Ylva beschleunigte ihre Schritte. Gleich würde sie ihr Ziel vor Augen haben und ihr Herz klopfte in einem schnellen Rhythmus. War es Aufregung, Neugier oder gar Angst?
Ihre Bewegungen waren hölzern und steif, als sie sich dem Haus näherte. Einsam war es hier, vielleicht sogar ein wenig unheimlich. Gut so. Sie liebte diese Stille, mit der das Gefühl von Geborgenheit einherging. Endlich frei sein und alles hinter sich lassen, wie sehr hatte sie diesen Moment herbeigesehnt.
Die leichte Biegung gab endlich den Blick frei. Ylva ließ erleichtert ihre Tasche fallen und stieß einen befreienden Seufzer aus. Das Haus war bedeutend ansehnlicher und weniger reparaturbedürftig, als sie angenommen hatte. Die dichten Bäume hatten das Moos auf den Dachschindeln wachsen lassen und rustikale Fensterläden verwehrten den Blick ins Innere. Dieses Holzhaus versprach die Art von Sicherheit, nach der sie sich in letzter Zeit so sehr gesehnt hatte. Auf dem Weg hierher hatte sie sich mehrmals verlaufen, und nicht einmal Google-Earth gab den Blick auf das Häuschen frei. Es war eine dieser typischen Ferienimmobilien mitten im Nirgendwo – also genau richtig.
Ylva löste sich aus ihrer Starre, hob die Tasche auf und schwebte regelrecht zum Haus. Schon damals, als der Makler ihr das Exposé zugeschickt hatte, war sie von diesem Haus begeistert gewesen. Drei Zimmer, Küche, Bad und eine Sauna im hinteren Bereich des Gartens. Wobei Garten im herkömmlichen Sinne durchaus sehr wohlwollend gemeint war.
Dieses Haus verkörperte für Ylva den Wunsch nach Beständigkeit. Sie wollte sich darin sicher und geborgen fühlen und hoffte auf Schutz vor der Außenwelt. Für niemandem trotz Internet erreichbar sein, keine Panikattacken mehr, wie man sie in Parkhäusern, düsteren Straßen und abseits gelegener Wegen empfand. Sie straffte ihre Schultern, atmete tief durch und schritt auf das Haus zu.
Asymmetrische Steinplatten führten zur Eingangstür, die mit einem kleinen Safe gesichert war. Ylva runzelte die Stirn. Das Gefühl, beobachtet zu werden, prickelte in ihrem Nacken und sie tippte mit zitternden Fingern den Code ein, der den Schlüssel freigeben würde. Sie vertat sich einige Male, bis der Safe endlich aufsprang und sie hastig nach dem Schlüssel griff.
Die Tür sprang leise knarrend auf und ein Schwall abgestandener Luft strömte ihr entgegen. Wohl oder übel würde sie gleich lüften müssen, obwohl sie sich am liebsten in den Räumen verschanzt hätte, um nie wieder vor die Tür zu gehen. Es ist alles gut, ermahnte sie sich und konzentrierte sich ausschließlich auf ihre Atmung. Dann drückte sie die Tür ins Schloss und schob den Riegel vor. Die Tasche ließ sie achtlos im Flur zurück, als sie durch die Räume wanderte.
Sie hatte das Haus möbliert übernommen. Die Küche war ein wenig in die Jahre gekommen, aber funktional. Wenn Ylva die alten Holzfronten abschleifen und neu streichen würde, dann könnte die Küche schon bald in neuem Glanz erstrahlen. Sie freute sich aufs Handwerkeln und darauf, etwas zu verändern.
Das schmale Schlafzimmer war in Ordnung und genügte ihren Ansprüchen. Das Mobiliar war mit Kiefernholzmöbeln schlicht gehalten, nur die Wände benötigten einen neuen Anstrich. Das winzige Badezimmer hatte einen quadratischen Grundriss, war aber modernisiert und mit Dusche und Wanne ausgestattet. Auch das Wohnzimmer mit hellen Möbeln und einem antiken Sekretär konnte überzeugen. Ylva ließ sich mit einem Seufzen auf die Couch sinken und legte die Beine hoch.
Strom und Wasser funktionierten und vor allen Dingen wusste niemand, wirklich niemand, dass sie hier war. Das letzte halbe Jahr war sie ständig von einem Ort zum anderen gezogen und hatte eine Menge dazugelernt. Aber es hatte sich gelohnt.
Sie stand wieder auf und öffnete die gläserne Schiebetür, die in den Garten führte. Eine gepflasterte Terrasse schloss direkt an das Haus an und die Möbel luden zum Verweilen ein. Aber Ylva wusste schon jetzt, dass sie sich nur selten draußen aufhalten würde. Sie mochte es eher behaglich und vor fremden Blicken geschützt.
Wobei hier kaum jemand wäre, der sie stören würde. Es gab nur vier Häuser, die hier errichtet worden waren. Zwei standen so gut wie leer und wurden nur einmal im Jahr von ihren Besitzern besucht, um die nötigen Reparaturen zu verrichten und nach dem Rechten zu sehen. Das vierte und letzte Haus wurde von einem jungen Mann bewohnt, der nur den Sommer hier verbrachte und den Winter in seiner Stadtwohnung. Mit ihm würde sich Ylva ganz sicher arrangieren.
Sie erkundete den umzäunten Garten, in dem verschiedene Gehölze wucherten, die dringend hätten zurückgeschnitten werden müssen. Aber das würde sie nicht tun. Der dichte Bewuchs ließ das Haus fast verschwinden und schon jetzt fühlte sich Ylva nahezu unsichtbar. Hoffentlich hielt dieses euphorische Gefühl noch eine Weile an. Sie hatte sämtliche Spuren verwischt und wenn sie hier nicht zur Ruhe kommen würde, dann nirgendwo auf dieser Welt.
Sie kehrte ins Haus zurück und öffnete die Fensterläden, um etwas Licht und frische Luft hereinzulassen. Dann schnappte sie sich ihre Tasche und begann, die wenigen Habseligkeiten auszuräumen. Den Laptop, der wichtigste Gegenstand in ihrem Leben, stellte sie auf den Sekretär und die Tasche verschwand fein säuberlich gefaltet im Schrank. Anschließend inspizierte sie den Keller, in dem sich die Waschmaschine und der Trockner befanden. Ja, es war für alles gesorgt.
Der Kühlschrank in der Küche summte leise, als sie ihn ans Stromnetz anschloss. Sie hatte unterwegs einige Lebensmittel besorgt, die für die ersten Tage reichen sollten. Das Wichtigste wäre allerdings ein fahrbarer Untersatz. Sie hatte an einen Motorroller gedacht, den sie im Schuppen unterstellen wollte. Mit diesem könnte sie alle Besorgungen erledigen, die nötig wären.
Ihr war zum ersten Mal seit langer Zeit ganz feierlich zumute und sie entkorkte die Flasche Wein, um sich ein Glas einzuschenken. Das war das Gute an diesem Haus – mit den Möbeln hatte sie gleichzeitig auch das Geschirr übernommen. Das sparte eine Menge Geld und Zeit.
Sie stellte sich ans Küchenfenster und schaute zu den drei Häusern, die in annehmbarer Entfernung lagen. Keiner der Nachbarn konnte dem anderen auf den Tisch schauen. Ein weiterer Pluspunkt. Trotzdem würde sie das Haus absichern müssen. Die Fensterfront im Wohnzimmer stellte ein Sicherheitsrisiko dar, auch wenn diese mit einem Rollladen verdunkelt werden konnte. Die Fensterläden waren solide, aber Sicherheitsschlösser an der Eingangs- und der Kellertür wären unabdingbar. Im Internet konnte sie leider nichts bestellen, weil das unweigerlich Spuren hinterlassen würde. Aber bis zur nächsten Stadt war es nicht sonderlich weit.
Sie nippte an ihrem Glas und sah, wie ein Mann das mittlere der drei Häuser verließ. Das musste demnach ihr Nachbar sein. Er war Anfang dreißig, gut gebaut und recht ansehnlich. Sie hatte herausgefunden, dass er Webdesigner war und die Einsamkeit liebte, warum auch immer. Dann bemerkte sie, dass er auf ihr Haus zusteuerte und sie stellte hastig das Glas auf dem Tisch ab. Er würde doch wohl nicht …
Doch, würde er.
Ylva hastete in den Flur und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Dass er so schnell auftauchen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Noch bevor sie diesen Gedanken beendet hatte, klingelte es auch schon an der Tür.
„Hej“, begrüßte sie ihn durch den schmalen Spalt.
Er streckte ihr freundlich seine Hand entgegen. „Hallo, ich bin Bjarne und wohne nebenan.“ Er deutete mit einem Kopfnicken zu seinem Haus.
„Schön, Sie kennenzulernen“, antwortete sie und ließ sich nicht anmerken, wie unwohl sie sich fühlte, obwohl ihr Bjarne auf Anhieb sympathisch war. Seine samtige tiefe Stimme brachte in ihr etwas zum Klingen, das sie momentan überhaupt nicht gebrauchen konnte. Zwischenmenschliche Beziehungen waren ein No-Go.
Bjarne fuhr sich mit seiner Hand verlegen durchs kastanienbraune Haar. Er hatte wohl damit gerechnet, dass sie ihn ins Haus bitten würde.
„Ich bin noch dabei, meine wenigen Habseligkeiten auszupacken und das Haus zu erkunden“, sagte sie.
„Sie sehen das Haus zum ersten Mal?“, fragte er erstaunt.
Sie nickte.
„Gefällt es Ihnen?“
„Und ob.“
„Da haben Sie aber großes Glück, das hätte auch ganz anders ausgehen können. Ich sage nur verdeckte Mängel.“
„Stimmt. Aber ich bin zufrieden und bis auf einige wenige Schönheitsreparaturen ist ja nicht viel zu machen“, erwiderte sie.
„Wollen Sie das ganze Jahr über hier wohnen?“
Ylva atmete tief durch, dieser Bjarne ließ sich nicht so leicht abschütteln. Schließlich trat sie einen Schritt zur Seite und bat ihn ins Haus.
„Na dann, immer hereinspaziert.“
Bjarne kam ihrer Aufforderung nach.
„Die Häuser haben alle den gleichen Grundriss“, merkte er an.
„Ah ja.“ Sie ging in die Küche. „Einen Kaffee vielleicht?“, fragte sie.
„Da sage ich nicht Nein. Ich habe meine Augen vor dem Computer überanstrengt und brauche dringend eine Pause.“ Er massierte kurz seine Schläfen.
„Dann kommt ein Kaffee gerade recht.“
„So ist es.“
Ylva war froh, etwas tun zu können, denn die Konversation verlief zäh. Sie war für belangloses Geplänkel einfach nicht in Stimmung, während ihr Leben darauf wartete, neu geordnet zu werden.
Bjarne setzte sich an den Küchentisch und wischte mit seinem Ärmel den Staub von der Oberfläche.
„Falls Sie Hilfe benötigen, würde ich Sie gern unterstützen. Ich bin zwar nicht der geborene Handwerker, aber beim Tapezieren kann ich mich ordentlich ins Zeug legen.“
Er grinste breit und auch Ylvas Mundwinkel verzogen sich nach oben.
„Da bin ich aber schon gespannt“, antwortete sie, ohne sein Angebot anzunehmen. Sie hatte nicht vor, irgendjemanden ins Haus zu lassen. Je zurückgezogener sie lebte, desto besser. Sie kam ganz gut allein zurecht.
„Der Kaffee ist stark, genauso wie ich ihn mag“, sagte Bjarne.
„Das freut mich.“
Ylva setzte sich zu ihm an den Tisch.
„Was hat Sie denn in diese Einöde verschlagen?“, wollte er wissen.
Mit so einer direkten Frage hatte Ylva nicht gerechnet und sie dachte einen Moment darüber nach.
„Wahrscheinlich bin ich jetzt in einem Alter, wo Selbstfindung ganz oben auf der Prioritätenliste steht“, lachte sie, obwohl ihr nicht danach zumute war. „Es soll nicht für immer sein, aber ich brauche ein wenig Abstand von meinem bisherigen Leben.“
„Oh, da bin ich wohl mit der Tür ins Haus gefallen“, sagte er.
„Ist schon okay“, versicherte sie.
Falls sie noch weitere Lügen auftischen müsste, brauchte sie sich am Ende des Tages nicht über ihre Pinocchionase zu wundern.
„Aber es ist schön, dass Sie da sind. Dann ist es nicht mehr ganz so einsam, wenn man ab und zu jemanden zum Reden hat.“
„Stimmt“, erwiderte sie knapp. Doch Bjarne schien nicht zu bemerken, dass sie lieber allein sein wollte.
„Wissen Sie was? Ich würde mich gern für den Kaffee revanchieren und heute Abend den Grill anschmeißen. Als kleine Willkommensparty sozusagen.“
Eines musste man Bjarne lassen – Hartnäckigkeit schien eine seiner Stärken zu sein.
„Sie müssen sich aber nicht so ins Zeug legen, nur weil ich Ihnen einen Kaffee angeboten habe“, erwiderte sie.
„Es war auch nur so eine Idee. Ich werde trotzdem grillen und falls Sie spontan Hunger verspüren, können Sie gerne rüberkommen. Einverstanden?“
„Danke für das Angebot.“
„Gut, ich bin dann mal wieder …“ Bjarne erhob sich. „Dann auf eine gute Nachbarschaft.“
„Ja. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.“
Eine letzte Lüge, und schon hatte Bjarne das Haus wieder verlassen. Ylva verschloss die Tür und schob den Riegel vor. Für den Moment hatte sie definitiv genug. Sie spülte die Tassen und ging dann in den Flur, um sich den Dachboden einmal genauer anzusehen. Sie hatte sich vorgenommen, sämtliche Schwachstellen dieses Hauses aufzuspüren und zu beseitigen, um sich einigermaßen sicher fühlen zu können. Eine Alarmanlage würde noch folgen, diese hatte sie bereits erworben und im Gepäck dabei.
Ylva öffnete die Luke, die auf den Dachboden führte, und kletterte die ausklappbare Holzleiter hinauf. Spinnweben, verstaubte Gartenmöbel und fünf Kartons. Die Dachziegel ließen sich nur mit Mühe anheben und gaben dabei ein knirschendes Geräusch von sich. Perfekt. Es gab kein einziges Schlupfloch, alles war dicht. Jetzt musste sie sich nur noch um den Keller kümmern.
Ein wenig modrig riechende Luft strömte ihr entgegen, als sie hinunter in den Keller stieg. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke, die aber für genügend Helligkeit sorgte. Einige abgelaufene Dosen standen in einem Regal und daneben jede Menge Feuerholz für den Kaminofen im Wohnzimmer. Mehr gab es nicht zu entdecken, wenn man von einem alten Tisch mit zerkratzter Oberfläche einmal absah.
Jedes Kellerfenster war mit einem Gitter gesichert, wahrscheinlich der zahlreichen Wildtiere wegen, und fürs Erste würden die Sicherheitsmaßnahmen reichen. Gleich morgen früh plante sie, sich um die Alarmanlage zu kümmern. Ein einfaches Model und kinderleicht zu installieren, aber sehr effektiv. Mit den Kameras, die sie noch abbringen wollte, würde sie das Haus nach und nach in einen Hochsicherheitstrakt verwandeln, in dem sie sich einigermaßen wohlfühlen konnte.