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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-760-9
Nur scheinbar ist Fürst Leopolds Ehre gerettet. Die gerissene Corinna Roeder hat immer noch einen Trumpfim Ärmel, den sie hemmungslos ausspielt.
Muss der kleine Fürst Christian nun doch an seinem Vater verzweifeln?
Patrick Herrndorf wusste nicht, was er tun sollte mit diesem hochintelligenten Siebzehnjährigen, der ihm mit eingefrorenem Gesicht und leerem Blick gegenübersaß. »Sebastian«, sagte er behutsam, »ich bitte dich, rede mit mir. Was ist im Gefängnis passiert?«
Noch immer keine Reaktion, es war zum Verzweifeln. Seit einer halben Stunde versuchte er, dem Jungen wenigstens ein paar Worte zu entlocken – vergeblich. Sebastian Roeder hatte seine Mutter Corinna im Untersuchungsgefängnis besucht. Er war lange fort gewesen, so lange, dass Patrick angefangen hatte, sich Sorgen zu machen. Er hatte Sebastian wenige Wochen zuvor bei sich aufgenommen, weil der Junge von der Presse gejagt wurde und deshalb in Corinnas Wohnung nicht hatte bleiben können.
Was für eine verworrene Geschichte, dachte Patrick.
Er selbst war mit der Zeit ein Teil davon geworden, ohne es zunächst recht zu merken. Alles hatte damals damit begonnen, dass er sich in Corinna, seine Arbeitskollegin, verliebt hatte …
»Sie hat gelogen«, sagte Sebastian. Seine Stimme klang schwer und so, als sei er bereits ein älterer Mann. »Die ganze Geschichte war vom Anfang bis zum Ende gelogen. Sie will eine Aussage machen. Die Anwälte wissen schon Bescheid, die Sternberger bestimmt auch. Ab morgen kann ich mich nirgends mehr blicken lassen, da bin ich nur noch der Sohn der Frau, die behauptet hat, dass ich der Sohn des verstorbenen Fürsten von Sternberg bin und die mit dieser Lüge beinahe durchgekommen wäre.«
Obwohl Patrick sich fühlte, als habe er soeben einen Schlag in die Magengrube erhalten, stand er auf, um sich neben Sebastian zu setzen. Dem Jungen ging es schlechter als ihm, und es gab sonst niemanden, der ihm zur Seite stehen konnte.
»Erzähl mir genau, was sie gesagt hat«, bat er.
»Nichts weiter, nur dass sie gelogen hat. Und dass sie eine Aussage machen und alles zugeben will.« Endlich sah Sebastian Patrick an. »Sie ist so dünn, Patrick! Sie sieht aus wie ein Gespenst, überhaupt nicht mehr wie meine Mama. Ich habe sie immer so schön gefunden, aber jetzt sieht sie nur noch elend aus, und sie hat gesagt, dass sie sich schämt. Ich muss mich um sie kümmern, sie schafft das nicht allein. Sie tut mir leid, aber ich bin auch wütend auf sie. Warum musste sie unser Leben zerstören? Sie hat alles kaputt gemacht!« Tränen standen in seinen Augen, jetzt war alles Starre, Maskenhafte von ihm abgefallen.
Sie hörten lautes Gepolter vor der Wohnungstür, Sebastian fuhr zusammen. »Sind das schon Reporter und Fotografen?«, fragte er erschrocken. »Vielleicht ist mir jemand hierher gefolgt.«
»Hattest du den Eindruck, dass dir jemand folgt?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber ich habe vielleicht nicht so gut aufgepasst wie sonst, weil ich so durcheinander war.« Wieder polterte es draußen, laute Stimmen waren zu hören.
»Bleib hier, ich sehe nach, was da los ist.«
Patrick eilte zur Tür und öffnete sie vorsichtig.
»Wird ein bisschen laut heute«, rief ihm ein Mann zu, der mit hochrotem Kopf eine offenbar schwere Kiste die Treppe hinaufwuchtete. »Hier zieht heute eine neue Familie ein.«
»Ach so«, erwiderte Patrick. Erleichtert schloss er die Tür wieder und kehrte zu Sebastian zurück.
»Ist nur ein Umzug«, sagte er. »Das hatte ich ganz vergessen. Die Wohnung hat eine Weile leer gestanden, weil sie gründlich renoviert werden sollte. Jetzt zieht offenbar jemand ein. Es wird also noch länger Gepolter im Treppenhaus geben.«
Sebastian nickte nur, er war in Gedanken schon wieder bei seiner Mutter. »Warum hat sie das getan? Warum hat sie gelogen?«
Ja, das wüsste ich auch gern, dachte Patrick, während er sich auf den Anfang der Sternberger ›Affäre‹ besann.
Corinna Roeder hatte Monate zuvor einen Brief an das Haus Sternberg geschrieben und darin mitgeteilt, sie habe mit Fürst Leopold von Sternberg, der im vergangenen Jahr gemeinsam mit seiner Frau tödlich verunglückt war, vor rund zwanzig Jahren eine Liebesbeziehung gehabt, aus der schließlich ihr heute siebzehnjähriger Sohn Sebastian hervorgegangen sei. Dieser sei also in Wahrheit der erstgeborene Fürstensohn, und nicht Prinz Christian von Sternberg, der eheliche Sohn Leopolds. In ihrem Brief hatte Sebastians Mutter weiterhin ausgeführt, es gehe ihr einzig und allein um das Wohl ihres Sohnes, der hochbegabt sei und deshalb besonderer Förderung seiner vielfältigen Talente bedürfe. Ausschließlich dafür bitte sie um finanzielle Unterstützung.
Sie war so vorausschauend gewesen, Sebastian zu einem Austauschjahr in die USA zu schicken, sodass er von dem, was sich nun abspielte, zunächst nicht allzu viel mitbekam.
Patrick, der gemeinsam mit Corinna Roeder an der Rezeption eines Hotels gearbeitet hatte und ihr Vertrauter geworden war, hatte oft mit ihr über ›die Affäre‹ gesprochen. Bis ihm die ersten Zweifel an ihrer Geschichte gekommen waren, hatte es lange gedauert, und selbst in den letzten Wochen, als sich die Hinweise zu verdichten begannen, dass das, was sie behauptete, nicht stimmen konnte, hatte er ihr noch glauben wollen.
Corinna Roeder hatte ›Beweise‹ für ihre Behauptung vorgelegt und es damit zunächst geschafft, die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen: Es gab Fotos, die sie angeblich mit dem Fürsten zeigten, es gab Jugendfotos von Sebastian, auf denen er aussah wie der junge Leopold, ja, es gab sogar Briefe des Fürsten und eine Bandaufnahme mit seiner Stimme.
Die Gutachter waren sich nicht einig gewesen, ob es sich um Fälschungen oder echte Dokumente handelte, und so blieb die ›Affäre‹ eine Weile in der Schwebe, bis ein Zeuge auftrat, der aussagte, Corinna Roeder, die früher anders geheißen und ihr Äußeres zudem stark verändert hatte, sei damals mit einem Mann zusammen gewesen, der Fürst Leopold sehr ähnlich gesehen habe. Der Name dieses Mannes sei Sven Helmgart, er habe schon damals kriminelle Neigungen gehabt.
Danach fanden sich bald andere Zeugen, die ähnlich aussagten. Die öffentliche Meinung hatte sich von Corinna Roeder ab- und dem Sternberger Fürstenhaus wieder zugewandt. Fürst Leopold war ein außerordentlich beliebter Mann und für viele ein Vorbild gewesen, alle waren geradezu erleichtert, dass er seine Familie und die Öffentlichkeit nun offenbar doch nicht jahrelang belogen und betrogen hatte.
Patrick wurde aus diesen Erinnerungen gerissen, als Sebastian seine Frage wiederholte: »Warum hat sie das getan? Wir hatten nicht viel Geld, das stimmt schon, aber es ging uns gut, uns hat nichts Wichtiges gefehlt. Klar, es war blöd, dass ich nicht mehr Privatunterricht nehmen konnte, aber ich hätte es auch so geschafft. Nur jetzt …«
Patrick legte ihm einen Arm um die Schultern. Er war ja selbst durcheinander, schließlich hatte er sich in Corinna verliebt und musste sich jetzt fragen, wem diese Liebe galt. Kannte er Corinna überhaupt gut genug, um sie zu lieben? Schließlich hatte sie auch ihn belogen, immer wieder.
»Ich kann deine Frage nicht beantworten«, sagte er ruhig. »Vielleicht hat sie es für dich getan, vielleicht hatte sie andere Gründe. Du musst sie irgendwann, wenn sich der erste Sturm ein wenig gelegt hat, selbst fragen, Sebastian.«
»Aber ihr muss doch klar gewesen sein, dass sie mit einer solchen Lüge nicht durchkommt!«, rief der Junge erregt. »Es ist dumm zu glauben, man könnte so etwas durchziehen.«
»Sie hat vielleicht angenommen, die Sternberger würden lieber zahlen als zu riskieren, dass die Geschichte an die Öffentlichkeit gelangt.«
»Da hat sie sich aber gründlich geirrt.«
»Ja«, bestätigte Patrick. »Wenn sie das gedacht hat, hat sie falsch gedacht.« Er zögerte, sprach seinen Gedanken dann aber doch aus, denn über kurz oder lang würde ohnehin die Sprache darauf kommen, dass Corinna nicht allein gehandelt haben konnte.
»Sie haben beide falsch gedacht«, sagte er.
Sebastian sah ihn an. »Du meinst, mein Vater und sie.«
Patrick nickte.
»Denkst du, er steckt vor allem dahinter? Sven Helmgart?« Er sprach den Namen mit Verachtung aus.
»Alles spricht dafür, oder? Wenn das, was bisher über ihn veröffentlicht wurde, stimmt, hat er einiges auf dem Kerbholz. Einer der Zeugen hat doch ausgesagt, dass er früher Drogendealer war und sich erst aus diesem Geschäft zurückgezogen hat, als es ihm zu heikel wurde.«
»Mama hat immer gesagt, die Sternberger haben ihn erfunden – als großen Unbekannten, mit dessen Hilfe sich alles erklären ließ. Meine Ähnlichkeit mit dem Fürsten zum Beispiel.«
»Nun hat sich herausgestellt, dass es den Mann tatsächlich gibt, dass er also keineswegs erfunden ist.«
»Nur haben sie ihn immer noch nicht fassen können«, stellte Sebastian fest.
»Das müssen sie ja auch nicht unbedingt, wenn deine Mutter aussagt«, erwiderte Patrick. »Ich meine, sie sollten ihn fassen, weil er offenbar ein Verbrecher ist – entschuldige, ich weiß, dass das für dich kein schöner Gedanke ist. Aber für den Abschluss der ›Affäre‹ ist es nicht unbedingt nötig, ihn zu finden.«
Sebastian stand auf und ging zum Fenster. Er sah sehr jung und sehr unglücklich aus. »All die Jahre wusste ich kaum etwas über meinen Vater, weil Mama nie über ihn reden wollte. Dann hieß es plötzlich: ›Dein Vater war der Fürst von Sternberg‹. Das klang für mich märchenhaft, so, als hätte es eigentlich nicht direkt mit mir zu tun. Es war … unwirklich. Verstehst du, was ich meine?«
Patrick nickte.
»Ich habe mal zu Mama gesagt, dass sich für mich eigentlich nicht viel ändert, wenn der Fürst mein Vater ist: Er ist tot, also hatte ich immer noch keinen Vater, der bei uns war und mit dem ich hätte reden können. Und jetzt ist wieder alles anders. Jetzt habe ich einen Verbrecher zum Vater.« Er hatte bis jetzt hinunter auf die Straße gesehen, nun drehte er sich um. Patrick sah, dass seine Augen feucht waren. »Verbessert habe ich mich nicht gerade.«
Zu sagen gab es darauf nichts. Patrick erhob sich, ging zu Sebastian und schloss ihn wortlos in die Arme.
*
»Sie hätten das mit mir absprechen müssen!«, sagte Dr. Jens-Oliver Braun erregt. »Was ist denn in Sie gefahren, Frau Roeder?«
Jens-Oliver Braun vertrat Corinna Roeder seit Beginn der ›Affäre‹, und nicht nur er war der Ansicht, dass er für sich das Beste aus der Sache herausgeholt hatte, auch die meisten seiner Kollegen sahen das so. Vorher war er ein unbekannter junger Anwalt gewesen, jetzt wusste jedes Kind im Land, wer er war und wie er aussah: Er war an jedem einzelnen Tag der vergangenen Monate in irgendeiner Zeitung zitiert oder abgebildet worden.
Er selbst schätzte seine Qualitäten realistisch ein. Nie würde aus ihm ein brillanter Anwalt werden, aber er hielt das auch nicht für nötig. Er war gerissen und einigermaßen skrupellos, das sollte reichen, um sich den Titel eines ›Star-Anwalts‹ zu verdienen, und mehr wollte er nicht. Ihm ging es um Geld und Macht.