Todesflucht

Todesflucht

Schwedenkrimi

Elin Svensson

Ana Dee

Inhalt

Anmerkung

Protagonisten

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Anmerkung

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Protagonisten

Prolog

T

Wie ein gejagtes Tier hetzte sie durch den dunklen Wald, die schmale Mondsichel schickte nur einen Hauch ihres silbern schimmernden Lichtes zur Erde. Klauenartige Äste schienen nach ihr zu greifen, um an ihrer Kleidung zu zerren, während der Wind heulend durch die hohen Wipfel fuhr.

Du musst weiter, immer weiter spornte sie sich an, während ihre nackten Fußsohlen das weiche Moos berührten. Ihr Atem ging stoßweise und der Schweiß perlte von ihrer Haut. Dornen krallten sich in das Fleisch und hinterließen blutige Striemen, doch Ylva achtete nicht darauf. Jemand war ihr dicht auf den Fersen, sie konnte deutlich den schweren Atem und das Rascheln von Kleidung vernehmen.

Beunruhigt schaute sie sich um. Sie wusste nicht mehr, wo sie war, und hatte vollends die Orientierung verloren. Durch den Tunnelblick hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie direkt auf einen Abgrund zurannte. Sie streckte verzweifelt die Arme aus, um sich irgendwo festzuhalten, doch es war bereits zu spät. Ein kräftiger Stoß zwischen ihre Schulterblätter ließ sie über die Kante taumeln und sie fiel und fiel und fiel in eine bodenlose Schwärze …

Blinzelnd schlug sie die Augen auf und der Traum sowie das Gefühl des Fallens verblassten. Nur die undurchdringliche Finsternis wollte nicht weichen, egal wie sehr sie die Augen aufriss. Kein Funken Licht, keine Geräusche, keine Erinnerung. Sie wusste nicht, wo sie sich befand und wie sie hierhergekommen war. Stumm verharrte sie in einer bewegungslosen Starre und sie konnte nicht einmal erfassen, warum das so war.

Da waren Schmerzen, die sie wie durch einen dichten Nebel wahrnahm, aber mehr auch nicht. Vielleicht noch Hunger und quälender Durst und das dringende Bedürfnis, die Blase zu leeren. Und dann diese Kälte, die ihr ständig über die nackte Haut fuhr und ihren Körper zum Beben brachte.

Nein, sonst war da wirklich nichts, und gerade das bereitete ihr die größte Sorge. War sie vergessen worden hier an diesem höllischen Ort. Obwohl, das konnte nicht die Hölle sein, denn dort brannte das Feuer lichterloh und sie würde die züngelnden Flammen erkennen. Stattdessen schwebte sie körperlos in dieser immerwährenden Dunkelheit.

War sie vielleicht tot und in einer Zwischenwelt gefangen? Konnte das tatsächlich möglich sein?

Sie wollte schreien, rennen, sich bewegen, doch das funktionierte nicht mehr. Panik machte sich breit, weil sie rein gar nichts fühlen und spüren konnte. Keine grenzenlose Erschöpfung, keine Müdigkeit, nur dieser diffuse Schmerz, dort irgendwo …

Sie schloss die Augen, weil sie sowieso nichts sehen konnte, ließ sich treiben und verharrte doch nur bewegungslos auf der Stelle. Was zum Teufel war nur geschehen? Und dann hörte sie die Stimmen der Männer, die sie verfolgt hatten, und für eine Schrecksekunde setzte ihr Herzschlag aus.

War es das? War es das Ende?

Kapitel Eins

T

Ylva beschleunigte ihre Schritte. Gleich würde sie ihr Ziel vor Augen haben und ihr Herz klopfte in einem schnellen Rhythmus. War es Aufregung, Neugier oder gar Angst?

Ihre Bewegungen waren hölzern und steif, als sie sich dem Haus näherte. Einsam war es hier, vielleicht sogar ein wenig unheimlich. Gut so. Sie liebte diese Stille, mit der das Gefühl von Geborgenheit einherging. Endlich frei sein und alles hinter sich lassen, wie sehr hatte sie diesen Moment herbeigesehnt.

Die leichte Biegung gab endlich den Blick frei. Ylva ließ erleichtert ihre Tasche fallen und stieß einen befreienden Seufzer aus. Das Haus war bedeutend ansehnlicher und weniger reparaturbedürftig, als sie angenommen hatte. Die dichten Bäume hatten das Moos auf den Dachschindeln wachsen lassen und rustikale Fensterläden verwehrten den Blick ins Innere. Dieses Holzhaus versprach die Art von Sicherheit, nach der sie sich in letzter Zeit so sehr gesehnt hatte. Auf dem Weg hierher hatte sie sich mehrmals verlaufen, und nicht einmal Google-Earth gab den Blick auf das Häuschen frei. Es war eine dieser typischen Ferienimmobilien mitten im Nirgendwo – also genau richtig.

Ylva löste sich aus ihrer Starre, hob die Tasche auf und schwebte regelrecht zum Haus. Schon damals, als der Makler ihr das Exposé zugeschickt hatte, war sie von diesem Haus begeistert gewesen. Drei Zimmer, Küche, Bad und eine Sauna im hinteren Bereich des Gartens. Wobei Garten im herkömmlichen Sinne durchaus sehr wohlwollend gemeint war.

Dieses Haus verkörperte für Ylva den Wunsch nach Beständigkeit. Sie wollte sich darin sicher und geborgen fühlen und hoffte auf Schutz vor der Außenwelt. Für niemandem trotz Internet erreichbar sein, keine Panikattacken mehr, wie man sie in Parkhäusern, düsteren Straßen und abseits gelegener Wegen empfand. Sie straffte ihre Schultern, atmete tief durch und schritt auf das Haus zu.

Asymmetrische Steinplatten führten zur Eingangstür, die mit einem kleinen Safe gesichert war. Ylva runzelte die Stirn. Das Gefühl, beobachtet zu werden, prickelte in ihrem Nacken und sie tippte mit zitternden Fingern den Code ein, der den Schlüssel freigeben würde. Sie vertat sich einige Male, bis der Safe endlich aufsprang und sie hastig nach dem Schlüssel griff.

Die Tür sprang leise knarrend auf und ein Schwall abgestandener Luft strömte ihr entgegen. Wohl oder übel würde sie gleich lüften müssen, obwohl sie sich am liebsten in den Räumen verschanzt hätte, um nie wieder vor die Tür zu gehen. Es ist alles gut, ermahnte sie sich und konzentrierte sich ausschließlich auf ihre Atmung. Dann drückte sie die Tür ins Schloss und schob den Riegel vor. Die Tasche ließ sie achtlos im Flur zurück, als sie durch die Räume wanderte.

Sie hatte das Haus möbliert übernommen. Die Küche war ein wenig in die Jahre gekommen, aber funktional. Wenn Ylva die alten Holzfronten abschleifen und neu streichen würde, dann könnte die Küche schon bald in neuem Glanz erstrahlen. Sie freute sich aufs Handwerkeln und darauf, etwas zu verändern.

Das schmale Schlafzimmer war in Ordnung und genügte ihren Ansprüchen. Das Mobiliar war mit Kiefernholzmöbeln schlicht gehalten, nur die Wände benötigten einen neuen Anstrich. Das winzige Badezimmer hatte einen quadratischen Grundriss, war aber modernisiert und mit Dusche und Wanne ausgestattet. Auch das Wohnzimmer mit hellen Möbeln und einem antiken Sekretär konnte überzeugen. Ylva ließ sich mit einem Seufzen auf die Couch sinken und legte die Beine hoch.

Strom und Wasser funktionierten und vor allen Dingen wusste niemand, wirklich niemand, dass sie hier war. Das letzte halbe Jahr war sie ständig von einem Ort zum anderen gezogen und hatte eine Menge dazugelernt. Aber es hatte sich gelohnt.

Sie stand wieder auf und öffnete die gläserne Schiebetür, die in den Garten führte. Eine gepflasterte Terrasse schloss direkt an das Haus an und die Möbel luden zum Verweilen ein. Aber Ylva wusste schon jetzt, dass sie sich nur selten draußen aufhalten würde. Sie mochte es eher behaglich und vor fremden Blicken geschützt.

Wobei hier kaum jemand wäre, der sie stören würde. Es gab nur vier Häuser, die hier errichtet worden waren. Zwei standen so gut wie leer und wurden nur einmal im Jahr von ihren Besitzern besucht, um die nötigen Reparaturen zu verrichten und nach dem Rechten zu sehen. Das vierte und letzte Haus wurde von einem jungen Mann bewohnt, der nur den Sommer hier verbrachte und den Winter in seiner Stadtwohnung. Mit ihm würde sich Ylva ganz sicher arrangieren.

Sie erkundete den umzäunten Garten, in dem verschiedene Gehölze wucherten, die dringend hätten zurückgeschnitten werden müssen. Aber das würde sie nicht tun. Der dichte Bewuchs ließ das Haus fast verschwinden und schon jetzt fühlte sich Ylva nahezu unsichtbar. Hoffentlich hielt dieses euphorische Gefühl noch eine Weile an. Sie hatte sämtliche Spuren verwischt und wenn sie hier nicht zur Ruhe kommen würde, dann nirgendwo auf dieser Welt.

Sie kehrte ins Haus zurück und öffnete die Fensterläden, um etwas Licht und frische Luft hereinzulassen. Dann schnappte sie sich ihre Tasche und begann, die wenigen Habseligkeiten auszuräumen. Den Laptop, der wichtigste Gegenstand in ihrem Leben, stellte sie auf den Sekretär und die Tasche verschwand fein säuberlich gefaltet im Schrank. Anschließend inspizierte sie den Keller, in dem sich die Waschmaschine und der Trockner befanden. Ja, es war für alles gesorgt.

Der Kühlschrank in der Küche summte leise, als sie ihn ans Stromnetz anschloss. Sie hatte unterwegs einige Lebensmittel besorgt, die für die ersten Tage reichen sollten. Das Wichtigste wäre allerdings ein fahrbarer Untersatz. Sie hatte an einen Motorroller gedacht, den sie im Schuppen unterstellen wollte. Mit diesem könnte sie alle Besorgungen erledigen, die nötig wären.

Ihr war zum ersten Mal seit langer Zeit ganz feierlich zumute und sie entkorkte die Flasche Wein, um sich ein Glas einzuschenken. Das war das Gute an diesem Haus – mit den Möbeln hatte sie gleichzeitig auch das Geschirr übernommen. Das sparte eine Menge Geld und Zeit.

Sie stellte sich ans Küchenfenster und schaute zu den drei Häusern, die in annehmbarer Entfernung lagen. Keiner der Nachbarn konnte dem anderen auf den Tisch schauen. Ein weiterer Pluspunkt. Trotzdem würde sie das Haus absichern müssen. Die Fensterfront im Wohnzimmer stellte ein Sicherheitsrisiko dar, auch wenn diese mit einem Rollladen verdunkelt werden konnte. Die Fensterläden waren solide, aber Sicherheitsschlösser an der Eingangs- und der Kellertür wären unabdingbar. Im Internet konnte sie leider nichts bestellen, weil das unweigerlich Spuren hinterlassen würde. Aber bis zur nächsten Stadt war es nicht sonderlich weit.

Sie nippte an ihrem Glas und sah, wie ein Mann das mittlere der drei Häuser verließ. Das musste demnach ihr Nachbar sein. Er war Anfang dreißig, gut gebaut und recht ansehnlich. Sie hatte herausgefunden, dass er Webdesigner war und die Einsamkeit liebte, warum auch immer. Dann bemerkte sie, dass er auf ihr Haus zusteuerte und sie stellte hastig das Glas auf dem Tisch ab. Er würde doch wohl nicht …

Doch, würde er.

Ylva hastete in den Flur und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Dass er so schnell auftauchen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Noch bevor sie diesen Gedanken beendet hatte, klingelte es auch schon an der Tür.

„Hej“, begrüßte sie ihn durch den schmalen Spalt.

Er streckte ihr freundlich seine Hand entgegen. „Hallo, ich bin Bjarne und wohne nebenan.“ Er deutete mit einem Kopfnicken zu seinem Haus.

„Schön, Sie kennenzulernen“, antwortete sie und ließ sich nicht anmerken, wie unwohl sie sich fühlte, obwohl ihr Bjarne auf Anhieb sympathisch war. Seine samtige tiefe Stimme brachte in ihr etwas zum Klingen, das sie momentan überhaupt nicht gebrauchen konnte. Zwischenmenschliche Beziehungen waren ein No-Go.

Bjarne fuhr sich mit seiner Hand verlegen durchs kastanienbraune Haar. Er hatte wohl damit gerechnet, dass sie ihn ins Haus bitten würde.

„Ich bin noch dabei, meine wenigen Habseligkeiten auszupacken und das Haus zu erkunden“, sagte sie.

„Sie sehen das Haus zum ersten Mal?“, fragte er erstaunt.

Sie nickte.

„Gefällt es Ihnen?“

„Und ob.“

„Da haben Sie aber großes Glück, das hätte auch ganz anders ausgehen können. Ich sage nur verdeckte Mängel.“

„Stimmt. Aber ich bin zufrieden und bis auf einige wenige Schönheitsreparaturen ist ja nicht viel zu machen“, erwiderte sie.

„Wollen Sie das ganze Jahr über hier wohnen?“

Ylva atmete tief durch, dieser Bjarne ließ sich nicht so leicht abschütteln. Schließlich trat sie einen Schritt zur Seite und bat ihn ins Haus.

„Na dann, immer hereinspaziert.“

Bjarne kam ihrer Aufforderung nach.

„Die Häuser haben alle den gleichen Grundriss“, merkte er an.

„Ah ja.“ Sie ging in die Küche. „Einen Kaffee vielleicht?“, fragte sie.

„Da sage ich nicht Nein. Ich habe meine Augen vor dem Computer überanstrengt und brauche dringend eine Pause.“ Er massierte kurz seine Schläfen.

„Dann kommt ein Kaffee gerade recht.“

„So ist es.“

Ylva war froh, etwas tun zu können, denn die Konversation verlief zäh. Sie war für belangloses Geplänkel einfach nicht in Stimmung, während ihr Leben darauf wartete, neu geordnet zu werden.

Bjarne setzte sich an den Küchentisch und wischte mit seinem Ärmel den Staub von der Oberfläche.

„Falls Sie Hilfe benötigen, würde ich Sie gern unterstützen. Ich bin zwar nicht der geborene Handwerker, aber beim Tapezieren kann ich mich ordentlich ins Zeug legen.“

Er grinste breit und auch Ylvas Mundwinkel verzogen sich nach oben.

„Da bin ich aber schon gespannt“, antwortete sie, ohne sein Angebot anzunehmen. Sie hatte nicht vor, irgendjemanden ins Haus zu lassen. Je zurückgezogener sie lebte, desto besser. Sie kam ganz gut allein zurecht.

„Der Kaffee ist stark, genauso wie ich ihn mag“, sagte Bjarne.

„Das freut mich.“

Ylva setzte sich zu ihm an den Tisch.

„Was hat Sie denn in diese Einöde verschlagen?“, wollte er wissen.

Mit so einer direkten Frage hatte Ylva nicht gerechnet und sie dachte einen Moment darüber nach.

„Wahrscheinlich bin ich jetzt in einem Alter, wo Selbstfindung ganz oben auf der Prioritätenliste steht“, lachte sie, obwohl ihr nicht danach zumute war. „Es soll nicht für immer sein, aber ich brauche ein wenig Abstand von meinem bisherigen Leben.“

„Oh, da bin ich wohl mit der Tür ins Haus gefallen“, sagte er.

„Ist schon okay“, versicherte sie.

Falls sie noch weitere Lügen auftischen müsste, brauchte sie sich am Ende des Tages nicht über ihre Pinocchionase zu wundern.

„Aber es ist schön, dass Sie da sind. Dann ist es nicht mehr ganz so einsam, wenn man ab und zu jemanden zum Reden hat.“

„Stimmt“, erwiderte sie knapp. Doch Bjarne schien nicht zu bemerken, dass sie lieber allein sein wollte.

„Wissen Sie was? Ich würde mich gern für den Kaffee revanchieren und heute Abend den Grill anschmeißen. Als kleine Willkommensparty sozusagen.“

Eines musste man Bjarne lassen – Hartnäckigkeit schien eine seiner Stärken zu sein.

„Sie müssen sich aber nicht so ins Zeug legen, nur weil ich Ihnen einen Kaffee angeboten habe“, erwiderte sie.

„Es war auch nur so eine Idee. Ich werde trotzdem grillen und falls Sie spontan Hunger verspüren, können Sie gerne rüberkommen. Einverstanden?“

„Danke für das Angebot.“

„Gut, ich bin dann mal wieder …“ Bjarne erhob sich. „Dann auf eine gute Nachbarschaft.“

„Ja. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.“

Eine letzte Lüge, und schon hatte Bjarne das Haus wieder verlassen. Ylva verschloss die Tür und schob den Riegel vor. Für den Moment hatte sie definitiv genug. Sie spülte die Tassen und ging dann in den Flur, um sich den Dachboden einmal genauer anzusehen. Sie hatte sich vorgenommen, sämtliche Schwachstellen dieses Hauses aufzuspüren und zu beseitigen, um sich einigermaßen sicher fühlen zu können. Eine Alarmanlage würde noch folgen, diese hatte sie bereits erworben und im Gepäck dabei.

Ylva öffnete die Luke, die auf den Dachboden führte, und kletterte die ausklappbare Holzleiter hinauf. Spinnweben, verstaubte Gartenmöbel und fünf Kartons. Die Dachziegel ließen sich nur mit Mühe anheben und gaben dabei ein knirschendes Geräusch von sich. Perfekt. Es gab kein einziges Schlupfloch, alles war dicht. Jetzt musste sie sich nur noch um den Keller kümmern.

Ein wenig modrig riechende Luft strömte ihr entgegen, als sie hinunter in den Keller stieg. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke, die aber für genügend Helligkeit sorgte. Einige abgelaufene Dosen standen in einem Regal und daneben jede Menge Feuerholz für den Kaminofen im Wohnzimmer. Mehr gab es nicht zu entdecken, wenn man von einem alten Tisch mit zerkratzter Oberfläche einmal absah.

Jedes Kellerfenster war mit einem Gitter gesichert, wahrscheinlich der zahlreichen Wildtiere wegen, und fürs Erste würden die Sicherheitsmaßnahmen reichen. Gleich morgen früh plante sie, sich um die Alarmanlage zu kümmern. Ein einfaches Model und kinderleicht zu installieren, aber sehr effektiv. Mit den Kameras, die sie noch abbringen wollte, würde sie das Haus nach und nach in einen Hochsicherheitstrakt verwandeln, in dem sie sich einigermaßen wohlfühlen konnte.

Kapitel Zwei

T

Bjarne hatte die Terrasse hinter dem Haus in eine Wohlfühloase verwandelt – mit einem eingebauten Grill, einem Vordach aus bruchfestem Glas und einer brusthohen Hecke, die genügend Wind- und Sichtschutz bot. Er schüttete die Grillkohle auf das Blech und zündete sie an. Ob seine neue Nachbarin die Einladung wohl annehmen würde?

Sie war sehr distanziert und zurückhaltend gewesen und er wusste noch nicht einmal ihren Namen. Im Nachhinein war es ihm peinlich, sie gleich am ersten Tag überfallen zu haben. Aber vielleicht taute sie noch auf. Es wäre hilfreich, sich gegenseitig zu unterstützen, und er erinnerte sich noch gut daran, wie er von der Leiter gefallen war. Zum Glück hatte er sich nichts gebrochen. Aber was, wenn Schlimmeres geschehen wäre?

Die Kohle glühte inzwischen und hatte genau die richtige Temperatur. Bjarne packte eine Ladung Steaks auf den Grill. Falls die Nachbarin nicht auftauchen würde, wäre er für die nächsten Tage mit Essen gut versorgt. Er wendete die Steaks und genehmigte sich zwischendurch immer einen Schluck Bier. Hin und wieder schaute er zum Haus hinüber, in dem sich überhaupt nichts regte.

Anscheinend wollte die junge Frau allein sein, und das respektierte er. Viel schlimmer wäre ein aufdringliches Rentnerehepaar gewesen, wo er sich wie auf dem Präsentierteller gefühlt hätte.

„Bin ich hier richtig?“, ertönte plötzlich eine Stimme neben ihm.

„Äh … na klar.“

Sein Herz klopfte, er hatte die Nachbarin gar nicht kommen hören.

„Wir hatten uns vorhin noch gar nicht einander vorgestellt, ich bin Bjarne“, sagte er.

„Hej Bjarne, ich bin Ylva.“

Verdammt, jetzt war ihr versehentlich ihr richtiger Name herausgerutscht.

„Schön, dich kennenzulernen, und ich hoffe, du hast großen Hunger mitgebracht.“

„Hunger schon, aber kein Gastgeschenk. Ich kann nur eine angebrochene Flasche Wein anbieten.“

„Immer her damit“, lachte Bjarne. „Ich gehe mal Gläser holen.“

Ihr Auftauchen überraschte ihn, aber er freute sich auch. Es tat gut, mit jemandem zu reden, der ähnlich tickte wie er. Selten brachte eine Person aus seinem Umfeld Verständnis dafür auf, dass es ihn im Sommer in diese Einöde zog. Aber ihm gefiel dieses Leben. Der See lag in unmittelbarer Nähe und er holte, so oft es möglich war, das Kanu aus dem Schuppen, um zu paddeln. Sich auf dem Wasser treiben zu lassen, befreite seinen Geist von all den Dingen, die ihm widerfahren waren.

Er blühte regelrecht auf, mitten in der Natur, und liebte dieses Urlaubsfeeling. Viele Städter beneideten ihn sogar darum. Jeden Morgen trank er seinen Kaffee auf der Terrasse und genoss das Vogelgezwitscher, das den neuen Tag verkündete. Was wollte er mehr?

„So, da bin ich wieder.“ Bjarne stellte die Gläser auf den Tisch und schenkte den Wein ein.

„Auf ein gutes Miteinander“, sagte Ylva und die Gläser klirrten leise, als sie gegeneinanderstießen.

„Skål.“ Bjarne trank einen Schluck. „Die Steaks sind durch, ich werde sie vom Grill nehmen.“

„Riecht appetitlich“, sagte Ylva und zerteilte das Steak. „Auf den Punkt genau durch.“

„Das freut mich. Lassen es dir schmecken.“

Er hatte noch einen Salat gezaubert und Ylva probierte auch davon. Sie lobte seine Kochkünste und er freute sich darüber. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie gut ihm die Anwesenheit eines anderen Menschen tat. Er hatte sich während der letzten Jahre eingeigelt und in der selbstgewählten Einsamkeit regelrecht verschanzt.

Der Abend verging wie im Flug und als es dämmerte, bemerkte er Ylvas Unruhe. Immer wieder schaute sie auf und musterte aufmerksam die Umgebung. Ihre Körperhaltung verriet die Anspannung und sie schlang immer wieder fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper. Nur zu gern hätte er den Grund für ihr Verhalten erfahren. Aber für so persönliche Fragen kannten sie sich noch nicht gut genug. Er wollte die nachbarschaftliche Beziehung keinesfalls schon am ersten Abend überstrapazieren.

Ylva unterdrückte ein Gähnen.

„Es war ein anstrengender Tag, ich werde mich jetzt verabschieden“, sagte sie und stand auf. „Danke nochmals für die Einladung. Es war ein schöner Abend.“

„Können wir gern wiederholen“, bot er an.

„Ja, schauen wir mal“, antwortete sie vage. „Man sieht sich.“

So schnell wie Ylva aufgetaucht war, war sie auch wieder verschwunden. Ihr Unwohlsein war nicht zu übersehen gewesen und er fragte sich, was es wohl ausgelöst haben könnte. Ylva verhielt sich nach wie vor sehr distanziert, obwohl er gehofft hatte, dass der entspannte Abend das Eis brechen würde. Schließlich gab es nur sie und ihn und da wäre es von Vorteil, sich gut zu verstehen. Vielleicht brauchte sie einfach mehr Zeit.

Er räumte den Tisch ab, stellte die Spülmaschine an und verzog sich wieder in sein Arbeitszimmer. Er würde noch ein, zwei Stunden arbeiten und anschließend schlafen gehen. So wie immer.

Kapitel Drei

T

Nachdem die Dämmerung aufgezogen war, wurde Ylva immer nervöser. Sie wollte zurück ins sichere Haus, doch sie wollte sich auch vor Bjarne keine Blöße geben. Eine halbe Stunde hielt sie noch durch, dann bedankte sie sich brav bei ihrem neuen Nachbarn und eilte davon.

Als hinter ihr die Tür ins Schloss fiel, atmete sie auf. Die Angst hatte sie wieder fest im Griff und sie schloss die Fensterläden und den Rollladen im Wohnzimmer. Wenn sie jetzt das Licht löschen würde, dann wäre es stockdunkel im Haus. Insgeheim ärgerte sie sich, die Alarmanlage nicht schon eher installiert zu haben. Aber nun war es dafür zu spät.

Sie gönnte sich eine entspannende Dusche und war dankbar für den Elektroboiler, der das Wasser erwärmte. Sich um nichts kümmern zu müssen, war geradezu fantastisch. Das erste eigene Haus und sogar in bar bezahlt. So sorgenfrei hatte sie selten gelebt und sie hoffte, dass es für immer so bleiben würde.

Mit einem flauschigen Badehandtuch rubbelte sie ihre Haut trocken, schlüpfte in den Bademantel und föhnte sich anschließend das lange Haar trocken. Ein letzter Kontrollgang durchs Haus, dann kroch sie unter die Bettdecke. Ein wohliges Gefühl wie aus längst vergangenen Kindertagen breitete sich aus und sie wünschte sich, dass ihre Mutter ins Zimmer käme, um ihr einen Gutenachtkuss auf die Wange zu drücken. Sie würde alles dafür geben, um sich noch einmal so geborgen und behütet zu fühlen.

Leider konnte sie das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Sie war in ihrem Leben nur ein einziges Mal unabsichtlich falsch abgebogen und hatte dafür einen hohen Preis zahlen müssen. Ständig auf der Flucht zu sein, hatte sie mürbe und antriebslos gemacht. Vielleicht war dieses Haus im Wald ja endlich die Lösung.

Ylvas Lider wurden schwer und sie drehte sich auf die Seite. Trotz der sommerlichen Wärme und der stickigen Luft im Inneren des Hauses zog sie die Bettdecke bis zum Kinn. Nur wenig später legte der Schlaf seinen gütigen Mantel über sie.

Mitten in der Nacht schreckte Ylva aus ihren Träumen. Ihr Herz pochte wie verrückt und kalter Schweiß bedeckte ihre Haut. Hatte sie sich das Klopfen nur eingebildet? Oder war sie tatsächlich davon wach geworden?

Ihre Hand zitterte leicht, als sie nach dem Schalter der Nachttischlampe tastete. Ganz langsam schob sie sich aus dem Bett. Die Kälte des Dielenbodens übertrug sich auf ihre nackten Sohlen und ein Schauer fuhr über ihren Rücken. Durch die geschlossenen Fensterläden konnte man zum Glück nicht ins Innere des Hauses sehen.

Sie schob den Stuhl beiseite, den sie unter die Türklinke gestellt hatte, und drehte den Schlüssel herum. Im Haus war es totenstill, nur die Küchenuhr tickte leise. Das monotone Geräusch hatte eine beruhigende Wirkung auf sie, gerade weil es etwas Alltägliches vermittelte. Die Dielen im Flur knarrten leise, als sie über den ausgetretenen Teppich zur Tür lief und an der Klinke rüttelte. Nach wie vor fest verschlossen.

Wiederholt kontrollierte sie alle Fenster und kehrte anschließend ins Schlafzimmer zurück. Doch der Schlaf ließ auf sich warten. Die Geräusche der Nacht waren allesamt unheimlich und selbst durch das geschlossene Fenster konnte sie in der Ferne ein Käuzchen hören. So hatte sie sich das nicht vorgestellt, denn sie brauchte die immerwährende Stille, um mögliche Schritte und das Rascheln von Kleidung hören zu können.

Als ganz in der Nähe ein vertrockneter Ast knackte, zog sie sich verängstigt die Bettdecke über den Kopf. Ein Tier? Nachbar Bjarne, der um ihr Haus schlich? Oder eine völlig fremde Person? Auch die Bewohner des angrenzenden Dorfes, die sie nach dem Weg gefragt hatte, konnte sie nicht ausschließen.

Ylva versuchte, sich auf die Atmung zu konzentrieren, um die Panikattacke in den Griff zu bekommen. Tief ein und wieder aus, tief ein und wieder aus …

Doch ihr Herz flatterte wie ein verängstigtes Vögelchen in ihrer Brust und sie konnte sich einfach nicht beruhigen. Sie würde Bjarne morgen fragen, ob er schon Erfahrungen mit ungebetenen nächtlichen Gästen gemacht hatte. Vielleicht würde Stacheldraht die Fremden abschrecken. Nein, das fiel weg, schon der Wildtiere wegen.

Ylva wälzte sich bis zum Morgengrauen von einer Seite auf die andere und als der Wecker endlich fünf Uhr anzeigte, stand sie auf. Dann eben Mittagsschlaf, dachte sie gähnend.

Sie schaltete das Licht in der Küche ein, um sich das Frühstück zuzubereiten, Kaffee und Toast mit Honig. Immer wieder hielt Ylva inne, um zu horchen, was um sie herum geschah. Das Gezwitscher der Vögel war ziemlich laut, daran würde sie sich noch gewöhnen müssen. Aber solange die gefiederten Waldbewohner trällerten, drohte keine Gefahr. Diese Alarmanlage war nahezu perfekt.

Eine Stunde später war es taghell und Ylva öffnete die Fensterläden, um die kühle Morgenluft ins Haus zu lassen. Sie atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Wie friedvoll es doch hier war.

„Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Nachbarin“, schallten Bjarnes Worte zu ihr herüber und sie zuckte zusammen.

„Tut mir leid, ich wollte dich keinesfalls erschrecken“, rief er entschuldigend.

„Alles gut, ich war nur in Gedanken versunken. Dir auch einen guten Morgen“, antwortete sie.

Bjarne trug ein ärmelloses Shirt und kurze Hosen. Seine Muskeln an Beinen und Oberkörper waren fein definiert, er schien wohl täglich zu laufen. Kein schlechter Anblick, dachte Ylva anerkennend. Seine Anwesenheit hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Falls es eines Tages zum Äußersten kommen würde, wäre jemand da, den sie um Hilfe bitten könnte. Zumindest während der Sommerzeit. An den kommenden Winter wollte sie noch nicht denken und schob diesen Gedanken beiseite.

„Du kannst mich gern einmal beim Joggen begleiten“, schlug Bjarne vor. „Nichts ist schöner, als den Tag auf diese Weise zu beginnen.“

„Das glaube ich dir aufs Wort“, erwiderte sie.

„Ich hoffe, du hast Sportsachen dabei?“

„Na klar, kein Problem, Bjarne“, lachte sie.

„Wunderbar. Und falls du einen starken Mann brauchst, dann melde dich, nur keine Scheu.“

„Werde ich machen.“

Ylva schlug mit einem Lächeln die Fensterflügel wieder zu. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zum letzten Mal so losgelöst gefühlt hatte. Aber sie musste aufpassen und Distanz bewahren. Abstand zu anderen Menschen war überlebenswichtig, sie durfte keine engen Bindungen eingehen.

Schade eigentlich, denn ihr Nachbar wäre genau die Art von Mann gewesen, die sie gern näher kennengelernt hätte. Geheimnisvoll, feinsinniger Humor, tadelloser Körperbau, friedfertig und hilfsbereit …

Schluss jetzt, ermahnte sie sich. Anschauen ja, sich näherkommen nein. Bjarne war ein feiner Kerl, der im Herbst wieder von hier verschwinden würde, und dann wäre sie auf sich allein gestellt. Außerdem dürften die Frauen bei ihm Schlange stehen, so viel stand schon einmal fest.

Ylva schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein und widmete sich anschließend der Installation der Alarmanlage. Die Anlage funktionierte ausschließlich über Funk und nur das Hauptgerät wurde an das Stromnetz angeschlossen. Die Sensoren hatte sie schnell an den empfohlenen Stellen an Türen und Fenster angebracht. Jetzt war der Testlauf fällig und sie spähte vorsichtig zu Bjarnes Haus hinüber. Er würde den lauten Signalton hören und sich bestimmt seinen Teil denken. Vielleicht wäre es besser, ihn vorzuwarnen. Auch wenn sie sich dabei wie ein Freak vorkam, der das Haus in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt hatte.

Was soll’s, auf geht’s, dachte sie und verließ das Haus. Natürlich nicht, ohne vorher die Lage gecheckt zu haben. Sie durfte keinesfalls nachlässig werden. Sie lief den schmalen Weg entlang, der mit Fichtennadeln und Tannenzapfen übersät war, und drückte auf den Klingelknopf.

„Sorry, wenn ich störe, aber …“

„Du brauchst einen Handwerker, stimmt’s?“, unterbrach er sie.

„Da muss ich dich leider enttäuschen“, antwortete Ylva. „Weil es hier draußen doch recht einsam ist, habe ich eine Alarmanlage installiert und die würde ich gern testen. Es könnte also gleich laut werden.“

„Du hast tatsächlich eine Alarmanlage installiert?“, fragte Bjarne irritiert. „Aber hier ist doch kein Mensch.“

„Eben. Und dieser Umstand könnte durchaus ausgenutzt werden, besonders im Winter, wenn alles verlassen ist.“

„Aber du bist doch da“, widersprach er. „Obwohl, du hast recht. Eine Frau so ganz allein, das hatte ich nicht bedacht.“

„Danke, dass du ein Einsehen hast. Also wie gesagt, es könnte gleich lauter werden. Aber ich werde mich beeilen, versprochen.“

„Was hältst du davon, wenn ich dir zur Seite stehen würde?“ Bjarne schaute sie erwartungsvoll an.

„Ähm …“

Sie wollte nicht, dass er das Sicherheitssystem durchschaute. Noch war sie voller Misstrauen ihm gegenüber.

„Schon gut, ich habe verstanden. Richte dich erst einmal in Ruhe ein.“

„Danke“, sagte sie, wandte sich ab und lief schnurstracks zurück zum Haus.

Zum Glück hatte Bjarne Verständnis und war nicht einer dieser aufdringlichen Menschen, denen man erst mit dem Holzhammer auf den Kopf schlagen musste, damit sie ein Einsehen hatten.

Sie öffnete nacheinander die Türen und Fenster, die nach draußen führten. Die Alarmanlage funktionierte tadellos. Da sie schneller als gedacht fertig geworden war, beschloss sie, erste Besorgungen zu machen. Putzmittel fehlten und ein wenig mehr Auswahl im Kühlschrank könnte auch nicht schaden. Aber hauptsächlich wollte sie sich ein Bild von ihrer neuen Umgebung machen.

Sie wechselte die Kleidung, schaltete die Alarmanlage ein und verließ das Haus in Richtung Dorf. Es war ein wunderschöner Tag und die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel. Der weiche Waldboden dämpfte ihre Schritte und direkt über ihr hämmerte ein Specht. Doch die friedliche Stimmung hielt nicht lange an. Als direkt neben ihr ein Tannenzapfen zu Boden fiel, erschreckte sie sich und stieß einen leisen Schrei aus.

Wie sehr sie doch in diesem ganzen Dilemma gefangen war, wenn so ein dämlicher Tannenzapfen ausreichte, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Wütend kickte sie den Zapfen zur Seite und setzte missmutig ihren Weg fort. Mit einem Schlag war der Himmel weniger blau und die Sonne schien weniger hell.

Als sie den Waldrand erreicht hatte, hörte sie das Motorengeräusch eines herannahenden Wagens und drehte sich um. Bjarnes Geländewagen holperte über den unebenen Boden und kam neben ihr zum Stehen.

„Hej, ich hätte dich doch mitnehmen können. Warum hast du nichts gesagt?“, fragte er.

„Es war eher eine spontane Idee und ich wollte dich nicht stören“, antwortete sie und musterte Bjarne aufmerksam.

Ihr Urteil wegen des unaufdringlichen Nachbarn sollte sie noch einmal überdenken.

Kapitel Vier

T

Bjarne sah Ylva schon von Weitem. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sie sich auf den Weg gemacht hatte und stoppte den Wagen neben ihr.

„Du kannst gern mitfahren, dann musst du auf dem Rückweg auch nicht die Einkäufe schleppen“, bot er nochmals an.

Ylva zögerte.

„Na ja, ich wollte mich auch noch nach einem fahrbaren Untersatz umsehen“, sagte sie.

„Im Dorf?“

„Ich hatte eher an die Zeitung gedacht. Vielleicht hat jemand einen Motorroller inseriert, den ich gleich abholen könnte.“

„Ich kenne da jemanden“, erwiderte Bjarne. „Der alte Karl repariert die Dinger und hat immer so ein Schätzchen zum Verkauf in seiner Werkstatt stehen. Wenn du willst, bringe ich dich zu ihm.“

„Das wäre super.“

Ylva schien sich tatsächlich zu freuen.

„Na los, worauf wartest du? Steig endlich ein“, forderte er sie auf.

Ylva setzte sich neben ihn und zurrte den Gurt fest.

„Danke, dann muss ich nicht lange suchen“, sagte sie.

„Hoffentlich habe ich keine leeren Versprechungen gemacht. Aber Karl muss immer an einer Maschine herumschrauben, er kann einfach nicht anders. Und falls es heute nicht klappen sollte, dann könnt ihr sicher die Nummern tauschen, damit er dich anrufen kann.“

„Das wäre super und erspart mir eine Menge Zeit.“

„Wo möchtest du zuerst hin? Karl oder Geschäft?“

„Fahren wir erst zu Karl, bevor mir jemand meinen Motorroller wegschnappt.“

Das schüchterne Lächeln steht ihr gut, dachte Bjarne, der nicht damit gerechnet hatte, dass ihm seine neue Nachbarin so sympathisch sein könnte. Obwohl sie sich Mühe gab, ihre Anspannung zu verbergen, schien sie von irgendetwas getrieben zu sein. Der gehetzte Blick, die Schultern, die nach oben gezogen waren und ihre zurückhaltende, misstrauische Art, auf Menschen zuzugehen.

Mit ein wenig Fingerspitzengefühl würde sie sich ihm gegenüber vielleicht irgendwann öffnen und er war schon gespannt auf die Geschichte, die sie zu erzählen hatte. Mit Geduld und Verständnis gelangte man oft ans Ziel. Sie war netter, als er gedacht hatte, und genau das bereitete ihm Sorge. Auch er trug sein Herz nicht auf der Zunge.

„So, da wären wir“, sagte er.

Karl bewohnte ein kleines Holzhäuschen, dessen Fassade in einem fröhlichen Sonnenblumengelb erstrahlte.

Ylva und er betraten den Hof. Karl kam ihnen sofort entgegen und wischte seine ölverschmierten Hände an einem alten Lappen ab.

„Das ist also die junge Frau, die sich für einen Motorroller interessiert?“, fragte er.

„Genau“, bestätigte Bjarne, der Karl von unterwegs eine kurze Nachricht geschickt hatte.

„Was schwebt Ihnen denn so vor?“, wandte er sich an Ylva, die nur ratlos mit den Schultern zuckte.

„Nicht zu viele PS und fahren sollte er können.“

„Ich habe drei Roller zur Auswahl“, er deutete auf die Werkstatt. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Die Motorroller waren in einem guten Zustand und Ylva entschied sich für das Gefährt in der mittleren Preisklasse.

„Gute Wahl“, beglückwünschte Karl sie. „Wie wollen Sie zahlen?“

„Bar, wenn möglich.“

„Kein Problem.“

Sie drückte Karl die Scheine in die Hand und erhielt die Papiere.

„Das ging ja schnell und unkompliziert“, freute sich Karl und seine Augen leuchteten. „Danke Bjarne, du könntest mir öfter einen Kunden vorbeibringen“, lachte er.

„Wäre es möglich, den Roller nach dem Einkauf abzuholen?“, fragte Ylva.

„Aber sicher, ich bin den ganzen Tag zu Hause.“

„Dann bis später“, verabschiedete sich Ylva.

Sie und Bjarne stiegen wieder in den Wagen.

„So schnell kommt man hier also zu einem Motorroller, danke für den Tipp“, sagte Ylva in seine Richtung.

„Nichts zu danken“, erwiderte er.

Das kleine Geschäft am Marktplatz hatten sie schnell erreicht. Sie gingen getrennte Wege und trafen sich nach dem Einkauf wieder an seinem Geländewagen. Ylva wirkte sehr nervös und schaute sich immer wieder besorgt um.

„Alles in Ordnung?“, fragte Bjarne.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete sie. „Da war so ein Typ, der mir die ganze Zeit hinterherscharwenzelt ist.“

„So ein bärtiger Bär, der auch in eine Rockergang passen würde?“

„Genau, den meine ich.“

„Keine Sorge. Kaspar ist harmlos und geistig ein wenig zurückgeblieben, wenn du verstehst, was ich meine. Du bist neu hier im Ort und da wirst du von ihm natürlich genauer unter die Lupe genommen.“

Ylva stieß erleichtert die Luft aus.

„Dann ist ja gut. Ich habe schon das Schlimmste befürchtet.“

„Mach dir nicht so viele Gedanken, hier will dir niemand etwas Böses“, sagte er in einem beschwichtigenden Tonfall.

„Diese Welt ist voller schlechter Menschen“, erwiderte sie.