Khalil Gibran
Der Prophet – Der Wanderer
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
Khalil Gibran (1883–1931), geboren im Libanon, emigrierte in jungen Jahren in die USA. Er war Maler, Philosoph und Dichter und widmete sich in seinem Lebenswerk der Versöhnung von westlicher und arabischer Welt. Seine Bücher brachten ihm Weltruhm und haben bis heute Kultstatus.
Die Weisheiten des Propheten al-Mustafa zählen zu den faszinierendsten Texten der spirituellen Literatur. Khalil Gibran gelang mit seinem Werk ›Der Prophet‹ der Brückenschlag zwischen der Alten und der Neuen Welt, zwischen Orient und Okzident, Islam und Christentum. ›Der Prophet‹ wurde ein Welterfolg und begeistert bis heute viele Leserinnen und Leser.
In der Sammlung poetisch-spiritueller Gleichnisse und Parabeln ›Der Wanderer‹, die Khalil Gibran kurz vor seinem Tod vollendete, beleuchtete er noch einmal die Themen, die ihn zeit seines Lebens bewegten: Liebe und Hass, Schönheit und Hässlichkeit, Körper und Seele, Freude und Leid, Freiheit und Unterdrückung, Gott und Mensch.
Unveränderte Neuausgabe 2017
© dtv Verlagsgesellschaft GmbH & Co.KG, München 2017
Zusammenführung in einem Band der Einzeltitel:
Der Prophet. Oktober 2003 (ISBN 978-3-423-34067-0)
dtv Verlagsgesellschaft GmbH & Co.KG, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Prophet. Alfred A. Knopf, New York 1923
© der vorliegenden Übersetzung ins Deutsche:
2002 dtv Verlagsgesellschaft GmbH & Co.KG, München
Der Wanderer. Deutsche Erstausgabe April 2009 (ISBN 978-3-423-34535-4)
© dtv Verlagsgesellschaft GmbH & Co.KG, München 2009
Umschlaggestaltung: dtv
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43422-5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-34924-6
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ISBN (epub) 9783423434225
Gibrans Geburtsort, im Norden des Libanons
Al-Mustafa, der Auserwählte und der Geliebte, der seiner Zeit ein Morgenrot war, hatte zwölf Jahre lang in der Stadt Orfalîs auf die Rückkehr seines Schiffes gewartet, das ihn wieder zur Insel seiner Geburt bringen sollte.
Und im zwölften Jahr, am siebten Tag des Erntemonats Ailûl erklomm er den Hügel jenseits der Stadtmauer und blickte seewärts; und er sah sein Schiff mit dem Nebel herankommen.
Da flogen die Tore seines Herzens auf, und seine Freude schwang sich weit hinaus übers Meer. Und er schloss die Augen und betete in der Stille seiner Seele.
Doch als er den Hügel wieder hinabstieg, befiel ihn Wehmut, und er dachte in seinem Herzen:
Wie sollte ich in Frieden und ohne Kummer ziehen? Nein, nicht ohne eine Wunde in der Seele werde ich diese Stadt verlassen.
Lang waren die Tage des Leidens, die ich in ihren Mauern verbrachte, und lang waren die Nächte des Alleinseins; und wer kann sein Leiden und sein Alleinsein ohne Bedauern hinter sich lassen?
Zu viele Splitter meines Geistes habe ich in diesen Straßen verstreut, und zu zahlreich sind die Kinder meiner Sehnsucht, die nackt zwischen diesen Hügeln wandeln, und ich kann mich nicht ohne eine Last auf der Seele und Schmerz von ihnen zurückziehen.
Es ist kein Gewand, was ich heute abstreife, sondern eine Haut, die ich mit meinen eigenen Händen von mir reiße.
Ebenso wenig ist es ein Gedanke, was ich hinter mir lasse, sondern ein Herz, gesüßt von Hunger und von Durst.
Doch ich darf nicht länger zaudern.
Die See, die alle Dinge zu sich ruft, ruft mich, und ich muss an Bord gehen.
Denn sind die Stunden der Nacht auch aus Feuer, hieße bleiben gefrieren und Kristall werden und in einer harten Schale erstarren.
Gern nähme ich alles mit, was hier ist. Doch wie könnte ich?
Eine Stimme kann die Zunge und die Lippen, die ihr Flügel verliehen, nicht mit sich tragen. Allein muss sie in den Äther steigen.
Und allein und ohne seinen Horst fliegt der Adler an der Sonne vorüber.
Als er nun den Fuß des Hügels erreicht hatte, wandte er sich wieder zur See, und er sah sein Schiff in den Hafen einlaufen und am Bug die Matrosen stehen, die Männer seines Landes.
Und seine Seele rief ihnen laut entgegen, und er sprach:
Söhne meiner uralten Mutter, ihr Reiter der Gezeiten,
Wie oft schon seid ihr in meine Träume gesegelt! Und nun kommt ihr in mein Erwachen, das mein tieferer Traum ist.
Bereit bin ich zur Abreise, und meine Ungeduld wartet unter allen Segeln auf den Wind.
Nur einen Atemzug noch will ich atmen in dieser reglosen Luft, nur einen liebevollen Blick noch zurückwerfen,
Und dann werde ich mitten unter euch stehen, ein Seefahrer unter Seefahrern.
Und du, gewaltige See, schlaflose Mutter,
Die du allein bist Frieden und Freiheit für den Fluss und den Bach,
Nur eine Windung wird dieser Bach noch beschreiben, nur einmal noch murmeln in dieser Lichtung,
Und dann kehre ich zu dir zurück, ein grenzenloser Tropfen zum grenzenlosen Ozean.
Und während er ging, sah er in der Ferne Männer und Frauen ihre Äcker und ihre Weinberge verlassen und hin zu den Stadttoren eilen.
Und er hörte ihre Stimmen seinen Namen rufen und hörte sie von Feld zu Feld einander zuschreien und die Ankunft seines Schiffes melden.
Und er sagte zu sich selbst:
Soll denn der Tag der Trennung der Tag der Vereinigung werden?
Und soll es einst heißen, dass mein Abend in Wahrheit mein Morgenrot war?
Und was soll ich dem geben, der seinen Pflug auf halber Furche verließ, oder dem, der das Rad seiner Kelter anhielt?
Soll mein Herz zu einem Baum werden, beladen mit Früchten, die ich pflücken könnte und an sie verteilen?
Und werden meine Wünsche wie eine Quelle sprudeln, dass ich ihre Becher füllen mag?
Bin ich denn eine Harfe, dass die Hand des Mächtigen mich streichen, oder eine Flöte, dass sein Atem durch mich strömen könnte?
Ein Sucher der Stille bin ich, und welche Schätze habe ich in ihr gefunden, die ich mit Zuversicht verschenken könnte?
Wenn dies mein Tag der Ernte ist, auf welchem Feld habe ich die Saat gesät und in welchen vergessenen Jahreszeiten?
Wenn dies wirklich die Stunde ist, da ich meine Lampe erhebe, dann ist es nicht meine Flamme, die in ihr brennen wird.
Leer und dunkel werde ich meine Lampe heben,
Und der Hüter der Nacht mag sie mit Öl voll gießen, und auch entzünden mag er sie.
Dies sagte er mit Worten. Vieles aber blieb in seinem Herzen ungesagt. Denn sein tieferes Geheimnis war ihm unaussprechlich.
Und als er in die Stadt kam, strömte ihm alles Volk entgegen, und wie mit einer einzigen Stimme riefen sie ihn an.
Und die Stadtältesten traten vor und sagten:
Geh noch nicht von uns.
Ein Mittag bist du in unserer Dämmerung gewesen, und deine Jugend hat uns Träume zum Träumen gegeben.
Kein Fremder bist du unter uns und auch kein Gast, sondern unser Sohn und unser herzlich Geliebter.
Dulde es noch nicht, dass unsere Augen nach deinem Antlitz hungern müssen.
Und die Priester und die Priesterinnen sprachen zu ihm:
Lasse es nicht zu, dass die Wellen der See uns jetzt trennen und dass die Jahre, die du in unserer Mitte verbracht hast, zur bloßen Erinnerung werden.
Du bist als ein Geist unter uns gewandelt, und dein Schatten ist ein Licht für unsere Augen gewesen.
Innig haben wir dich geliebt. Doch sprachlos ist unsere Liebe gewesen und in Schleier gehüllt.
Jetzt aber schreit sie laut auf zu dir und möchte unverschleiert vor dir stehen.
Denn stets ist es so, dass die Liebe ihre eigene Tiefe nicht kennt – bis zur Stunde der Trennung.
Und es traten auch andere vor und flehten ihn an. Doch er gab keine Antwort. Er neigte nur den Kopf; und wer nah bei ihm stand, sah, dass ihm Tränen auf die Brust tropften.
Und er und die Menschen begaben sich zum großen Platz vor dem Tempel.
Und da trat aus dem Heiligtum eine Frau, deren Name al-Mitra war. Und sie war eine Seherin.
Und er blickte sie mit innigster Zärtlichkeit an, denn sie war die Erste, die ihn aufgesucht und an ihn geglaubt hatte, als er gerade einen Tag in ihrer Stadt gewesen war.
Und sie grüßte ihn und sagte:
Prophet Gottes, auf der Suche nach dem Allerhöchsten, lang hast du nach deinem Schiff Ausschau gehalten.
Und jetzt ist dein Schiff angekommen, und du musst uns verlassen.
Tief ist deine Sehnsucht nach dem Land deiner Erinnerungen und dem Wohnort deiner größeren Wünsche; und unsere Liebe vermag dich nicht zu binden noch unsere Not dich zu halten.
Doch darum bitten wir dich, ehe du uns verlässt, dass du zu uns sprichst und uns von deiner Wahrheit gibst.
Und wir werden sie an unsere Kinder weitergeben und sie an ihre Kinder, und deine Wahrheit soll nicht untergehen.
In deinem Alleinsein hast du mit unseren Tagen gewacht, und in deinem Wachsein hast du dem Weinen und dem Lachen unseres Schlafes gelauscht.
Enthülle uns jetzt also und erzähle uns alles, was dir von dem offenbart wurde, was zwischen Geburt und Tod liegt.
Und er antwortete:
Menschen von Orfalîs, wovon könnte ich schon sprechen außer von dem, was in diesem Moment eure Seelen bewegt?
Da sagte al-Mitra: Sprich zu uns von der Liebe.
Und er hob den Kopf und blickte auf die Menschenmenge, und es verstummten alle. Und er sagte mit mächtiger Stimme:
Wenn die Liebe euch ruft, folgt ihr, Auch wenn ihre Pfade beschwerlich und steil sind. Und wenn ihre Schwingen euch umfangen, gebt euch ihr hin,
Auch wenn das Schwert zwischen ihren Fittichen euch verwunden mag.
Und spricht sie zu euch, schenkt ihr Glauben, Auch wenn ihre Stimme eure Träume zerschlagen mag, so wie der Nordwind den Garten verwüstet.
Denn so wie die Liebe euch krönt, wird sie euch kreuzigen. So wie sie euer Wachstum befördert, stutzt sie auch euren Wildwuchs.
Ebenso wie sie zu euren Gipfeln emporsteigt und eure zartesten Zweige liebkost, die im Sonnenlicht zittern, Wird sie zu euren Wurzeln hinabsteigen und sie erschüttern in ihrem Erdverhaftetsein.
Wie Garben sammelt sie euch und drückt sich euch an die Brust.
Sie drischt euch, um euch zu entblößen.
Sie siebt euch, um euch von eurer Spreu zu befreien.
Sie mahlt euch blütenweiß.
Sie knetet euch, bis ihr geschmeidig seid;
Und dann überantwortet sie euch ihrem heiligen Feuer, damit ihr heiliges Brot für Gottes heiliges Festmahl werdet.
All das wird die Liebe euch antun, damit ihr die Geheimnisse eures Herzens erkennt und in diesem Erkennen zu einem Bruchteil vom Herzen des Lebens werdet.
Solltet ihr aber aus Angst nur den Frieden der Liebe und die Freuden der Liebe erstreben,
Dann ist es besser für euch, wenn ihr eure Blöße bedeckt und die Tenne der Liebe verlasst und hinaustretet
In die Welt ohne Jahreszeiten, wo ihr lachen werdet, aber nicht all euer Lachen, und weinen, aber nicht all eure Tränen.
Die Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts als von sich selbst.
Die Liebe besitzt nicht, noch will sie Besitz sein.
Denn der Liebe ist die Liebe genug.
Wenn ihr liebt, sollt ihr nicht sagen: »Gott ist in meinem Herzen«, sondern: »Ich bin im Herzen Gottes.«
Und meint nicht, ihr könntet den Lauf der Liebe bestimmen, denn befindet sie euch für würdig, bestimmt vielmehr sie euren Lauf.
Die Liebe wünscht nichts, als sich selbst zu erfüllen.
Doch wenn ihr liebt und Wünsche haben müsst, dann wünscht euch dies:
Zu zerschmelzen und gleich einem rauschenden Wasser zu werden, das der Nacht seine Weise singt.
Die Qual zu großer Zärtlichkeit kennen zu lernen.
Verwundet zu werden von eurem eignen Verständnis der Liebe;
Und bereitwillig und freudig zu bluten.
Im Morgengrau mit einem Lerchen-Herzen aufzuwachen und für einen neuen Tag des Liebens Dank zu sagen;
In der Mittagszeit zu rasten und dem Entzücken der Liebe nachzusinnen;
Am Abend dankbar heimzukehren;
Und dann einzuschlafen mit einem Gebet für den Geliebten im Herzen und einem Lobgesang auf den Lippen.
Dann sprach al-Mitra wieder und sagte: Und was ist mit der Ehe, Meister? Und er antwortete und sagte:
Zusammen wurdet ihr geboren, und zusammen werdet ihr für immer bleiben.
Ihr werdet zusammen sein, wenn die weißen Schwingen des Todes eure Tage zerstreuen.
Ja, selbst im schweigenden Gedächtnis Gottes werdet ihr beisammen sein.
Aber gestattet einander Freiräume in eurem Beisammensein.
Und lasst die Winde des Himmels zwischen euch tanzen.
Liebt einander, aber macht aus der Liebe keine Fessel:
Sie sei eher eine wogende See zwischen den Küsten eurer Seelen.
Füllt jeder des anderen Becher, aber trinkt nicht aus einem einzigen Becher.
Gebt einander von eurem Brot, aber esst nicht von demselben Laib.
Singt und tanzt und freut euch zusammen, aber gestattet einander, je für sich allein zu sein,
Gerade so, wie die Saiten einer Laute allein sind, auch wenn sie von derselben Musik erzittern.
Gebt eure Herzen, aber nicht in des anderen Gewahrsam.
Denn einzig die Hand des Lebens kann eure Herzen fassen.
Und steht zueinander, doch nicht zu dicht beieinander:
Denn die Säulen des Tempels stehen je für sich, Und Eichbaum und Zypresse wachsen nicht jedes in des anderen Schatten.
Und eine Frau, die einen Säugling an ihre Brust drückte, sagte: Sprich zu uns von den Kindern.
Und er sagte:
Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.
Sie kommen durch euch, doch nicht aus euch,
Und sind sie auch bei euch, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, doch nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihren Körpern dürft ihr eine Wohnstatt bereiten, doch nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus der Zukunft, und das bleibt euch verschlossen, selbst in euren Träumen.
Ihr dürft danach streben, ihnen ähnlich zu werden, doch versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben schreitet nicht zurück, noch verweilt es beim Gestern.