Sarah Glicker
Seal Team 9
Sammelband 1
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Teil 1
Prolog
1
2
3
4
5
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7
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Teil 2
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Teil 3
1
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Impressum neobooks
Nachdem ein Einsatz in Syrien schiefgegangen ist, wurde Brady beurlaubt und hat seitdem nur noch schlechte Laune. Als Kendra in das Haus neben seines einzieht, geht er bei jeder Gelegenheit auf sie los. Als sie ihn jedoch mitten in der Nacht betrunken von der Polizei abholt, ändert sich seine Meinung und beide kommen sich näher. Allerdings dauert es nicht lange, bis Kendra sich in Gefahr befindet und Brady beweisen muss, dass er sie beschützen kann.
„Du willst es uns also wirklich nicht sagen?“, fragt mich einer der Männer, die mich vor ein paar Tagen durch einen dummen Fehler in Gefangenschaft genommen haben.
Allerdings ist fragen weit untertrieben. Er sieht mich mit einem drohenden Blick an und gibt mir so zu verstehen, dass ich ihm nicht ausweichen kann. Doch davon lasse ich mich nicht beeindrucken.
Beziehungsweise, ich gehe davon aus, dass es erst ein paar Tage her ist. So genau kann ich es nicht sagen, da ich mein Zeitgefühl verloren habe. Ich weiß nicht einmal, ob es gerade Tag oder Nacht ist, da ich mich immer nur in einer dunklen Zelle befinde.
Doch eigentlich ist das auch egal. Ich halte es einfach nur aus und hoffe, dass meine Leute irgendwann kommen und mich befreien. Nein, ich hoffe es nicht, schließlich weiß ich, dass sie das tun werden. Ich hoffe, dass sie das früher als später machen werden.
„Ihr werdet kein Wort von mir erfahren“, presse ich zwischen den Zähnen hervor. Dabei kann ich die Wut, die ich für mich empfinde, nicht für mich behalten.
Ich lasse keinen Zweifel daran, dass ich es genauso meine, wie ich es gesagt habe.
Mein Seal Team wurde nach Syrien geschickt, um dort ein paar Diplomaten zu befreien. Sie wurden nur gefangen genommen, weil ihre Sicherheitsleute zu dämlich waren, auf ihre Sicherheit zu achten. Und wenn man es genau nimmt, dann waren sie genau das.
Was soll ich sagen?
Die Diplomaten befinden sich in Sicherheit, dafür hat man mich gefangen genommen und hält mich nun fest.
Ich lasse ihn keine Sekunde aus den Augen. Daher kann ich mich auch auf das vorbereiten, was nun kommen wird.
In der nächsten Sekunde spüre ich, wie ein scharfer Schmerz durch meinen Körper fährt und presse die Lippen zu einer dünnen Linie aufeinander, um keinen Ton von mir zu geben. Mir ist bewusst, dass sie nur darauf warten, dass ich ihnen zeige, dass ich verletzlich bin. Doch genau das werde ich nicht machen.
Ich wurde dazu ausgebildet, genau das nicht zu tun. Damals hätte ich nicht gedacht, dass ich tatsächlich einmal in diese Situation kommen werde. Doch nun bin ich froh darüber, dass mein Ausbilder uns jeden Weg gezeigt hat, wie man damit fertig werden kann.
Zumindest für eine gewisse Zeit!
Langsam hebe ich meinen Blick und sehe ihn wieder an. Dabei erkenne ich das hinterhältige Grinsen, welches sich in sein Gesicht geschummelt hat.
„Wie ich sehe, bist du nun wieder anwesend“, erklärt er hinterhältig und wirft den Gürtel zur Seite, mit dem er mich auf den Rücken geschlagen hat.
Zu gerne würde ich ihm sagen, dass ich das schon die ganze Zeit bin und das er sich wünschen wird, dass ich mit meinem Geist woanders wäre. Denn sobald ich befreit werde, werde ich ihn noch umbringen.
Ich kneife meine Augen ein Stück zusammen und zeige ihm so, dass ich nicht darauf eingehen werde.
Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie einer der anderen Männer ihm einen Gasbrenner in die Hand drückt. Es ist nicht das erste Mal, dass ich ihn zu Gesicht bekomme. Daher weiß ich auch, was mich nun erwartet.
Innerlich beginne ich, mich auf das vorzubereiten, was als Nächstes kommen wird. Mein Puls geht flacher und meine Atmung ruhiger. Für einen Außenstehenden sieht es wahrscheinlich so aus, als würde ich mich gerade ganz woanders befinden. Doch das ist nicht der Fall. Ich bekomme alles von dem mit, was um mich herum geschieht.
Doch auch so werden sie kein Wort aus mir heraus bekommen. Ich würde eher sterben, als ihnen die Informationen über mein Team zu geben, die sie haben wollen.
Ich arbeite nicht nur mit diesen Männern zusammen, sie sind meine Familie und ich weiß, dass sie auch diese Schmerzen auf sich nehmen würden, wenn sie an meiner Stelle hier sitzen würden.
Als er sich mir nähert, spanne ich automatisch die Muskeln an. Ich spüre, wie die Hitze des Feuers durch die Poren meiner Haut dringt, als er den Brenner in meine Richtung hält. Als ich das Feuer schließlich auf meiner Brust spüre, würde ich am liebsten laut schreien. Doch irgendwie schaffe ich es, dass kein Ton über meine Lippen dringt.
Mir ist bewusst, dass ich Verletzungen und tiefe Narben davon tragen werde, die mich den Rest meines Lebens begleiten. Auch wenn ich diese Erinnerung vielleicht irgendwann zur Seite geschoben habe, so wird man es meiner Brust immer ansehen, was mit mir geschehen ist.
Doch ich bin kein Navy Seal geworden, weil ich bei der erstbesten Gelegenheit aufgebe. Ich hatte schon immer einen Dickkopf. Wenn ich etwas nicht will, dann mache ich es auch nicht. Nun habe ich die Gelegenheit zu zeigen, dass sich daran in den letzten Jahren nichts geändert hat.
Es erscheint mir so, als würde diese Tortur von Mal zu Mal noch länger dauern. Doch wundern würde es mich nicht.
Sie wollen herausfinden, wie weit sie gehen müssen und können, bis ich mein Schweigen breche.
Allerdings habe ich schon an meinem ersten Tag, eigentlich schon in dem Moment, in dem ich hier angekommen bin, aufgehört, die Minuten zu zählen und mich so von allem distanziert.
Und so werde ich das auch weiterhin machen, bis ich irgendwann befreit werde.
Brady
„Wollen Sie in dieser Stunde wieder schweigen?“, erkundigt sich mein Psychiater, als ich bereits seit einer viertel Stunde vor ihm sitze, ohne ein Wort von mir zu geben, und sieht mich herausfordernd an.
Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck erwidere ich seinen Blick. Auf diese Weise zeige ich ihm, dass ich besseres wüsste, was ich mit meiner Zeit anstellen könnte, anstatt erneut hier zu sitzen und die Zeit totzuschlagen.
Meine Muskeln sind angespannt und meine Hände haben sich zu Fäusten geballt. Ich werde mein Schweigen nicht brechen, weder jetzt noch sonst irgendwann. Ich habe überhaupt keinen Grund, das zu machen. An meiner Geschichte würde es ja doch nichts ändern.
Ich muss meinen eigenen Weg finden, um damit zu klarzukommen.
„Ich kann Ihnen dabei helfen, die Vorkommnisse zu verarbeiten“, erklärt dieser nun, als könnte er meine Gedanken lesen. So zieht er meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Das ist der Satz, den ich in den letzten vier Wochen in jeder Sitzung mehrmals gehört habe. So oft, dass ich es nicht mehr zählen kann. Doch auch dieses Mal ändert er nichts daran, dass ich den Mund halten werde.
Ich habe meine Entscheidung bereits für mich getroffen und es gibt keinen Grund, wieso ich nun eine andere Einstellung dazu haben sollte.
„Gut“, murmelt er schließlich, lässt sich nach hinten sinken und verschränkt die Arme vor der Brust. „Dann werden wir die restlichen fünfundvierzig Minuten schweigen.“
Mit diesen Worten legt er den Block, den er in der Hand hält, auf einen kleinen Tisch und verschränkt die Arme vor der Brust. Mir ist bewusst, dass er mich so aus meiner Reserve locken will, doch das wird er nicht schaffen.
Während meiner Gefangenschaft haben das schon andere versucht und sind gescheitert.
Auch wenn er nichts weiter dazu sagt, so merke ich, dass er mich aufmerksam betrachtet. Nichts entgeht ihm. Allerdings gehe ich nicht näher darauf ein, sondern beachte ihn nicht weiter. Mir ist bewusst, dass es sicherlich ein paar Soldaten gibt, die sich früher oder später verraten, doch ich wäre kein Navy Seal, wenn ich mich nicht besser unter Kontrolle hätte.
Als ich seine Praxis endlich verlassen kann, stapfe ich mit schlechter Laune an der Frau vorbei, die am Empfang sitzt, und knalle die Tür hinter mir ins Schloss. Es ist mir egal, ob sie etwas dafür können, oder nicht. Ich lasse keinen Zweifel daran, dass ich mit niemandem sprechen will. Und das schon alleine deswegen, weil ich wieder eine Stunde meines Lebens hier vergeuden musste.
Draußen bleibe ich einen Moment vor der Eingangstür stehen, atme tief durch, um mich wieder zu beruhigen, und beobachte die Menschen, die sich um mich herum befinden. Einige Sekunden betrachte ich sie. Dabei schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass sie Glück haben, dass sie nicht meine Erfahrungen machen mussten.
Dies ist etwas, was ich wirklich niemanden wünsche. Selbst meinen Teamkameraden nicht. Nachdem sie mich befreit haben, habe ich erst einmal nicht mit ihnen gesprochen. Ich brauchte ein paar Tage, bis die Wut verschwunden ist, die ich auf die Männer hatte, die mich gefangen gehalten haben. Doch das war nicht mein einziges Problem.
Die Verletzungen an meinem Oberkörper sahen sehr schlimm aus, sodass ich lange im Krankenzelt bleiben musste, bis ich schließlich ausgeflogen werden konnte. Und noch länger hat es gedauert, bis die Schmerzen endlich verschwunden sind. Obwohl sie das noch nicht einmal sind.
Noch immer spüre ich die Hitze des Feuers auf den Narben und spüre die Schläge mit den Seilen, die auf mich niedergegangen sind.
Schließlich setze ich mich in Bewegung und gehe die Straße hinunter. Ich halte auf die Kneipe zu, die sich an der nächsten Straßenecke befindet. Ohne zu zögern betrete ich sie und lasse mich an der Theke auf einen freien Hocker sinken.
„Tequila“, rufe ich der Frau zu, die sich hinter der Bar befindet.
Einen Augenblick sieht sie mich nachdenklich an. Ich weiß, dass sie niemals fragen würde. Schließlich bin ich nicht der einzige Mann, der sich hier besäuft, um sich nicht mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Doch das ändert nichts daran, dass sie sich darüber den Kopf zerbricht.
Kurz nickt sie, ehe sie nach einem kleinen Glas und der Flasche greift, die sich hinter ihr befinden.
„Ich nehme die Flasche.“ Mit diesen Worten lehne ich mich ein Stück nach vorne und nehme sie ihr aus der Hand.
Im ersten Moment sieht sie mich verblüfft an. Ich weiß, dass sie keine Ahnung hat, wie sie darauf reagieren soll, doch das ist mir egal. Und genauso egal ist mir, dass das wahrscheinlich nicht sehr oft passiert.
Die meisten Männer, die herkommen, besaufen sich wahrscheinlich langsam, sodass sie es merken, wie die Welt um sie herum langsam verschwimmt. Ich hingegen habe den Wunsch, diesen ganzen Mist zu vergessen. Und zwar so schnell es geht. Das kann ich nur, wenn ich mir die Kante gebe.
Ich nehme einen großen Schluck aus der Flasche, bevor ich mein Handy aus der Hosentasche ziehe. Mir ist bewusst, dass die Frau mich dabei nicht aus den Augen lässt. Doch ich kümmere ich mich überhaupt nicht weiter um sie. Stattdessen entsperre ich das Display und werfe einen Blick darauf.
Meine Freunde und Kollegen habe unzählige Male in den letzten Stunden versucht mich zu erreichen. Doch ich habe keinen der Anrufe entgegengenommen. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus war es die meiste Zeit so.
Sie machen sich Sorgen um mich und wollen mir helfen. Das weiß ich, doch ich will mich nicht mit ihnen sprechen. Sie würden mir nur sagen, dass ich mich wenigstens mit ihnen unterhalten soll, egal worum es geht, doch auch das will ich nicht.
Wir haben zwar den gleichen Job und sie würden mich verstehen, doch auch das ändert nichts an meiner Einstellung. Ich will sie mit dieser Geschichte nicht belasten. Und wenn wir es genau nehmen, würde ich genau das machen.
Ich will mich mit keinem darüber unterhalten!
In dem Moment, in dem ich das Telefon aus meiner Hand legen will, wird der nächste eingehende Anruf angezeigt. Doch ich beachte es nicht weiter. Stattdessen werfe ich es neben mich auf die Theke und nehme noch einen großen Schluck aus meiner Flasche.
Es dauert nicht lange, bis der Nebel um mich herum einsetzt und ich den ganzen Ärger vergesse, der in meinem Leben passiert ist. Wenigstens so weit, dass ich endlich wieder befreiter Atmen kann.
Was mir widerfahren ist, ist nichts, was man einfach zur Seite wischt und weiter macht. Mein Körper ist für immer entstellt und mein Leben ein Trümmerhaufen. All das, wofür ich die letzten Jahre gearbeitet habe, wofür ich mir den Arsch aufgerissen habe, ist in diesen wenigen Tagen in Syrien zerstört worden. Und bis jetzt habe ich keine Ahnung, ob ich überhaupt wieder in meinem Beruf arbeiten kann.
„Was?“, knurre ich einen der Gäste an, der wenige Meter von mir entfernt sitzt.
Nachdenklich sieht er mich an. Ein wenig macht er den Anschein auf mich, als würde er mich fragen wollen, welche Laus mir über die Leber gelaufen ist. Doch genauso schnell schaut er wieder zur Seite.
Kurz blickt er mich noch an, doch dann dreht er sich wieder in die andere Richtung.
Ist auch besser so, denke ich zähneknirschend.
Gerade trauen sich nur die Männer in meine Nähe, die mich kennen und mich einschätzen können. Sie können mir die Stirn bieten und haben kein Problem damit, sich auch mal mit mir zu prügeln, damit ich meine angestaute Energie loswerde. Und wenn man es genau nimmt, dann habe ich genau dazu Lust.
Ich habe Lust, mich mit dem nächstbesten zu prügeln. Und dabei geht es nicht einmal unbedingt nur um das Gewinnen. Nein, es wäre mir sogar recht, wenn ich verliere. Vielleicht würde mein Gegner mich bewusstlos schlagen und so dafür sorgen, dass ich mich wenigstens für einen kurzen Moment nicht mehr mit diesem Mist beschäftigen muss.
Seit zwei Stunden sitze ich schon in der Bar und habe nicht nur die Flasche Tequila leer gemacht, sondern auch mehrere Flaschen Bier in mich geschüttet. Doch nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen merke ich, dass es nichts bringt. Auf jeden Fall nicht in dem Ausmaß, wie ich es gerne hätte. Diese Erinnerungen lassen sich nicht fortwischen, egal wie sehr ich es versuche.
Da ich nicht mehr in der Lage bin, alleine nach Hause zu fahren, habe ich vorhin den einzigen Mann angerufen, der mir nicht ständig auf die Nerven geht. Klar, er wird sich auch den einen oder anderen Kommentar nicht verkneifen können, aber das ist mir egal.
Ryan hat mir einmal klar zu verstehen gegeben, dass ich mich jederzeit auf ihn verlassen kann. Doch er wird mir auch nicht jeden Tag damit auf die Nerven gehen.
Und darüber bin ich froh.
Sollte ich es mir irgendwann doch noch einmal anders überlegen, wovon ich nicht ausgehe, weiß ich, wo ich ihn finden kann.
„Ich hoffe, es hat sich wenigstens gelohnt“, stellt er fest, als ich aus der Bar getorkelt komme.
Ryan hat sich an seinen Wagen gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Ich erkenne das hinterhältige Grinsen auf seinen Lippen. Sein wachsamer Blick nimmt alles an mir in sich auf, sodass ihm nichts entgeht. Doch das ist unserer Ausbildung verschuldet. Sollten wir etwas übersehen, bezahlen wir es mit hoher Wahrscheinlichkeit mit unserem Leben.
Wäre ich noch etwas nüchterner, würde ich darauf eingehen. Doch ich bin mir sicher, dass er das nicht machen würde, wenn ich noch etwas nüchterner wäre.
Aus diesem Grund verkneife ich mir jeden Kommentar, um es nicht noch weiterzutreiben.
„Bring mich einfach nur nach Hause“, weise ich ihn an und lasse mich auf den Beifahrersitz sinken, nachdem ich an ihm vorbeigegangen bin.
An seinem Blick erkenne ich, dass er noch etwas von sich geben will. Doch er macht es nicht. Und das ist wahrscheinlich auch besser so. Stattdessen startet er schweigend den Wagen und bringt die ersten Meter hinter sich.
„Weißt du schon, wann du wieder zum Dienst kommen wirst?“, fragt er mich schließlich.
„Sehe ich aus, als würde ich wieder arbeiten wollen?“
„Ich könnte verstehen, wenn du es nicht tun wollen würdest. Doch wir beide wissen genau, dass das nicht der Fall ist. Du liebst deinen Job viel zu sehr, als dass du dich wirklich willst. Aber vielleicht würde es dir helfen, wenn du wenigstens mal wieder zum Training kommen würdest. Du weißt schon, um nicht aus der Übung zu kommen und um den Kopf frei zu bekommen.“
Auch wenn ich betrunken bin merke ich, dass er seine Worte ernst meint. Und ich muss wenigstens vor mir selber zugeben, dass ich es auch gerne würde. Doch ich kann es einfach noch nicht. Und ich weiß auch nicht, wann ich wieder dazu in der Lage sein werde.
Oder ob ich das überhaupt sein werde.
Als Antwort gebe ich nur ein schlecht gelauntes Brummen von mir. Sein leises Lachen zeigt mir, dass er mich verstanden hat und er sich auch ein klein wenig darüber lustig macht. Doch ich gehe nicht näher darauf ein. Stattdessen schließe ich lieber meine Augen, bis er vor meinem Haus stehen bleibt.
„Ich wusste ja gar nicht, dass du neue Nachbarn bekommst“, stellt er schließlich fest.
Langsam öffne ich meine Augen und betrachte den LKW, der in der Einfahrt des Nachbarhauses steht. Die Ladefläche ist geöffnet und ein paar Kartons stehen daneben verteilt.
„Na super“, grummle ich nur, schnalle mich ab und steige aus.
In der Sekunde, in der ich die Tür hinter mir schließe, sehe ich, dass eine junge Frau aus dem Haus kommt. Sie ist vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als ich. Ihre blonden Haare sind s lang, dass sie beinahe ihren Hintern berühren. Ihre Figur sportlich und passt perfekt in die engen Klamotten, die sie trägt und wirklich nichts der Fantasie überlassen. Jede einzelne Rundung kann ich erkennen.
Unter anderen Umständen würde ich versuchen, sie ins Bett zu bekommen, das ist mir sehr wohl bewusst. Und genau bewusst bin ich mir darüber, dass sie mir nicht entkommen könnte. Doch nun bin ich eher genervt von ihr, als sie mich freundlich anlächelt.
Ehe ich in meinem Haus verschwinden kann, kommt sie bereits auf mich zu.
„Hi, ich bin Kendra, die neue Nachbarin“, stellt sie sich mir vor und streckt mir ihre Hand entgegen.
Allerdings beachte ich sie überhaupt nicht, sondern gehe schweigend an ihr vorbei.
„Sie scheinen einen schlechten Tag zu haben.“
Kaum hat sie mit ihrer unsicheren Stimme die Worte ausgesprochen, drehe ich mich in ihre Richtung und gehe wieder zurück. Dabei sehe ich sie bedrohlich an. Doch aus irgendeinem Grund scheint es sie nicht zu interessieren.
Jede andere Frau würde jetzt wahrscheinlich einen Schritt nach hinten machen. Schließlich kennt sie mich nicht und hat keine Ahnung, ob ich wirklich eine Gefahr für sie darstelle, oder nicht. Doch Kendra betrachtet mich nur mit einem herausfordernden Blick, als ich mich ihr langsam nähere.
„Du kannst dir nicht einmal vorstellen, was für einen“, fahre ich sie an, bevor ich endgültig im Inneren meines Hauses verschwinde.
Kendra
Verblüfft sehe ich ihm nach.
Was war das?, frage ich mich, während ich in Gedanken noch einmal unsere kurze Unterhaltung durchgehe.
Doch ich finde, dass unsere Unterhaltung eindeutig zu kurz war, um wirklich einen Grund für seinen Ausraste zu haben. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob man sie wirklich als Unterhaltung bezeichnen könnte. Dafür war sie eindeutig zu kurz.
Als die Tür mit einem lauten Krachen hinter ihm ins Schloss fällt, zucke ich kurz zusammen, habe mich aber schnell wieder im Griff.
„Mach dir nichts draus. Er macht gerade eine harte Zeit durch“, erklärt eine weitere männliche Stimme, die sich hinter mir befindet. „Eigentlich ist er sehr umgänglich.“
Langsam drehe ich mich in die Richtung, aus der die Stimme kommt und betrachte den Mann. Er ist mindestens genauso groß und breit gebaut wie mein neuer Nachbar. Auf mich machen sie den Eindruck, als würden sie viel Zeit beim Sport verbringen.
Für einen kurzen Moment schießt mir die Frage durch den Kopf, was die beiden beruflich machen, denn irgendwie kommt es mir so vor, als wäre ihre körperliche Fitness wichtig dafür. Doch bevor ich mich näher damit beschäftigen kann, schiebe ich diesen Gedanken wieder zur Seite. Es kann mir egal sein und es ist mir auch egal.
„Dann bin ich ja froh, dass es anscheinend nichts mit mir zu tun hat.“
Ich lasse den Sarkasmus in meiner Stimme mitschwingen. Auf diese Weise zeige ich ihm, dass ich der Meinung bin, man kann sich dennoch etwas besser im Griff haben. Schließlich kann ich nichts dafür. Daher bin ich der Meinung, dass er seine schlechte Laune auch nicht an mir auslassen muss.
„Brady …“, beginnt er, beendet den Satz jedoch nicht.
Ich erkenne auf den ersten Blick, dass er mit sich selber ringt. Er sieht so aus, als würde er etwas sagen wollen, von dem er sich nicht sicher ist, ob er es von sich geben soll oder nicht. Und ja, ein wenig macht sein Verhalten mich neugierig. Schließlich würde ich schon gerne wissen, wer in meiner Nachbarschaft wohnt.
Doch ich gehe nicht näher darauf ein. Im Hinterkopf mache ich mir jedoch eine Notiz, dass ich ihn bei der nächsten Gelegenheit danach fragen werde. Und dabei ist mir egal, welchen von beiden ich nehme.
„Ich gehe mal davon aus, dass das der Name meines reizenden Nachbarn ist“, erkläre ich stattdessen und zeige in die Richtung, in die er verschwunden ist.
„Ja, das ist Brady. Nimm es einfach nicht persönlich, dass er dich so angegangen ist. Er ist zurzeit nicht er selber.“
Sein Freund sieht mich entschuldigend an.
„Das bin ich auch mal nicht, doch deswegen lasse ich meine Laune nicht an Menschen aus, die ich überhaupt nicht kenne. Aber ich werde mal darüber hinwegsehen, geschweige denn, er benimmt sich bei unserem nächsten Zusammentreffen nicht so.“
Mit diesen Worten gehe ich auf ihn zu und bleibe einige Meter von ihm entfernt stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er so aus, als würde er noch etwas dazu sagen wollen. Doch er geht nicht näher auf meine Aussage ein.
Ich kann nicht für mich behalten, dass ich wütend bin. Und von mir aus kann sein Kumpel das auch ruhig wissen. Dabei ist mir sehr wohl bewusst, dass er nichts dafür kann.
„Ich freue mich auf jeden Fall, dich kennenzulernen. Mein Name ist Ryan.“
Mit diesen Worten geht er um seinen Wagen herum und kommt auf mich zu. Mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht streckt er mir seine Hand entgegen, die ich ohne zu zögern ergreife.
„Kendra“, erwidere ich nur und sehe dabei noch einmal in die Richtung des Hauses, in dem Brady verschwunden ist.
„Ich bin mir sicher, dass wir uns nun öfter über den Weg laufen werden. Aber jetzt muss ich mich auf den Weg zum Stützpunkt machen.“
„Stützpunkt?“
Ich ziehe meine Augenbrauen ein Stück nach oben.
„Wir sind Soldaten.“
„Oh“, sage ich nur, da ich in diesem Moment die Befürchtung habe, dass das Verhalten meines Nachbarn etwas mit seinem Job zu tun hat.
Ich gebe zu, dass ich mich noch nie so genau damit beschäftigt habe. Doch ich weiß, dass man in diesem Beruf wahrscheinlich öfter in eine gefährliche Situation kommt, als es einem lieb ist.
Vor allem bei Auslandseinsätzen.
Doch ich behalte die Worte für mich. Es geht mich nichts an und deswegen würde ich mich wahrscheinlich sehr weit aus dem Fenster lehnen.
„Wir sehen uns“, verabschiedet sich Ryan von mir und steigt in seinen Wagen.
Einige Sekunden sehe ich ihm noch nach, ehe ich das letzte Mal zu dem Haus von Brady sehe. Doch bevor ich mich noch genauer damit beschäftigen kann, taucht meine Schwester auf.
„Du solltest den Umzugshelfern vielleicht sagen, wo das Sofa stehen soll. Sonst wirst du nachher noch alles wieder umräumen dürfen“, verkündet Lynn und bleibt neben mir stehen. Allerdings sieht sie in die andere Richtung, nämlich in den Transporter.
„Hmmm“, mache ich nur, da ich mit meinen Gedanken gerade ganz woanders bin.
Langsam sieht sie mich an.
„Ist alles in Ordnung?“
„Ja, ich habe gerade nur über etwas nachgedacht.“
Während ich spreche, werfe ich noch einen kurzen Blick auf das Haus von Brady, bevor ich mir einen der zahlreichen Kartons nehme, die vor der Laderampe stehen und verschwinde im Inneren meines Hauses.
Den restlichen Tag versuche ich mich mit der Einrichtung abzulenken. Doch die Wahrheit ist, dass das nicht so einfach ist. Immer wieder schaue ich zum Fenster hinaus zu seinem Grundstück. Doch ich kann ihn weit und breit nirgends entdecken.
Wundern tut es mich aber nicht. So betrunken wie er war, wird er sicherlich im Bett liegen, um seinen Rausch auszuschlafen.
„Wir sehen uns die Tage. Versuche es ruhig angehen zu lassen. Ich weiß, dass du am liebsten alles sofort fertig haben willst, aber das geht nicht von heute auf morgen“, weist mich meine Schwester an, als sie sich abends von mir verabschiedet.
Es ist so spät, dass die Sonne bereits untergegangen ist.
„Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Zwischendurch muss ich auch noch arbeiten und heute werde ich eh nichts mehr machen.“
Ein letztes Mal umarme ich sie, bevor sie sich umdreht und zu ihrem Wagen geht. Es dauert einen Moment, doch dann fährt sie vom Straßenrand an und verschwindet.
Seufzend gehe ich wieder ins Haus und sehe mir das Chaos an. Möbel und Kartons sind überall verteilt. Doch wie ich meiner Schwester schon gesagt habe, werde ich heute nichts mehr machen. Ich bin seit drei Uhr nachts wach und muss jetzt dringend schlafen, damit ich morgen neu starten kann.
Brady
Frustriert drehe ich mich auf den Rücken und starre an die Decke. Seit Wochen bin ich nun schon krankgeschrieben und langweile mich. Ich bin mir sicher, dass dies auch noch ein wenig so bleiben wird. Ich bin mir sicher, dass mein Therapeut es noch einige Male versuchen wird, bevor er mich an einen Kollegen verweist, der dann sein Glück versuchen soll. Sobald er allerdings merkt, dass er keinen Schritt weiter kommt, wird er mich testen, feststellen, dass ich einsatzfähig bin und mich wieder in den Dienst schicken.
Woher ich das weiß?
Weil es meistens so läuft!
Ich war zwar noch nie in dieser Situation, doch bei der Ausbildung wird kein Geheimnis daraus gemacht. Und ich habe es auch schon von ein paar Kollegen gehört.
Ich bin schließlich ein Navy Seal. Mit meiner Ausbildung und meiner Erfahrung kann man mich nicht ewig krankschreiben. Das werden auch die Therapeuten irgendwann einsehen.
Solange bleibt mir jedoch nichts anderes übrig, als mich selber fit zu halten, damit ich es leichter habe, wieder in das Training hineinzufinden, sobald ich wieder im Dienst bin.
Daher werfe ich die dünne Decke zur Seite und verlasse mein Bett. Schnell ziehe ich meine Trainingssachen an und binde meine Sportschuhe zu.
Ich will nicht mehr Zeit verlieren, als es unbedingt nötig ist.
So schnell wie möglich renne ich die Straße entlang, nachdem ich das Haus verlasse habe, in der ich wohne, und entferne mich so immer weiter von meinem zu Hause. Und je weiter ich renne, umso befreiter kann ich atmen. Es fühlt sich richtig an und mehr ist nicht für mich wichtig. Ein wenig kommt es mir so vor, als würden all meine Probleme verschwinden.
Schon früher war es so. Beim Sport konnte ich alles vergessen und mich nur noch auf mein Training konzentrieren. Es hat mir dabei geholfen, dass ich die Dinge von einer anderen Seite sehe.
Bei diesem Punkt hat das bis jetzt noch nicht funktioniert, denke ich zähneknirschend.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon unterwegs bin. Doch ich spüre die Energie, die durch meinen Körper fließt und weiß, dass ich noch eine Weile so weitermachen kann. Daher mache ich das auch.
Gerade gibt es nichts, was mich stoppen kann.
Ich will mich auspowern und den ganzen Mist vergessen, der in meinem Leben passiert und passiert ist. Und das geht nur, wenn ich laufe und trainiere.
Als ich irgendwann wieder in meine Straße einbiege, bleibe ich ruckartig stehen und atme tief durch, um meinen Puls wieder zu beruhigen. Auch aus dieser Entfernung kann ich meine neue Nachbarin erkennen. Kendra steht neben ihrem Wagen und scheint etwas daraus zu holen. Da ich mich jedoch auf der anderen Straßenseite befinde und ein paar Autos zwischen uns stehen, kann ich leider nicht so genau erkennen, was es ist.
Für einen Moment beobachte ich sie. Mir ist bewusst, dass ich gestern gemein zu ihr war, als ich sie einfach angegangen bin, nachdem sie sich mir vorgestellt hat. Sie hat nichts Böses gesagt oder getan. Dennoch ist es die richtige Entscheidung gewesen.
Sie kann und soll von Anfang an wissen, dass ich keine Lust habe, mich mit ihr zu unterhalten und sie mich in Ruhe lassen soll. Auf diese Weise will ich sie von mir fernhalten und so dafür sorgen, dass sie nicht mit diesem ganzen Mist belastet wird.
Denn das ist noch etwas, was ich von meinen Kollegen gelernt habe. Diese Geschichte belastet nicht nur einen selbst, sondern auch alle Menschen, mit denen man zu tun hat. Jeden einzelnen, der sich in der Nähe befindet.
Und das hat sie sicherlich nicht verdient.
Ohne darauf zu warten, ob sie ins Haus gehen will oder aus der Einfahrt fährt, setze ich mich wieder in Bewegung und halte direkt auf sie zu. Dabei lasse ich sie keine Sekunde aus den Augen. Sie scheint etwas zu suchen oder zusammenzuräumen, auf jeden Fall verraten mir das ihre Bewegungen.
Es dauert ein wenig, bis sie mich bemerkt, doch dann erkenne ich an ihrer Körperhaltung, dass sie nicht weiß, wie sie sich verhalten soll.
Sie spannt sich an und betrachtet mich aufmerksam, als würde sie meine Laune so herausfinden wollen. Ihre Lippen sind so dicht aufeinander gepresst, dass sie nur noch eine dünne Linie sind. Sie ist nicht nur unsicher, sondern auch wütend.
Ich habe die Hoffnung, dass sie kein Wort von sich gibt. Doch in dem Moment, in dem ich an ihr vorbeigehen will, bricht sie ihr Schweigen.
„Wie ich sehe, bist du wieder nüchtern“, stellt sie trocken fest. Gleichzeitig bildet sich ein kleines Grinsen um ihre Lippen.
Ruckartig bleibe ich stehen und drehe mich langsam zu ihr herum.
Ich lasse sie keine Sekunde aus den Augen, als ich mich ihr wieder nähere. Dabei lasse ich meinen Blick über ihren Körper wandern. Gestern ist mir nicht aufgefallen, wie scharf sie ist. Das leugne ich nicht. Ihre Rundungen passen perfekt zu ihrer Größe und wie ich finde auch zu ihrem frechen Mundwerk. Ihre blonden Haare, die ihr in weichen Wellen über die Schultern fallen, lassen sie noch ein paar Jahre jünger aussehen, als sie eigentlich ist. Und ihre Augen funkeln vergnügt.
Doch es ändert nichts an meiner Einstellung. Auch nicht für eine Nacht.
An oberster Stelle steht für mich, dass ich so schnell wie möglich wieder in den Dienst komme, ohne, dass ich mit jemanden über diese Erfahrung sprechen zu müssen. Und ich bin mir sicher, dass ich da auf dem besten Weg bin.
Ich sehe ihr an, dass es ihr immer unangenehmer wird.
Wahrscheinlich fragt sie sich gerade, wieso sie überhaupt etwas gesagt hat.
Ja, ich könnte sie einfach nicht beachten und in meinem Haus verschwinden. Doch ich habe nicht vor, sie schon gehen zu lassen.
„Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du ganz schön frech bist?“, erkundige ich mich.
Mit großen Augen sieht sie mich an, nachdem meine Worte bei ihr angekommen sind.
„Ich habe mich nur bei dir vorgestellt“, erinnert sie mich, obwohl sie das nicht muss. „Ich konnte ja nicht damit rechnen, dass du anscheinend zu betrunken warst, um dich freundlich zu verhalten. Zumindest habe ich das gedacht, bis jetzt. Jetzt stelle ich jedoch fest, dass dies bei dir aber wohl ein Dauerzustand ist.“
Mit zusammengekniffenen Augen sieht sie mich an und macht einen Schritt nach vorne. Einige Sekunden sieht sie mich einfach an. Es gibt ein paar Worte, die mir bereits auf der Zunge liegen und nur darauf warten, dass ich sie endlich ausspreche. Doch ich behalte sie für mich. Stattdessen warte ich ab, ob sie noch etwas dem hinzufügen will. Doch das macht sie nicht. Mit einem leisen Schnauben dreht sie sich um und lässt mich einfach stehen.
Ich kann nicht verhindern, dass sich ein kleines Grinsen bei ihrem Abgang auf meinem Gesicht bildet. Ich muss zugeben, dass sie mir gefällt. Sie hat ein Temperament, was ein wenig erfrischend ist.
Mir ist bewusst, dass es nicht unbedingt einfacher deswegen für mich ist. Doch aus genau diesem Grund werde ich mich nicht weiter damit beschäftigen.
Ich sehe ihr nach, bis sie in ihrem Haus verschwunden ist. Erst dann gehe ich in meines.
Kendra
Ich bin genervt. Anders kann ich es nicht beschreiben. Eigentlich gibt es dafür auch keinen anderen Ausdruck, als genau dieses eine Wort. Und auch während der Fahrt zu meiner Arbeitsstelle kann ich dieses Gefühl nicht zur Seite schieben.
In den letzten Jahren habe ich es immer geschafft, meinen privaten Ärger in den Hintergrund zu schieben, sodass er mir auf der Arbeit nicht im Weg steht. Doch während ich durch den dichten Verkehr fahre, ahne ich bereits, dass es mir dieses Mal nicht gelingen wird.
Und das nur, weil der Typ mir näher geht, als er es eigentlich sollte.
Mir ist bewusst, dass das nicht gut ist. Ändern kann ich es leider aber auch nicht.
Immer wieder denke ich darüber nach, was sein verdammtes Problem ist. Sein Freund hat mir zwar gesagt, dass ich es nicht persönlich nehmen soll. Doch irgendwie mache ich das. Schließlich habe ich ihm nichts getan und dementsprechend hat er auch keinen Grund, mich so anzugehen. Und das weckt die Neugierde in mir.
Ich denke sogar darüber nach, ob es etwas mit seinem Job als Soldat zu tun hat. Aus Erfahrung weiß ich, dass diese Männer und Frauen Dinge sehen und tun müssen, die nicht immer leicht zu verarbeiten sind.
Wenn er keine Lust hat, sich mit mir zu unterhalten, soll er es einfach sagen. Um genau zu sein habe ich auch keine Lust mit jemanden zu sprechen, der sich so wenig unter Kontrolle hat, wie das bei ihm anscheinend der Fall ist. Obwohl ich nicht einmal sagen kann, ob es wirklich daran liegt oder einfach, weil er ein Arschloch ist.
Doch wenn ich ehrlich bin muss ich zugeben, dass ich eher zu der zweiten Möglichkeit tendiere. Es ist egal, was einem passiert ist, man sollte schon auseinanderhalten können, wer etwas damit zu tun hat, und wer nicht.
Und ich gehöre eindeutig zu der letzten Gruppe.
Als ich die Praxis betrete, in der ich arbeite, habe ich die Hoffnung, dass ich diesen Mist loswerden kann, als ich einen Blick auf meinen überfüllten Schreibtisch werfe. Ich will mich auf meine Arbeit konzentrieren und nicht weiter an ihn denken. Vor allem deswegen, weil es eh nichts ändern würde. Allerdings brauche ich nicht lange, um festzustellen, dass dies nicht so leicht ist.
Während der nächsten Stunden wandern meine Gedanken immer wieder zu ihm. Dabei ist es egal, wie sehr ich versuche, mich auf andere Dinge zu konzentrieren.
Als ich mich abends auf den Weg zu meiner Schwester mache, habe ich noch immer keine Lösung gefunden, die es mir ermöglicht, besser mit ihm umzugehen. Und das bedeutet, dass ich keine Ahnung habe, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll.
Dieser Mann hat eine Art an sich, die es mir beinahe unmöglich macht, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Und das nicht nur deswegen, weil er den Arsch heraushängen lässt.
„Du hast ja keine Ahnung, was hier zurzeit los ist“, begrüßt mich diese und schließt mich in ihre Arme, nachdem sie ihre Wohnungstür geöffnet hat.
„Was ist denn los?“
Während ich spreche, begutachte ich das ganze Werkzeug, welches im Flur liegt. Außerdem sind irgendwelche Ersatzteile dort noch verteilt, mit denen ich jedoch nichts anfangen kann.
„Neben uns haben sie die Handwerker im Haus, Wasserrohrbruch. Ich kann dir sagen, das ist nichts Gutes. Sie haben keine Ahnung, wie lange sie brauchen werden, da sie nicht absehen können, welche Wohnungen es betrifft. Gerade sehen sie bei mir nach. Bei mir steht zwar nichts unter Wasser und so wie es aussieht, sind die Wände auch trocken, aber sie wollen sichergehen.“
Meine Schwester verzieht das Gesicht und zeigt mir so, dass sie nicht sehr glücklich darüber ist. Doch das kann ich nachvollziehen. Die Vorstellung, dass man meine Wände aufreißen würden, sorgt auch nicht unbedingt dafür, dass ich gute Laune hätte.
„Wenn du willst, können wir uns auch an einem anderen Tag treffen“, schlage ich ihr vor. „Es muss nicht unbedingt jetzt sein.“
Ich sehe kurz an ihr vorbei in den Flur, der zum Badezimmer führt. Dort kann ich zwei Handwerker hören, die sich anscheinend über irgendwelche Messergebnisse unterhalten. Doch genau kann ich das nicht sagen.
„Nein, alles in Ordnung. Wir müssen nur leider in der Wohnung bleiben. Ich kann die Handwerker ja schließlich schlecht hier alleine lassen.“
„Das ist überhaupt kein Problem.“
Kaum habe ich ausgesprochen, ergreift sie meine Hand, zieht mich hinter sich her in die Wohnung und bedeutet mir mit einem Knopfnicken, dass ich mich auf ihr großes Sofa setzen soll.
„Nun erzähl aber mal, wie das neue Haus so ist. Ich gebe zu, dass ich neidisch auf dich bin. Ich hätte auch gerne ein Haus, warte aber, bis ich einen Freund habe und nicht mit allen Kosten alleine dastehe.“
„Du weißt aber schon, dass ich es nur gemietet habe, oder?“, erinnere ich sie und grinse sie dabei frech an.
„Ich weiß. Doch das ändert nichts daran, dass die Kosten eindeutig höher sind, als bei meiner kleinen Wohnung.“
Abwartend sieht sie mich an.
In kurzen Sätzen beantworte ich die Frage meiner Schwester.
Dabei überlege ich aber gleichzeitig, ob ich sie bezüglich meines reizenden Nachbarn um Rat fragen soll. Doch schnell verwerfe ich diese Idee wieder. Ich würde gerne ihre Meinung dazu hören. Doch meine Schwester ist dafür bekannt, dass sie auch gerne einmal über das Ziel hinaus schießt. Sie würde nur alle möglichen Theorien aufstellen, wieso er so darauf ist.
Und in diesem Fall müsste ich zugeben, dass ich mir selber schon den Kopf darüber zerbrochen habe.
Etwas, was ich nicht will.
Es reicht schon so, dass ich den ganzen Tag an ihn denken musste. Da will ich mich jetzt nicht auch noch über ihn unterhalten. Sollte sein Verhalten sich mir gegenüber allerdings nicht ändern, werde ich das auf jeden Fall machen und mir alles anhören, was sie zu sagen hat.
Nachdem die Handwerker verschwunden sind, und zum Glück nichts gefunden haben, bestellen wir uns eine Pizza und sehen uns einen Film an. Auch wenn ich es nicht schaffe, Brady ganz aus meinem Kopf zu verbannen, steht er wenigstens nicht mehr ganz oben, worüber ich froh bin.
Brady
Schweigend sieht mein Therapeut mich durch seine Brille an. Er hat die Hände gefaltet auf dem Schoss liegen und lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Ich kenne diesen Blick und weiß daher auch, was gerade in seinem Kopf vor sich geht.
Es gab mal eine Zeit in der Schule, in der hat mein Direktor mich mindestens einmal in der Woche so angesehen, meistens war es sogar noch öfter.
Ja, ich war kein Musterschüler und bin sehr oft aus der Reihe getanzt. Erst bei der Navy hat es sich gebessert und ich habe angefangen, mich an manche Regeln zuhalten.
Meine Eltern hatten sich einen Spaß daraus gemacht und gemeint, sie hätten mich schon eher hinschicken sollen, wenn sie das gewusst hätten. Ich habe es ihnen nicht immer leicht gemacht. Doch ich bin froh darüber, dass sie es mir nie krumm genommen haben. Stattdessen haben sie mich immer unterstützt, damit ich meine Ziele erreiche.
Und dann bin ich ein Navy Seal geworden.
„Vielleicht sollten wir uns über Ihre Kindheit unterhalten“, erklärt er schließlich und bricht so das Schweigen, welches sich in den letzten Minuten zwischen uns ausgebreitet hat.
Ich ziehe meine Augenbrauen ein Stück nach oben und zeige ihm so, dass ich keine Ahnung habe, was er damit bezwecken will. Und die Tatsache, dass er nicht näher darauf eingeht, zeigt mir, dass er will, dass ich etwas von mir gebe.
„Meine Kindheit?“, frage ich ihn schließlich, als er auch nach einer Ewigkeit keine Anstalten macht, mir zu antworten.
Nun bin ich derjenige, der ihn keine Sekunde aus den Augen lässt. Ich versuche seine Körpersprache zu lesen. Doch dafür kenne ich ihn nicht gut genug.
„Sie haben mich richtig verstanden. Wie war das Verhältnis zu Ihren Eltern? Haben Sie Geschwister? Wo sind Sie aufgewachsen? Ich würde gerne mehr über Sie erfahren.“
Mir ist bewusst, dass er das durchaus ernst meint. Dennoch kommt es mir so vor, als würde er sich einen Scherz erlauben.
„Das Verhältnis zu meinen Eltern war gut und das ist es auch jetzt noch. Die Antworten auf die anderen beiden Fragen stehen bestimmt in meiner Akte“, antworte ich, wobei ich nicht für mich behalten kann, dass ich ein wenig genervt bin.
Wenn es etwas gibt, worüber ich mich noch weniger unterhalten will, dann ist es definitiv meine Kindheit. Das hat nichts damit zu tun, dass sie scheiße war. Doch sie ist schon lange her und hat nichts mit diesem Problem zu tun.
Allerdings würde mich interessieren, wie er nun auf dieses Thema kommt.
„Es steht alles in Ihrer Akte, in diesem Punkt haben Sie recht. Es ist jedoch so, dass es nicht Sinn der Sache ist, wenn wir hier wieder eine Stunde sitzen und uns anschweigen. Daher dachte ich mir, dass wir uns auch über etwas unterhalten können, mit dem Sie keine Probleme haben. Und wenn ich das richtig mitbekommen habe, ist das mit Ihrer Kindheit eindeutig der Fall. Zumindest konnte ich nichts Gegenteiliges darüber in Erfahrung bringen.“
Seufzend fahre ich mir über den Nacken und versuche so die Verspannungen in meinen Muskeln zu lösen, die immer größer werden. Allerdings gelingt mir dies nicht so gut, wie ich es gerne hätte.
„Sie wollen sich also tatsächlich über meine Kindheit unterhalten?“, frage ich ihn ein weiteres Mal.
„Berichten Sie mir etwas, was nicht in dieser Akte steht. Was waren Ihre Hobbys? Wer war Ihr bester Freund?“
Während er spricht, deutet er auf den Papierhaufen, der zwischen uns auf dem Tisch liegt. Nachdenklich sehe ich ihn an. Es gibt einiges, was nicht dort steht. Und das aus dem einzigen Grund, weil es nie wichtig war.
Allerdings sind es auch viele Dinge, bei denen ich mir sicher bin, dass ich meinen Job verlieren würde, wenn ich sie jemanden erzählen würde. Und das will ich nun wirklich nicht. Daher behalte ich sie nun auch für mich.
„Ich habe mit meinen Freunden das gemacht, was alle Jungs auf dem Land tun“, sage ich also.
Ich hoffe, dass diese Worte diplomatisch genug sind und er sie akzeptiert. Doch als ich einen Blick in sein Gesicht werfe erkenne ich das freche Funkeln in seinen Augen und weiß, dass er mich richtig verstanden hat.
„Was haben Sie denn gemacht?“, erkundigt er sich nun.
Seufzend lasse ich mich nach hinten sinken. Dabei krame ich in meinem Gedächtnis nach etwas, was ich ihm berichten kann. Schließlich finde ich etwas, was nicht ganz so schlimm ist.
„Wir haben Trecker im See versenkt, gegen Stromzäune gepinkelt und solche Sachen.“
Ich zucke mit den Schultern und zeige ihm so, dass es keine große Sache war.
Kurz habe ich die Hoffnung, dass er nun doch das Thema wechselt. Doch in der nächsten Stunde zeigt er mir, dass er das nicht vorhat.
Wir unterhalten uns über alles Mögliche, was in meiner Kindheit passiert ist. Ich bin froh darüber, dass er dieses Thema angesprochen hat, obwohl ich weiß, dass er so nur das Eis zwischen uns brechen wollte. Doch ich habe auch keine Lust, mich über den eigentlichen Grund zu unterhalten, wegen dem ich hier bin. Ich habe es ihm in den letzten Wochen schwer genug gemacht, da will ich ihm wenigstens dieses Erfolgsgefühl geben.
„Sehen Sie? Das war ja eigentlich gar nicht so schwer. Das nächste Mal schaffen wir es, uns über das zu unterhalten, was in Syrien geschehen ist.“
Mir ist bewusst, dass er sich seiner Sache sicher ist. Doch diese Sicherheit werde ich ihm schnell wieder nehmen, wenn es so weit ist.
„Das wichtigste ist, dass die Geschehnisse meinen Job nicht beeinflussen wird. Daher werde ich mich auch nicht darüber unterhalten. Es ist nicht immer gut, wenn man sich über alles unterhält“, erkläre ich ihm, während ich die Tür öffne. „Ich wurde während meiner Ausbildung darauf vorbereitet, dass so etwas geschehen kann. Aus diesem Grund war es keine Überraschung für mich. Bei jedem Einsatz kann etwas schiefgehen und man landet in dieser Situation.“
Mit diesen Worten drehe ich mich herum, halte jedoch mitten in der Bewegung sofort inne, noch bevor ich den Flur richtig betreten habe.
Nur wenige Schritte von mir entfernt, steht die Frau, mit der ich hier überhaupt nicht gerechnet habe. Und ehrlich gesagt sieht sie nicht so aus, als wäre sie ein Patient. Nein, sie hat ein Namensschild an der Bluse und weißt sich so als Mitarbeiterin aus.
Geduldig bleibe ich an Ort und Stelle stehen. Es dauert einen Moment, doch dann dreht sie ihren Kopf in meine Richtung und entdeckt mich auch.
Im ersten Moment macht es den Eindruck auf mich, als würde sie nicht genau wissen, wie sie darauf reagieren soll, dass ich ihr ausgerechnet hier über den Weg laufe. Verwunderung macht sich in ihrem Gesicht breit, während sie mitten im Flur stehen bleibt.
Aber ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, wie ich mich verhalten soll. In der nächsten Sekunde kneift sie jedoch ihre Augen ein Stück zusammen.
In diesem Moment weiß ich, dass sie die Überraschung überwunden hat. Sie stemmt die Hände in die Hüften und sieht mich herausfordernd an.
Gleichzeitig erkenne ich aber auch das Funkeln in ihren Augen, welches mich beinahe anzieht, als wäre es ein Magnet.
Einen Moment denke ich darüber nach, ob ich darauf eingehen soll. Mir liegen bereits ein paar Worte auf der Zunge, die ich von mir geben könnte. Dann entscheide ich mich dafür, dass ich mir diese Chance nicht entgehen lassen kann.
Dabei ist es mir egal, dass sie hier arbeitet und er mein Arzt ist.
Daher verabschiede ich mich von dem Arzt und gehe dann zu ihr.
„Wieso wundert es mich nicht, dass du hier bist?“, frage ich sie und bleibe dicht vor ihr stehen.
Da ich ein Stück größer bin als sie, muss sie ihren Kopf ein wenig in den Nacken legen, damit sie mich ansehen kann. Dabei komme ich nicht drumherum zuzugeben, dass ich ihr vielleicht etwas zu nah gekommen bin. Das macht mir vor allem die Tatsache klar, dass ihr Parfüm mir in die Nase steigt.
Es lenkt mich ein wenig ab, sodass ich mich zusammenreißen muss, damit ich mich wieder auf unsere Unterhaltung konzentriere. Gerade gehen mir nämlich auch Bilder von Dingen durch den Kopf, die ich auch mit ihr machen könnte.
„Im Gegensatz zu dir arbeite ich hier. Ich kann diese Erkenntnis also durchaus zurückgeben.“
Ihre Augen funkeln vergnügt. Daran erkenne ich, dass ihr unser Schlagabtausch anscheinend gefällt. Daher lehne ich mich noch ein Stück nach vorne und komme ihr so noch näher, was es mir aber auch nicht einfacher macht.
Ich sehe ihr an, dass sie sich unsicher ist, wie sie sich verhalten soll. Und das freut mich. Auf diese Weise merke ich, dass ich einen gewissen Einfluss auf sie habe. Auch wenn das wahrscheinlich nicht gut ist, freue ich mich doch darüber.
Im Gegensatz weiß ich sehr gut, was ich machen soll und das zeige ich ihr auch.
„Wie es aussieht, lernen wir alle immer etwas Neues dazu“, flüstere ich ihr leise ins Ohr und verschwinde dann, bevor sie noch etwas darauf erwidern kann.
Mir ist bewusst, dass meine Anwesenheit sie nervös werden lässt. Und das freut mich. Es zeigt mir, dass ich eine gewisse Wirkung auf sie habe, der sie sich nicht entziehen kann.
Kendra
Ich kann überhaupt nicht in Worte fassen, wie genervt ich von seinem Verhalten bin. Sprachlos schaue ich ihm nach, wofür ich mir in den Hintern treten könnte. Nachdem er die Praxis verlassen hat, kneife ich die Augen ein Stück zusammen und gebe einen frustrierten Ton von mir. Als ich in die Richtung des Büros meines Chefs sehe, erkenne ich, dass er uns anscheinend die ganze Zeit beobachtet hat.
Nun bildet sich ein freches Grinsen auf seinem Gesicht. Kurz sehe ich ihn an, bevor ich mich umdrehe und wieder an meine Arbeit gehe. Gerne würde ich ihm sagen, dass ich nichts mit einem Patienten habe. Doch ich behalte die Worte für mich, da ich nicht auch noch Öl ins Feuer gießen will.