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NARI KAHLE

Mobilität in Bewegung

Wie soziale Innovationen
unsere mobile Zukunft
revolutionieren

Mit einem Vorwort
von Friedensnobelpreisträger
Prof. Dr. Muhammad Yunus

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Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches geprüft.

© 2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2021 erschienenen Buchtitel »Mobilität in Bewegung« von Nari Kahle © 2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-060-5

Lektorat: Eva Gößwein, Berlin | www.evagoesswein.de

Copyright © 2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

www.gabal-verlag.de

Für alle heutigen und zukünftigen
Mobilitätsrevoluzzer:innen auf dieser Welt

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Professor Muhammad Yunus

EINLEITUNG

Mobilität im Umbruch

Die vergessene Dimension von Nachhaltigkeit

Gemeinwohl als wirtschaftliches Ziel in der Mobilität

Der Beginn einer Reise

Kapitel 1 EIN SOZIALES ZEITALTER

Mobilität als Spiegel unserer Gesellschaft

Die dunkle Seite der Mobilität

Zeit, zu handeln

Radfahren für alle

Zur bedingungslosen Grundmobilität

Das Für und Wider eines kostenlosen Nahverkehrs

Mobilität für alle neu denken

Kapitel 2 UNTERWEGS IN DER STADT

Warum uns Städte zum Umdenken bringen

Das beste Mobilitätsangebot ist auf uns zugeschnitten

Mobilitätsplattformen: Das Amazon des Transports

Was macht eine Mobilitätsplattform so nützlich?

Die Schattenseiten der Mobilitätsplattformen

Mobilität für eine lebenswerte Stadt

Warum Städte um das Auto geplant sind

Die Stadt der kurzen Wege

Kapitel 3 TEILEN VERBINDET

Das oBike-Desaster

Vom Besitzen zum Benutzen

Was ist vom ursprünglichen Sharing-Ansatz geblieben?

Ridepooling für soziale Teilhabe

Weitere gesellschaftliche Effekte von Ridepooling

Das Dilemma von neuen geteilten Mobilitätsangeboten

Carsharing für das Gemeinwohl

Kapitel 4 OFFENE DATEN: VON HACKERN UND FREIWILLIGEN

Wie Bikesharing aus Versehen gehackt wurde

Der Open-Source-Gedanke in der Mobilität

Offene Mobilitätsangebote dort, wo sie sich nicht rentieren

Offene Daten für innovative und soziale Ansätze

Eine Forderung nach mehr offenen Mobilitätsdaten

Die Open-Data-Strategie einiger Städte

Von den Erfahrungen anderer lernen

Eine größere Open-Data-Community

Kapitel 5 NEUE IDEEN IM LÄNDLICHEN RAUM

Warum Mobilität auf dem Land ein Thema für sich ist

Warum der Linienbus keine Chance mehr hat

Wenn Nahverkehr immer mehr »on demand« fährt

Digitale Mobilitätsangebote für eine nicht digitale Zielgruppe

Ein autonom fahrender Shuttle auf dem Land

Warum Carsharing auf dem Land noch Zeit braucht

Wenn Fahrten geteilt werden

Kommen die Produkte zum Menschen?

Kapitel 6 EINE FAIRE ELEKTROMOBILITÄT

Ein Umdenken in unserer Gesellschaft

Wann ist Elektromobilität wirklich nachhaltig?

Die Batterie und ihre Rohstoffe

Von verantwortungsvollem und fairem Rohstoffbezug

Ein Hoffnungsschimmer namens Blockchain

Das Leben einer Batterie nach dem Auto

Unsere eigene Rolle

Kapitel 7 SELBSTFAHREND ODER SELBST FAHREN

Mehr Technik für mehr Sicherheit

Wenn Autos miteinander kommunizieren

Wie fährt ein Auto von allein?

Realistische Chance oder Träumerei?

Wer fährt sicherer: Mensch oder Maschine?

Neue Chancen für unsere Gesellschaft

Von der Bezahlbarkeit und den Bezahlmöglichkeiten

Wollen wir autonomes Fahren überhaupt?

Kapitel 8 DIE VERÄNDERUNG VON ARBEIT

Warum sich ein Perspektivenwechsel lohnen kann

Wie sich Mobilitätsjobs verändern

Autoproduktion und Beschäftigung

Von neuen Jobs rund um Mobilität

Arbeitsvermittelnde Plattformen und ihre Verantwortung

Brauchen wir eine neue Form von Gesellschaftsvertrag?

Über Verantwortung und Arbeit in einem Mobilitäts-Start-up

Kapitel 9 VON TECHNISCHEN ZU SOZIALEN INNOVATIONEN

Fortschritt und Innovation in unserer Gesellschaft

Innovationen mit einem gesellschaftlichen Mehrwert

Wenn Innovationen weltbewegende Probleme lösen

Soziale Innovationen gestern und heute

Mobilitätsinnovationen für eine bessere Welt

Drohnen, die Menschenleben retten

Eine soziale Vision von Mobilität

Kapitel 10 EPILOG

Von Erwartungen und Wünschen an Mobilität

Physische Mobilität: Schneller und weiter mit dem Hyperloop

Digitale Mobilität: Wie mobil müssen wir eigentlich sein?

Warum Mobilität heute mehr denn je in Bewegung ist

Anmerkungen und Quellen

Gesprächspartner:innen

Dank

Die Autorin

Vorwort von Professor Muhammad Yunus

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Ich erinnere mich noch lebhaft an eine der eindrücklichsten Reisen, die ich jemals unternommen habe. Im Jahr 1955 erhielt die Pfadfindergruppe, zu der ich gehörte, die Chance, nach Europa und Nordamerika zu reisen, um in Kanada am World Scout Jamboree der Boy Scouts Association, einem internationalen Pfadfindertreffen, teilzunehmen.

Ich war fünfzehn Jahre alt. Es war eine unvergessliche Reise voller Eindrücke, die sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt haben. So war es wahrlich ein Erlebnis, den Atlantik hin und zurück auf Luxuslinern zu überqueren, zu sehen, wie die Länder Europas aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs auferstanden, und die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten, das im ländlichen Umfeld eines südasiatischen Landes aufgewachsen war. Diese Reise war eine phänomenale Erfahrung. Was ich als Fünfzehnjähriger hier lernen durfte, sollte mein gesamtes weiteres Leben prägen.

Schneller, als wir es uns gewünscht hätten, rückte der letzte Tag des Pfadfindertreffens näher. Das Ende unseres großen Abenteuers schien sich anzukündigen. Das betrübte uns sehr, denn wir spürten, dass es für uns noch so viel zu entdecken gäbe. Die Organisator:innen unserer Reise hatten jedoch eine andere Idee. Sie dachten sich: Warum machen wir die Rückreise nicht zu einem Teil des Abenteuers für die 27 Jugendlichen? Also änderten sie den Reiseplan und beschlossen, uns auf dem Landweg durch ganz Europa bis nach Karatschi in Pakistan zu bringen, wo unsere Reise offiziell begonnen hatte. Sie würden den Flugpreis sparen und für das Geld stattdessen drei Kleinbusse kaufen, die anschließend in den Besitz der Pfadfinderorganisation Pakistans übergehen würden.

Natürlich gab es Bedenken. Manche sagten: »Nein, die Distanz ist zu groß, um sie mit Kleinbussen zu überwinden.« Andere sagten: »Nein, da müssten wir zu viele Grenzen passieren.« Zuletzt aber waren alle dafür. Wir waren jung und fanden alles besser, als nach Hause zu kommen und wieder zur Schule gehen zu müssen.

Den Atlantik überquerten wir auch diesmal per Schiff. In London angekommen, trafen wir alle erforderlichen bürokratischen und anderen Vorbereitungen für die lange Reise. Die erste Etappe führte uns nach Wolfsburg in Deutschland, wo wir im Werk von Volkswagen drei nagelneue Kleinbusse erwarben (besser bekannt als Bulli). Unmittelbar vom Werksgelände setzten wir zu unserer langen Fahrt an.

Jeder einzelne Tag der Reise war Spannung pur. Wir fuhren von Stadt zu Stadt und nahmen auch Umwege in Kauf, um besonders interessante Städte zu besichtigen, die nicht direkt entlang der Route lagen. Dort, wo es uns gefiel und wir mehr sehen wollten, blieben wir länger. Unvorhergesehene Umstände führten ebenfalls zu längeren Aufenthalten. Am Ende dauerte die Fahrt von Deutschland entlang der Mittelmeerküste durch Länder wie die Türkei, den Libanon, Irak und Syrien bis zurück nach Karatschi vier Monate. Hinzu kamen zwei weitere Wochen für den Weg quer durch Indien bis in meine Heimatstadt Chittagong in Bangladesch.

Auf unserer langen Reise begegneten wir so vielen warmherzigen und gastfreundlichen Menschen, dass sich die ganze Welt für uns anfühlte wie unser Zuhause.

Diese Erfahrung brachte mich zu der festen Überzeugung, dass wir globale Mobilität brauchen, um allen Menschen ein Umfeld zu ermöglichen, in dem sie Orte erreichen und die Welt erkunden können. Menschen auf der ganzen Welt sind begierig darauf, ihre Nachbarländer und die große Welt zu bereisen und hautnah zu erleben.

Auch im Alltag sind wir Menschen auf Mobilität angewiesen. Ohne Mobilität können wir nicht leben. Mobilität ist eine Lebensnotwendigkeit, wo immer wir uns befinden. Dabei unterscheidet sie sich natürlich abhängig von den ökomischen Gegebenheiten eines jeden Landes.

In Bangladesch beispielsweise besitzen die meisten Menschen kein eigenes Auto. Sie können sich schlicht keines leisten. Aber ich denke, das verschafft Bangladesch zugleich die Chance, die Zukunft besser zu planen. Wir können gewissermaßen bei null anfangen. Das gibt uns die Möglichkeit, mehr über den Transport für die Masse nachzudenken anstatt über private Autos. Wir können uns für umweltfreundliche Lösungen entscheiden. Wir können uns auf grüne Antriebe konzentrieren und fossilen Treibstoffen eine Auslauffrist setzen. Wir können neue Mobilitätsdienste für selbst organisierte Fahrgastgruppen einführen, die ihre Routen, Zeiten und Fahrpreise selbst bestimmen – für die einmalige Fahrt genauso wie auf regelmäßiger monatlicher Basis. Wir können die Nutzung von Fahrzeugen durch jeweils nur eine Person unattraktiv machen.

Bangladesch ist das am dichtesten besiedelte Land der Welt. Im Schnitt leben hier auf einem Quadratkilometer mehr als 1000 Menschen. Was würde passieren, wenn jede Person ein eigenes Auto hätte – womöglich auch noch mit fossilem Antrieb? Wir gehören bereits jetzt zu den Hauptleidtragenden der Klimakatastrophe. Da sollten wir nicht auch noch maßgeblich zu ihrer Verschärfung beitragen.

Mobilität ist aus verschiedenen Gründen ein großes Problem in Bangladesch. Die zwei wichtigsten sind die Luftverschmutzung und die Zahl der Verkehrstoten. In Dhaka, der Hauptstadt des Landes, ist der Verkehr schlicht unerträglich. Dhaka gehört weltweit zu den Städten mit der schlechtesten Luftqualität. Verkehrsstaus und Hupkonzerte sind hier fester Bestandteil des Alltags.

Während des letzten Jahres hat die Welt aus der Covid-19-Pandemie einige höchst wichtige und positive Dinge mit Blick auf die Mobilität gelernt. Die Pandemie hat uns gezwungen, unsere Mobilität drastisch zu verringern. Wir haben uns daran gewöhnt, viele Dinge auch ohne Mobilität zu meistern. Viele dieser wertvollen Veränderungen unserer Lebensweise, die die Pandemie uns aufgedrängt hat, werden wir auch dann beibehalten, wenn die Pandemie dereinst hoffentlich Vergangenheit sein wird. Es sind Veränderungen, die uns gefallen. Wir sagen ihnen eine große Zukunft voraus. Wir haben erfahren, dass wir Büros und ganze Unternehmen von zu Hause aus betreiben können. Wir tun dies nicht länger im Sinne einer Notfallmaßnahme, sondern weil es für uns bequem ist und unter Umweltgesichtspunkten ratsam erscheint. Wir haben erkannt, dass wir die meisten unserer Meetings virtuell abhalten können. Das spart Zeit (wir stecken nicht länger in Staus fest, was sich in Dhaka über Stunden hinziehen kann) und Geld. Wir können jetzt zu unseren Meetings und Konferenzen so viele Teilnehmer:innen einladen, wie wir nur wollen – von überall im Land und in der Welt und ohne die Hilfe einer Eventorganisation. Für Bildungseinrichtungen ist der virtuelle Alltag zur neuen Normalität geworden. Wir haben gesehen, wie Parlamentssitzungen und hochrangige UN-Meetings virtuell stattfinden können. Konferenzen wurden globaler – ganz ohne zusätzliche Kosten. Jede virtuell durchgeführte globale Veranstaltung spart Tonnen von Kohlenstoffemissionen. Virtuelle Meetings und Zusammenkünfte werden auch künftig helfen, die Gefahr einer globalen Ausbreitung von Viren zu reduzieren.

Plötzlich schießen die unterschiedlichsten Online-Unternehmen aus dem Boden. Viele unserer neuen Verhaltensweisen wurden uns von den Umständen aufgenötigt, aber wir werden sie fortan beibehalten, nachdem wir mittlerweile Gefallen an ihnen gefunden haben. Und wir werden sie im Lauf der Zeit weiter ausgestalten und noch mehr zu schätzen wissen.

Es gilt, Mobilität im Lichte dieser neuen Realität vollkommen neu zu denken. Die Pandemie hat einen wichtigen Lernprozess in Gang gesetzt. Wir werden den virtuellen Umgang miteinander weiter pflegen – nicht nur, um uns vor der Pandemie zu schützen, sondern unserer Umwelt und unserer Gesundheit zuliebe. Wir sollten baldmöglichst Richtlinien aufstellen, um virtuelle anstelle von physischen Interaktionen auf den unterschiedlichsten Ebenen zu fördern. Die Aufsichtsräte sollen ihr Management auffordern, Wege zu finden, wie sie die Menge der zurückgelegten Flugzeug- und Autokilometer Jahr um Jahr verringern können. Dies wird die virtuelle Interaktion fördern.

Mobilität, ja. Aber Mobilität muss mit sozialer und ökologischer Verantwortung verbunden werden. Mobilität ist ein Bereich, in dem es unerlässlich ist, die individuellen mit den kollektiven Bedürfnissen in Übereinstimmung zu bringen. Durch die Balance von sozialer und ökologischer Verantwortung ergibt sich ein klares Bild für die Zukunft der Mobilität: Sie muss verantwortungsbewusst, nachhaltig, bedarfsgerecht, einfach, hilfreich und erschwinglich sein. Und dabei muss uns stets bewusst sein: Als Alternative bleibt uns immer auch die virtuelle Option.

Die Mobilität der Zukunft muss das Ziel verfolgen, den Verkehr zu reduzieren. Den Vorrang sollten zwei- und dreirädrige Gefährte haben, während das typischerweise lediglich mit einer Person besetzte Auto zum Auslaufmodell werden sollte – zumindest, solange es nicht mit grüner Energie betrieben wird und sehr viel weniger öffentlichen Raum in der Stadt beansprucht als das typische Auto von heute.

Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, benötigen wir kreative Ideen und innovative sogenannte Social Businesses. Sowohl im Mobilitätssektor wie auch in seinem Gegenstück, dem virtuellen Sektor, der uns hilft, den Mobilitätsbedarf zu verringern. Ein Social Business ist ein von sozialem Bewusstsein getriebenes Unternehmen. Es ist ein Unternehmen, das keine Gewinnabsicht verfolgt, sondern sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientiert und seine Aufgabe darin sieht, Probleme der Menschheit zu lösen. Mittlerweile werden überall auf der Welt Social Businesses zur Entwicklung nachhaltiger Mobilitätslösungen gegründet. Massive Anstrengungen sind erforderlich, damit daraus eine Kraft wird, die das Potenzial hat, echte Veränderungen zu bewirken. Ich werde nicht müde, Unternehmen, Technologieexpert:innen und jungen Menschen Mut zu machen, immer wieder mit der kreativen Herangehensweise der Social Businesses neue Ideen zu entwickeln, um Mobilitätsprobleme zu bewältigen. Die Aufgabe eines Social Business ist es, mit unternehmerischen Mitteln Lösungen für die Probleme des Menschen und des Planeten zu finden. Wir definieren ein Social Business als ein nicht auf Gewinn ausgerichtetes Unternehmen zur Lösung von Problemen unserer Gesellschaft.

Weil es Social-Business-Unternehmer:innen nicht darauf absehen, persönlich Gewinn aus dem Unternehmen zu ziehen, können sie all ihre Kreativität voll und ganz der unternehmerischen Lösung des eigentlichen Problems widmen.

Warum sollte jemand an Social Business interessiert sein? Ganz einfach: Geld macht zwar glücklich, aber andere glücklich zu machen, macht noch sehr viel glücklicher.

Unternehmertum kann aus dem einfachen Grund die Form von Social Business annehmen, weil der Mensch von Natur aus keine Gelddruckmaschine ist. Menschen sind vielmehr dazu geschaffen, zweierlei Interessen zu verfolgen: persönliche und Kollektivinteressen. Doch aus irgendeinem Grund sind wir ausschließlich damit beschäftigt, persönliche Interessen zu verfolgen, indem wir Gewinnmaximierung als Unternehmensziel festlegen. Social Business hingegen ist eine Form des Wirtschaftens, das sich diesem zweiten Grundanliegen gegenüber öffnet: dem Gemeinwohl zu dienen.

Social Business verfolgt keine persönlichen Gewinninteressen. Es ist ausschließlich dem kollektiven Glück gewidmet, indem Probleme der Allgemeinheit gelöst werden. Wenn wir Mobilität als eine kollektive Aufgabe verstehen, müssen wir auch nach sozialen und unternehmerischen Lösungen suchen. Social Business ist der geeignete unternehmerische Ansatz dafür.

Und hier kommt nun Nari Kahle ins Spiel. Sie hat dieses inspirierende Buch über Sozialinnovator:innen und ihre Initiativen im Mobilitätssektor geschrieben. So erhalten alle diejenigen eine Plattform, die sich mit viel Einsatz um die Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele im Bereich der Mobilität bemühen. Alle diese Disruptor:innen einer sozial orientierten Mobilität streben danach, bessere Mobilitätsmodelle zu entwickeln, als wir sie heute haben. In Nari Kahles Buch lernen wir Social Changemaker kennen, die fest daran glauben, dass es möglich ist, unsere Mobilität durch die Kraft des Unternehmertums zu verbessern.

Ich bin davon überzeugt, dass Social-Business-Initiativen unsere Mobilität verändern können, genauso wie sie unsere Lebens- und Arbeitswelt grundlegend verändern. Ich lade Sie ein, einen Blick auf die neuen Ideen dieser Social Changemaker aus dem Mobilitätsbereich zu werfen, die mit viel Engagement interessante Lösungen für die bestehenden gesellschaftlichen Herausforderungen finden und umsetzen.

Ich hoffe, dass Ihnen die im Buch vorgestellten neuen Ansätze, soziale Lösungen auf wirtschaftlich nachhaltige Weise zu verfolgen, zu vielen neuen Erkenntnissen verhelfen, und wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen.

Professor Muhammad Yunus

Gründer der Grameen Bank

Friedensnobelpreisträger 2006

EINLEITUNG

Mobilität im Umbruch

Seit über zehn Jahren beschäftige ich mich mit sozialen Fragen in der Wirtschaft. Damit, wie die Wirtschaft Lösungen zu den wichtigsten und drängendsten Problemen der Gesellschaft finden kann. Wie Unternehmen einen positiven Beitrag für ihr soziales Umfeld leisten können und sollten. Ich beschäftige mich mit sozialen Geschäftsmodellen, sozialen Start-ups und sozialen Innovationen. Warum? Ich bin fest davon überzeugt, dass sich unser Wirtschafts- und unser Sozialsystem im Umbruch befinden. Es findet ein Umdenken statt. Fragen nach dem Sinn und Ziel der aktuellen Marktwirtschaft werden wichtiger. Soziale und ökologische Aspekte drängen sich auf die Agenden der großen Wirtschaftsforen, Medien und politischen Diskurse. Für mich ist klar: Wir denken Wirtschaft zu einseitig, wenn wir sie unter dem alleinigen Ziel der Gewinnmaximierung betrachten. Es ist an der Zeit, in Projekten und wirtschaftlichen Vorhaben den Nutzen für Menschen und Gesellschaft in den Vordergrund zu stellen.

Eigentlich dachte ich, die Mobilitätsbranche sei nichts für mich. Meine Schwerpunkte sah ich in anderen Wirtschaftszweigen und an den Universitäten. Und dann landete ich bei einem Arbeitgeber, der auf den ersten Blick so gar nicht zu meinen Themen passte: bei einem der weltweit größten Automobilhersteller. Ich startete in einer sicherlich ungewöhnlichen Position: als Referentin des Gesamt- und Konzernbetriebsrats der Volkswagen AG im Kontext der vielleicht am stärksten gelebten Mitbestimmung der Welt. Etwas später im Buch möchte ich mehr darauf eingehen, inwiefern diese Zeit meinen Blick auf Arbeit und unternehmerische Verantwortung für immer verändert hat.

Ich dachte nicht, dass ich mich jemals in einem Automobilkonzern heimisch fühlen würde. Doch dann tauchte ich tief ein in den Alltag, die Herausforderungen und die Entwicklungen des gigantischen Automobil- und Mobilitätskosmos. Ich lernte viel und sprach mit meinen Kolleg:innen, war bei Diskussionen mit Vorstandsmitgliedern und dem Aufsichtsrat dabei und traf in Pitches auf Berufseinsteiger:innen und Gründer:innen. Außerdem sprach ich viel mit der jungen Generation, mit NGOs, Gewerkschaften und Konsumentenvertreter:innen außerhalb des Unternehmens. Mir wurde klar: Mobilität ist vielschichtig, facettenreich und unfassbar spannend.

So habe ich meine Leidenschaft für das Thema entdeckt. Kaum ein Wirtschaftsbereich ist für uns als Gesellschaft so prägend, so verbindend und so unersetzlich. Alle sind auf Mobilität angewiesen. Nicht zuletzt deshalb werden Diskussionen bisweilen hoch emotional geführt. Wir alle haben eine Meinung. Wir alle sind betroffen.

Nicht nur die Wirtschaft, auch die Mobilität befindet sich im Umbruch. Sie wird auf der ganzen Welt neu erfunden. Die uns jahrzehntelang so vertrauten Fahrzeuge, Antriebe und Verkehrsinfrastrukturen werden in naher Zukunft anders aussehen oder vielleicht gar nicht mehr existieren. Die aktuellen Entwicklungen zeigen in eine sehr eindeutige Richtung: Mobilität wird moderner, digitaler, vernetzter, umweltfreundlicher, geteilter, offener, zugänglicher, gerechter und sie wird vor allem sozialer.

Und hier habe ich es wieder – das Thema, das mich mein ganzes Berufsleben begleitet. Doch wie wird Mobilität sozial? Was heißt das überhaupt? Welche Entwicklungen des gesellschaftlichen Bereichs der Mobilität tragen dazu bei, den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen?

Darum soll es in diesem Buch gehen. Ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, in der aktuellen Debatte auf die sozialen Entwicklungen in einer faszinierenden Branche zu schauen, den sozialen Pionier:innen und Innovator:innen zuzuhören und die Diskussion um weitere Aspekte anzustoßen. Denn ob wir wollen oder nicht, Mobilität wird auch in Zukunft unseren Alltag prägen, in welcher Form auch immer. Gleichzeitig kann sie mit neuen Angeboten einen positiven Beitrag zu einem gesellschaftlichen Miteinander leisten, vielleicht auch frühere Fehler und Versäumnisse wiedergutmachen – für uns und eine bessere Zukunft.

Die vergessene Dimension von Nachhaltigkeit

Grundsätzlich balancieren viele Mobilitätsinnovationen zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielen – sie werden klassischerweise unter dem Mantel der »Nachhaltigkeit« zusammengefasst. Der Fokus der aktuellen gesellschaftlichen Debatte liegt dabei vor allem auf den Fragestellungen zu Umwelt und Klimawandel. Sie sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und werden in ihrer Gänze diskutiert. Das ist essenziell, denn das Wohl unseres Planeten und der Schutz der Ökosysteme gehören zu den zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Darüber ist bereits viel geschrieben und geredet worden. Deswegen widme ich mich den beiden weiteren Dimensionen der Nachhaltigkeit: nämlich der sozialen und wirtschaftlichen. Gerade die sozialen Fragen rund um Mobilität erhalten erst allmählich Aufmerksamkeit. Und sie sind im öffentlichen Diskurs rund um Mobilität noch allzu oft eine Randerscheinung.

Die Vereinten Nationen definieren 17 Nachhaltigkeitsziele als eine dauerhafte Entwicklung, die menschliche Bedürfnisse und Wünsche der Gegenwart befriedigt, ohne das Risiko einzugehen, dass künftige Generationen wiederum ihre Bedürfnisse nicht befriedigen können.1 Bezogen auf Mobilität lässt sich also die Frage stellen: Wie können wir heute unsere Mobilitätsbedürfnisse so erfüllen, dass auch nachfolgende Generationen noch ihre Bedürfnisse erfüllen können? Oder anders: Wie frei und selbstbestimmt dürfen wir heutzutage unsere Anforderungen an Mobilität mit unseren selbst gewählten Lebensstilen überhaupt noch leben?

In diesem Buch soll es um die Bedürfnisse der Menschen aller Generationen in Bezug auf Mobilität gehen mit dem Ziel, gerechten und gleichen Zugang der Gesellschaft zur Mobilität zu ermöglichen. Dazu zählen auch Aspekte wie Sicherheit, Gesundheit, Risiken und Belastungen durch Mobilität. Genauso aber natürlich neue Chancen, die durch neue Formen von Mobilität entstehen.

Die Vereinten Nationen formulieren in ihren 17 Nachhaltigkeitszielen sehr genau, wie Mobilität bis 2030 aussehen soll: Der Zugang zu sicheren, bezahlbaren und nachhaltigen Verkehrssystemen soll für alle ermöglicht werden. Dafür soll insbesondere der öffentliche Verkehr ausgebaut werden, »mit besonderem Augenmerk auf den Bedürfnissen von Menschen in prekären Situationen, Frauen, Kindern, Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen«.2 Das bedeutet, dass gleichwertige Mobilitätschancen, Mobilitätserfahrungen und Lebensverhältnisse für alle Bevölkerungsgruppen sicherzustellen sind – unabhängig von Alter, Geschlecht oder der sozialen Herkunft.

Doch viel Zeit bleibt uns nicht mehr bis zum Jahr 2030. Wie kommen wir am besten dorthin? Haben wir die genannten Zielgruppen überhaupt im Blick? Und wie können wir soziale und wirtschaftliche Mobilität auf dem Weg dorthin zusammendenken?

Gemeinwohl als wirtschaftliches Ziel in der Mobilität

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Wenn ich an Mobilität im Zusammenhang mit sozialen und wirtschaftlichen Fragen denke, kommt mir als Erstes meine Kollegin Lisa Guggenmos in den Sinn. Sie leitete beim Lkw-Hersteller MAN einen Accelerator, also eine Art Förderprogramm, für soziale Start-ups rund um Mobilität. Mehrere Jahre lang suchte sie auf der ganzen Welt nach geeigneten Start-ups und nahm die besten von ihnen in das Programm auf. Es waren diejenigen, deren Geschäftsmodelle darauf ausgerichtet sind, gesellschaftliche Probleme in der Mobilität unternehmerisch und sozial anzugehen. Im Accelerator kommen die Gründer:innen dieser »Social Businesses« zusammen mit Mentor:innen aus der Wirtschaft.

»Vor meiner Zeit im Accelerator hatte ich rückblickend betrachtet eine sehr europäische Perspektive«, sagt Lisa. »Mit meinem zunehmend tieferen Einblick in die Mobilitätsbranche und in verschiedene Märkte weltweit fand ich die Beobachtung schnell unerträglich, dass Menschen schon allein deswegen von Bildung, von Arbeit ausgeschlossen bleiben, weil sie keinen Zugang zu Mobilität haben. Ein Mobilitätsunternehmen, egal welches, hat die Verantwortung, Zugang zu ermöglichen. Ihn nicht zu beschränken auf eine exklusive Gruppe derer, die sich das Produkt leisten können. Das ist mir eigentlich so richtig erst in der Zusammenarbeit mit den Social Businesses klar geworden.«

Genau wie ich brennt Lisa für den Gedanken von »Social Business«. Uns beiden ist wichtig, dass wir die sozialen und wirtschaftlichen Aspekte zusammendenken. Dabei ist dieser Gedanke übrigens alles andere als neu.

Seit 2000 Jahren besteht unter vielen Wirtschaftsvordenker:innen von Aristoteles über Thomas von Aquin bis zu Adam Smith Einigkeit darüber, dass die ökonomische Theorie und Praxis auf ein übergeordnetes Bedürfnis gerichtet sein sollte, nämlich das Gemeinwohl.3 Dass Güter und Dienstleistungen angeboten werden sollten, weil ein kollektives Interesse und ein Bedürfnis der Gesellschaft bestehen. Dass es darum geht, eine Überzeugung zu leben, sich für das Gemeinwohl einzusetzen und einen Wert für die Gesellschaft zu verfolgen.

Der Gedanke des Gemeinwohls ist in vielen Kulturen auf der Welt wiederzufinden: im Lateinischen als »bonum commune«, in Lateinamerika als »buen vivir«, im Französischen als Gemeinwille (»volonté générale«), im südlichen Afrika als »Ubuntu«, der Philosophie der Menschlichkeit, in Bhutan als »landesweites Glück«.4 Gemeinwohl lässt sich sehr gut in der Ökonomie einbinden als ein Wirtschaftsgedanke, der auf Werten aufgebaut ist, die auf dieses kollektive Wohl ausgerichtet sind. Auch wir kennen das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns, der sich an ethischen Grundsätzen wie der Menschenwürde, einem nachhaltigen Aufbau und Erhalt von Arbeitsplätzen sowie dem Einsatz für eine soziale Marktwirtschaft ausrichtet.

In der Marktwirtschaft findet der Aspekt des Gemeinwohls vermehrt Anwendung in der strategischen Ausrichtung und den entsprechenden Kennzahlen. Einige Unternehmen entschließen sich bewusst, sich nicht nur an finanziellen Kennwerten und Erfolgsindikatoren messen zu lassen, sondern auch daran, wie wirksam ihr Beitrag für das Gemeinwohl ist. Hier fließen Kriterien wie Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und demokratische Mitentscheidung ein. Eines dieser Unternehmen, teilAuto, werden wir im Laufe dieses Buchs auch näher kennenlernen.

Ich möchte darüber nachdenken, wie das Gemeinwohl bei der Gestaltung der Mobilität stärker berücksichtigt werden kann. Denn Mobilität ist in unserer Gesellschaft fest an den Gedanken der Daseinsvorsorge gebunden. Sie gehört zur Grundversorgung durch den Staat. Mobilität ist damit beides – ein lebenswichtiges Gut und Dienstleistung.5 Ihre Bedeutung ist für unsere Gesellschaft kaum monetär zu beziffern. Eine mobile Gesellschaft kann viele positive wirtschaftliche, kulturelle und soziale Effekte haben. Eine unbewegliche Gesellschaft dahingegen wird in der Literatur als nicht zukunftsfähig betrachtet. Ihr drohen kultureller Schaden, soziale Armut und Isolation.6

Die sich verändernde Mobilität und ihre Konzepte müssen sich daher ebenfalls an der Ausrichtung am Gemeinwohl messen lassen. Sie müssen sicherstellen, dass alle Menschen Zugang zu notwendigen Leistungen erhalten, dürfen möglichst niemanden aufgrund von Status oder niedrigem Einkommen ausschließen, sollen Teilhabe ermöglichen. Wie kann das gewährleistet werden? Welche Verantwortung haben Mobilitätsunternehmen? Wie ließe sich Mobilität gerechter und für alle gestalten?

Eine neue Mobilitätsausrichtung bietet Chancen und Lösungsansätze, die vielleicht sogar zu einem gerechteren und besseren mobilen Miteinander beitragen können. Für Lisa ist jedenfalls klar: »Ich bin stark davon überzeugt, dass nach der digitalen Transformation, die wir derzeit beobachten, ein soziales Zeitalter eintritt. Eines, in dem wir uns immer mehr in Richtung einer menschenorientierten Gesellschaft bewegen, in der auch unsere Wirtschaft zunehmend in der Verantwortung steht, Produkte zum Wohle aller Menschen zu entwickeln und sich nicht nur auf die wirtschaftlichen Interessen einiger weniger auszurichten.« Und genau diesen Gedanken möchte ich auf meiner Erkundungsreise zu einer besseren Mobilität in den Mittelpunkt stellen.

Der Beginn einer Reise

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Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Nachmittag in Wolfsburg, als mir mein Freund Hans Reitz, der schon viele Social Businesses selbst gegründet hat und viele Gründer:innen ebenso wie Vorstandsmitglieder dazu berät, freudestrahlend von dem Konzept des Possibilismus erzählte. Es stammt von Jakob von Uexküll, der mit seinen Ideen nicht nur Hans, sondern auch mich begeistert: Im Jahr 1979 schlug der schwedische Philatelist und Schriftsteller der Nobelstiftung in Stockholm vor, zwei neue Kategorien in den Reigen der Nobelpreise aufzunehmen: eine für Armutsbekämpfung und eine für Umweltschutz. Die altehrwürdige Stiftung von Alfred Nobel konnte dem nicht viel abgewinnen. Beide Kategorien wurden abgelehnt. Uexküll verkaufte daraufhin seine sehr wertvolle Briefmarkensammlung. Mit dem Erlös – einer Summe von einer Million US-Dollar – gründete er 1980 eine Stiftung, die den »Right Livelihood Award« verleiht. Dieser Preis gilt bis heute als »Alternativer Nobelpreis«. Er zeichnet weltweit Menschen und Initiativen aus, die mit ihren Ansätzen zu einer besseren Welt beitragen. Oft sind das Menschen, die weniger in der Öffentlichkeit stehen, aber Wertschätzung für das erhalten sollen, was sie tagtäglich leisten.

Jakob von Uexküll sagt von sich, er sei kein Optimist, wenn er die Vielzahl der aktuellen ökologischen und sozialen Probleme sehe. Genauso wenig sei er aber auch ein Pessimist. Stattdessen sei er ein Possibilist und als solcher davon überzeugt, realistische Möglichkeiten zu sehen und so Probleme anzugehen und zu lösen. Und Hans sagte zu mir: »Nari, ist dieser Gedanke nicht einfach wunderschön?« Darauf konnte ich nur mit einem klaren »Ja« antworten.

Dieses Buch schreibe ich aus der Sicht einer überzeugten Possibilistin. Ich sehe mich nicht als Aktivistin, die das bisherige Mobilitätsverhalten verändern möchte. Das, was ich sehr gern bewirken möchte, ist, unseren Blick auf Mobilität zu verändern. Denn ich bin davon überzeugt, dass wir an einem Wendepunkt stehen und alle Mittel in der Hand haben, Mobilität besser und sozialer für viele zu gestalten. Ich möchte zeigen, wo schon an dieser Vision gearbeitet wird. Und ich möchte Sie, liebe Leser:innen, einladen auf eine Entdeckungsreise zu einer besseren Mobilität.

Die wenigsten von uns werden sich vermutlich heute schon vorstellen können, wie sich Mobilität in den nächsten Jahrzehnten wandeln wird. Vielleicht gibt es irgendwann keine privaten Fahrzeuge mehr. Keine, die wir selbst lenken. Vielleicht wird der öffentliche Nahverkehr flächendeckend ausgebaut und für alle kostenlos zur Verfügung stehen. Vielleicht werden Waren über Drohnen geliefert, vielleicht legen wir auch irgendwann innerstädtische Wege mit einem Lufttaxi zurück und erreichen die nächstgrößere Stadt per Hyperloop.

Wichtig ist, dass wir unser Mobilitätsverhalten, unsere Mobilitätsmuster und das heutige Mobilitätsangebot hinterfragen und zum Besseren gestalten. Wir müssen darüber sprechen, wie sich Mobilität in Städten verändern könnte, welche Lösungen für Mobilität in ländlichen Regionen vorhanden sein sollten und welchen Beitrag Digitalisierung, offene Daten und gemeinsam geteilte Fahrten für eine bessere Mobilität leisten können. Wir sollten uns fragen, wie wir Daten teilen und Mobilität öffnen, um sie noch deutlich mehr Menschen verfügbar zu machen. Zudem sollten wir darüber nachdenken, ob autonom fahrende Fahrzeuge, die in den kommenden Jahren sicherlich verstärkt auch auf unseren Straßen zu beobachten sein werden, eine Bereicherung sein können und wie neue Mobilitätsinnovationen einen Beitrag zu mehr gesellschaftlicher Inklusion leisten können.

Ebenso wichtig sind die Auswirkungen von Mobilität auf die Arbeitswelt: Wie steht es beispielsweise zukünftig um Arbeit und Arbeitsplätze in Deutschlands Mobilitätsbranche? Welche menschenrechtlichen Risiken in der Welt nehmen wir heute in Kauf, wenn wir uns für Elektromobilität entscheiden, und haben wir dafür Lösungen?

Liebe Leser:innen – wir müssen reden! Lassen Sie uns Denkanstöße diskutieren und mit Vordenker:innen sprechen. Lassen Sie uns nachdenken, wie wir unsere Mobilitätsansprüche und die Bedürfnisse der künftigen Generationen unter einen Hut bringen. Lassen Sie uns Mobilität im Hinblick auf soziale Effekte und Auswirkungen hin untersuchen.

Dieses Buch lädt Sie ein, mich auf meiner Reise zu begleiten, auf der ich soziale Innovationsansätze in der Mobilität kennenlernen durfte. Es ging mir dabei nicht um eine technologische Auseinandersetzung und Bewertung der Ansätze, sondern vielmehr um einen Blick auf die gesellschaftlichen Effekte der neuen Entwicklungen rund um Mobilität. Ich traf Visionär:innen, Macher:innen und Mobilitätsrevoluzzer:innen. Sie alle hinterfragen unsere bisherige Fortbewegung und unser bisheriges Mobilitätsverhalten. Sie bieten uns alternative Arten der Fortbewegung und setzen dabei auf neue, kreative Ansätze, um Mobilität für mehr Menschen besser zu machen. Es gibt bereits viele Pionier:innen, die an dieser sozialeren Zukunft von Mobilität arbeiten. Lassen Sie uns von ihnen lernen.

Ich möchte nicht vorgeben, was unter einer besseren Mobilität zu verstehen ist oder wie sie gelebt werden soll. Aber ich möchte Ideen liefern, Gedanken und Denkanstöße. Gleichwohl hoffe ich, dass wir bessere und insbesondere sozialere Lösungen finden, um Mobilitätsanforderungen mit einer Zukunftsfähigkeit für kommende Generationen zu verbinden. Ich freue mich, Sie durch die Kapitel dieses Buches zu begleiten.

Kapitel 1

EIN SOZIALES ZEITALTER

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Mobilität als Spiegel unserer Gesellschaft

Unsere Welt ist permanent in Bewegung. Schon immer wollten wir uns fortbewegen, unsere Welt erkunden. In den ersten Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte zu Fuß, später mit Elefanten und Pferden, Kutschen, Fahrrädern und Autos. Heute kommen Elektrofahrräder (E-Bikes), Elektroscooter (E-Scooter), Lastenfahrräder oder auch Cargobikes sowie geteilte Fahrten und Fahrzeuge dazu. Und morgen entscheiden wir uns vielleicht zwischen dem Flug mit der Drohne oder der Fahrt mit dem Hyperloop?

Mobilität ist ein menschliches Grundbedürfnis, die Verankerung unserer Bewegungsfreiheit. Sie ermöglicht es, Orte aus wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und vielen weiteren möglichen Gründen aufzusuchen. Sie steht für die Art und Weise, wie wir uns bewegen und bewegt werden. Sie ist eine Grundvoraussetzung für soziale und menschliche Begegnungen, um sich auszutauschen und persönlich zu treffen. Sie ist essenziell für all die vielen Erwerbstätigen, die zum Arbeitsort hin- und zurückpendeln oder für ihre Tätigkeit mobil sein müssen. Sie ermöglicht uns Selbstbestimmung und Unabhängigkeit und schuf schon immer Freiräume in der Lebensgestaltung. Es ist für uns so selbstverständlich, frei über unsere Mobilität verfügen zu können, dass wir Lebensplanungen, (Fern-)Beziehungen, unser Familienleben, unsere Arbeits- und auch Freizeitmuster an der vorhandenen Mobilitätsinfrastruktur ausrichten. Sie entscheidet oftmals darüber, ob wir uns einen Wohnort an einer ICE-Strecke aussuchen, in der Nähe einer Autobahnauffahrt oder nahe bei einer S-Bahn-Haltestelle.

Besonders viel Wert legen wir laut einer Befragung in Deutschland darauf, dass wir flexibel und unabhängig, aber auch verlässlich und planbar unterwegs sind.1 Zudem sind uns Sicherheit und Schnelligkeit, geringe Kosten und ein angenehmes, komfortables Fortkommen wichtig. Wir lassen uns Mobilität auch etwas kosten – rund 2600 Euro jährlich pro Person bei einer durchschnittlichen Strecke von 39 Kilometern pro Tag und Person.2 Mobilität beeinflusst unseren Alltag wie wenig anderes. Viele Entscheidungen treffen wir dabei gewohnheitsmäßig und unbewusst. Doch Mobilität ist schon lange nicht mehr allein auf die Bewegung und den Transport zu beschränken.

Prioritäten der individuellen Mobilität

Wenn es um meine eigene Mobilität geht, dann ist es mir besonders wichtig, dass…

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Quelle: Eigene Darstellung nach IfD Allensbach im Auftrag von acatech