Über dieses Buch:
England, 1706: Einst hat Rebecca einer Sterbenden versprochen, sich um ihr Baby zu kümmern. Als Jahre später die Nachricht eintrifft, dass der kleine Junge der Erbe der legendären Familie Stanmore sein soll, beschließt Rebecca, ihren Schützling auf den Sitz seiner Ahnen zu begleiten: Das Kind an einen Unbekannten auszuliefern kommt für sie nicht in Frage. Als Rebecca seinen Vater, den düsteren Lord Stanmore, kennenlernt, ist sie entsetzt – und doch ist etwas in seinem Blick, das ihr Herz erbeben lässt. Ein gefährliches der Leidenschaft. Aber warum floh Stanmores schwangere Frau einst vor ihm? Lauert in seinem Herzen ein dunkles Geheimnis, das auch ihr Glück zerstören wird?
Über die Autoren:
May McGoldrick ist das Pseudonym des Autorenehepaars Nikoo und Jim McGoldrick. Für ihre gefühlvollen und vielschichtigen historischen Romanzen haben sie mehrfach Preise gewonnen und ihre Bücher sind in über 12 Sprachen übersetzt worden. Sie leben mit ihren beiden Söhnen an einem kleinen See in Connecticut.
Bei venusbooks erscheinen die Romane der Highland Treasure-Reihe
Das stürmische Herz des Earls
Das feurige Herz des Rebellen
Das flammende Herz des Highlanders
die große Macpherson-Schottland-Saga mit den Titeln
Der Highlander und die Schöne
Der Highlander und die Verfolgte
Der Highlander und die Königsbraut
Der Highlander und die stolze Lady
Der Highlander und die Flammentochter
sowie die historischen Romanzen
Scottish Dreams – Die Lady und der Lord
Das Versprechen der Highlanders
Die Gefangene des Lords
Der Schwur des Lords
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eBook-Neuausgabe Mai 2017
Ein eBook des venusbooks Verlags. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.
Dieses Buch erschien bereits 2004 unter dem Titel Schicksalhaftes Versprechen im Wilhelm Heyne Verlag.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2001 by James McGoldrick and Nikoo McGoldrick
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel The Promise.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München
Copyright © der Lizenzausgabe 2017 venusbooks GmbH, München
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Ollyy
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ER)
ISBN 978-3-95885-547-2
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May McGoldrick
Der Schwur des Lords
Rebel Promise. Band 1
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Christa von Hadeln
venusbooks
London, England
Juli 1706
Die nervös über den Arbeitstisch flatternde Hand kippte das Tintenfass um, dessen Inhalt sich über die Tischplatte ergoss und den Rock der jungen Frau beschmutzte, als sie sich rasch vorbeugte, um ein weiteres Ausfließen der Flüssigkeit zu verhindern.
»Gott erbarme Dich«, wisperte Rebecca mit angehaltenem Atem, als sie die Tinte schnell mit einigen alten Papierfetzen auftupfte. Das plötzliche Auftauchen des Dienstmädchens an der Tür machte ihre wachsende Pein nur noch größer. »Ah, Lizzy, du bist … du bist zurück.«
»Sir Charles braucht Sie jetzt, Miss … und er wartet nicht gern.« Der Blick des Dienstmädchens streifte durch den Raum und bemerkte den Schaden. »Sie machen sich besser sofort auf den Weg, bevor der Herr ernstlich böse wird, wenn ich Ihnen das sagen darf. Sie wollen doch nicht, dass er Sie persönlich holt. Hier, lassen Sie mich das machen.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schob Lizzy Rebecca zur Seite und wischte die verschüttete Tinte auf. Einen Augenblick lang starrte Rebecca auf den Lumpen, den ihr das Dienstmädchen in die Hand gedrückt hatte.
»Ist … ist Lady Hartington wieder da?«
Ein wissendes Grinsen schlich sich in Lizzys junges Gesicht, als sie die Tischplatte reinigte. »Lady Hartington hat das Haus erst vor einer Stunde verlassen, um in die Oper zu gehen. Es dürfte wohl einige Stunden dauern, bevor sie zurückkehrt.«
Erfolglos versuchte Rebecca, den Fleck von ihrer Handfläche abzuwischen. »Ich … ich denke … ich sollte jetzt lieber nach den Kindern sehen. Ich glaube … die kleine Sara fühlte sich während unserer Lesestunde nicht sehr wohl.«
»Maggie ist bei ihnen, Miss. Schließlich ist das ihre Aufgabe.« Lizzy richtete sich von ihrer Putzarbeit auf und begegnete Rebeccas Blick. »Hören Sie, es hat keinen Zweck, es hinauszuschieben. Am besten gehen Sie jetzt und bringen es hinter sich. Früher oder später bekommt er seinen Willen.«
Es hinter sich bringen! Die Worte hallten ihr im Kopf wider. Es hinter sich bringen!
Aber ihr wurde nur aufgetragen, zu Sir Charles hinunter ins Bibliothekszimmer zu gehen. Allein. Während seine Frau an diesem Abend ausgegangen war. Während seine Kinder nur ein Stockwerk über ihm in ihren Schlafzimmern schliefen.
Rebeccas Körper wurde von einem heftigen Zittern geschüttelt. Sie verbarg die bebenden Hände in den Falten ihres Rocks und ging auf die Tür zu.
»Ich … ich muss mich zuerst um den Rock kümmern.«
»Das ist ihm gleichgültig. Er schert sich doch nicht um das, was Sie anhaben.« In Lizzys Worten klang bittere Erfahrung mit.
Tränen brannten Rebecca in den Augen, als sie aus dem Zimmer floh.
Aber an Flucht war nicht zu denken. Im Flur, der zum Haupthaus führte, lief sie dem Butler in die Akute. Verzweifelt versuchte Rebecca, sich zusammenzureißen, als sie die Knöpfe auf der dunklen Weste des Mannes anstarrte.
»Sir Charles wartet, Miss.«
Es war ihr unmöglich, dem alten Mann in die Augen zu blicken. Sie wusste, dass das, was Lizzy gesagt hatte, der Wahrheit entsprach. Sie hatte es selbst gespürt. Seit vierzehn Tagen, nach Sir Charles’ Rückkehr vom Kontinent, fühlte sie sich ständig von ihm beobachtet. Mehrere Male hatte er das Zimmer aufgesucht, in dem sie seine Kinder unterrichtete, hatte sich über sie gebeugt und sich an sie gepresst. Seine Absichten waren unmissverständlich.
Wieso sollten sie sich geändert haben?
Die ständige Anwesenheit seiner Frau und der anderen Dienstboten im Haus, so hatte sich Rebecca hoffnungsvoll eingeredet, verschaffte ihr Sicherheit – zumindest so lange, bis Mrs. Stockdale ihrer Bitte nachgekommen war. In ihrem Brief hatte sie ihre alte Lehrerin gebeten, sich nach einer neuen Stellung für sie umzusehen. Auch wenn ihr Schreiben mit der neuen Postkutschenlinie auf direktem Weg nach Oxford befördert wurde, hatte Mrs. Stockdale den Brief vielleicht noch nicht erhalten.
»Sie müssen jetzt zu ihm gehen.«
Die junge Frau zwang sich, dem Butler ins Gesicht zu sehen. »Ich kann nicht. Ich glaube … ich werde in meinem Zimmer bleiben, bis Lady Hartington zurückgekehrt ist.«
Die Falten auf der Stirn des Mannes vertieften sich. »Sir Charles wird darüber nicht erfreut sein. Er ist der Herr des Hauses. Sie sollten doch wissen, dass es das Beste ist, seinem Wunsch zu folgen.«
»Lady Hartington hat mich als Lehrerin seiner Kinder eingestellt. Die Kinder sind alle im Bett. Damit ist meine Arbeit für heute beendet.«
»Wenn Sie nicht in das Bibliothekszimmer hinuntergehen, wird Sir Charles zu Ihnen kommen. Er duldet keinen Ungehorsam … und das muss ich Ihnen sagen … während der Jahre, in denen ich bei dieser Familie gedient habe, bin ich mehrmals Zeuge seiner Zornausbrüche gewesen …« Er brauchte den Satz nicht zu beenden. Die Warnung war eindeutig.
Ein gallenbitterer Geschmack stieg ihr in der Kehle auf. Halt suchend stützte sich Rebecca mit einer Hand an der Wand ab. Es dauerte einen Augenblick, bis sie ihre Sprache wiedergefunden und Kraft gesammelt hatte. Als sie sprach, klang ihre Stimme viel klarer und selbstsicherer, als sie erwartet hatte, obwohl ihr nicht so zumute war.
»Ich werde nicht zu ihm hinuntergehen, Robert. Ich glaube … ich gehe in mein Zimmer und packe meine Sachen zusammen. Ich werde Sir Charles heute Abend den Dienst kündigen … auf der Stelle.«
Der Butler sah sie einen Augenblick ungläubig an. Dann, nur für einen Sekundenbruchteil, leuchtete in den Augen des Alten so etwas wie Respekt auf, bevor er sich verbeugte und sie vorbeigehen ließ. Aber das wohltuende Gefühl, das ihr Roberts lobende Zustimmung gegeben hatte, hielt nur bis zum nächsten Gedanken an.
Weggehen … heute Nacht … aber wohin?
Ein wildes Chaos herrschte in ihrem Kopf, als sie weitereilte. Wo sollte sie hingehen? Ihre Sachen würde sie im Handumdrehen gepackt haben. Als Lehrerin brauchte sie keine umfangreiche Garderobe, außerdem hatte sie aus Oxford nur wenig mitgebracht. Wohin sollte sie gehen, schutzlos, mitten in der Nacht, ohne Kutsche oder Begleitung? Die Ungewissheit lähmte sie.
Aber eines war klar. In diesem Haus auch nur einen Moment länger als notwendig zu bleiben, das kam nicht in Frage.
So lange Rebecca Neville denken konnte, hatte sie in Mrs. Stockdales Institut für Mädchen neben dem Pfarrhaus von St. George in Oxford gelebt. Bis vor einem Monat, als sie die Schule mit achtzehn Jahren verließ, hatte sie nie eine Nacht woanders verbracht. Bevor sie in London in das Haus von Sir Charles Hartington zog, hatte sie keine andere Bleibe gekannt als das Zimmer, das sie im zweiten Stock der Schule bewohnte.
Soweit ihr bekannt war, hatte sie keine Angehörigen. Rebecca hatte nur einen anonymen Wohltäter, über den sie so gut wie nichts wusste. Mrs. Stockdale hatte ihr nur berichtet – das war alles, was sie preisgeben durfte –, dass Geld für Rebeccas Ausbildung und Unterhalt zweimal im Jahr von einer Londoner Anwaltskanzlei geschickt wurde. Als Heranwachsende hatte sie stets in der Vorstellung gelebt, London sei voll von freundlichen und großzügigen Wohltätern.
Rebecca nahm ihren Umhang vom Haken an der Wand. Trotz der warmen Sommernacht schlang sie ihn eng um sich. Dann öffnete sie das kleine Portemonnaie und zählte schnell das Geld. Drei Pfund, fünf Shilling und einige Kupfermünzen. Nicht einmal ein Notgroschen. Das hatte auch Mrs. Stockdale gemeint, als Rebecca fortging, um ihre erste Stelle anzutreten. Jedenfalls wurde das Fahrgeld nach London in Höhe von vier Pfund und acht Shilling von ihrer Arbeitgeberin, Lady Hartington, übernommen. Bei einem Gehalt von zehn Pfund im Jahr plus Zimmer und Verpflegung, so hatte sich Rebecca ausgerechnet, würde sie nicht mehr brauchen. Eines hatte Mrs. Stockdale allerdings versäumt. Sie hatte Rebecca nicht vor der Gefahr gewarnt, die Männer wie Sir Charles Hartington darstellten.
Das kleine Fenster stand offen und ließ die Dunkelheit herein. Ein Windhauch, immer noch ausnehmend warm, wehte durch ihr Zimmer, auch wenn sie es nicht bemerkte. Rebecca fröstelte, innerlich wie äußerlich.
Sie steckte die Geldbörse in ihre Reisetasche und blickte sich in der kleinen, aber sauberen Kammer um, die sie vor kaum einem Monat so hoffnungsvoll betreten hatte.
Die meisten Mädchen in Rebeccas Alter, die Mrs. Stockdales Schule in Oxford besuchten, waren im Sommer vergangenen Jahres zu ihren begüterten Familien zurückgekehrt. Als sie den davonfahrenden Kutschen nachblickte, wurde ihr wieder schmerzhaft bewusst, dass sie die einzige Schülerin war, die kein Zuhause hatte. Es gab keine Zukunft, die vor der Haustür des Instituts auf sie wartete. Sie rechnete es ihrer alten Lehrerin hoch an, dass sie niemals mit einem Wort angedeutet hatte, sie solle sich eine Stellung suchen. Der jungen Frau aber war schon längst klar geworden, dass sie ihre Zukunft in die eigenen Hände nehmen musste. Sie konnte nicht ewig auf Kosten ihres großzügigen Gönners leben.
Das Geräusch von Schritten, die den Flur entlangkamen, schreckte Rebecca aus ihren Gedanken auf. Sie ergriff die Reisetasche und eilte zur Tür. Der Flur war leer, bis auf die beiden Zimmermädchen, die sie fassungslos anstarrten, als sie an ihnen vorbeieilte. Sie hörte sie tuscheln, als sie den Gang entlanggingen.
Auch wenn ihr Herz raste, Rebeccas Füße waren schwer wie Blei, als sie das getäfelte Treppenhaus hinunterging. Die Schenke in Butchers Row. Das Bekleidungsgeschäft am St. James Square, wo man, wie sie gehört hatte, dringend Dienstboten brauchte. Diese Arbeitsmöglichkeiten schossen ihr in ihrer Verzweiflung durch den Kopf und bekräftigten ihren Entschluss.
Sie würde eine Anstellung finden. Wenn nicht als Lehrerin, dann als Dienstmädchen. Sie würde alles tun. Jetzt brauchte sie nur noch einen Platz für die Nacht finden. Am Morgen würde sie sich dann bei den Geschäften, die ihr einfielen, um Arbeit bemühen. Es müsste noch so viele mehr geben. Sie war sicher, dass sie Erfolg haben würde, wenn sie nur bis zum nächsten Morgen durchhielt.
»Ich habe Robert nicht geglaubt, als er mir von Ihrem ungehörigen Vorhaben erzählte.«
Sie stand nur wenige Schritte von der Treppe entfernt, die zum Erdgeschoss führte. Sie hatte die Haustür im Blickfeld. »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind.«
Ihre Schritte stockten bei diesem Befehl. Ein kalter Angstschauer fuhr ihr den Rücken hinunter, als sich Sir Charles von hinten näherte. Sie hielt ihre Tasche fester und versuchte ihren panischen Schrecken zu verbergen, als sie sich ihm halb zuwandte.
»Ich wollte nicht ungehörig sein, Sir. Ich habe ihn nur davon in Kenntnis gesetzt, dass ich Ihr Haus verlasse.«
»Bei Einbruch der Nacht? Wo Diebesbanden und junge Streuner durch die Straßen ziehen? Sie werden nur in einem Fass enden, in dem man sie einen Abhang hinabrollt. Vielleicht würde man auch viel, viel Schlimmeres mit Ihnen tun.« Rebecca unterdrückte einen Aufschrei, als er näher kam. Die Stimme war leise und die Andeutung unmissverständlich. Der Geruch von Brandy und Zigarren hing in der Luft. »Sie halten mich wohl nicht für einen Gentleman, Miss Neville? Sie glauben doch nicht etwa, dass ich ein so reizendes Wesen wie Sie schutzlos auf die Straße lasse?«
»Ich verlange keinen Schutz, Sir.« Sie versuchte weiterzugehen, aber der Mann packte sie plötzlich am Arm und hinderte sie an der Flucht. »Sir Charles, bitte lassen Sie mich los.«
»Nicht bevor wir den Grund für Ihre übereilte Entscheidung geklärt haben, Miss Neville.«
Langsam zog er sie zum Bibliothekszimmer. Mit einem Aufschrei rammte sie die Füße in den Boden, riss sich los und wirbelte herum. »Nein, Sir! Ich wünsche, dass Sie mich auf der Stelle gehen lassen!«
Die blassblauen Augen des Mannes blitzten gefährlich auf. Die Wangen röteten sich. Ein Wutanfall bahnte sich an. Rebecca machte einen Schritt zurück und hielt die festumklammerte Reisetasche schützend vor sich.
»Was haben Sie in der Tasche?«
Seine Frage überraschte sie, und sie blickte verständnislos auf die Tasche. »Meine … meine Sachen.«
»Höchst unwahrscheinlich, würde ich sagen.« Er packte Rebeccas Ellbogen mit einem mörderischen Griff, und bevor sie auch nur ein Wort hervorbringen konnte, zog er sie gewaltsam zur Bibliothek. Ein Dienstmädchen erschien am Ende des Flurs. Laut rief er ihr zu: »Du! Hol Robert und die anderen. Ich will, dass ihr das Haus nach fehlenden Gegenständen absucht. Das Silber und das Tablett. Die Juwelen meiner Frau. Ja, überprüft auch den Schmuck meiner Frau?«
Mit einem groben Stoß wurde Rebecca in Sir Charles’ Bibliothekszimmer befördert. Als sie sich entrüstet umdrehte, fiel die Tür laut knallend ins Schloss. Sie hielten beide ihre Reisetasche fest. Sie ließ sie los und wich von dem Mann zurück. Mit einem zufriedenen Blick drehte er den Schlüssel im Schloss um. Rebecca floh zur entferntesten Wand, bis sie mit den Schultern die Lederrücken der Bücher auf den Regalen berührte. Sie sah den Ausdruck in seinem Gesicht. Ihr graute vor ihm. Rebeccas Augen suchten nach einem Fluchtweg. Es gab keinen.
»Sir Charles, in dieser Tasche befindet sich nichts, was Ihnen oder Ihrer Frau gehört.«
»Liebe Miss Neville. Sie sind nicht nur jung und zart, sondern auch ein Dummkopf.«
»Wenn Sie so gering von mir denken, Sir, warum lassen Sie mich dann nicht gehen?«
Mit einem Auflachen warf er ihre Reisetasche zur Seite und zog seinen Rock aus. »Nichts liegt mir ferner als das, meine Liebe. Ein junges Blut wie Sie muss noch so manches fürs Leben lernen, und Sie haben das große Glück, dass ich Ihr Lehrmeister sein werde.«
Halb starr vor Angst zwang sie sich, die wenigen Schritte bis zu dem prächtigen Schreibtisch aus Mahagoni zu gehen. Tränen brannten ihr in den Augen, als sie sah, wie die Hände zu den Knöpfen seiner Weste griffen. »Warum ich? Sie … Sie können jede haben, die Sie wollen! Sie haben eine Frau! Bitte, bitte … nicht ich!«
Ein hartes Lachen ließ die Zähne aufblitzen, als er langsam das Zimmer durchquerte, wie ein Raubtier auf der Jagd. »Sie, meine Liebe, sind diejenige, die ich haben muss. Sie kommen nämlich – nun, wie soll ich das sagen? – von einem sehr guten Stamm.«
Sie schob ihm einen Stuhl in den Weg und ging noch einige Schritte zurück, als er um den Tisch herumging. »Da irren Sie sich! Ich bin ein Niemand. Nichts Besonderes! Bitte, Sir Charles! Es kann doch nicht befriedigend für Sie sein, wenn Sie ein Nichts wie mich ruinieren.«
»Ein Nichts?«, wiederholte er und öffnete die Knöpfe seiner engen Kniehose. »Ein Nichts sind Sie vielleicht, was Titel und Vermögen anbetrifft, das ist richtig. Aber was Ihre Abstammung anbelangt …« Er schüttelte den Kopf. »Nein, meine Liebe. Da sind Sie weit von einem Nichts entfernt.«
Rebecca zuckte heftig zusammen, als das Vorderteil seiner Kniehose aufging und das erigierte Geschlecht sichtbar wurde. Mit einem Gesicht starr wie eine Maske kam er weiter auf sie zu.
»Kommen Sie nicht näher, Sir Charles. Ich flehe Sie an? Es ist ein Irrtum, wenn Sie mich für etwas Besonderes halten!«
Er blieb einen Moment stehen und sah sie über den Tisch an.
»Irrtum?« Er schüttelte den Kopf. »Ihr Geheimnis ist gelüftet, Miss Neville. Um die Wahrheit zu sagen, herauszufinden, wer Sie wirklich sind, war für mich nicht sehr schwierig. Stellen Sie sich vor, die Tochter der berüchtigten Schauspielerin Jenny Greene unter meinem Dach! Eine gute Mutter ist sie trotz alledem, das muss ich ihr zugestehen, ihre Tochter so lange aus dem Bannkreis ihres schlechten Rufs herauszuhalten. Noch dazu so nahe bei London.«
Rebecca begriff das Gesagte kaum. Ihre Gedanken überschlugen sich vor Angst. Sie konnte nur an Flucht denken. Sie ging ein paar Schritte vom Schreibtisch zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Marmorverkleidung des Kamins stieß.
»Als ich Sie das erste Mal sah, ahnte ich es bereits. Die gleichen blauen Augen. Der gleiche ungestüme Blick. Das gleiche goldrote Haar … die Farben des Sonnenuntergangs.« Die Augen wanderten über ihren Körper. »Ich wusste es.«
Die Hände suchten den Zwischenraum hinter ihr ab. Der Mann war um vieles größer als sie. Und um vieles kräftiger. Er stand jetzt in der Mitte des Zimmers. Es gab keinen Ausweg.
»Als junger Bursche saß ich im obersten Rang im Theater am Haymarket, ungestüm nach Ihrer Mutter schmachtend. Ich sah die Gecken, die zusätzlich dafür bezahlten, um die gefeierte Jenny nach den Vorstellungen in der Garderobe zu besuchen. Ich litt Folterqualen und lechzte nach ihrem Lächeln.«
Er kam näher. Das herausstehende Glied passte nicht zu der beiläufigen Art, die er jetzt angenommen hatte. Sie hielt den Atem an, blickte zur Seite, als er die Hände ausstreckte und das Band ihres Strohhütchens aufzog. Er ließ es zu Boden fallen, nahm eine herabfallende Haarsträhne und rieb sie zwischen den Fingern, während sie seinen bohrenden Blick auf ihrem Gesicht fühlte.
»Volle Lippen, die mich zu einem Kuss reizten.« Der Blick des Mannes wanderte abwärts, die Stimme war ein heiseres Flüstern. »Brüste, die nach meinem saugenden Mund lechzten.«
Rebecca schrie auf, als seine Hände unter ihren Umhang griffen, ihre Taille umfassten und sie grob an seine Brust zogen. Sie starrte ihn an. Sie spürte sein Geschlecht, das sich hart gegen sie drängte.
»Schließlich hatte ich meinen Spaß mit Ihrer Mutter. Ich habe sie eine Woche nach Beendigung ihrer Spielzeit am Covent Garden Theater aufgesucht und sie genommen. Nach zwei Gläschen Gin wurde sie geschwätzig wie eine Elster. Der Rest war einfach, und ich konnte sie mühelos dazu bringen, mir von Ihnen zu erzählen. Ich musste sie haben … schon um der alten Zeiten willen. Aber auch, weil ich die Mutter mit der Tochter vergleichen wollte.«
Rasch wandte sie den Kopf ab, als er versuchte, seinen Mund auf den ihren zu pressen. Sie schlug ihn auf die Brust, um ihn von sich zu stoßen. Er lachte.
»Sie war willig. Leicht zu haben. Nicht so aufregend wie du. Natürlich ist sie jetzt nicht mehr die Frau, die sie einmal war.« Er drückte ihre Brüste. Es schmerzte, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihr Schluchzen zu unterdrücken … und zu beten. »Ich wusste, dass du besser bist. Viel besser.«
Sie spürte, wie die Schleife ihres Umhangs am Hals aufging. Sie blickte ihn wild an. Er hatte den Ausdruck eines Tiers in seinem Gesicht, als er sie am Kragen ihres Kleids packte.
»Wie viel?« Ihre Stimme war nur mehr ein heiseres Krächzen. Sie stieß die Worte hervor. »Sie haben meine Mutter bezahlt. Wie viel wollen Sie mir zahlen?«
Ernüchterung trat in seine Augen, als er sie mit widerlich geschürzten Lippen überrascht anblickte. »Eine Hure … wie die Mutter.«
»Wie viel?«, wiederholte sie nachdrücklich und war erstaunt, wie gut sie sich verstellen konnte. »Ich werde in Ihrem Hause bleiben und Ihre Kinder weiter unterrichten. Und … ich werde Ihnen zu Diensten sein.«
Wie ein Raubtier bleckte er die Zähne, aber er ließ den Kragen ihres Kleids los. »Wie viel verlangen Sie?«
Sie schob ihn von sich und trat einen Schritt zur Seite. Er ließ es zu, hielt sie aber mit eisernem Griff am Arm fest. »Ihre Frau hat mich für ein Gehalt von zehn Pfund im Jahr eingestellt. Erhöhen Sie es auf zwanzig.«
Einen Augenblick lang sahen die blassblauen Augen sie argwöhnisch an. »Und Sie werden alles tun, was ich Ihnen befehle?«
Sie schluckte kurz. »Ja. Was Sie wünschen.«
»Sind Sie Jungfrau?«
Sie starrte auf sein Hemd und nickte. »Ja.«
Schweigen breitete sich im Zimmer aus, während sie auf eine Antwort wartete. Dann atmete sie erleichtert auf, als er einen Schritt zurücktrat und den Arm losließ. »Das verspricht sehr … sehr unterhaltsam zu werden.«
Er ging einen weiteren Schritt zurück, stützte die Hände auf die Hüften und begutachtete sie eingehend. Sie blickte ihm ohne mit einer Wimper zu zucken fest ins Gesicht.
»Ausgezeichnet. Ich zahle Ihnen die Differenz. Und meine Frau erfährt von unserer Vereinbarung nichts.«
Sie nickte.
»Dann befehle ich Ihnen jetzt, sich zu entkleiden … ganz langsam. Und wenn Sie fertig sind, möchte ich, dass Sie sich auf den Schreibtisch legen.«
Entsetzt blickte Rebecca auf den dunklen Mahagonitisch. Dann schweifte ihr Blick ab und blieb einen Moment auf seinem Geschlecht haften. Es war bekleckst, geschwollen und furchtbar mächtig. Hastig drehte sie sich zum Kamin um.
»Wie Sie wünschen«, sagte sie und bückte sich, um ihr Strohhütchen aufzuheben.
Es lag da, genau da, wo sie gehofft hatte. Es war ihre einzige Chance.
Sie handelte jetzt ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Blitzartig packte ihre Hand den Schürhaken. Die eisigen Finger schlossen sich um den Messinggriff. Dann wirbelte sie mit einer fließenden, schnellen Bewegung herum und schlug die Messingstange mit einem widerlich dumpfen Geräusch auf den Schädel von Sir Charles Hartington, als er nichts ahnend an seinem Schreibtisch lehnte.
Sie hatte den Mann getötet.
Rebecca ließ den Schürhaken fallen und hielt sich die Hand vor den Mund, um einen Schreckensschrei zu unterdrücken. Die dunkelrote Flüssigkeit quoll aus Sir Charles’ Schädel und sickerte in den Teppich. Er lag ausgebreitet da, mit dem Gesicht zum Boden. In ihrer Hast, zur Tür zu gelangen, stolperte sie über einen ausgestreckten Fuß und landete auf Händen und Knien neben ihm. In panischem Schrecken sprang sie auf die Beine. Beim Anblick des warmen Bluts an ihren Händen stockte ihr der Atem. Dann starrte sie fassungslos von den blutverschmierten Händen auf den regungslosen Körper des Mannes, der sie angegriffen hatte.
Sie war überzeugt, den Mann getötet zu haben.
»Nein!«, schluchzte sie und fuhr mit den Handflächen immer wieder über ihren Rock. »Nein!«
Die Finger zitterten heftig, als sie die Tür aufschließen wollte. Angstvoll blickte sie über die Schulter. Alles, was sie von der Tür aus von ihm sehen konnte, war der Kopf mit dem gepuderten, hellen Haar, das jetzt mit den dunkelroten Schatten seiner eigenen Sterblichkeit gezeichnet war.
Endlich bewegte sich der Schlüssel im Schloss. Rebecca taumelte auf den Flur. Mit wackligen Knien brachte sie nur wenige Schritte zum Treppengeländer zustande, bevor sie sich krümmte und heftig auf dem geblümten Teppich erbrach.
»Miss Neville … Rebecca.«
Sie hob die Augen und sah verschwommen, wie der Butler die Treppe herunterkam. Das Dienstmädchen Lizzy folgte ihm.
»O mein Gott! Was haben Sie getan?«
Rebecca hatte keine Gelegenheit, Robert zu antworten, als das Dienstmädchen an der Tür zum Bibliothekszimmer in lautes Geschrei ausbrach.
»Blut!«
Und noch lauter.
»Mord!«
Rebecca hielt sich die Ohren zu und schüttelte den Kopf, während sie sich wieder aufrichtete. Um sie war ein aufgeregtes Durcheinander und Schreie, aber sie konnte nicht antworten. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, nicht ein Laut kam heraus. Nur ein verzweifeltes Japsen nach Luft.
Und dann rannte sie.
Sie spürte, wie Hände nach ihr griffen. Hörte Rufe hinter sich. Sie blieb nicht stehen. Sie flog die Treppe hinunter zur Haustür, riss sie auf, bevor man sie fassen konnte.
Auf der Straße sah sie in den gelben Lichtkegeln der Laternen Gesichter aufblitzen. Wieder Stimmen und Rufe. Sie rannte weiter, so schnell ihre Füße sie trugen. Sie war nicht einmal einen Häuserblock entfernt, als sie gellend das Wort Mord hörte. Das trappelnde Geräusch rennender Fußtritte kam näher. Noch mehr Schreie.
An der Kreuzung lief Rebecca um die Ecke, stolperte über einen hohen Rinnstein und taumelte auf die Durchfahrtsstraße. Nachdem sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, wollte sie quer über die Straße auf die andere Seite rennen, um die schützende Dunkelheit des gegenüberliegenden Parks zu erreichen. Eine in voller Fahrt auf sie zukommende Kutsche ließ sie erstarren. Sie konnte sich nicht bewegen, konnte nicht atmen. Wie gelähmt blieb sie stehen und sah die Hufe der Pferde auf sich zugaloppieren.
Das war also das Ende. Man würde sie nicht hängen. Sie würde als Mörderin auf der Flucht niedergetrampelt werden. »Aus dem Weg! Aus dem Weg, du Närrin!«
Rebecca sah, wie der Kutscher mit den Pferden kämpfte, aber sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Die Kutsche wich nach links aus. Die Pferde bäumten sich auf. Sie spürte, wie sie eine Hand wegzog, als die Räder der Kutsche vorbeidonnerten.
Im nächsten Augenblick fand sie sich auf der Straße sitzend wieder. Gesichter starrten auf sie herab, erschrocken, mit aufrichtiger Besorgtheit, aber keiner der Umstehenden beschuldigte sie.
Plötzlich war sie wieder bei Verstand. Sie sah die Kutsche in kurzer Entfernung stehen. Der Kutscher schrie auf sein Pferdegespann ein und versuchte das Gefährt wieder in Fahrt zu bringen. Aus dem winzigen Fenster lugte das aschfahle Gesicht einer jungen Frau heraus.
Als sich ihre Blicke trafen, wusste Rebecca instinktiv Bescheid. Dieses Gesicht drückte Verzweiflung aus. Diese Frau war ebenso in Not wie sie. Mühsam kam sie auf die Beine und lief mit ausgestreckter Hand zur Kutsche.
»Helfen Sie mir!«, rief sie. »Bitte, nehmen Sie mich mit!«
Aus dem Augenwinkel sah sie eine Traube Menschen um die Ecke biegen.
»Mörderin! Haltet die Frau!«
Die Kutsche rollte bereits an, als Rebecca sah, wie die Tür aufschwang. Sie konnte die leisen Anweisungen aus dem Wageninneren kaum vernehmen, sie sah aber, wie der Kutscher sich nach ihr umblickte.
Mit frischer Kraft lief Rebecca auf die offene Tür zu und sprang in die Kutsche, während der Kutscher mit der Peitsche knallte. Das Gefährt fuhr mit einem heftigen Ruck an und sauste gleich darauf durch die Straßen der Stadt, die schreiende Menge weit hinter sich lassend.
Die blasse Frau im Wagen zog die Vorhänge zu. Dunkelheit umgab die beiden Insassen. Es dauerte eine Weile, bis Rebecca wieder zu Atem kam. Als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hörte sie, wie der Kutscher den Pferden ein Kommando zubrüllte. Die Kutsche wurde langsamer, als sie um eine Ecke bog.
Die Frau, die ihr gegenübersaß, blickte Rebecca forschend an. Auf ihrem Schoß, unter dem eleganten Umhang, hielt sie ein kleines Bündel, »Ich bin unschuldig«, hörte sich Rebecca hervorstoßen. »Mein Name ist Rebecca Neville. Ich … ich habe bis vor einem Monat im Institut von Mrs. Stockdale in Oxford gelebt.«
Die Augen ihrer Retterin betrachteten Rebecca weiterhin schweigend. Die Frau war jung … nicht älter als Rebecca. Ihre Kleidung wies sie als wohlhabend aus. Aber ihr blasses, verhärmtes Gesicht zeigte Angst und Verzweiflung, was Rebecca jetzt noch deutlicher erkennen konnte.
»Ich … ich war als Lehrerin eingestellt worden … von Lady Hartington … für ihre drei Kinder … und dann kam ihr Mann …« Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Sie wischte die Tränen mit dem Rücken des beschmutzten Ärmels ab. »Er wollte … er stürzte sich auf mich … seine Frau war nicht im Haus … Ich habe mit dem Schürhaken zugeschlagen. Ich habe ihn getötet … und jetzt sind sie hinter mir her. Aber er hat versucht, mich … mich …«
Sie konnte nicht weitersprechen. Sie barg das Gesicht in den Händen, beugte sich vor und gab sich ihrem Elend hin, während die Kutsche rumpelnd von einer Seite zur anderen schwankte. Dann wurde ihr ein zartes Taschentuch in die Hand gedrückt. Rebecca nahm es dankbar und wischte sich die Tränen ab.
»Es tut mir Leid. Ich hätte Sie nicht damit belästigen sollen …«
»Haben Sie Angehörige?« Die Stimme der Frau klang freundlich, aber schwach, als ob sie starke Schmerzen hätte.
»Nein … obwohl ich heute Abend etwas anderes erfahren habe.« Sie schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Ich habe keinen Menschen, zu dem ich gehen kann. Mein Leben lang bekam ich immer nur zu hören, dass ich eine Waise sei.«
»Ganz gleich, was er getan hat, man wird Sie hängen.«
Rebecca starrte auf die Hände im Schoß. Die Flecken von Sir Charles’ Blut, gemischt mit der Tinte, die sie vorher verschüttet hatte, bildeten ein groteskes Muster auf dem Rock, während sich das Weiß des Taschentuchs in grauenvollem Kontrast dazu abhob, sogar in der dunklen Kutsche.
»Ich hätte nicht anders gehandelt, auch wenn ich mir der Folgen bewusst bin.«
Rebecca tupfte erneut die Tränen ab. Ein Laut war vom Schoß der Frau zu hören. Leise und klagend. Rebeccas Augen weiteten sich, als sie sah, wie ihre Retterin den Umhang beiseite schob und ein in Decken gewickelter Säugling zum Vorschein kam.
»Er ist wach.« Ein Ausdruck der Zärtlichkeit erhellte das Gesicht der jungen Frau, als sie auf das Kind in ihren Armen blickte.
»So klein!«, flüsterte Rebecca und beugte sich vor, um das Kind anzusehen.
»Er kam erst heute Morgen zur Welt.«
Rebeccas Augen richteten sich auf das blasse Gesicht. »Sind Sie … die Mutter?«
Die Frau lächelte schwach. »Ich bin Elizabeth Wakefield. Ja, ich bin die Mutter.«
Die Kutsche machte einen Ruck, und Rebecca legte eine Hand auf Elizabeths Knie, als sich die Frau vor Schmerz zusammenkrümmte.
»Ihnen geht es nicht gut. Sie haben das Bett zu früh verlassen.«
»Es … es geht mir gut genug … um mich um meinen Sohn zu kümmern.« Sie strich mit dem Finger über die Stirn des Säuglings. »Ich habe ihn James genannt.«
Viele andere Fragen stürmten durch Rebeccas Kopf, Fragen, die wichtiger waren als der Name des Kindes. Wo war ihr Mann, zum Beispiel, und warum war Elizabeth mitten in der Nacht allein mit ihrem neugeborenen Sohn unterwegs? Aber die unendliche Traurigkeit, die diese Frau umgab, hielt Rebecca von weiteren Fragen ab. Hingebung und Liebe leuchteten in den Augen der Frau auf, als sie auf ihr Kind blickte.
Stattdessen setzte Rebecca sich zurück und dachte über ihre eigene Situation nach. Wie unbedeutend war doch ihr ganzes Leben gewesen! Wie schnell würde es zu Ende gehen, wenn man sie für den Mord an Sir Charles Hartington zum Galgen verurteilte! Unwillkürlich strich sie mit der Hand über die Kehle. Ob es wohl sehr schmerzhaft sein würde?
Wieder hefteten sich ihre Augen auf die Mutter und das Kind gegenüber. Hatte es in ihrem eigenen Leben jemals einen solchen Augenblick gegeben? Hatte sie ihre Mutter jemals so liebevoll in den Armen gehalten und …
Sie schüttelte den Kopf und schaute weg. Die aufwallenden Gefühle drohten sie zu überwältigen. Für diese Gedanken war es zu spät, schalt sie sich. Auch wenn Jenny Greene tatsächlich ihre Mutter war, hatte es keinen Zweck mehr, darüber nachzusinnen.
Bereits als kleines Mädchen war Rebecca mit Mrs. Stockdales ständigen Ermahnungen über den Wert der Tugenden aufgewachsen, die ein heranwachsendes Mädchen begleiten sollten. Sie war zur Frau herangereift, erzogen in dem ausgeprägten Bewusstsein für richtig und falsch, und was noch wichtiger war, im Wissen um die Brüchigkeit der weiblichen Keuschheit. Ihr schien sogar, dass die Lehrerin die junge Rebecca im Vergleich zu den anderen Schülerinnen häufiger ermahnte, ihr ungewöhnliches Aussehen zu verstecken und die widerspenstigen feuerroten Haarflechten zu zähmen und zusammenzubinden. Nein, nichts sollte sie jemals vom schmalen Pfad der Tugend und Sittsamkeit abbringen.
Jetzt ergab alles einen Sinn. Mrs. Stockdales Hartnäckigkeit war nur das Ergebnis ihrer Befürchtungen, Rebecca wäre aus einem schlechten Holz geschnitzt. Tja, fragte sich Rebecca mit Bitterkeit, was würde ihre ehemalige Lehrerin wohl von ihrer Tat heute Nacht halten?
Schaukelnd hielt die Kutsche unvermittelt an. Rebeccas Herz setzte einige Schläge aus. Sie umklammerte die Knie und starrte auf den geschlossenen Wagenschlag. Sie konnte den fauligen Gestank von Fisch und modrigem Holz riechen und schloss daraus, dass sie sich in der Nähe der Themse befanden. »Ich nehme an … das ist das Ende.«
»Auf mich wartet hier ein Boot.«
Elizabeth blickte ihr Gegenüber forschend an.
»Ich nehme von hier ein Boot nach Dartmouth, wo ich mit James an Bord eines Schiffes gehe, das uns nach Amerika bringt.«
Rebecca hielt den Atem an.
»Mir … mir geht es nicht gut. Und wir reisen allein.« Eine Träne rollte über Rebeccas Wange, als sie in das Gesicht ihres Schutzengels blickte.
»Ich möchte mit Ihnen kommen.«
Philadelphia, Provinz Pennsylvania
April 1770
»In unserer Schule können wir keinen tauben Jungen unterrichten, Airs. Ford. Das ist einfach nicht möglich.«
Rebecca zwang sich, auf der Holzbank sitzen zu bleiben, und blickte den Direktor der Friends School gereizt an. »Jamey ist nicht taub, Mr. Morgan. Er hört schlecht, ja, das ist richtig, wenn Sie an seinem schlechten Ohr stehen. Aber er ist nicht taub.«
Der Mann mittleren Alters rückte die Brille auf der Nase zurecht und schaute auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. »Meine beiden Lehrer haben sich mit Ihrem Sohn beschäftigt – einzeln und gemeinsam. Jeder sagt, dass Ihr Sohn nicht ein Wort hören kann. Der Junge kann nicht einmal sprechen, sagen sie.«
»Er ist erst neun. Er war … ziemlich nervös an dem Tag, an dem ich ihn hierher brachte.«
Der Direktor schüttelte den Kopf. »Mr. Hopkinson berichtet mir, er habe den Jungen letzte Woche an der Werft mit anderen Jungen herumtollen sehen, und James habe seinen Gruß in keinster Weise erwidert.«
»Wie viele neunjährige Buben kennen Sie, die mit einem Erwachsenen sprechen würden, wenn sie gerade Unsinn treiben?«
»So, dann hat Ihr Sohn auch Unfug im Sinn?«
Rebecca seufzte verzweifelt und entrollte die Papiere, die sie auf ihrem Schoß hielt. »Ich habe von Buben und Spielen gesprochen. Jamey ist kein Unruhestifter, Mr. Morgan. Er ist ein sehr heller, lebhafter Junge, aus dem ein vielversprechender Schüler wird. Sehen Sie sich nur diese Blätter an, Sir.« Sie legte die Bögen auf den Schreibtisch des Mannes. »Das sind Beispiele seiner Handschrift. Er kann auch lesen.
Und ich habe ihn bereits im Rechnen unterrichtet. Er ist genauso gut wie viele Ihrer Schüler.«
Der Direktor nahm die Blätter und sah sie kurz durch. »Und jetzt sagen Sie mir, Sir, wie könnte ich ihm diese Dinge beibringen, wenn er taub ist?«
»Mrs. Ford …« Er machte eine Pause, rollte bedächtig die Papiere zusammen und reichte sie ihr. »Sie sind eine talentierte Lehrerin. Für viele Schüler waren Sie ein großer Gewinn in den vergangenen Jahren, in denen Sie sie unterrichtet haben. Mehrere Eltern können Sie nicht hoch genug loben für das, was Sie für ihre Sprößlinge getan haben. Was aber Ihren Sohn anbelangt …«
Rebecca nahm die zusammengerollten Bögen aus der Hand des Mannes.
»… was Jamey anbelangt, so machen Sie besser weiter, wie Sie begonnen haben. Vielleicht ist es die Bindung, die zwischen einer Mutter und einem Sohn besteht, die es Ihnen möglich macht, das Handicap Ihres Sohnes zu überwinden. Es sind Sie … und nur Sie … auf die er zu reagieren scheint.«
»Aber es gibt noch vieles andere, das ich ihn nicht lehren kann. Es ist nicht gut, wenn er nur von mir unterrichtet wird.«
»Auf Grund dessen, was Sie mir hier gezeigt haben, hat Ihr Sohn bereits überschritten, was ein Arbeiter oder ein Handwerker an Ausbildung fürs Leben braucht. Durch Sie hat er bereits ein gutes Niveau erreicht.«
»Nein, Mr. Morgan! Ich werde nicht zulassen, dass mein Sohn meint, Arbeiter oder Handwerker zu werden, sei das Beste, was er aus seinem Leben machen könne.« Rebecca bemühte sich, ihren wachsenden Zorn zu zügeln. »Auch wenn er auf einem Ohr taub und eine Hand missgestaltet ist, werde ich meinen Sohn so erziehen, dass er werden kann, was er möchte. Wenn er sich für den Beruf des Arztes entscheidet, dann bitte. Wenn er Anwalt oder Geistlicher werden möchte, dann werde ich ihm sämtliche Hindernisse aus dem Weg räumen. Ich werde dafür sorgen, dass Jamey jede Chance wahrnehmen kann, die sich einem Jungen bietet, der in Pennsylvania aufwächst.«
»Ihre Absichten sind bewundernswert, Mrs. Ford.«
Sie warf dem Direktor einen wütenden Blick zu und beugte sich auf der Bank nach vorn. »Ich bin nicht gekommen, um bewundert zu werden, Mr. Morgan. Ich bin hier, um Verständnis, Offenheit und Gleichheit zu finden … Werte, für die Sie, wie Sie sagen, und die Society of Friends stehen. Ich bin hier, weil ich meinen Sohn auf Ihre Schule schicken möchte.«
Das Gesicht ihres Gegenübers rötete sich leicht. Der Blick senkte sich auf seine Hände. »Ich bedaure, Mrs. Ford. Wir haben Ihr Ersuchen lange und gründlich erwogen. Aber mit nur zwei Lehrern und meiner Person unterrichten wir bereits über einhundert Schüler. Ich sehe wirklich keine Möglichkeit, wie wir an dieser Schule jemanden mit den Schwierigkeiten Ihres Sohnes betreuen können.«
Rebecca starrte eine Weile auf die angehende Glatze des Direktors, auf die schmale Brille, die weiter auf die Nase heruntergerutscht war. Sie stand unvermittelt auf.
»Guten Tag, Sir.«
Die Nachmittagssonne tauchte den Turm der Christ Church in flüssiges Gold, als Rebecca auf die High Street hinaustrat. Obwohl ihr kaum danach zumute war, erfreute sie dieser Anblick. Mit der einen Hand Jamies Papiere festhaltend und mit der anderen die Bänder ihrer Handtasche, bahnte sie sich ihren Weg durch das geschäftige Treiben, das trotz der länger werdenden Schatten am Nachmittag nicht nachließ.
»Ein schöner Tag, Mrs. Ford.«
»Ja, ganz recht, Mrs. Bradford.« Rebecca zwang sich zu einem höflichen Lächeln. Um ihre Verärgerung über den Direktor zu verbergen, beschleunigte sie ihre Schritte.
Sie würden umziehen. Wenn das die einzige Möglichkeit war, um Jamie auf eine Schule zu schicken, dann sollte es so sein. Sie war bereit, alles dafür zu tun. New York. Boston. Ganz gleich, wo. Und was die Arbeit betraf, die sie hier gefunden hatte … in anderen Städten würde es auch viele Möglichkeiten geben.
Rebecca überhörte das Geschrei der Verkäufer, die ihre Waren feilboten, von Fleischpasteten zu Äpfeln und Dr. Franklins Gazette. Als sie in die Strawberry Alley einbog, achtete sie nicht einmal auf das Gebrüll eines Fuhrknechts, der sein langsames Ochsengespann um die Kurve in die High Street lenkte, sondern setzte mit eiligen Schritten ihren Weg auf der schlammigen, überfüllten Straße fort.
Sie hatte neu angefangen – vor zehn Jahren mit Jamie in Philadelphia. Die Menschen kannten sie, achteten sie. An Arbeit mangelte es ihr nie, sei es als Lehrerin, Näherin oder Aushilfe in der Bäckerei, wenn Mrs. Parker sich um ihren schwer kranken Mann kümmern musste.
Sie ging unter den bemalten Schildern vorbei, die reihenweise an hübschen Backsteinhäusern hingen und verkündeten, dass hier ein Weber, ein Glasbläser, ein Schuhmacher, ein Metzger seinem Gewerbe nachging. Ja, hier gab es genügend Arbeit … aber wenn sie gehen musste … nun, in einer anderen Stadt würde sie auch Arbeit finden … in einer anderen Kolonie. Überall, nur musste sie eine Schule finden, die Jamies Unzulänglichkeiten in Kauf nahm und ihn wie einen normalen Jungen behandelte.
Vorsichtig überquerte Rebecca die Straße – sie wich Pfützen, Dreck und Fuhrwerken aus – und ging auf das rote Backsteinhaus zu, in dem sich Mrs. Parkers Bäckerei befand. Dort, über der sich ständig ausbreitenden Familie Butler, hatten sie und Jamey zwei gemütliche kleine Zimmer unter der Dachschräge gemietet.
Sie nickte Annie Howe zu, als die dünne, schielende Hilfe vom Gasthaus Zum sterbenden Fuchs mit einem Arm voll Brot aus der Bäckerei kam.
»Oh, Mrs. Ford. Ein Herr hat heute Nachmittag im Gasthaus nach Ihnen gefragt.«
Rebecca blieb am Treppenabsatz stehen. »Danke, Annie. Dieser Herr … hat er eine Lehrerin gesucht?«
»Er hat nichts darüber gesagt, Ma’am. Aber das nehme ich nicht an. Er ist vor zwei Tagen in der Stadt angekommen und will mindestens ein paar Tage im Gasthaus bleiben. Verlangte ein Zimmer für sich allein, stellen Sie sich das vor!«
»Haben Sie vielen Dank, Annie.« Rebecca öffnete die Haustür.
»Er ist Anwalt, wissen Sie … aus England.«
Der Magen zog sich Rebecca zusammen, als der Fuß mitten in der Bewegung auf der Türschwelle erstarrte. Langsam wandte sie sich zu Annie um. »Wer … nach wem hat er gefragt?«
Annie verlagerte das Gewicht der Brote auf ihrem Ami. »Nach Ihnen. Er fragte nach Ihnen. Nach der Mutter von dem Jungen mit der verkrüppelten Hand. Um ehrlich zu sein, mein erster Gedanke war, dass Ihr Jamey irgendetwas Dummes auf der Werft angestellt hat. An Ihrer Stelle würde ich dem Jungen einmal am Tag den Hintern versohlen, ob er es verdient oder nicht. Ich wollte mit Ihnen sowieso schon darüber sprechen. Ich hab ihn da unten selbst beobachtet, Mrs. Ford. Glauben Sie mir, ich würde nicht einmal einem Hund etwas anhängen, ich meine, schließlich ist er noch ein Kind, aber Sie haben keine Ahnung, wie wild er sich da unten gebärdet, wenn er die feinen Leute, die von den Schiffen kommen, mit seiner Kralle erschreckt und dann mit diesen Bengeln, die unter Ihnen wohnen, davonrennt.« Die Frau blickte bedeutungsvoll zu den Fenstern der Butlers hinauf.
Die Übelkeit im Magen legte sich etwas. »Danke, dass Sie mir das alles gesagt haben, Annie. Ich werde mit ihm ausführlich darüber sprechen.«
»Eine starke Weidenrute quer über seinen Hintern, das braucht er, wenn Sie mich fragen, Mrs. Ford. Wenn Ihr Mann noch am Leben wäre …«
»Schon gut. Ich werde ihn mir vornehmen. Danke.« Rebecca wollte nicht warten, um sich noch mehr anzuhören, und winkte ihr kurz zu, bevor sie die Tür schloss und die enge Stiege zu den oberen Stockwerken hinaufstieg.
Es war nichts Neues, was Annie gesagt hatte. Sie wusste das alles. Jamey hatte in diesem Frühjahr etwas über die Stränge geschlagen. Aber es war so viel los. Rebecca hatte mehrere Stellen, wo sie arbeitete, und am Tag blieben nur eine begrenzte Anzahl Stunden, in denen sie ihn unterrichten, beobachten oder schelten konnte. Außerdem wollte sie ihn nicht allzu sehr schelten, schließlich musste er sich ja auch austoben.
Aber das war noch ein Grund, warum sie eine Schule für ihn finden musste. Er brauchte einen Ort, wo er eine Richtung finden konnte, in die er seine Energie leitete. Er brauchte eine Möglichkeit, um den wachsenden Trotz charakterlich in etwas Positives umzuformen.
Wie erwartet, stand Molly Butlers Tür offen, als Rebecca vorbeiging. Die Nachbarin – hochschwanger mit dickem Bauch – winkte sie in das vordere Zimmer. An der Wand gegenüber prasselte ein Feuer im Kamin. Molly drehte ihr den Rücken zu und rührte in einem Topf, der an einem eisernen Haken über der Feuerstelle hing. Zufrieden blickte sie die Frau mit den rosigen Wangen an, als sie sich schwerfällig auf einen Stuhl neben dem Feuer setzte. Ein Zwillingspärchen, zwei Mädchen im Kleinkindalter, schliefen aneinander geschmiegt in einem kleinen Beffchen in der Ecke.
»Du brauchst mir nichts zu sagen. Ich kann es von deinem Gesicht ablesen.«
Rebecca ließ die Papierrolle und die Tasche auf den Tisch fallen, bevor sie zu einem der beiden zur Straße blickenden Fenster ging. »Das ist nicht die einzige Schule. Es gibt noch andere.«
»Du weißt, ich liebe ihn wie ein eigenes Kind, aber nicht für deinen Jamey. Das glaube ich nicht.«
Sie wollte jetzt nicht diskutieren und ließ die Bemerkung unbeantwortet.
»Ich sehe, dass du bereits nachdenkst.«
Rebecca blickte in Mollys Richtung und lächelte. »Du kennst mich, Molly. Ich denke immer.«
Als sie sich neben ihre Freundin setzte, schnitt die schwangere Frau eine Scheibe von dem Brotlaib ab, der auf einem kleinen Tischchen an der Wandbank lag. Ohne sie zu fragen, schob sie den Tisch vor Rebecca hin und stellte den kleinen Topf mit Apfelbutter neben das Brot. »Du hast noch nichts zu Mittag gegessen, mein Schätzchen, und wenn ich sehe, wie blass du bist, wette ich, dass du heute Morgen auch nichts bekommen hast.«
»Jamey ist noch nicht da?«
»Mach dir keine Sorgen um ihn. Tommy und George sind bei ihm. Und wenn der ältere Bruder dabei ist, dann stellen die beiden Lausejungen nur halb viel Unfug an.«
Thomas, der Älteste der vier Butlerkinder, war zwölf und für sein Alter ziemlich erwachsen. Er ging Mr. Butler gelegentlich zur Hand, wenn er montags und donnerstags Passagiere von der Strawberry Alley zur Trentoner Fähre brachte, der ersten Station auf ihrer Reise nach New York. George hingegen war in Jameys Alter und ebenso ungebärdig und wild.
»Rebecca, ich bin der Meinung, du solltest dir den Rat meines Mannes noch einmal durch den Kopf gehen lassen, dass Jamey allmählich sein eigenes Geld verdient und in einer Schmiede oder etwas in der Art anfängt …«
»Unmöglich.« Rebecca schüttelte heftig den Kopf und blickte auf die Brotscheibe vor ihr. »Ich werde dem Direktor von Germantown schreiben. Es ist sehr gut möglich, dass sie ihn dort aufnehmen.«
»John sagte mir, sie haben dort bereits über zweihundert Schüler, auch wenn sie dort mehr Verständnis für Jameys Situation haben …«
»Ich muss es versuchen, Molly.«
Molly schüttelte den Kopf. »Ausgerechnet du, eine Frau, die bereits nervös wird, wenn ihr Sohn einen halben Tag außer Reichweite ist. Wie willst du es durchstehen, wenn er bei fremden Menschen in Germantown wohnt? Und noch schlimmer, wie willst du das bezahlen?«
Rebecca biss ein Stück Brot ab. Sie brachte es nicht übers Herz, Molly von ihren Umzugsplänen zu berichten. Die beiden Frauen waren Freundinnen, seit Rebeccas und Jameys Ankunft in Philadelphia. In diesem Haus hatten die beiden Familien fast zwei Jahre gelebt. In diesem Zimmer hatte Rebecca von ihrer Freundin so viel über Kindererziehung gelernt.