das Fenster auf, damit der Inspektor den Rauch nicht rieche. Sie nahm ihre Schürze herunter und fächelte damit durch die Luft, um den Abzug des Rauchgeruches zu beschleunigen. Es war ein eisiger Wintermorgen, zwei Grad über Null und die Kälte kroch ihnen sofort bis ins Mark.

»Mach das Fenster zu«, kreischte Sylvia, die selbst keine Raucherin war. Sie war eine Arbeiterin wie Edna und haßte außerdem alle Büromädchen. Sie begrüßte daher die Gelegenheit, Eleanor zu maßregeln.

Dann stellte es sich heraus, daß Claire ihnen nur einen Streich gespielt hatte. Ach, war das eine Hetz! Ein Mordsspaß. Claire lehnte an der Tür und lachte Tränen. Und jetzt war sie tot. Zweiundzwanzig war sie, blühend, rosig, verwöhnt. Herzschlag. Und dabei war sie nie krank gewesen. Auch Edna hatte nie eine Krankheit gehabt; das war immerhin eine Parallele.

Sie konnte es nicht aufhalten, daß ihr ganzer saurer Verdienst in diesen verlotterten Haushalt floß, aber sie war fest entschlossen, ihr Urlaubsgeld nicht anzutasten. Sie fuhr mit der Hand unter ihre Matratze. Ja, hier war es, das kleine Päckchen; in Papier gehüllt und dann noch in ein blaues Wollfleckchen eingenäht. Sie hatte es zuerst mit sich herumgetragen, nachdem sie ungefähr ein Jahr gebraucht hatte, um es sich von den Überstunden abzusparen. Aber seit Freedas Handtasche in Macy's Souterrainlokal gezogen worden war, hatte Edna sich die Sache überlegt. Sie hatte es mit der Angst gekriegt und es lieber an einen sichern Ort gegeben. Ihr Bett war der beste Platz. Jeden Abend konnte sie kontrollieren, ob es noch da war. Noch ein anderer Grund spielte mit bei dem Entschluß, das Geld nicht mit sich herumzutragen. Die Gefahr, es anzutasten, war vermieden. Sie konnte und wollte es nicht anrühren. Ende August war ihre Urlaubswoche und sie war entschlossen, diesmal wegzufahren. Alle andern Arbeiterinnen fuhren irgendwohin. Manche nahmen sogar zwei Wochen Urlaub, obwohl die regulären Arbeiter nur einen Wochenlohn erhielten und die Akkordarbeiter gar keinen. Edna, die zu letzterer Gruppe gehörte, konnte sich natürlich nicht zwei Wochen leisten. Seit vier Jahren war sie bei »Sweetface«, einer kosmetischen Fabrik in der Canal Street. Bis jetzt hatte sie ihre Urlaubswoche zu Hause verbracht. Meistens hatte sie mit dem Wetter auch noch Pech gehabt, so daß sie nicht einmal täglich mit den Burschen der Mercer Street nach Coney Island konnte. Während der freien Woche hatte sie in der Wirtschaft und im Hause mehr gearbeitet als je in der Fabrik; dabei die Mutter gepflegt und Monas Wäsche ausgebessert. Sie war ordentlich froh gewesen, als der Urlaub vorbei war. In die Fabrik zurückgekehrt, hatte sie mit Neid gesehen, wie die andern Mädchen sonnengebräunt und ausgeruht auf ihren Plätzen saßen. Mit Wehmut hatte sie gehört, was für »wunderbare Tage« sie verbracht hatten. Mit verhaltenen Tränen hatte sie die Sticheleien der Vorarbeiterin, Miss Swab, über sich ergehen lassen.

»Edna, warum fahren denn Sie nie auf Urlaub ? Was machen Sie denn immer mit Ihrem Lohn? Halten Sie sich vielleicht gar einen Geliebten aus?«

Die letztere Frage enthielt besondere Bosheit. Walter machte Edna den Hof, Miss Swab flog auf ihn und versuchte alles, um die zwei auseinander zu bringen.

Da fing Edna an für den nächsten Urlaub zu sparen. Verbissen und energisch. Sie erinnerte sich noch an das erste 25-Cent-Stück, dann an den ersten Dollar. Sie erinnerte sich an den Tag, da sie die ersten fünf einzelnen Dollar in einen Fünfer wechselte. Sie erinnerte sich an die große Versuchung im Jänner dieses Jahres, als sie bei einem Ausverkauf bei Ohrbach einen Mantel um zwölf Dollar neunundsiebzig Cents in der Auslage sah. Er war märchenhaft. Er war aus einem dunkelroten Wollstoff, hatte einen Sealkragen und Sealmanschetten, was totschick aussah. Aber das Herrlichste war, daß er zwei große Taschen hatte, in die man die Hände stecken konnte, und diese Taschen hatten einen schmalen Sealstreifenbesatz. Der Mantel beherrschte ein Seitenfenster und war auf einer Puppe, die genau Ednas Figur hatte. Mittelgroß, mit schlanken Beinen, einer rundlichen Hüftenkurve und einer ganz ausgiebigen Portion Busen. Es war sozusagen alles da, so wie bei Edna. Die Puppe hatte kein Gesicht, nur eine Gipsfläche, wie das jetzt modern war, so daß Edna im Geiste mühelos ihr eigenes Gesicht an den leeren Fleck projizieren konnte. »So könnte ich aussehen«, dachte sie. »Und warm wäre er auch.« Sie träumte sich hinein in die Seligkeit, ihn zu tragen. Und wenn man einmal zu träumen begann, dann gab es gar kein Ende. Und sie hatte doch das Geld, sie hätte ihn doch kaufen können, warum denn nicht? Aber ihre Willensstärke siegte und heute war sie froh darüber und stolz darauf. Hier unter der Matratze war die Garantie, daß sie heuer eine richtige Urlaubswoche haben würde. Und vielleicht konnte sie noch flinker arbeiten und dadurch ihren Wochenlohn erhöhen. In einer normalen Vierzigstundenwoche verdiente sie jetzt neunzehn Dollar. Sie hatte große Fertigkeit erlangt im Füllen der Nagellackfläschchen. Wenn Miss Swab sie den ganzen Tag ungestört bei dieser Beschäftigung ließe, dann könnte sie vielleicht auf zwanzig, ja sogar einundzwanzig Dollar kommen. Aber jedesmal, wenn sie im besten Schuß war, kam die scharfe Stimme »Edna genug für heute. Gehen Sie zu den Schachteln«. Das warf sie dann ganz zurück. Erstens durfte sie nicht einfach alles liegen und stehen lassen. Sie mußte die gefüllten Flaschen auf einen Rollwagen laden, die ungefüllten in einen Karton zurückgeben, die zerbrochenen zusammenkehren und in die Mistkübeln leeren; dann mußte sie die verschiedenfarbigen Lackreste aus den diversen Schläuchen spritzen, damit sie nicht eintrockneten und so am nächsten Tag die Schläuche verstopften. Dann mußte sie die Terpentinflasche vom Sims holen und den Arbeitstisch waschen, ebenso ihre eigenen verklebten Hände, sonst würde sie die Schachteln anklecksen. Die Packtische standen weit im Hintergrund des riesigen Arbeitsraumes. Dort gab es verschiedene Arbeiten. Die kleinen Fläschchen wurden noch einmal gereinigt, dann wurde ein unbedrucktes Schildchen auf jedes einzelne draufgeklebt – wenn der Schwamm zu trocken war, mußte man den weiten Weg zum Waschraum gehen, um ihn naß zu machen. Man ging dabei am Trinkwasserbehälter vorbei, aber man durfte dort nicht mit Arbeitsmaterial hantieren, es galt als unhygienisch und war strafbar – Miss Swab tat es zwar, aber den Mädchen war es verboten –; war der Schwamm zu naß, dann wollte das Schildchen nicht kleben, dann verdarb man ein paar und schon stand Miss Swab, wie aus dem Erdboden gewachsen, da und schimpfte. Hatte man das Fläschchen mit dem Schildchen versehen, dann wickelte man Watte um den Verschluß und Seidenpapier um das Fläschchen. Dann nahm man einen Haufen kleiner Schachteln, öffnete sie, legte sie in Zwanziger- oder Dreißigerreihen auf den Tisch. Sodann legte man in jedes ein Fläschchen. War das getan, bückte man sich unter den Packtisch und entnahm einem Karton eine Handvoll Versteifungen – war der Karton zufällig leer, was oft passierte, mußte man einen der Negerburschen rufen, damit sie einen neuen herbeischleppten. Die Versteifungen waren kleine Stücke Pappendeckel, die ein paar Büge und eine runde Ausbuchtung hatten. Die Büge faltete man und das ganze schob man so um die Flasche, daß die Ausbuchtung die Flaschenrundung fest umschloß und gegen Bruch sicherte. Dann schloß man die Schachteln, stellte sie alle in Reih und Glied, mit der Rückseite nach oben und stempelte die entsprechende Nummer – je nach Farbe und Art des Lackes – darauf. Nun stellte man alle Schachteln auf, rangierte sie auf ein Servierbrett und trug sie auf Walters Tisch, der sie dann in große Kartons verpackte. Für zwei fertige Schächtelchen erhielt man 1 Cent. Miss Swab behauptete, man könnte leicht hundert und fünfzig in der Stunde packen, aber Edna fand, daß sie nicht einmal hundert fertig brachte. Es gab zu viele Aufenthalte, zu viele Zwischenfälle. Wenn man stempelte, konnte das Stempelkissen plötzlich trocken sein und die Tinte war nirgends zu finden. Man hatte auf zu viele Dinge zu achten. Nein, Edna konnte bei dem Packen nicht auf ihre Rechnung kommen. Das Füllen war besser. Da bekam man für zehn gefüllte Fläschchen 1 Cent. Man konnte aber fünfhundert, vielleicht sogar sechshundert in der Stunde fertig machen.

Es war da noch ein anderer Grund, warum Edna das Schachtelpacken nicht mochte. Der Packtisch stand im dunklen, rückwärtigen Teil des Arbeitsraumes. Dort war kein Tageslicht und man mußte ein sehr grelles Licht brennen. Es war scharf und weißlich und brannte in den Augen. Schon zweimal hatte Edna eine Bindehautentzündung bekommen. Vielleicht kam es vom Schachtelstaub, der einen dort hinten wie in eine Wölke einhüllte; jedenfalls tat das Licht dem ohnehin tränenden Auge furchtbar wehe.

»Edna, Sie sind ein Schlemihl«, sagte Miss Swab bei solchen Gelegenheiten. Als Edna sie bat, ob sie nicht irgend eine andere Arbeit machen könne, fuhr die Vorarbeiterin sie an: »Wir haben hier kein Sanatorium, sondern eine Fabrik.«

Edna wischte sich mit dem Leintuch den Schweiß vom Gesicht. Vom Stiegenhaus kam Lärm. Offenbar eine nächtliche Debatte zwischen Mr. und Mrs. Dunhill, die einen Stock unter den Scarlattis wohnten. Da gab es oft Zank. Besonders seit die junge Frau sich ihr dunkelbraunes Haar erdbeerrot gefärbt und einen regelmäßigen Verehrer hatte, der erschien, sowie Mr. Dunhill in die Arbeit ging. Das Komische war, daß die Rote gar kein Hehl aus ihrem Lebenswandel machte, sondern noch betonte, sie wolle etwas vom Leben haben, und was der Gatte ihr nicht geben könne, das müsse eben ein anderer leisten. Das gelte für Geld und für das andere auch. Mr. Dunhill schlug Krach, doch sie blieb ihm nichts schuldig und zum Schlusse sah es so aus, als habe der unschuldige Mann Angst. Vor ihr, dem Verehrer und den Konsequenzen. Sie war ein sinnliches, brutales Frauenzimmer mit einem feschen Körper, den sie freigebig zur Schau stellte. Wenn sie in diesen heißen Tagen auf den Stufen des Hauses saß und die Beine übereinander schlug, dann wanderten die Blicke der Männer zu ihr, ob sie nun vierzehn oder sechzig waren. Jetzt wurde ihre Stimme lauter, doch konnte Edna die Worte nicht entnehmen. Ein Mann antwortete. Seine Stimme lallte, er mußte betrunken sein. Das war seltsam. Mr. Dunhill war doch ein Abstinenzler. Sollte er in seiner Verzweiflung über die Untreue seiner Frau zu diesem letzten Trost gegriffen haben? Das war etwas Neues. Nun, es ging Edna nichts an. Sie wollte versuchen, ob sie nicht doch einschlafen konnte.

Schwere, schlürfende Schritte hallten vom Gang. So wie wenn jemand sich mühsam schleppte und am Geländer festhielt.

»Das ist eine Schweinerei«, sagte Mrs. Dunhill. »Und gerade vor unserer Tür.«

»Ach, laß ihn doch«, beschwichtigte ihr Mann. Ihn? Wen meinte er. Edna setzte sich auf. Sie hatte eine unangenehme Vorahnung.

»Er muß das aufwischen, was er hergekotzt hat.«

»Ach, laß ihn doch. Er weiß ja nicht, was er tut. Er ist ja ganz voll.«

»Das ist der Vater«, dachte Edna in plötzlichem Schreck. So war er also wieder betrunken. Und hatte gerade vor der Dunhilltüre so eine Bescherung angestellt. Sollte sie hinunter gehen ?

»Mrs. Dunhill«, lallte Mr. Scarlatti. »Seit wann sind Sie zu einem männlichen Wesen unfreundlich?«

»Du wirst gleich zwei Watschen fangen, du Schwein«, brüllte Mrs. Dunhill.

»Kommen Sie, Scarlatti«, sagte Mr. Dunhill. »Ich helfe Ihnen die Stiege hinauf. Hier. Halten Sie sich an.«

»Du bist mein Freund«, sagte Mr. Scarlatti mit einer vom Trinken heiseren Stimme. »Komm mit mir. Ich lade dich auf ein Glas Wein ein. Du bist mein Gast.« Man hörte, wie er mühsam ein Bein vor das andere setzte. Nun war er offenbar zusammen geknickt, denn Mr. Dunhill sagte: »Also, nehmen Sie sich doch zusammen. Jetzt ist es ja nur mehr ein kleines Stück bis zu Ihrer Tür.«

»Wer sind Sie eigentlich, daß Sie meinen Namen kennen? Ja, es ist wahr, ich bin Mr. Scarlatti. Ich werde deinen Freundschaftsdienst nicht vergessen. Ich werde dich fürstlich belohnen. Die Zeiten ändern sich. Heute ... heute bin ich tief gesunken, doch morgen ...«

»Bist du noch tiefer, du Ratte«, schrie Mrs. Dunhill ihm höhnisch nach.

Ednas Herz klopfte wild. Mußte die Frau sich auch noch über ihn lustig machen? War es nicht arg genug, daß er in so einem Zustand war? Wer war sie, den Stab zu brechen über einen schwachen Menschen, der sich vergaß? War denn ihr Lebenswandel vielleicht ein solches Vorbild? Edna zitterte vor Entrüstung. Sie stieg aus dem Bett und ging nackt und bloßfüßig, wie sie war, zum Kasten, über dessen halb offener Tür ein verwaschener, einstmals hellblauer Battistschlafrock hing. Als sie ihn anzog, blieb er sogleich an ihrer feuchten Haut kleben. Sie ging zur Tür und horchte. Der Vater und sein Begleiter hatten soeben die Wohnungstür erreicht.

»Wo führst du mich denn hin?«, fragte Mr. Scarlatti sehr laut. »Ich will ja gar nicht hieher. Ich will ins Wirtshaus, denn mich quält der Durst. In so einer heißen Nacht willst du mich ins Bette stecken?« Er lachte aus vollem Halse. Ach, nun würde er ja noch das ganze Haus aufwecken. War es denn nicht genug, daß die Dunhills Zeugen seines widerlichen Benehmens waren? Mußten die andern alle auch noch auf den Gang stürzen. Edna öffnete ihre Tür, sah aber, daß die Mutter aus dem andern Zimmer kam, um den Vater in Empfang zu nehmen. Da ging sie wieder in ihr Bett zurück. Kein Wort der lauten Konversation konnte ihr entgehen. Mit Mühe und Not wurde der Betrunkene endlich auf sein Bett gelegt, nicht ohne seinen heftigen Protest und seine Beteuerung, daß er nicht hieher gehöre und daß er vor Durst umkomme. Mutters jammernde und beschwichtigende Stimme schnitt in Ednas Seele. Nun war er wohl aufgestanden, denn die Möbel polterten. Es folgte ein großer Krach. Was hatte er denn jetzt umgestoßen?

»Ach, um Gotteswillen, Joe, mußt du denn alles krumm und klein schlagen?«

Was der Vater antwortete, war nicht zu verstehen. Es war ein Gelalle, das in Stöhnen und Fluchen anschwoll, dann in halb irrsinniges Gelächter abebbte, um sich wieder in verballhornten Lauten zu sammeln.

»Ach, Joe, mit dir wird es ein schlechtes Ende nehmen. Du wirst dich noch zu Tode saufen. Willst du das? Willst du denn dich und deine Familie vollends ins Elend bringen? Denkst du denn gar nicht an mich und die Kinder?«

»Zur Hölle mit dir und den Kindern.«

Das war einmal ein klarer Satz, wenn auch nicht sehr schmeichelhaft für Ednas lauschende Ohren. Wenn er nur einschlafen würde. Wenn nur endlich Ruhe wurde. Wie spät konnte es denn jetzt sein? Zwei Uhr?

Drei Uhr? Sie hatte keine Ahnung. Die Mutter nebenan weinte. Ach, was war das für ein Hundeleben. Ach Mutter, warum war alles so schrecklich. Warum lebten andere Menschen in Glück und in Wohlstand und nur sie hatte nichts wie Entbehrungen und Demütigungen. Sie schämte sich des Vaters. Nun gab es im Nebenzimmer wieder einen Krach. Mona wachte auf. Es war sowieso ein Wunder, daß sie bis jetzt geschlafen hatte.

»Was ist los, Edna? Ein Erdbeben?« Sie setzte sich auf. Bevor Edna noch antwortete, hatte sie Vaters grollende Stimme erkannt. »Ach, der Saufbold ist wieder einmal nach Hause gekommen.« Sie legte sich nieder und drehte sich auf die andere Seite. »Heute scheint er wieder einmal ordentlich voll. Ach was, soll ihn der Teufel holen. Gute Nacht.«

Edna erstarrte vor Schreck. Doch stahl sich auch Neid und Respekt in ihre innere Abwehr. Neid vor solcher Unbekümmertheit, Respekt vor solcher Härte.

Nun wurde es drüben etwas ruhiger. Der Vater war offenbar am Einschlafen. Sein Geschwätze verebbte in ein Gemurmel. Die Mutter schluchzte hie und da leise. Edna würde nun auch schauen, daß sie etwas zur Ruhe kam. Das war leichter gesagt als getan. Ihr Herz klopfte noch immer und ein Klumpen saß ihr in der Kehle. Doch wollte sie versuchen, sich in Schlaf zu träumen. Sie wollte an ihren Kinoliebling denken und ihn in Gedanken in ihr Zimmer zaubern. Der rothaarige Red Skelton hatte es ihr angetan. Wohl war er nicht schön, doch so lustig, daß er es einem Mädchen schon antun konnte. Sie hatte ihn da unlängst in einem Film gesehen, wo er eine so ulkige Szene mit seiner Partnerin, Lucille Ball, hatte, daß Edna sich wirklich vor Lachen gewälzt hatte. Und außerdem hatte sie sich in ihn verliebt. In sein verschmitztes Gesicht, seine grotesken Einfälle, seine Naivität. Sie wußte, daß die andern Fabriksmädchen entweder auf Errol Flynn flogen, auf Bing Crosby, Frank Sinatra oder Alan Ladd. Nun, sie sah nicht ein, in welcher Beziehung Red schlechter sein sollte als die andern, Sie hatte einen Lieblingstraum, wo sie sich ausmalte, daß in der Mercer Street gefilmt wurde. In prächtigen Autos würden die Mächtigen vorfahren, die Regisseure und Photographen. Geschminkte Schönheiten würden nur so durch die Straße wimmeln, gehüllt in Spitzen, die allerhand durchschimmern ließen, dann endlich würde die Großaufnahme mit Skelton gedreht werden. Sie würde am Gehsteig stehen und zusehen, umgeben von hunderten von andern Neugierigen. Plötzlich würde sein Blick auf sie fallen. Er würde ein paar Worte auf eine Visitenkarte kritzeln. Sein Garderobenmeister würde sie ihr bringen. Alles würde staunen. Später würde sie an seinem Arm die schmutzige Straße verlassen, in seinem Wagen zu Toffenetti fahren, wo man so gute Spaghetti bekam. Dort würden sie essen, trinken, lachen. Natürlich würde er Dutzende von Witzen erzählen.

Doch dieser Lieblingstraum wollte heute nicht recht funktionieren. Sie konnte Reds Gesicht nicht halten, es zerfloß immer wieder in Nebel. Endlich fiel sie in bleiernen Schlaf.

Als Edna heute zur Arbeit kam, herrschte eine gereizte Stimmung. Nicht zu verwundern bei diesem Wetter. Um acht Uhr früh meldete das Radio achtzig Grad und sehr feucht. Man wußte also, was man zu erwarten hatte. Und keine Aussicht auf Erlösung. Edna zog ihr Sommerkleid aus und schlüpfte in den Arbeitskittel, dann ließ sie das Höschen herunter. Je weniger man anhatte, desto besser war es, und vom Schweiß wurden die Sachen ja auch nicht besser. Nur den Büstenhalter behielt sie an. In dieser Gegend hatte sie gerne ein »festes« Gefühl.

Nun betrat sie den Arbeitssaal. Die Luft war dick. Wohl besaß die Firma Ventilatoren, die standen aber nur im Büro. Hier regte sich kein Lüftchen. An ihrem Platz beim Fenster – diese Seite ging auf die Canal Street, die Büroräumlichkeiten auf die Lafayette Street – saß schon die alte Flora und stöhnte: »Der zehnte Tag dieser Hitze. Ich werde sterben. Ich werde das nicht überleben.« Sie trug eine dünne, hellblaue Kleiderschürze, die ihre fetten Arme frei ließ, während auf den Achseln sinnlos kokette Rüschen wippten. Ihre grauen Haare waren glatt zurückgekämmt und sie fächelte sich mit einem Karton. Sie war die älteste unter den Arbeiterinnen, nicht nur an Jahren, sondern auch in der Dauer des Angestelltseins. Sie hatte ihren angestammten Platz und eine verhältnismäßig leichte Arbeit; sie band bunte Maschen um Geschenkpackungen. Miss Swab kümmerte sich nicht um sie. Flora tat auch so ihre Arbeit und hätte sich auch von der um zwanzig Jahre Jüngeren und erst seit fünf Jahren hier Angestellten nichts anschaffen lassen. Sie war eine Art Faktotum und wenn sie auch für die Produktion weder wichtig noch wertvoll war, so war sie doch willig und nicht im Wege. Man munkelte, daß sie allerhand wußte aus den etwas dunklen Anfängen des Chefs vor seinem rapiden wirtschaftlichen Aufstieg. Ihr Wert für den Chef hatte sich auch in jenem Zwischenfall bewiesen, als eine radikale junge Arbeiterin Propaganda machte, der Gewerkschaft beizutreten. Flora parierte diesen gefährlichen Einfluß, machte den Mädchen Angst, hinterbrachte alles dem Chef, kurz, machte sich nützlich. Die Aufwieglerin flog damals hinaus und der Betrieb war nach wie vor »unorganisiert«.

Der Gong schlug acht Uhr und die Arbeit begann. Flora schlang die rosa oder hellblauen Seidenbänder um die Schachteln, die Neger schleppten Kartons herbei, Emily arbeitete an der Maschine, wo sie eine Masse Nagelweiß in kleine Kapseln preßte, Edna füllte ihre Flaschen, die magere Sophie und die temperamentvolle Sylvia machten am nächsten und übernächsten Tisch dieselbe Arbeit, die trällernde Anne füllte assortierte Schachteln, die Nagellack, Lackentferner, Hautentferner und ein paar Feilen aus Glaspapier enthielten; die träge Herta kontrollierte die Ware, die auf dem Rollwagen stand; sie strich, was sie vorfand, auf den Listen aus. Das war eigentlich Miss Swabs Arbeit, sie war ja Vorarbeiterin und Aufpasserin; heute war ihr aber offenbar zu heiß. Sie ließ sich oft von Berta helfen, auch in ganz privaten Dingen. Dafür gab sie ihr kleine Begünstigungen, die nichts kosteten. Da Berta nicht im Akkord arbeitete, war es ihr egal, wie sie ihre Zeit verbrachte. Man sah die beiden auch oft miteinander schwätzen. Das ärgerte namentlich Emily, die an der lärmenden Maschine stand und den ganzen Tag mit niemandem sprechen konnte. Warum sollten sich also andere während der Arbeit so gut unterhalten? Annes Mund stand überhaupt nie still. Sie saß nicht sehr weit von Flora entfernt und erzählte ihr gerade, daß sie mit ihrer Hausfrau einen Streit gehabt. Dann kam Miss Swab in die Nähe und auch der erzählte sie gleich eine lange Geschichte. Sie war nie um einen Zuhörer verlegen. Ging der Vorarbeiter Charles vorbei, dann nahm sie ihn hopp, oder auch Curtis und Stanley, die beiden Neger, wenn sie ihr gerade in den Wurf kamen. Sie konnte nicht schweigen. Wenn niemand da war, dann sang sie die neuesten Schlager; wenn ihr der Text ausging, wiederholte sie eine Zeile immer und immer wieder, etwa »Daddy, du willst das Beste nur für mich« oder »Die Zeit wartet auf keinen« oder »Meine Mutter sagte mir« oder »Oh ich versteh' und tadle dich drum nicht«. Es war rätselhaft, wo sie in dieser Hitze den Atem und die Kraft hernahm. Allerdings sprang sie jede halbe Stunde auf und stürzte in den Waschraum, um sich Gesicht und Arme zu kühlen. Die männlichen Arbeiter hatten sich längst die Hemden ausgezogen und gingen in Zwilchhosen und Sandalen hin und her, ihre nackten Oberkörper bereitwilligst zur Schau stellend. Wenn sie die schweren Kartons schulterten, spielten ihre Muskeln und man sah kleine Bächlein von Schweiß an ihnen entlang herunter laufen.

Um zehn Uhr rief Miss Swabs scharfe Stimme: »Rast«. Emily hatte schon fünf Sekunden vorher ihre Maschinen abgestellt, so daß der kleine Treibriemen langsamer und langsamer lief und zugleich mit Miss Swabs Kommando ganz still stand. Emily stürzte zum Wasserbehälter, Anne, Sophie und Berta hart hinter ihr. Flora schleppte sich in den Waschraum. Edna sah, daß sie erst einen Trunk haben konnte, wenn der Andrang dort aufhörte. So stellte sie die Lackschläuche mit einem Handgriff ab und schloß die Augen. Walter ging an ihr vorbei und fragte freundlich: »Krank?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nur nicht verzweifeln. Heute Abend kommt ein Wettersturz.« Er schob ihr ein Pfefferminzplättchen in den Mund. Sie nahm es mit spitzen Lippen. Seine Finger waren schmutzig und rochen nach Leim. Doch wollte sie ihn nicht verletzen, denn er meinte es gut.

Miss Swab stieß ein höhnisches Lachen aus. »Das erzählt er einem täglich. Seit zehn Tagen verspricht er einem das. Oh, Walter, Sie sind ein Narr.« Sie grinste ihn an und zeigte ihre starken Pferdezähne. Das sollte kokett sein, verfehlte aber seine werbende Wirkung. Walter dachte bloß: »Will die vielleicht etwas? Ach nein. So eine Alte. Die könnte ja meine Mutter sein.«

Nun ging Edna Wasser trinken. Sie nahm einen Papierbecher aus dem Wandbehälter, füllte ihn mit dem eisgekühlten Wasser und trank in gierigen Zügen. Das war gut. Noch einen. Das kühlte innerlich. Auch der Rand ihrer Lippen wurde eiskalt inmitten ihres dampfenden Gesichts. Oh, wenn man sich nur ganz hineinlegen könnte in diesen Wasserbehälter.

»Drei Minuten!«, rief Miss Swab.

Langsam gingen die Mädchen zur Arbeit zurück. Flora stöhnte: »Heute werde ich sterben.«

Endlich war es zwölf. Das bedeutete eine Stunde Mittagspause. Walter war schon früher hinunter gegangen – um den großen Andrang in den Restaurants zu vermeiden –, nun kam er wieder und brachte mit, was ihm aufgetragen worden war. Es war unglaublich, wie gut er sich das alles merkte und mit welcher Unfehlbarkeit er jedem sein Kleingeld zurückgab. Und dabei war er immer gut aufgelegt. Heute hatte er folgendes mitgebracht: eine Schinkensemmel mit Salat und Tomatenschnitten, zwei Birnen und eine Flasche Coca-Cola für Charles, ein belegtes Weizenbrot mit gehackter Leber und Gurke, einen Topfenauflauf, Eiskaffee und ein Paket Zigaretten, Marke »Kamel« für Curtis, ein Dreideckerröstbrot mit gehackten Eiern und russischer Majonaise, zwei dänische Bäckereien und einen Kaffee für Stanley, Schweizerkäse mit Roggenbrot, Apfelstrudel und eine Flasche Orangensodawasser für sich selbst. Charles breitete einen Bogen Packpapier über das eine Ende seines Tisches und die vier ließen sich nieder zu einem wohlverdienten Mahl. Derbe Scherze flogen hin und her und die Tischmanieren waren von keinerlei Hemmungen beeinträchtigt. Das Essen selbst nahm nicht länger als fünfzehn Minuten in Anspruch, so daß ihnen dann noch fünfundvierzig blieben, um zu dösen, Zeitung zu lesen oder Karten zu spielen. Jedenfalls liebten sie Regelmäßigkeit in dieser Erholungspause.

Nicht so die Mädchen. Die wollten Abwechslung. Einmal gingen sie in die Umgebung essen, womöglich jeden Tag in ein anderes Restaurant, einmal brachten sie einen elektrischen Kochtopf und wärmten etwas auf, einmal holten sie etwas herauf, einmal brachten sie etwas von zu Hause mit. Wenn sich heute eine Gruppe bildete, so war es möglich, daß sie schon morgen auseinander fiel; manchmal wollten sie tratschen, dann wieder schlafen, dann wieder brachte eine einen Radioapparat und sie tanzten, einmal probierten sie neue Frisuren aus, einmal tauschten sie Kleider, einmal zupften sie sich gegenseitig die Augenbrauen zwecks Verschönerung, einmal fingen sie eine heiße Debatte an, einmal langweilten sie sich, alle miteinander.

Edna hatte heute kein Brötchen mit; sie mußte also essen gehen. Als sie in die Canal Street trat, schien ihr die Straße noch heißer als die Fabrik; wie wenn sie geheizt wäre. Sie fürchtete sich, auch nur ein paar Schritte zu gehen. Da fuhr gerade ein Eismann mit seinem kleinen, gelblackierten Wagen an ihr vorbei. Sollte sie einfach ein Gefrorenes essen? Aber nein, sie würde dann bald so hungrig werden, daß sie die Arbeit nicht aushalten würde. Sie kannte eine Drogerie auf dem Broadway, die war luftgekühlt. Wenn sie dort zwanzig Minuten sitzen würde, das wäre eine Wohltat. Ein Sandwich wollte sie haben und einen Kaffee, das kostete zusammen fünfzehn oder zwanzig Cents. Es war dort wohl immer sehr voll, man mußte gewöhnlich eine Weile hinter den Essenden angestellt stehen, aber das machte nichts.

Als sie die Ecke des Häuserblocks, der Schatten über sie geworfen hatte, erreichte, fiel die Sonne auf sie wie ein Schlag mit einem heißen Eisen. Sie sprang zurück. Nein, nein, das war unmöglich. Sie konnte die Straße nicht überqueren. Nicht in dieser Glut. Hier, auf dieser Straßenseite war eine kleine Drogerie. Sie trat ein.

Die zwei Kellnerinnen hinter dem Schanktisch arbeiteten fieberhaft, um die Kunden, die sich da drängten, zu befriedigen. Sie wußten, daß alles zwischen zwölf und eins abgefertigt werden mußte. Die Brötchen machten sie selbst; auch den Kaffee servierten sie. Die Schalen waren ja schon vorbereitet, Milch und Zucker in ihnen. So ließen die Mädchen rasch den Kaffee aus der Pipe drauf laufen, das ging wie am laufenden Band. Hurtig ging das, und wenn sie voll waren, schob der Tellerwäscher schon wieder die frischen hin.

Die größeren Bestellungen gaben die Kellnerinnen weiter. Sie schrien sie gegen das Küchenfenster am andern Ende des Raumes. Der Lärm der kauenden, redenden, lachenden, drängenden Arbeiter, zusammen mit den Geräuschen des Essens und dem Klappern der Teller und Gläser war ein Inferno, über das hinweg die Rufe der Kellnerinnen wie Peitschenhiebe knallten. »Gulasch mit Erbsen und gerösteten Kartoffeln«, »Eierspeise mit Risibisi und Apfelpüree«, »Knackwurst mit Sauerkraut und Bohnen und eine frische Gurke«, so schallte das bunt durcheinander. Noch schlimmer war es, wenn ein Gast seine Bestellung widerrief. Dann hallte Geschrei hin und zurück, schier ohne Ende.

Ein Kellner war nur mit dem Ausschänken der Getränke beschäftigt. Er kam kaum nach. Der Hunger dieser schwerarbeitenden Menschen war groß, aber der Durst war quälend. Sie stießen und drängten, schimpften und fluchten. Der Schweiß lief ihnen nur so herunter und dennoch waren unglaublich viele unter ihnen, die ihre gute Laune nicht verloren. Es wurde gesungen, gepfiffen, geflirtet; es wurden rasche Rendezvous besprochen, Neuigkeiten ausgetauscht, Zigaretten angeboten. Das weibliche Element überwog zahlenmäßig. Die meisten trugen bunte Arbeitskittel und eine Blume oder eine Masche im Haar. Strümpfe hatten nur wenige an. Manche waren nicht einmal geschminkt. Sie dachten, die Hitze würde ja so alles wieder herunter waschen. Andere wieder scheuten keine Mühe. Eine neue Schönheitstinktur war soeben auf den Markt gekommen; eine dicke, fette Paste. Man trug sie auf und sie bedeckte das Gesicht wie eine Maske. Sie hielt den Schweiß zurück, schloß die Poren, bedeckte Wimmerln und andere Unreinheiten der Haut, kurz, sie war ein wahrer Segen. Auf diese Maske konnte man dann Puder, Wangenrouge, Lippenrouge, bläuliche Schatten auf die Augenlider, den Augenbrauenbogen aufmalen, alles nach Geschmack. Man konnte auch jeden Tag ein anderes Gesicht haben. Je nach Laune. Die Prozedur dauerte natürlich ziemlich lange; man mußte eine Stunde früher aus dem Bett. Aber es stand dafür. Schöner waren die in Hollywood auch nicht.

Dasselbe galt für die Haare. Man mußte Wickler und Lockendreher anwenden, man mußte bürsten und eindrehen und kleine Nadeln hineinstecken und unsichtbare Spangen und ein Netz oder einen Kamm oder einige Kämme. Edna war eine der wenigen, die sich den Luxus leisten konnte, ihr Haar sein zu lassen wie es wollte. Sie hatte das starke, tiefschwarze Haar ihres italienischen Vaters geerbt – zugleich mit den blauen Augen ihrer irischen Mutter – und es fiel um ihr Gesicht in natürlichen Locken. Wenn sie zweimal mit dem Kamm durchfuhr, wippte es in die richtigen Kurven. Einmal im Monat ließ sie es sich von Mona schneiden; die war sehr geschickt, erwischte gerade die richtigen Zipfeln, die zu lang waren; manchmal war die Sache nicht ganz symmetrisch, aber das schadete nicht; es sah eher so aus, als ob eine oder die andere Welle sich etwas stärker böge. Edna hatte allen Grund, mit ihrem Haar zufrieden zu sein. Trotzdem beneidete sie Emily, die es sich leistete, zweimal in der Woche zum Friseur zu gehen. Sie hatte hundert kleine Löckchen um ihren Kopf gelegt, die bei jeder Bewegung leise wippten und viel modischer wirkten und viel raffinierter als Ednas ungezügeltes Wuschelhaar.

Den Nachmittag verbrachte Edna wieder bei den kleinen Schachteln. Sie war aber so erschöpft, daß sie nicht mehr die Kraft hatte, sich zu ärgern. Das Radio meldete 96 Grad Fahrenheit. Sophies spitzes Gesicht war noch spitzer geworden und ein plötzliches Übelsein hatte sie überfallen. Miss Swab hatte sie nach Hause geschickt. Als Edna sich bückte, um aus dem Behälter die Schildchen zu nehmen, dachte sie für einen Augenblick, daß ihr nun wohl auch übel werden würde. Doch ein tiefer Atemzug half. Hingegen war der Behälter leer.

Das war also wieder ein unerwarteter Aufenthalt und warf sie zurück. Miss Swab hatte leicht reden; hundert in der Stunde! Aber nicht mit Unterbrechungen. Heute würde sie nicht einmal neunzig machen, nicht einmal achtzig. Und weder Stanley noch Curtis waren zu sehen. Die arbeiteten wahrscheinlich gerade beim Warenaufzug. Wo war Walter? Der half ihr oft, wenn sie etwas brauchte. Er war wirklich ein lieber Bursche. Schade, daß er so klein und unansehnlich war. Auch einen Mundgeruch hatte er. Miss Swab hatte einmal anzüglich geäußert: »Ich habe die Kleinen gerne.« Edna konnte nicht begreifen, was sie an ihm als Mann fand; als Mensch war er aber jedenfalls viel zu gut für das alte Luder. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun und war ein guter Kamerad. Edna konnte ihn wohl leiden, aber mit ihm flirten? Nein. Und überhaupt, wo ihr Herz doch Red Skelton gehörte.

Sie wußte, wo die Schildchen aufbewahrt wurden. Sie verließ den Arbeitssaal, überquerte den Korridor, passierte zuerst die zwei Frachtaufzüge, dann den Personenaufzug und betrat den Lagerraum. Die muffige Luft und der dicke Staub machte dieses Gewölbe besonders unangenehm. Hohe Holz- und Eisengestelle bildeten Alleen. Die Ware war bis zur Decke aufgestapelt.

An anderen Stellen waren Kartons übereinandergehäuft. Dort drüben standen Leitern, Geräte, Werkzeuge, Gurten und Kübel. Manchmal raschelte es, oder es huschte etwas über den Fußboden, was Edna in beiden Fällen als Ratten identifizierte, wobei Ekel ihren Mund zusammenzog. Sie schritt jedoch mutig weiter, bis sie zu jener Ecke kam, wo die Behälter mit leeren Fläschchen, Kapseln, Tiegeln und Schildchen standen. In einer der nächsten Alleen vermeinte sie Schritte zu hören. »Stanley«, rief sie; doch es kam keine Antwort. Anscheinend hatte sie sich verhört.

Wie finster es hier war. Als sie sich bückte, um eine Handvoll Schildchen aufzuheben, fühlte sie eine Hand, die sie unzüchtig berührte. Als sie mit einem Schrei hochfuhr, wurde dieser sofort erstickt durch eine zweite Hand, die ihr den Mund zuhielt. Sie stand da wie in einen Schraubstock gepreßt. Wer war das? Wer wagte das zu tun? Sie kämpfte, um die Hand des Mannes von ihrem Munde loszukriegen. Aber sogar wenn es ihr gelang, niemand würde ihre Hilferufe hören. Mit lähmendem Schrecken dachte sie daran, daß sie unter dem Kittel nichts anhatte. Sie wehrte sich verzweifelt mit Händen und Füßen. Das konnte nur Charles sein, solche Kraft hatte nur der Schwergewichtler. Es konnte gar niemand anderer sein. Weder Stanley noch Curtis würden sich das getrauen. Die wußten, was das Gesetz bereit hatte für Neger, die eine weiße Frau attackierten. Wenn sie auch hier nicht in Stücke gerissen und gelyncht würden wie in Georgia, so mußten sie doch auf viele Jahre ins Gefängnis, vielleicht sogar auf den elektrischen Stuhl. Mit Charles war es anders. Aber er würde schon sehen. Sie würde sich beschweren; sie würde zum Chef gehen, und wenn er hundertmal der Vorarbeiter war.

»Sei doch nicht so dumm«, sagte jetzt die heisere Stimme des Angreifers. »Ich tue dir doch nichts.«