Ebook Edition
Nachdenken über Deutschland
Das kritische Jahrbuch 2017/2018
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ISBN 978-3-86489-689-7
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017
Umschlag: Frank Koschembar, mxd, Westend Verlag GmbH
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Trump! Selbst beim Nachdenken über Deutschland kommt einem dieser Mann sofort in den Sinn und in die Quere. Ein Glücksfall für Karikaturisten, Kabarettisten, Comic-Schreiber und Spieltheoretiker, ein Albtraum für die Welt.
Er war unlängst in Hamburg zum Treffen der G20 und rief den Ausnahmezustand nicht nur bei den Medien und der rot-grünen Stadtverwaltung mit ihrem gesamten Sicherheitsapparat hervor. Er legte sich wie die Gullydeckel, die die Polizei vorsorglich versiegelt hatte, auf manche kritischen Geister in ihrer globalen Kritik, die ansonsten genau zwischen NATO und G20 zu unterscheiden wissen. Die Anwesenheit der einzig wirksamen Gegenspieler, Wladimir Putin und Xi Jinping, wurde nur dann wahrgenommen und erwähnt, wenn sie sich mit Trump trafen. Allerdings versäumten sie es auch, mit deutlichen Worten der Kritik auf sich aufmerksam zu machen, wie seinerzeit Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2015. Das wäre nötig gewesen, um etwa bei dem Thema Afrika jene Probleme anzupacken, die dort brennen: Landraub, Rohstoffkriege, Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel, Entschuldung der ärmsten Länder dieser Welt. Dass nichts von alledem angesprochen wurde nimmt nicht wunder, schließlich war auch nur Südafrika vom ganzen Kontinent dabei. Der jahrzehntelange Raubbau an landwirtschaftlichen und mineralischen Rohstoffen, der unter den falschen Etiketten der Entwicklungshilfe und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) nichts zur Beseitigung der Armut und des Hungers wohl aber zur Versorgung der Industrien der imperialistischen Staaten beigetragen und zu zahllosen Kriegen geführt hat, wird weitergehen. Horst Köhler, der neue UN-Sonderbeauftrage für Westsahara, pflegte lange vor seiner Bundespräsidentschaft die Verträge der europäischen Staaten mit Afrika mit den Worten zu kommentieren: »Der Kolonialismus blüht noch.« Er blüht immer noch, denn der sogenannte Pakt mit Afrika (Compact with Africa), der die neue G20-Partnerschaft mit Afrika begründen soll, verläuft in den alten Bahnen. Er orientiert sich vorwiegend an den Interessen der Industrieländer und deren Chancen für Großinvestitionen. Die von den G20 geplanten Freihandelsabkommen, die schon ihrer Struktur nach die starken Ökonomien gegenüber den schwachen bevorteilen, enthalten zusätzlich das Verbot der Diskriminierung internationaler Konzerne, denen der Zugang zu Rohstoffen und Märkten noch weiter geöffnet werden soll.
Zwei Tage im Juli, man hat sich getroffen, Beethovens »Ode an die Freude« in Hamburgs neuem Stolz Elbphilharmonie gehört, ein nichtssagendes Schlusskommuniqué hinterlassen und den Spitzenhotels um die Alster einen kräftigen Gewinn beschert. Was Jean Ziegler als »illegitim und illegal« beschimpfte, war nichts anderes als große Operette. Das wäre uns erspart geblieben, hätte der Senat seine Gäste auf zwei Kreuzfahrtschiffe eingeladen und nach zwei Tagen auf der Nordsee wieder verabschiedet. Er hätte auch das vermieden, was an ihm haften bleibt, das Versagen seiner Institutionen und Sicherheitsstrategie durch massive Polizeigewalt. Er war offensichtlich bereit, dem Komfort seiner Gäste das unterzuordnen, was das Grundgesetz den Bürgerinnen und Bürgern an demokratischen Grundwerten und rechtsstaatlichen Garantien gewährt. Mit 20 000 Polizeikräften wollte er mit einer Null-Toleranz-Strategie – kein Zentimeter – jede Form des Protestes schon im Ansatz ersticken und heizte mit der Räumung eines höchstrichterlich genehmigten Camps schon im Vorfeld der Proteste die Stimmung an. Als er dann die friedlich begonnene »Welcome to Hell«-Demonstration wegen einiger vermummter Demonstranten schon nach wenigen Metern mit Wasserwerfern angriff, brach Panik aus und spätere Konfrontationen kündigten sich an. Ich werde den Verdacht nicht los, dass mein ehemaliger Student und heutiger Bürgermeister, Olaf Scholz, bei diesem autoritären, Gesetz und Gerichte großzügig überfahrenden Kurs an den 17. Februar 1962 gedacht hat, als sein berühmter Vorgänger Helmut Schmidt »zur Legende wurde«, wie Wikipedia heute schreibt. Damals kümmerte sich Schmid weder um Grundgesetz noch die Landesverfassung, um die plötzlich hereinbrechende Flutkatastrophe mit Bundeswehr und NATO-Unterstützung zu bekämpfen. Man mag Trump-Besuch und Flutkatastrophe in eine ähnliche Gefahrenstufe einordnen, aber dieser Schritt zur Legende ging gründlich daneben. Und was weiter zum Nachdenken Anlass gibt, ist die immer autoritärere Ausweitung der Kampfzone gegen bürgerlichen Protest und zivilen Widerstand im Namen von Sicherheit, Ruhe und Ordnung und die abnehmende Souveränität zu Toleranz, Großzügigkeit und politischer Kontroverse im Zeichen der Angst. Die herrschende Klasse ahnt die Herausforderung und nutzt ihre Instrumente. Ihre auch offen erklärte Sehnsucht umschreibt Peter Sloterdijk kurz: »Wo Politik war, wird betreutes Dahindämmern«.
Während die Atommächte in Hamburg über Investitionschancen in Afrika berieten, schlossen gleichzeitig in New York 122 Staaten einen Vertrag über ein Verbot der Atomwaffen. Niemand regte sich über das Fernbleiben der Atommächte auf. Politik und Medien zeigten überwiegend Verständnis für diese Provokation und unterließen auch den Hinweis, dass es Obama und nicht Trump war, der die NATO-Staaten mehrfach nachdrücklich davor gewarnt hatte, an dieser Konferenz teilzunehmen und den Vertrag zu unterschreiben oder sich nur der Stimme zu enthalten. Alle Staaten gehorchten, außer der Niederlande. Es ist also nicht alles Trump, was diese Welt an den Abgrund treibt, aber dennoch genug, um sie endgültig in den Abgrund zu versenken. Trumps unverhüllte Drohung mit Atomwaffen gegen Nordkorea ließ selbst Mitglieder der »Grand Old Party« erschauern. Man kann sich auch nicht mit dem zweifelhaften Satz, dass bellende Hunde nicht beißen, oder der Tatsache, dass praktisch alle Präsidenten der Nachkriegszeit direkt oder indirekt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht haben, beruhigen. Ob Bush oder Obama, alle Administrationen haben das Angebot Pjöngjangs, auf ihr Atomprogramm zu verzichten, abgelehnt, weil sie nicht bereit waren, im Gegenzug einen Gewaltverzichtsvertrag mit Nordkorea abzuschließen oder einseitig auf Gewalt zu verzichten und die Großmanöver einzustellen. Sie haben ihre politischen Handlungsmöglichkeiten auf Sanktionen und Gewaltdrohungen reduziert, in dieser Zwangsjacke steckt jetzt auch Trump. Wer aber wie Trump innenpolitisch erfolglos und isoliert unter verstärktem Druck steht und plötzlich als Vergeltung für einen unbewiesenen Giftgaseinsatz entgegen allen Regeln des Völkerrechts einen Raketenangriff gegen den syrischen Luftstützpunkt Shayrat anordnet, sollte nicht über Atomwaffen verfügen. Niemand wird ihn dort einfangen können – schon gar nicht die deutsche Bundesregierung, die in ihrer Unterwürfigkeit nur noch von der Ukraine übertroffen wird, und dieses Kriegsverbrechen als »nachvollziehbar« abhakte.
So unterhaltsam dieser Chaot auf Twitter sein mag, wo er seinen Rassismus und Chauvinismus offen ausleben darf und die USA wie seine 501. Firma als Familienunternehmen führt, Trump ist kriegsgefährlich. »Gefährlicher als der IS«, wie sein Landsmann Noam Chomsky meint, und die Republikanische Partei gleich mit einbezieht. Das Schlimmste komme noch – gleiches wird uns vom IS mit zunehmendem Verlust seines eroberten Territoriums vorausgesagt. Chomsky sieht Trump als logische Folge des neoliberalen Modells, dem das Land seit Jahrzehnten aufgesessen sei. Er hat eine interessante Erklärung für den unerklärlichen Wahlerfolg dieses Präsidenten: Verzweiflung. Er zitiert die Studie zweier Kollegen der Princeton Universität, Anne Case und Angus Deaton, die herausgefunden haben, dass es ein dramatisches Ansteigen der Sterblichkeit unter weißen Amerikanern mittleren Alters ohne Universitätsabschluss seit 1999 gebe. Dies sei eine bis dato unbekannte Erscheinung abgesehen von Krieg und Seuche. Sie führen das Ansteigen der Sterblichkeit auf Verzweiflung und den Statusverlust der arbeitenden Bevölkerung unter dem neoliberalen Wunder zurück, wo »der gleiche Sektor der Bevölkerung, der unter dieser erhöhten Sterblichkeit leidet, sich zur Rettung an ihren schlimmsten Klassenfeind wendet, aus verständlicher aber selbstzerstörerischer Verzweiflung«. Trumps Budget, das er im Mai 2018 vorstellte, hat tiefe Einschnitte in den Sozialprogrammen vorgenommen und wird sich als besonders schädlich für die Wähler und Wählerinnen der Arbeiterklasse erweisen. Das Gesundheitsversorgungsgesetz der Republikaner wird nach der Analyse der Haushaltsabteilung des Kongresses 23 Millionen Amerikanern ihre Versicherung für die nächsten 10 Jahre nehmen. Die Ernennung von Neil Gorsuch an den Obersten Gerichtshof wird der arbeitenden Bevölkerung weitere Schläge verpassen, da dieser Richter nach Chomskys Befürchtung mit seinen Entscheidungen wohl die Gewerkschaften im öffentlichen Sektor zerstören werde.
Wir können uns nicht damit trösten, dass dies ein internes Problem der Amerikaner sei, welches sie selbst zu lösen haben. Diese Strangulierung der arbeitenden Bevölkerung wird Schule machen und wie so manch andere »Errungenschaft« aus den USA in der einen oder anderen Variante über den Atlantik kommen. Es wird keinen namhaften Widerstand der konservativen neoliberal gesonnenen Regierungen in England, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland geben. Denn diese Regierungen führen seit Jahren unter dem Dach der EU und der Fuchtel der deutschen Regierung einen gnadenlosen Finanzkrieg gegen Griechenland und die schwächeren Staaten in ihrer Europäischen »Gemeinschaft«, der große Teile der Bevölkerung in die Armut gestoßen hat. Und die Reformierung des Arbeitsrechts in Frankreich durch den jüngsten Hoffnungsträger in Europa, Emmanuel Macron, wird der Arbeiterklasse ebenfalls nicht gut bekommen.
Chomskys Erklärung sollte uns zu denken geben, wenn wir nach den Gründen für die Entstehung von Pegida und den Erfolg der AfD suchen, und uns in der falschen Sicherheit wähnen, dass Trump bei uns nicht möglich sei. Der französische Soziologe Didier Eribon geht in seinem Buch Rückkehr nach Reims dem rätselhaften Fahnenwechsel der kommunistischen Wählerschaft zum Rechtsextremismus des »Front National« nach und sieht darin eine »soziale Gesetzmäßigkeit«. Die Verantwortung dafür sieht er bei den Linken und ihren Regierungen, die sich seit den achtziger Jahren von ihrer Kernwählerschaft entfernt und dem neoliberalen Mainstream angeschlossen haben. Ihre »notwendigen Reformen« und ihr »neo-reaktionärer Diskurs« antworten nicht mehr auf die sozialen und ökonomischen Forderungen derjenigen, die im Konkurrenzkampf des täglichen Lebens Arbeit und Status verloren haben, prekäre Arbeitsverhältnisse eingehen müssen, die sie nur kümmerlich ernähren, und die sich kollektiv im Stich gelassen fühlen, deklassiert in ihrem gesellschaftlichen Abstieg. Wer in den Begriffen »Arbeiterklasse«, »Ausbeutung«, »Unterdrückung« und »Diskriminierung« seine Realität noch zutreffend benannt sieht, kann in Parteien, die ihm mit der Forderung nach Mobilität und Eigenverantwortung sowie mit Reformen nach dem Muster der »Agenda 2010« begegnen, keine politische Heimat mehr finden. Ihr Wechsel nach rechts ist daher eine Trotzreaktion, eine »Art politischer Notwehr« (Eribon), obwohl sie dort keine Besserung ihrer Notlage erwarten können und in ein oft fremdenfeindliches und nationalistisches Milieu eintauchen. Wichtiger ist offensichtlich, wieder einen gesellschaftlichen Ort, eine politische Gemeinschaft zu finden, in der die eigenen Nöte und Sorgen gehört werden und der Protest gegen die kalte Deklassierung und Aussonderung lautstark und aggressiv artikuliert wird. Statistiken und Studien über steigende Armut und steigenden Reichtum gibt es genug, ohne dass die Politik irgendeine reale Chance aufzeigt, in diesem System die Kluft zu schließen. Die Enttäuschung und Verzweiflung über die offenbare Unabänderlichkeit dieser neoliberalen Gesetzlichkeit treibt die Gesellschaft auseinander und die politische Klasse immer weiter nach rechts.
Wenn 26 Jahre nach der Abwicklung der DDR und dem »Beutezug Ost« der Treuhand die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR ihr Schicksal nach der »Vereinigung« in die Worte zusammenfassen: »… am Ende hatten wir keine Chance. Wir sollten vernichtet werden … Man hat uns damals nicht nur den Betrieb genommen, sondern auch unsere Würde«,1 müsste man blind sein, die Verbindung zu Pegida nicht zu sehen. Das Gefühl der Ohnmacht und Demütigung haben diese Zeit überlebt und das Vertrauen in die neuen Parteien und das demokratische System zutiefst beschädigt. Die Deindustrialisierung ganzer Landstriche oder die Übernahme der Reichsbahn durch die Bundesbahn und der anschließende Verkauf der Filetgrundstücke der Reichsbahn in Ostberlin, um mit dem Erlös die gähnend leere Pensionskasse der Bundesbahn aufzufüllen, während die Betriebsrenten der alten Eisenbahner »einfach weggewischt« wurden, konnten durch keine Freiheit des Westens kompensiert werden. Die damaligen Demütigungen leben heute fort in Verbitterung, Feindlichkeit, Wut. Dies ist der Boden, aus dem Pegida und AfD wachsen.
Das offensichtliche Versagen von Politik und Gesellschaft, den Absturz und die Enteignung einer ganzen Generation in den neuen Bundesländern aufzufangen und sie als Gleichberechtigte zu integrieren, findet seine unangenehme Fortsetzung in dem Unwillen, den rechtsradikalen Terror in unserer Gesellschaft aufzuklären. Wer den jahrelangen zähen Widerwillen bei der Aufklärung der NSU-Morde beobachtet, das immer wieder aufgedeckte Vertuschen und Versagen der staatlichen Behörden, der nie widerlegte Verdacht, dass sich Staatsschutz und Geheimdienste zu kooperativ im neofaschistischen Milieu bewegen und rassistischen Terror geradezu decken oder unterstützen, fragt sich nach den Gründen dieser Staatsverweigerung. Wo bleibt die Härte des Rechtsstaates, die dieser in den 70er Jahren gegen den linksradikalen Terror gezeigt hat und heute bei der Bekämpfung linken Protestes gegen seine Inszenierungen und Institutionen unter Missachtung der eigenen Grundsätze praktiziert? Stimmt die Vermutung, dass es daran liegt, dass sich der rechtsradikale Terror vor allem gegen Migrantinnen, Obdachlose, Antifaschisten und Antifaschistinnen, Schwule, Farbige und Flüchtlinge richtet?2 Hat sich hier Rassismus und rechtsradikale Gesinnung derart in die staatlichen Apparate eingefressen, dass die Fähigkeit verkümmert ist, ihre Gefahr für die Demokratie zu erkennen, und das Interesse an ihrer Aufklärung und Bekämpfung vollkommen erlahmt ist? Schlimmer ist, dass sich das Desinteresse auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt hat. Das gelegentliche mediale Interesse an dem Prozess in München überdeckt nur, dass es ihm mehr um die Raufereien vor Gericht geht als um die wirkliche Aufklärung der Hintergründe – die Anklage eines mehrtägigen NSU-Tribunals in Köln im Mai 2017 blieb weithin unbeachtet. Und noch dies: Wer 40 Millionen Euro Entschädigung für einige abgebrannte Autos, geplünderte Geschäfte und Umsatzeinbußen im Ausnahmezustand des G20-Gipfels in Hamburg zahlen will, aber nur 832 000 Euro für die Angehörigen der elf vom NSU ermordeten Opfer, zeigt sein wahres Interesse an den Werten zwischen Eigentum und Menschenleben.
Wenn es richtig ist, woran ich nicht zweifle, dass Trump ebenso wie weite Teile der abgehängten und verängstigten Arbeiter- und unteren Mittelklasse die Konsequenz des Neoliberalismus ist, dann darf die Schockerfahrung der Trump-Wahl uns nicht die Sicht auf die eigenen Verhältnisse verstellen. Dieser Neoliberalismus hat eine tiefe Abneigung gegen Politik und Demokratie. Er braucht die staatliche Macht nur zur Organisation des freien Marktes mit seinen autoritären Mitteln der Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkung für die reiche Klientel und Militarisierung der Gesellschaft. Man erinnere sich nur an die heftigen Auseinandersetzungen um TTIP und CETA und die gegenwärtigen Rüstungspläne auch unabhängig von Trump. Die Empörung über das krude rassistische und nationalistische Auftreten seiner dominanten Figuren entlastet nicht von der dringlichen Aufgabe, diesen autoritären Neoliberalismus auf allen Ebenen und mit allen Initiativen zu bekämpfen. Das fällt schwer bei der Desorganisation und Parzellierung der Linken, denn sie hat kein gemeinsames Konzept zur Umwälzung der sozialen und politischen Verhältnisse. Die Überzeugung, dass der Kapitalismus in der Sackgasse steckt, ist stärker als die Vorstellung, wie wir ohne ihn daraus herauskommen können. Auch Syriza und Podemos, Bernie Sanders und Jeremy Corbyn geben außer ihren Sozialprogrammen, eindrucksvollen Persönlichkeiten und die Erfahrung von Niederlagen nicht viel mehr als das Hoffen auf bessere Zeiten her. Deshalb ist es umso notwendiger, an den Ideen der einst revolutionären Grundlagen der Gesellschaft von Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Gleichheit festzuhalten, als sie noch nicht unter das gnadenlose Diktat der neoliberalen Ökonomie gefallen waren.
Hamburg, d. 25. August 2017
Norman Paech
1»Vom Ende der Sprachlosigkeit«, Faz.net, 5. August 2017. [29.08.2017]
2Vgl. Andreas Kallert, Vincent Gengnagel, Staatsraison statt Aufklärung, Analysen Nr. 39, Rosa Luxemburg Stiftung, Juli 2017.
Als Martin Schulz im Januar 2017 zum Kanzlerkandidaten der SPD ernannt wurde, verbanden sich plötzlich große Hoffnungen mit einem Mann, der der deutschen Öffentlichkeit zuvor noch weitestgehend unbekannt war. Es wurde deutlich, dass sich die Menschen nach zwölf Jahren Merkel einen Wechsel entgegensehnen und die Führungsriege der CDU/CSU stellte sich schon auf einen schweren Wahlkampf ein. Der SPD gelang es allerdings nicht, die einmalige Chance wahrzunehmen. Statt eines mutigen Programms und echten sozialdemokratischen Alternativen, bot sie große Phrasen und wenig Inhalt. Wer den Wähler für dumm verkauft, bekommt die Quittung: Nach den verlorenen Wahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen, sieht die SPD einem ihrer schlechtesten Ergebnisse auf Bundesebene entgegen.
19.September 2016 / von Albrecht Müller
Das Ergebnis der Landtagswahl in Berlin ist eine Katastrophe: weniger als 22 Prozent. Noch weniger als Steinmeier im Bund 2009, damals 23 Prozent. Die Skala ist nach unten offen. Das ist zum einen das Ergebnis dessen, dass die SPD ihre Gestaltungsaufgabe aufgegeben hat. Mit ihrer heute in Wolfsburg zu erwartenden Zustimmung zum »Freihandelsabkommen« CETA und in der Folge auch von TTIP wird die gesellschaftspolitische Gestaltungsmacht den internationalen Großkonzernen übereignet. Parallel dazu hat die SPD-Führung zum anderen das große Werk ihrer Ostpolitik, das Ende der Konfrontation zwischen West und Ost, aufgegeben. Beides zusammen geht ans Mark. Die SPD hat bundesweit schon mehr als die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren. Und es gibt kein Halten mehr, wenn sich die SPD-Führung in letzter Minute nicht eines Besseren besinnt.
Die schlimmen Folgen der sogenannten Freihandelsabkommen für die Mehrheit der Menschen haben wir vielfach beschrieben. Zuletzt in diesen Beiträgen CETA auf dem Parteikonvent: Hält sich die SPD an die eigenen roten Linien? und Die SPD könnte CETA stoppen … sie müsste es nur wollen.
Ein Vorstandsmitglied der Hannoverschen SPD, der Rechtsanwalt Hans-Georg Tillmann, hat das in einem Brief an Gabriel, Schulz und Lange drastisch aber richtig formuliert:
»CETA ist das Messer an der Kehle der Sozialdemokratie. Sind wir Sozis wirklich so dämlich, den finalen Schnitt selbst zu besorgen? Wie wollt ihr überhaupt noch Politik zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit machen, wenn über allem das Damoklesschwert der Milliardenklagen der Investoren und Spekulanten schwebt?«
Die SPD verliert mit ihrer Zustimmung zu diesen Verträgen drastisch, weil daran sichtbar wird, dass sie nicht mehr für die Interessen der großen Mehrheit der arbeitenden Menschen einsteht. Der Verdacht, dass sie das Geschäft der weltweit tätigen Großkonzerne befolgt, ist nicht von der Hand zu weisen und hat der ältesten Partei zusammen mit ihrer Initiative für die Agenda 2010 einen Großteil des Vertrauens ihrer Wählerinnen und Wähler gekostet.
Die SPD erweist sich als fremdbestimmt. Das geht ins Mark des Vertrauens.
Ähnliches gilt für die große Leistung der Sozialdemokratie: die Entspannungs- und Friedenspolitik. Auch auf diesem zentralen Feld der Politik und ihres Ansehens ist die SPD gerade dabei, das Vertrauen endgültig zu zerstören.
Ihre große Leistung bestand darin, den Kalten Krieg und die Konfrontation zu beenden und dafür zu sorgen, dass zwischen West und Ost verabredet worden ist, dass an die Stelle der gefährlichen Konfrontation Zusammenarbeit treten sollte. Es wurde vereinbart, dass man an Strukturen einer gemeinsamen Sicherheit bauen wolle, dass man abrüsten will, dass man wirtschaftlich und kulturell zusammenarbeiten will. Ausdruck dieser Politik der Verständigung war beispielsweise die Gründung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Ausdruck dessen war der Abbau der militärischen Blockkonfrontation. Das betraf den Warschauer Pakt im Osten, der aufgelöst wurde. Nach den Vorstellungen der SPD sollte auch die NATO aufgelöst werden. So wurde es im Berliner Grundsatzprogramm vom 20. Dezember 1989 beschlossen.
Hier sind die einschlägigen Passagen dieses Grundsatzprogramm und unten sind die entsprechenden Seiten wiedergegeben:
Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen. …
Sie (die Militärbündnisse) müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihrer Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa.
Unser Ziel ist eine gesamteuropäische Friedensordnung auf der Grundlage gemeinsamer Sicherheit, der Unverletzlichkeit der Grenzen und der Achtung der Integrität und Souveränität aller Staaten in Europa.
Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen.
Diese Ziele und Abreden sind vielfältig gebrochen worden. Zuerst vom Westen, dann auch von Russland. Die NATO wurde nicht aufgelöst, sondern bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt. Von deutschem Boden geht Krieg aus, zum Beispiel beim Jugoslawienkrieg, zum Beispiel beim Drohneneinsatz, zum Beispiel beim vielfältigen militärischen Einsatz der USA und Deutschlands an vielen Stellen der Welt.
Führende Sozialdemokraten leugnen und verleugnen ihre eigenen Leistungen und das vereinbarte Ziel: eine europäische Friedensordnung einschließlich Russlands.
Der sozialdemokratische Außenminister Steinmeier fällt zurück auf das Konzept des Kalten Krieges: Abschreckung gegenüber Russland. Auch wenn er das als Teil einer Doppelstrategie betrachtet, es ist die Abkehr vom Konzept der gemeinsamen Sicherheit.
Besonders trickreich arbeitet der ehemalige außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und frühere Koordinator der deutsch-amerikanischen Beziehungen, der Atlantiker Karsten Voigt an der Verschleierung der sicherheits- und außenpolitischen Wende der SPD. Auf einer Veranstaltung der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung wurde er vergangene Woche von Dr. Johannes Posth, dem Referenten des Pleisweiler Gesprächs am 2. Oktober 2016, auf die Abkehr vom Berliner Grundsatzprogramm und seiner Forderung zur Auflösung beider Blöcke angesprochen. Voigt erklärte das Berliner Grundsatzprogramm der Bundes-SPD schlicht und einfach zu einem Produkt der Berliner Landespartei – und wollte damit offensichtlich die Bedeutung dieser Programmatik und der friedenspolitischen Versprechen verniedlichen.
Wenn die SPD so weiterarbeitet und ihre eigenen größten Erfolge in der Ostpolitik wie bei der etwas sozialeren Gestaltung unseres Landes in den sechziger und siebziger Jahren verleugnet, dann unterschreitet sie demnächst die Grenze eines Wähleranteils von 20 Prozent. Das gleicht dem Selbstmord und der Zerstörung der sozialdemokratischen Idee.
Heute wird der SPD Konvent vermutlich CETA zustimmen; damit geht es weiter auf diesem verheerenden Weg.
Nun noch ein paar Anmerkungen zum Ergebnis der Berliner Abgeordnetenwahl:
Am Wahlabend konnte man sich das Ergebnis ein bisschen schönreden, weil zunächst noch 23 Prozent signalisiert worden sind. Aber das war nur von kurzer Dauer. Unter 22 Prozent für die Sozialdemokratie in ihrem Stammland Berlin, 21,6 Prozent und ein Verlust von 6,7 Prozent – das müsste als letztes Signal verstanden werden.
Hier die Ergebnisse laut Angaben der Berliner Wahlleiterin:
Quelle: wahlen-berlin.de
25. Januar 2017 / von Albrecht Müller
Die gestern bekannt gewordenen Entscheidungen der SPD-Führung wurden in Medien und von den meisten interviewten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten begrüßt. In meinem Umfeld war man eher schockiert. Es folgen Fragen und Ergebnisse des Nachdenkens über diesen Vorgang. Das vorläufige Fazit: Martin Schulz wird uns leider keine Alternative zu Frau Merkel bringen.
Wo sind Unterschiede zu Merkels Politik und ihren Linien erkennbar?
Schulz hat den neoliberalen Kurs mitgemacht. Es ist nicht bekannt, dass er sich gegen die Agenda 2010, den Aufbau eines Niedriglohnsektors und den wesentlich neoliberal bestimmten Lissabon Prozess der Europäischen Union gewehrt hat.
Und seine Europapolitik? Er steht für das Europa, das in eine Krise geraten ist. Selbstgemacht von den handelnden Personen. Er hätte als Präsident des Europäischen Parlaments auf den Barrikaden stehen müssen, als demokratische Entscheidungen in Griechenland von Brüssel und von Berlin aus mit Füßen getreten wurden.
Er hat die Umdeutung der Finanzkrise in eine Staats-Schuldenkrise mitgemacht.
Jetzt spricht Schulz viel von sozialer Gerechtigkeit, offenbar soll das ein Schwerpunkt werden. Er hätte als Präsident des europäischen Parlaments die Sozialstaatlichkeit Europas als etwas Besonderes, als einen kulturellen Schatz, hervorheben und pflegen müssen. Haben Sie davon etwas gemerkt?
Haben Sie irgendwann von Schulz irgendetwas gehört zu der entscheidenden Frage, wie wir in Europa dazu kommen können, dass alle Völker Europas am Produktionsprozess, auch am industriellen Produktionsprozess, teilhaben können? Ich kenne keine fordernde oder auch nur ermunternde Intervention des früheren Parlamentspräsidenten zugunsten einer Annäherung der Lohnstückkosten und der Wettbewerbsfähigkeiten in Europa und speziell im Euro Raum. Das mag ökonomisch-technisch klingen. Es wäre aber ein entscheidender Schritt zur Rettung der europäischen Einigung und eine Voraussetzung dafür, dass den Rechtsradikalen das Wasser abgegraben wird. Deshalb ist es wichtig.