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Magda Trott
 
DAS
GROSSE
OPFER

 

1

Die schwarz ausgeschlagene Kapelle vermochte die Hereinströmenden kaum mehr aufzunehmen, und noch immer rollten Wagen und Automobile heran, immer hastiger strömten die schwarz Gekleideten in den Raum, in dem die sterblichen Überreste des berühmten Professors Maximilian Roscher aufgebahrt waren. Wer nur irgendwie mit dem Dahingegangenen Fühlung genommen hatte, war erschienen, teils aus wahrhafter Anteilnahme, teils aus Neugierde. Man wollte dabei sein, wenn man den Sarg des größten Malers der Gegenwart den Flammen übergab.

In einiger Entfernung des Sarges, um den man in großem Bogen die kostbarsten Kränze gelegt hatte, standen die Abgeordneten der Akademie der Künste, der Kunstvereine, die Gesandten von Staat und Stadt, zahlreiche Studentenverbindungen mit schwarz umflorten Fahnen; alle waren gekommen, um Meister Roscher die letzte Ehre zu erweisen. Rechts und links des blumenübersäten Sarges hatte man einige Stühle aufgestellt. Sie waren noch leer, die Angehörigen des Toten waren bisher nicht erschienen. In feierlichem Schweigen harrte ihrer die Trauergesellschaft.

Nun kam eine leise Bewegung in die Massen, ehrfurchtsvoll wich man zur Seite.

Am Arm ihres ältesten Sohnes Dietrich erschien die Witwe des Dahingeschiedenen, Frau Professor Melanie Roscher. Sie war tief verschleiert, so daß es niemandem gelang, einen Blick in ihr Antlitz zu werfen. Die überaus hohe, imponierende Erscheinung, mit dem aufrechten, hoheitsvollen Gang wirkte fesselnd. Kaum hätte man glauben können, daß sie eine in Trauer Gebrochene war. Schon immer hatte Melanie Roscher durch ihr königliches Auftreten allgemeines Aufsehen erregt, heute aber wirkte sie in ihrer schwarzen Witwentracht geradezu majestätisch.

Nicht minder imponierend war die Erscheinung des ältesten Sohnes Dietrich, der sich in seiner stattlichen Größe mit der Mutter messen konnte. Auf breiten Schultern saß ein männlich schönes, ruhigernstes Antlitz, ein echter Germanentyp. Die großen blauen Augen schienen allerdings etwas verschleiert, und als er jetzt den Sarg anschaute, ging ein leises Zittern über seine Züge. Mit hastiger Bewegung strich die schwarz bekleidete Hand über den prächtigen blonden Vollbart. In liebevoller Zärtlichkeit geleitete er die Mutter zu dem angewiesenen Platze, dann schaute er rückwärts auf die sich langsam nähernden Geschwister.

Armin Roscher führte seine Schwester Gerlinde.

Auch hier wieder zwei schöne, hochgewachsene Menschen, aber während Frau Melanie und Dietrich in voller Ruhe, mit würdigen, gemessenen Schritten einhergingen, hielt Gerlinde den Bruder öfters zurück, als sei es ihr unmöglich, auch nur noch einen Schritt vorwärts zu gehen. Die ergriffenen Zuschauer bemerkten, daß der Körper des jungen Mädchens von verhaltenem Weh geschüttelt wurde und daß Armin Roscher alle Energie aufbieten mußte, um die fassungslose Schwester zu dem angewiesenen Platze zu geleiten.

Der Roscherschen Familie schlossen sich die übrigen Verwandten an. Es war eine beträchtliche Anzahl, aber das Interesse aller wandte sich doch immer wieder jenen vier Menschen zu, die jetzt in schweigendem Schmerz, mit gesenkten Häuptern, auf den blumenübersäten Sarg schauten. Leise und schwermütig hauchte die Orgel ihre wehmütige Klage aus, dann betrat der Geistliche das Podium am Kopfende des Sarges. Es blieb wohl kaum ein Auge trocken, als er in herzlichen und schönen Worten dem Toten die letzten Worte sagte. Er pries Maximilian Roscher als einen echten Christen, als einen Menschen, der ein Leben beschlossen hatte, das reich an Güte, Edelmut, Liebe und Fleiß gewesen war. Er sprach von dem Manne, der in seiner Familie so selten glücklich gelebt, er sprach von dem Edlen, der auch nach außen hin Glück gespendet und Liebe entgegengenommen hatte. Ein Mann wie Professor Roscher konnte mit demselben stolzen Gesicht, das man im Leben an ihm kannte, vor den allmächtigen Richter treten, man würde ihn auch in der anderen Welt herzlich willkommen heißen.

Nach dem Geistlichen sprach ein Kollege des Verschiedenen. Er feierte den Künstler, zu dem die ganze Welt in Ehrfurcht aufgeschaut hatte, den auch die Zukunft nicht vergessen werde, der sich durch seine künstlerischen Taten ein Denkmal gesetzt hatte, der aber auch ein Denkmal im Herzen aller derer besaß, die jemals mit dem liebenswürdigen Künstler zusammengekommen waren. Und als der Redner das stolze Wort aussprach, daß wohl kein einziger da sei, der dem Dahingegangenen feind in des Wortes wahrster Bedeutung sei, da nickten leise zustimmend die Männer der Kunst und Wissenschaft: Professor Roscher hatte sich wohl kaum jemals im Leben einen Feind geschaffen.

Nach ihm trat ein anderer auf, der sprach als Freund und rief dem Entschlafenen innige Trauerworte nach; der sprach von der schmerzlichen Lücke, die durch das Dahinscheiden Roschers gar vielen entstand. Er sprach von der seltenen Güte dieses Mannes und daß er viel zu früh dahingegangen wäre. Aber gerade die Besten würden abberufen.

Als Letzter trat Professor Tergen, der Schwager des Dahingegangenen, auf. Es waren nur wenige Worte, die er sagte. Worte von so ergreifender Schlichtheit. Er schilderte den Vater, den Gatten, den Verwandten. Niemals würde das hehre Bild dieses Mannes im Herzen der Seinen verlöschen. Wie zu einem geheiligten Altar würden Kinder und Kindeskinder dereinst zu dem Manne aufschauen, dessen ganzes Leben darin bestanden hatte, neben seiner Kunst die Seinen glücklich zu machen. Er sprach von dem innigen Zusammenarbeiten mit der Gattin, die dem Manne durch ihre Klugheit, ihr reiches Wissen, so überaus viel gegeben hatte. Er schilderte, wie Mann und Frau vollkommen ineinander aufgegangen wären, eins gewesen waren. Er sprach von den Kindern, denen das seltene Glück zuteil geworden war, einen Vater zu besitzen, der es verstanden hatte, gleich groß in der Kunst wie in Liebe und Menschlichkeit zu sein.

Seine Rede wurde oftmals von wildem Schluchzen unterbrochen. Gerlinde lehnte an der Schulter des Bruders und drückte mit krampfenden Fingern den dichten Kreppschleier vor das Gesicht.

Wieder trat der Geistliche vor und sprach das Gebet. Und nun neigten sich Dutzende von Fahnen über den Sarg. Im Scheine der flackernden Kerzen kreuzten sich die Schläger der Chargierten, leise setzte abermals die Orgel ein und unter den Klängen eines gewaltigen Männerchors glitt der Sarg lautlos in die Flammen.

Eine heftige Bewegung kam in die Menge. Gerlinde war aufgesprungen, fiel mit einem Wehlaut in die Knie, aber schon stand ihr ältester Bruder neben ihr. Er hob sie mit sanftem Griff empor, und aufschreiend schlang sie ihre Arme um seinen Hals, wühlte das tränenüberströmte Antlitz in seine Schulter, vor Schmerz leise wimmernd.

Auch Melanie hatte sich erhoben. Kein Zittern ging durch ihre Gestalt. In majestätischer Schönheit stand sie da und sah den Sarg verschwinden. Nicht einmal die Hände zitterten ihr. Sie glich einer Marmorstatue.

Noch einmal klangen die Schläger zusammen, leise rauschten die Fahnen, schwül dufteten die zahlreichen Blumen. Da wandte sich Dietrich fragend seiner Mutter zu. Sie nickte langsam.

Armin bot ihr den Arm, während Dietrich die fassungslose Schwester führte. In ehrfurchtsvollem Schweigen näherten sich erst die Verwandten, dann die Freunde. Melanie drückte unzählige Hände, aber auch jetzt blieb ihr Antlitz bewegungslos, keine Miene verriet, was in ihr vorging.

Dietrich war es, der ein rasches Verlassen der Kapelle wünschte. Er sah die furchtbare Pein seiner Schwester, ein Blick seiner Augen genügte, um die Mutter daran zu mahnen, daß auch die Lebenden ein Recht hätten. Und wenige Minuten später trugen die Wagen die trauernde Witwe und deren Kinder ihrem eleganten Heim wieder zu.

Nur ganz allmählich leerte sich die Kapelle. Es gab zu viele Neugierige, die noch einen Blick auf die prachtvollen Kranzspenden werfen wollten. Auch tauschte man mit Bekannten seine Eindrücke aus. Einige wunderten sich über die stolze Ruhe der Witwe, während andere es für ganz selbstverständlich hielten, daß aus Melanies Augen keine Tränen geflossen waren. Eine Frau, die während ihres ganzen Lebens stets so viel Stärke, Größe und ruhige Würde gezeigt hatte, die dem Dahingegangenen nicht nur Gattin, sondern auch Freundin, Beraterin und Stütze gewesen war, die in jeder Lebenslage ihre königliche Würde behauptet hatte, eine solche Frau trug auch das Schwerste, was sie treffen konnte, mit stiller Ergebenheit. Man sprach von Dietrich, dem ältesten Sohne. Er war selbst den Kreisen, die ständig bei Roschers verkehrten, fremd geworden. Dietrich war in den letzten Jahren nur wenig im Elternhause gewesen. Er hatte sich in Süddeutschland sein Atelier eingerichtet und hatte dort versucht, einen Namen zu bekommen. Als Sohn des berühmten Vaters, den man in Fachkreisen als einen der Ersten anerkannte, fand Dietrich einen wohlvorbereiteten Weg. Man brachte seinen Arbeiten lebhaftes Interesse entgegen und drückte wohl auch ein Auge zu, wenn das von ihm Gebotene bei weitem nicht den Erwartungen entsprach, die man in seine Kunst setzte. Dietrich selbst wußte sehr wohl, was ihm fehlte. Seine Kollegen stellten ihm das Zeugnis eines eifrig strebenden Menschen aus, der rastlos an sich selbst arbeitete, der aber viele Stunden dumpfer Verzweiflung durchkämpfte, weil er empfand, daß sein Können nicht im entferntesten dazu ausreichte, die an ihn gestellten Anforderungen zu erfüllen. Das mochte vielleicht auch ein Grund gewesen sein, warum Dietrich Roscher so ängstlich sein Elternhaus mied. Man erzählte sich, daß er es nur schwer ertragen könne, seine mangelhaften Arbeiten gegenüber denen des Vaters zu sehen. Eingeweihte wollten sogar wissen, daß sich Dietrich ernstlich mit dem Plane getragen hatte, seinen Beruf aufzugeben; niemand wußte aber Genaueres, und diesbezügliche Fragen wurden von Melanie Roscher mit der ihr eigenen Art als Fragen zurückgegeben.

Der Küster begann bereits die hohen Standleuchter zu löschen. Noch immer wogte die Menge hin und her, man tuschelte über allerlei und jetzt richteten sich die Blicke der Neugierigen auf eine junge Dame, die bereits vorhin, während der Trauerfeier, den Umsitzenden aufgefallen war. Die Trauertoilette war von einer seltenen Eleganz, und da auch das Antlitz der Dame überraschend schöne Linien aufwies, war die Bewunderung, die sie erregte, nur gerechtfertigt. Sie trat bis an die Flügeltüren, die sich über dem Sarg geschlossen hatten, heran und schaute eine ganze Weile darauf nieder. Über ihr schönes Antlitz glitt aber keine Trauer. Trotzdem lag in den braunen Augen etwas Sinnendes, etwas Eigentümliches, das sich auch die nicht zu erklären vermochten, die sich sonst auf ihre Menschenkenntnis viel einbildeten. So stand die Fremde lange, aber plötzlich warf sie den Kopf in den Nacken. Eine seltsam energische Bewegung. Dann bahnte sie sich durch die Menge ihren Weg aus der Kapelle.

Aber noch eine andere war da, die jetzt ebenfalls die Aufmerksamkeit aller auf sich lenkte.

Ganz hinten, auf einer der letzten Bänke, kauerte ein junges Mädchen. Das schwarze, vertragene Kleid, das schon so viele Glanzstellen aufwies, deutete darauf hin, daß die bitterlich Weinende nicht mit allzu großen Glücksgütern gesegnet sein mochte. Sie hatte das Antlitz in die Arme gelegt; so schluchzte sie still vor sich hin. Neben ihr auf der Bank lag ein kleiner Kranz aus einfachen Tannenzweigen gewunden, ohne jeden Schmuck, ein Kranz, der nicht einmal vom Gärtner zu stammen schien, wahrscheinlich ein Machwerk der eigenen Hände.

Jetzt fuhr sie auf und sah sich fast allein in der Kapelle. Da trocknete sie das tränenüberströmte Gesicht; scheu eilte sie nach vorn und schob den ärmlichen Kranz schüchtern unter eine blaue Seidenschleife.

»Du hast uns so unendlich viel gegeben, ich habe nichts für dich als diese Tannenreiser. Aber vergessen werde ich dich nie – nie.«

So stand sie noch lange zwischen den Kränzen, bis der Küster endlich leise mahnte, er wolle die Kapelle schließen. Es sei Zeit, daß sie heimgehe. Da erschrak Susanne Gallweit, die arme kleine Putzmacherin, nahm ihr abgeschabtes Röckchen zusammen und schlich mit gesenktem Haupte davon.

In dem mit übertriebenem Luxus ausgestatteten Arbeitszimmer Armins stand Dietrich. Zwischen den beiden Brüdern war keine große Ähnlichkeit vorhanden. Wohl hatten beide die stattliche große Gestalt, Dietrich überragte den jüngeren Bruder allerdings noch um ein Beträchtliches; aber während bei dem Älteren der blonde Typ des Germanen deutlich hervortrat, wirkte Armin durch den ganzen Schnitt des Gesichtes mehr slavisch. Sein ganzes Wesen war auch lebhafter, seine Bewegungen unruhiger, während bei Dietrich sich eine abgeklärte Ruhe wohltuend bemerkbar machte.

»Du hast immer im Elternhause gelebt, Armin, du bist wahrscheinlich in der Lage, mir einige Aufklärungen zu geben. Die Mutter möchte ich deswegen nicht fragen, ich möchte die Wunde, die ihr der Tod des Vaters geschlagen hat, nicht erweitern. Ihr habt mir niemals eine Mitteilung zugehen lassen, daß der Vater beängstigend krank sei. Die plötzliche Todesnachricht hat mich daher außerordentlich überrascht. Dr. Römer hat mir auf meine Fragen auch nichts weiter mitgeteilt, als daß ein Schlaganfall seinem arbeitsreichen Leben ein Ende gesetzt habe.«

»Wir hoffen, Dietrich, daß du trotz deiner Abwesenheit, die deine Mutter dir eigentlich nie so ganz vergeben kann, trotzdem durch und durch mit uns verwachsen bist und zu uns gehörst. Du hast am Sarge des Vaters die vielen Reden gehört, die ihn nach jeder Richtung hin priesen und lobten. Er ist über jedes Lob erhaben. Seine Kunst wird ewig stehen und alle, die ihn gekannt haben, werden ihn auch nie vergessen. Du weißt, was er für unsere Mutter gewesen ist. Niemals ist wohl ein Gott so angebetet worden, wie sie den Gatten verehrte. Er war ihr mehr als Gott, und darum begreife ich es nicht, wie sie fähig ist, jetzt derart ihren Schmerz zu meistern. Noch nicht ein einziger Klagelaut ist über ihre Lippen gekommen. Ich bin in denkbar größter Sorge um sie und fürchte für die Zukunft.«

»Mutter ist immer eine starke Frau gewesen.«

»Ja, aber auch der Stärkste kann zusammenbrechen. Doch du willst vom Vater wissen. Seit mehr als einem Jahre kränkelte er. Die Welt brauchte es nicht zu wissen. Vater wollte es selbst nicht, denn er arbeitete an seinem großen Gemälde, das, wie du weißt, noch kurz vor seinem Hinscheiden fertig wurde. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte dieses Bild seinen Ruhm noch erweitert. Er hat diese letzte Arbeit mit Aufbietung aller Kräfte zu Ende geführt, ich möchte fast sagen, es war die Mutter, die ihn mit eiserner Energie dazu trieb, das zu vollenden, was er begonnen.

Es war manchmal geradezu unheimlich, wenn sie mit suggestiver Kraft auf ihn einsprach, daß er arbeiten müsse, sie wich nicht von seiner Seite, bis sie seine deutliche Erschöpfung merkte, sie trieb ihn vorwärts, und ich selbst habe sie einmal gebeten, sie möge ablassen von ihrem Tun. Ich sah den Vater arbeiten, sah seine Augen, die wie gebannt zwischen ihrem Blick und dem Gemälde hin und her gingen. Er glich einem Träumenden, wenn er malte, so lange die Mutter daneben stand. Und ich muß dir sagen, Dietrich, ein Schauder überkam mich, wenn ich sah, wie sie ihn in der Gewalt hatte, wie sie ihre eigene Willenskraft auf ihn ausstreute und ihn so in den Bann der Arbeit zwang.«

Dietrich stützte sich schwer auf den Klubsessel, in dem der Bruder saß. »Willst du damit sagen, Armin, daß unsere Mutter eine Schuld an dem plötzlichen Ableben des Vaters traf?«

»Ich habe mir diese Frage öfters vorgelegt, aber ich möchte es nicht glauben. Merkwürdig ist allerdings, daß Vater von dem Augenblick an, da das Gemälde vollendet, völlig zusammenbrach und nicht mehr fähig war, einen Pinselstrich zu tun.«

»Weiltest du häufig in seinem Atelier, wenn er arbeitete?«

»Nein. Die Mutter litt es nicht. Auch der Vater liebte es nicht, daß wir ihn bei der Arbeit störten. Du weißt ja, es hat niemals einer seiner Kollegen oder Freunde gewußt, was er schuf. Erst mit dem vollendeten Kunstwerk trat er an die Öffentlichkeit.«

»Es hat auch niemand von seinem Leiden etwas gewußt«, sagte Dietrich finster. »Sein Tod kam der ganzen Welt vollkommen überraschend.«

»Auch das war der Wunsch der Mutter. Die Welt kannte unseren Vater als einen schönen Mann, der trotz seiner sechzig Jahre in jugendlicher Frische, Elastizität und Lebenskraft stand. Dann verfiel er plötzlich. Über Nacht wurde aus ihm ein müder, gebrochener Greis. Die Welt hat ihn so nicht mehr gesehen. Mußte er sich zeigen, dann täuschten wir alle mit künstlichen Hilfsmitteln. Es war mitunter furchtbar zu sehen, wie sich der Vater zusammenreißen mußte, nur um den Lebensfrohen, den Gesunden vorzutäuschen. Es wäre ihm nie gelungen, wenn nicht auch hier die Mutter mit all ihrer eisernen Energie hinter ihm gestanden hätte.

Noch heute erinnere ich mich jenes Tages, da man ihn zum Ehrendoktor machte. Er empfing lächelnd die Abgesandten, schützte eine leichte Fußverletzung vor, nur um nicht aufstehen zu müssen. Er hat sich in den kurzen Stunden übermenschlich gequält, aber er tat es aus Liebe zur Mutter, aus Liebe zu uns. Und so glaubt heute jeder das, was seine Kollegen und sein Freund am Grabe gesprochen haben, daß er hinschied in vollster Lebensfrische, daß er der gesunde und kräftige Mann war, für den sie ihn hielten.«

»Ich habe davon nichts gewußt«, stammelte Dietrich. »Warum habt ihr mir nie etwas darüber geschrieben?«

»Die Mutter duldete das nicht. Außerhalb dieser Mauern durfte niemand wissen, wie es um den Vater stand. Er sollte bis zum letzten Augenblicke so bleiben, wie ihn die Welt gekannt hatte. Und ich muß fast sagen, es ist ein Glück für den Vater, daß er so rasch starb. Er hätte noch furchtbar gelitten.«

Dietrich preßte die Lippen fest aufeinander, während er ruhelos im Zimmer auf und ab schritt. Armin aber fuhr fort: »Die Mutter hat es natürlich nur gut gemeint. Vielleicht glaubte sie auch, dem Vater über eine augenblickliche Schwäche hinweghelfen zu können. Als sie dann den Tod kommen sah, war sie gefaßt und ruhig.«

»Hat sich der Arzt nicht geäußert, ob diese Überspannung der Kräfte indirekt die Ursache des Schlaganfalles war?«

»Ich sagte dir schon, Dietrich, daß aus diesen Mauern nichts herausgedrungen ist. Weder der Arzt noch sonst ein Freund unseres Vaters weiß etwas von seinem Zusammenbruch. Es liegt auch im Sinne der Mutter, dieses Geheimnis weiterhin zu hüten.«

»Als ich vor zwei Jahren zum letzten Male bei euch war, ist Vater noch vollkommen gesund gewesen. Haben irgendwelche seelischen Einflüsse oder eine Krankheit ihn so rasch zusammenbrechen lassen?«

»Auch das ist eine Frage, die ich dir nicht beantworten kann. Es erschien mir allerdings einige Male, als sei der Vater in den letzten Jahren nicht mehr so ruhig wie früher. Du kennst sein schönes blaues Auge. Mir war es mitunter, als leuchte es nicht mehr in seiner alten Klarheit. Er starrte zuweilen sinnend vor sich hin, und auf meine Frage bei der Mutter wurde mir gesagt, daß Papa etwas ganz Besonderes Plane. Man möge ihn nicht belästigen. Es mag sein, daß ihn der Gedanke an ein neues, großes Werk so verändert hat. Ich habe niemals etwas anderes erfahren und glaube daher kaum, daß wir äußere Einflüsse zu suchen haben, die seinen Verfall erklären.«

»Ich begreife nur nicht, daß ein Mann, der so in der Öffentlichkeit stand, seine Krankheit derart verschleiern konnte, daß er bis zum letzten Augenblick als gesunder Mann galt, während er seit Monaten den Todeskeim in sich trug.«

»Das haben wir in der Hauptsache der Mutter zu verdanken.«

Dietrich strich sich mit der Hand über die Stirn.

»Zu verdanken«, sagst du. »Ich weiß nicht, ob wir ihr deshalb Dank sagen können.«

Armin drehte sich heftig in seinem Sessel um. »Warum nicht? Ist es nicht tausendmal besser, es heißt, der Vater ging im Vollbesitz seiner Kräfte von uns, als daß die Welt, die von seiner Krankheit weiß, anfängt, auch seine Kunst herabzuziehen? Tausend Beispiele haben gelehrt, daß man die Werke eines kranken Künstlers, auch wenn sie ebenbürtig den früheren zur Seite gestellt werden könnten, bemängelt. Welch eine grenzenlose Enttäuschung wäre es für Vater, für uns alle geworden, wenn die Welt das letzte große Prachtgemälde eines Roscher getadelt hätte. Die Gemäldegalerie steht bereits mit uns in Unterhandlungen, und somit wird auch Vaters letzter Schöpfung ein Ehrenplatz für die nächsten Jahrhunderte gesichert sein.«

»Es ist bewunderungswürdig, was er als Kranker noch geleistet hat. Ich möchte fast sagen, in diesem letzten Gemälde übertraf er sich selbst. Bis ins Innerste hat mich das Bild erschüttert. Ach, Armin, nur ein einziges Mal so etwas malen zu können!«

»Du bist noch jung, Dietrich, es wird dir auch gelingen. Du bist der Sohn deines Vaters, warum sollst du nicht auch seine Fähigkeiten haben?«

Ein bitteres Lachen kam von den Lippen des älteren Bruders. »Du meinst es gut mit mir, aber ich sehe ja selbst, was ich kann. Vor meinem Auge schwebt das Bild, aber wenn es dann zur Ausführung geht, versagt die Hand. Nein, ich bin kein Künstler, ich bin ein elender Stümper und ich bedaure es heute, daß ich nicht schon vor fünf Jahren, als mir die erste bittere Erkenntnis kam, diesem fruchtlosen Ringen ein Ende machte und mich einem anderen Berufe zuwandte. Was hat die Menschheit alles von mir erwartet. Ich habe sie bisher nur enttäuscht. Ich weiß sehr wohl, daß man meine ersten Bilder, die ich ausstellte, zu milde beurteilt hat, aber nur um im Sohne den Vater nicht zu treffen. Die, die es gut mit mir meinten, haben mir den Weg erschwert. Ich habe mich geschämt, als ich damals alle die Artikel lesen mußte, die über mich, als den werdenden Künstler erschienen. Nichts war ich, als der Sohn des berühmten Vaters. Ihr alle habt mir Fähigkeiten untergeschoben, die ich nicht besaß, und ich Tor, ich habe während all der Zeit meines Lernens tatsächlich daran geglaubt, daß der große Vater einen großen Sohn haben müsse. Erst viel später habe ich es eingesehen, daß ich gar nichts kann und daß man heute ein Recht hat, mich zu verspotten.«

»Laß solche Worte niemals die Mutter hören«, mahnte Armin. »Sie hat gerade in den letzten Monaten, da der Vater leidend war, die Hoffnung ausgesprochen, daß du fortsetzen werdest, was er, der zu früh starb, nicht vollenden konnte.«

»Ich – fortsetzen?«

»Sie will dir helfen. Verliere das Vertrauen nicht, Dietrich. Solange man an sich selbst glaubt, so lange besteht noch Hoffnung, sich empor zu ringen.«

»Und wenn ich diesen Glauben nicht mehr habe?«

Armin erhob sich.

»Das sind Stimmungen. Der Tod des Vaters lastet noch allzu schwer auf uns. Das wird alles wieder anders werden, wenn wir unsere innere Ruhe wiedergefunden haben. Du wirst dich erinnern, daß vor wenigen Jahren Stimmen auftauchten, die die Kunst unseres Vaters anzutasten wagten. Als er sein gewaltiges Gemälde Fegefeuer beendet hatte, schuf er in kurzen Abständen mancherlei Gutes. Da kam die Kritik und fing an zu tadeln. Ach, ich lese sie noch in Gedanken, diese gemeinen Äußerungen. Der Vater befände sich auf dem absteigenden Ast, er hätte sich mit dem Fegefeuer vollkommen ausgegeben. Es fehle ihm die neue Idee, sogar sein Farbensinn habe gelitten. Kurzum, es war abscheulich, wie sie ihn angriffen. Da hat er ein Jahr darauf schlagend bewiesen, wie sehr diese Schreier ihm unrecht getan haben. Und gar vor seinem letzten Gemälde, vor den Walküren, beugten sich auch die härtesten Widersacher und mit dieser Gloriole, die sein Haupt neu umstrahlte, ist er ins Grab gesunken.

Gewiß ein befriedigender Abschluß für ein Künstlerleben.«

»Und wenn man den Vater noch so sehr getadelt hätte«, fuhr Dietrich heftig auf, »so hat doch die Kritik anerkannt, daß er stets ein Künstler war. Mich aber tut man mit einigen flachen Redensarten ab. Man wagt es nicht, offen gegen mich vorzugehen, man beschönigt, man hofft auf meine Zukunft, und gerade daraus sieht die ganze Welt, daß ich unfähig zu großen Leistungen bin. Ich führe den Namen des Vaters, aber wenn ich länger Maler bleibe, so verdunkle ich nur seinen Ruhm, und nicht mehr lange wird es dauern, dann schlagen die jetzt noch wohlwollenden Stimmen um, und ihr alle werdet es erleben, daß ich hohnlachend in den Staub gezerrt werde, daß man vielleicht dem Toten noch die Schuld gibt, dessen sonst so klarer Blick hier getrübt erscheint, indem er den eigenen Sohn einer Kunst zuführte, die jener nur besudelte.«

»Von wem sprichst du?«

Bei den heftigen Worten Dietrichs hatte sich lautlos die Tür geöffnet, und die hohe Gestalt Melanies wurde sichtbar. Sie trug ein lang schleppendes schwarzes Kreppkleid, das um den Hals mit einer dicken Rüsche abschloß. Wirkungsvoll hob sie das schöne, stolze Antlitz aus den Stoffwolken empor, und bewundernd mußte Dietrich immer wieder aufs neue zugestehen, daß diese Frau trotz ihrer sechzig Jahre noch immer fast jugendlich wirkte, obwohl sich durch das dunkle Haar verschiedentlich weiße Fäden zogen. Ihn als Maler fesselte vor allen Dingen das klassische Profil, die selten schön geschwungenen Augenbrauen und das lebhafte und kluge Auge. Um den kleinen Mund waren allerdings ein paar Linien, die auf größte Energie zu deuten schienen, und wie sie jetzt in der noch immer geöffneten Tür stand und mit dem Blick forschend das Auge des ältesten Sohnes suchte, überkam Dietrich ein seltsames Gefühl innerer Abwehr.

Er sah in Gedanken die großen Augen der Mutter, die den erschöpften Vater immer wieder zur Arbeit antrieben, die ihn aufpeitschten, Übermenschliches zu leisten, harte stechende Augen, die nicht eher wieder losließen von den geliebten Zügen, als bis der unerbittliche Tod seine Hand ausgestreckt hatte.

»Ich habe deine letzten Worte gehört, Dietrich, und nehme an, daß eine seelische Depression dir dieselben auf die Zunge legte. Ich wünsche nicht, daß du solchen Gedanken Raum gibst, denn gerade du bist dazu ausersehen, den großen Namen deines Vaters auch weiterhin würdig zu vertreten.«

»Das sagst du, Mutter? Du, mit deinem klaren Blick? Ich weiß, daß du die treueste Helferin des Vaters gewesen bist. Du warst sein guter Geist. Vater nannte dich sogar in einem Briefe seinen Genius. Nun willst du mir sagen, daß ich dazu berufen sei, fortzuführen, was er begann? O nein, Mutter, im Gegenteil, in mir reift der Gedanke immer stärker, mich überhaupt abzuwenden von meinem Berufe und mir ein neues Leben aufzubauen. Noch bin ich jung, noch ist es Zeit nachzuholen, was versäumt wurde.«

»Das wollen wir gerade tun, Dietrich. Ich hoffe, daß du deinen Wohnort in Süddeutschland aufgibst und ständig bei uns bleibst. So wie ich deinen Vater, ich darf es ohne Überhebung sagen, auf den höchsten Gipfel des Ruhmes führte, werde ich auch dich emporführen zu ungeahnten Höhen, denn du trägst den berühmten Namen Roscher, und es wird dir nicht schwer fallen, würdig neben deinem Vater zu stehen.«

Beinahe erschrocken musterte Dietrich die Sprecherin. »Ich bin kein Künstler, Mutter, werde auch nie einer werden. Ich bin stets in meinem Denken und Empfinden ehrlich gewesen, bin mit offenen Augen durch die Welt gegangen. Ich weiß es, daß ich nichts leiste. Ich habe das ehrliche Streben gehabt, keine Schande an unseren Namen zu heften, ich hoffte, an der Seite des Vaters wachsen zu können. Aber es geht nicht. Mir fehlen die Fähigkeiten, und das, Mutter, das läßt sich nicht erlernen. Heute mit meinen zweiunddreißig Jahren weiß ich es, daß ich einen anderen Weg gehen muß, will ich nicht der Lächerlichkeit verfallen.«

»Ich will doch sehen, wer es wagen wird, den Sohn eines Maximilian Roscher anzugreifen. Unser Name steht turmhoch über den anderen. Dein Vater hat sich durch seine Leistungen einen Platz errungen, den ihm keiner streitig machen wird, und neben ihm steht seine Familie. Ich stehe neben ihm, ich und ihr! Selbst die Neider haben wir in den Staub gezwungen. Ich will doch sehen, wer es wagen würde, dich anzugreifen, wenn ich meine Hand über dich halte.«

»Glaubst du, Mutter, es könnte mich befriedigen, vom Ruhme des Vaters gehalten zu werden? Der Künstler will aus eigener Kraft emporkommen.«

»Du sagtest selbst, dazu fehle dir die Fähigkeit. So gehen wir den leichteren Weg, aber zur Höhe mußt du!«

»Du wirst anders darüber denken, Mutter, wenn du über mein Können genau orientiert bist. Ihr wißt ja kaum, was ich dort unten geleistet habe. Wenn du die elenden Stümpereien sehen wirst, die man mir aus Gnade und Barmherzigkeit, nur weil ich eben der Sohn eines berühmten Vaters bin, in die Ausstellungen aufnahm, so wirst auch du zu der Überzeugung kommen, daß es nicht in deiner Macht liegt, einen Stümper in einen Künstler zu verwandeln. Ich muß dir ehrlich sagen, ich habe es manchmal verflucht, daß ich den Namen Roscher trug. Mit welcher Neugierde, mit welcher Spannung sind mir die Menschen entgegengetreten. Aha, der Sohn des berühmten Mannes! Auf diesen Sohn muß sich doch das große Genie vererbt haben! Das Blut ist mir brennend heiß in die Wangen gestiegen, wenn die Neugierigen in meinem Atelier weilten, wenn sie nur mühsam ihre Enttäuschung verbargen. Sie suchten, suchten nach dem kleinsten Bild, über das sie auch nur ein Wort des Lobes hätten sagen können. So gingen sie schweigend, ich aber hab’ dann Lust gehabt, den ganzen Plunder zu nehmen und zu vernichten.«

»Das sind Künstlerlaunen«, klang es voller Ruhe zurück. »Auch darüber wirst du hinwegkommen, mein Sohn. Danke deinem Schöpfer, daß du den Namen Roscher trägst. Und nun kommt hinüber – der Tee wartet.«

2

Ratternd fuhr das Roschersche Luxusauto durch die Straßen, um vor einem bescheidenen Hause Halt zu machen. Die vierstöckige Mietskaserne machte keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck, mehrere kleine Läden füllten das Parterre aus, unter anderem auch ein Putzgeschäft. Neben der schmalen Ladentür befand sich ein ebenso schmales Schaufenster, in dem einige einfache, aber recht geschmackvolle Hüte ausgestellt waren.

Jetzt wurde das Auto von innen geöffnet, die schwarz verschleierte Gestalt Melanies wurde sichtbar, die dem Autoführer bedeutete, er möge eine Weile warten, sie werde in einer knappen Stunde wieder hier sein. Schon hatten sich eine ganze Reihe Neugieriger gefunden, die das elegante Auto mit offenem Munde bestaunten. Schmutzige Kinder kamen herbeigelaufen und starrten die feine Dame an, die jetzt im Innern des kleinen Putzladens verschwand.

Susanne Gallweit kam der Kundin entgegen, und ein freudiges Leuchten ging über ihr blasses, stilles Gesicht.

»Oh, gnädige Frau, Sie selbst, tausend Dank!«

»Mein Besuch gilt eigentlich nicht Ihnen, sondern Ihrer Mutter.«

»Die Mutter ist in der Küche, gnädige Frau.

Bitte, nehmen Sie Platz, ich will sie rufen.«

»Nein, nein, nicht hier«, wehrte Melanie. »Es ist mir lieber, Sie lassen mich hinten in Ihr Stübchen, dann werden wir von Ihren Kundinnen nicht gestört.«

»Haben Sie keine Sorge«, entgegnete Susanne, »Kunden verlaufen sich höchst selten zu mir. Das Geschäft will gar nicht gehen, es bringt kaum das Notwendigste ein. Aber ich verliere die Hoffnung nicht.«

Susanne geleitete den vornehmen Besuch in das anstoßende kleine Zimmer und eilte dann davon, um die Mutter zu holen.