© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2017
© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2017
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Projektleitung: Birgit Reiter
Lektorat: Anna Cavelius
Covergestaltung: independent Medien Design, Horst Moser, München
eBook-Herstellung: Rebecca Rappensperger
ISBN
978-3-8338-6308-0
1. Auflage 2017
Bildnachweis
Coverabbildung: independent Medien-Deswign GmbH, Horst Moser, München
Syndication: www.seasons.agency
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Der erste Ratgeberverlag – seit 1722.
»Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht«, lässt Georg Büchner seinen Woyzeck sagen.
Ich sehe hinab. Seit drei Jahren rede ich mit Menschen über ihre Brüche, ihre Schicksale, über tiefe emotionale Krisen und wie sie diese überwunden haben. Bei manchen ist dabei die schiere Abwesenheit von Unglück schon ein großes Glück.
In diesem Buch versammelt sind 28 Geschichten von Menschen, deren Leben sich mitunter binnen eines Wimpernschlags verändert hat, deren vermeintliche Sicherheiten sich in Luft aufgelöst haben, die plötzlich alleine dastanden.
Es ist dabei ein Buch entstanden, das zwar Einblicke in menschliche Tragödien gestattet, aber zugleich Zeugnis gibt von der Kraft der Überlebenden, ihrer Haltung, ihrer Liebe zum Leben und bisweilen ihres Humors.
Eine Gewissheit konnte ich aus den Aufzeichnungen ziehen: Wir können uns nicht gegen alles versichern. Und vor allem gibt es keine Versicherung gegen Schicksalsschläge. Früher oder später wird jeder von uns damit konfrontiert, mal mehr, mal weniger tief greifend. Sie gehören zum Leben dazu.
Es ist eine Binsenweisheit, dass nicht nur Krankheit, Verlust oder körperlicher Missbrauch Spuren in einem hinterlassen, sondern auch wiederkehrende verbale und emotionale Kränkungen. So wohnt wohl jedem Menschen die eine oder andere Verletzung inne und kaum jemand ist ohne Narben, die auch wieder aufreißen können. Kommandos wie »Reiß dich zusammen!« oder Aussagen wie »Was dich nicht umbringt, macht dich stärker« spiegeln oft mehr die Ohnmacht des Betrachters. Den Empfänger solcher Botschaften, den Leidenden, erreichen sie fast nie. Und wenn, dann verdrängt oder verbirgt er den Schmerz, setzt eine Maske auf, um niemanden mit dem eigenen Schicksal zu behelligen oder zu belasten. Im Inneren schwelen die Verletzungen dann oft weiter.
In diesem Buch finden Sie Geschichten von Menschen, die ihre Wunden zeigen, und wie sie für sich Heilung gefunden haben, indem sie ihren Weg weitergehen – zwar beschädigt, aber dennoch gestärkt und oft um Facetten ihrer Persönlichkeit bereichert, die sich erst in der Krise entwickeln durften.
Wie es dazu kam, dass ich diese Geschichten sammelte? Vor einigen Jahren steckte ich in einer Situation, die, wie Wolf Biermann es so schön ausdrückte, »von einer Liebesaffäre zerfleddert« war. Die Welt drehte sich trotzdem weiter und es wurde erwartet, dass ich mich mit ihr drehe. Doch das schien mir unmöglich: Meine Welt tauchte für Monate ins Schwarz. Melancholie und Schwermut wuchsen sich in eine schwere Depression aus. Die einzige Frage, die sich mir jeden Tag stellte, lautete: Wie überleben?
Da ich bei meinen Expartnerinnen auf Schweigen stieß, suchte ich Hilfe im Gespräch mit anderen. Ich konnte gar nicht anders, als mich in meiner Verletzlichkeit zu zeigen, und erlebte dabei etwas Wunderbares: Auch meine Gesprächspartner öffneten sich in unerwarteter Intensität.
So kam es, dass ich von verschiedenen Menschen zutiefst persönliche, eindringliche Geschichten von ihren Lebenskrisen und den Wegen hinaus zu hören bekam. Dabei habe ich viel gelernt. Tatsächlich konnte ich aus diesen Lehren und Trost zur Bewältigung meines eigenen Schmerzes ziehen, der mir damals schier unüberwindbar schien.
Wann ist eine persönliche Krise Auslöser für einen Absturz, wann für einen neuen Über-Lebenswege? Bei mir war es Liebeskummer, in dem ich mich fast verlor. Ein Schmerz, den andere Menschen wegwischen, als sei nichts gewesen – und andere zu neuen Ufern aufbrechen lässt, ohne ihr Leid zu vergessen, sondern es als unverzichtbaren Teil der eigenen Persönlichkeit anzunehmen. Ich durfte in vielen intensiven Begegnungen lernen, dass Leiden sich nicht kategorisieren lassen und jeder Mensch (sein) Leid anders definiert. Dieses Buch beruht letztendlich auf den folgenden Fragen: »Wieso bricht der eine zusammen, während der andere mit einem schweren Problem klarkommt?«, »Warum ist für den einen das Glas halb voll, für den anderen aber halb leer?«, »Was gibt einem Menschen die Kraft, selbst einen Todesmarsch oder den Verlust des Kindes zu überstehen?«, »Worin besteht die Kunst des Überlebens?«.
Es geht dabei zentral um Resilienz, um die psychische Widerstandsfähigkeit eines jeden Menschen – und die Frage »Was bietet Halt?«. Der Kern dieses Schutzschildes ist ein unerschütterliches Vertrauen in die Fähigkeit, das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen. Experten stimmen darin überein, dass jeder etwas für diesen persönlichen Schutzschild tun kann – ein Leben lang.
Hier berichten also unterschiedlichste Menschen über ihr Leben. Über ihr Überleben, über Verlust, Trauer, Neuanfang und wie sie Anker geworfen haben, die ihnen neue Sicherheit und Halt schenken.
Wir leben im Jetzt – und das bietet die Chance, jeden Tag neu anzufangen und sich neu zu (er)finden. Sie werden entdecken, dass alle hier versammelten Protagonisten die Kraft dazu in sich selbst gefunden haben. Somit sind ihre Geschichten die von Menschen, die Mut machen, eben weil sie eine schwere persönliche Krise über-lebt haben. Ob es Antworten enthält, entscheiden Sie, lieber Leser, ganz intuitiv und persönlich für sich selbst.
Wir müssen – das ist meine Lehre aus all diesen Begegnungen –, Verantwortung für uns selbst übernehmen, um ein erfülltes Sein haben zu können und Frieden in uns zu finden. Ohne auf Rettung von außen zu hoffen. Wir müssen lernen, uns selbst zu verzeihen, Schicksalsakzeptanz zu entwickeln, um dann wieder hinauszugehen in die Welt, Kontakte aufzubauen und sie zu pflegen. Die Lösung mag auch in einem Satz aus dem Neuen Testament verborgen sein: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Wenn man den zweiten Teil wirklich versteht, dann hat man vielleicht die Lösung in der Hand.
Ich glaube fest daran, dass man durch Konfrontation mit seinen Traumatisierungen wachsen, gesunden und seinen Seelenfrieden finden kann. Wir müssen keinen vermeintlichen Schicksalsbahnen folgen, die uns durch Muster aus der Kindheit vorgegeben zu sein scheinen, sondern können unsere Zukunft positiv gestalten. Hier im Jetzt. Auch wenn sich das in dem Moment einer Krise völlig abwegig anhören kann. War der Platz, von dem aus wir das Leben betrachten, inmitten der Krise die Welt, so macht er sich nach einer gewissen Zeit ganz klein aus. Dieses Buch dreht sich um »Überlebensglück«, um gewachsene Weisheit und eine freundliche Gelassenheit, die es möglich macht, sich die Themen anderer anzuschauen, ohne über sie zu urteilen. Das kann Mut und Hoffnung machen – und Kraft schenken, sich zu bewegen.
»Ich kann den Zeigefinger ein wenig bewegen.
Da
habe ich Glück gehabt.«
BENEDIKT VON ULM-ERBACH
Einen Tag vor Silvester 2010 passierte der Unfall. Seither bin ich ab dem sechsten Halswirbel querschnittsgelähmt. Ich war mit meiner damaligen Freundin in der Nähe von Innsbruck snowboarden. Wie so viele Male zuvor bin ich etwas abseits im Tiefschnee gefahren. Hinter einer kleinen Erhöhung waren Steine, die ich nicht sehen konnte. Ich blieb hängen und prallte mit voller Wucht mit dem Kopf gegen einen Fels.
Ich war ohne Helm unterwegs. Allerdings sagten mir danach die Ärzte, dass ich mir auch mit Schutz den Halswirbel gebrochen hätte. An den Moment selbst kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, was meine Freunde damals berichtet haben. Dass ich wohl relativ ruhig gewesen sei, aber gesagt hätte, dass meine Arme kribbeln.
Ich war wohl kurz bewusstlos, aber im Helikopter schon wieder ansprechbar. Ich wurde in die Klinik nach Innsbruck geflogen, wo ich operiert wurde. Dort erklärte man mir, was passiert war. Allerdings hatte ich so starke Medikamente intus, dass es eine Woche dauerte, bis ich etwas mitbekommen habe. Ich konnte Dinge erst wieder realisieren, als in meinem Bewusstsein verankert war, dass meine Beine nicht mehr funktionieren.
Jemand fragte, ob ich meine Beine bewegen
kann.
Ich verneinte. Aber ich habe keine Panik bekommen.
Anfangs habe ich noch gehofft, dass wie im Film die Körperfunktionen wiederkommen. Aber je länger nichts passierte, umso mehr habe ich die Situation angenommen und versucht, dieses Hoffen zu unterdrücken. Erst ein paar Wochen später habe ich komplett begriffen, dass die Funktionen niemals zurückkommen würden. Enttäuschung, Trauer und Angst habe ich schon gespürt, aber diese Gefühle waren nie überwältigend. Sie wurden durch die Fähigkeiten, die ich schrittweise wieder erlernte, kompensiert. Überwogen hat immer die Zuversicht, aus meiner aktuellen Situation etwas zu machen.
Ich bin von den Brustwarzen abwärts gelähmt. Im Trizeps habe ich nur noch ganz wenig Funktion, im Bizeps aber schon und in der Hand. In den Fingern wiederum nicht. Aber über einen Trick kann ich trotzdem greifen. Wenn ich das Handgelenk anspanne, ziehen sich die Finger zusammen. In der Reha wurden sie dafür an die Handinnenseite getaped, damit sich die Sehnen verkürzen. Außerdem kann ich meinen Zeigefinger ein wenig bewegen. Da habe ich ziemlich Glück gehabt.
Im Nachhinein denke ich, dass mir das unmittelbare Bewusstsein der schweren Verletzung geholfen hat, niemals in einen Schockzustand zu geraten oder eine Depression zu verfallen. Auch wenn ich mich an die erste Woche nach dem Unfall nicht erinnern kann, war das wohl die entscheidende Zeit, in der ich meine Querschnittslähmung angenommen habe.
Nach vier Wochen in der Klinik wurde ich ein halbes Jahr in die Reha verlegt. Ich musste dort alles neu lernen. Am Anfang habe ich anderthalb Stunden gebraucht, um mich anzuziehen. Mir das erste Mal wieder alleine die Zähne zu putzen, war für mich als 29-Jährigen ein Erfolgserlebnis. Bei allen Menschen, die ich in der Reha kennengelernt habe, war nur ein sehr geringer Teil dabei, der sich hängen ließ und sich aufgab. Die meisten wollen schnell wieder einen möglichst hohen Grad an Selbstständigkeit erlangen.
Sicher ist vieles komplizierter und erfordert mehr Planung. Und wenn Dinge nicht so klappen, wie ich mir das vorgestellt habe, bin ich sehr frustriert. Aber heute brauche ich weniger als 20 Minuten, um mich morgens anzuziehen. Den Rollstuhl und mich kann ich in weniger als vier Minuten ins Auto verladen, etwa um die Spiele meiner Fußballmannschaft zu besuchen. Ich habe mich relativ schnell an die neue Situation gewöhnt.
Ich habe mir noch im Krankenhaus überlegt, wie ich meinen nächsten Job im Rahmen der Frauen-Fußball-WM auch im Rollstuhl bewältigen kann.
Früher habe ich mich über den Sport definiert. Ich habe im Verein Fußball und Eishockey gespielt und bin viel Snowboard gefahren. Das geht heute nicht mehr. Den Sport habe ich trotzdem in meinem Leben behalten. Ich bin weiterhin sehr interessiert und spiele auch gerne Tischtennis. Mit meinen Freunden organisiere ich jedes Jahr das Fußballturnier »Benekickt’z«. Ursprünglich haben sie es als Benefizveranstaltung für mich ins Leben gerufen. Aber dann wollte ich selbst mitorganisieren und die Einnahmen an andere Menschen mit Querschnittslähmung spenden. Dieses Jahr fand es zum siebten Mal statt.
Dass der sechste Halswirbel gebrochen ist, ist insofern gut, als ich relativ selbstständig bin: Ich brauche zwar etwas länger als andere, aber ich habe mich eben angepasst. So arbeite ich 30 Stunden in der Woche beim Land Tirol in der Arbeitsmarktförderung und nebenbei als Video-Analyst für die Scoutingabteilung eines deutschen Bundesligisten. Als der Unfall passierte, war ich gerade mit meinem BWL-Studium fertig und wollte für einen Job nach Frankfurt am Main ziehen.
Doch jetzt wollte ich lieber in meinem gewohnten sozialen Umfeld bleiben, weil man am Anfang doch noch viel Hilfe braucht. Inzwischen kann ich es mir wieder vorstellen, auch woanders hinzuziehen, wenn es denn einen Grund dafür gäbe. Mein Freundeskreis ist noch genau der gleiche wie vor dem Unfall. Manche sagen, ich sei ausgeglichener, weniger aufbrausend, und ich merke selbst, dass sich meine Prioritäten im Leben verschoben haben. Ich brauche keine Karriere mehr um jeden Preis. Ich muss nicht mehr mit dem schnellsten Auto fahren und ich packe mir meinen Tag nicht mehr so voll. Ich war aber schon immer ein pragmatischer und optimistischer Mensch. Das habe ich von meiner Mutter. In der Erstreha schickte mich der Psychologe wieder weg mit der Begründung, ich bräuchte ihn nicht.
Mit meiner damaligen Freundin, die mich nach dem Unfall in allem unterstützt hat, klappte es dann aufgrund der Umstellung nicht mehr. Es ist sehr schwierig, wenn gewohnte Gemeinsamkeiten durch ein solches Ereignis wegbrechen und sich das gemeinsame Leben so drastisch ändert.
Seit dreieinhalb Jahren habe ich wieder eine Beziehung. Meine Frau hat mich so kennengelernt, wie ich jetzt bin. Ihre Fähigkeit, mich als Menschen und nicht als Rollstuhlfahrer zu sehen, hat mich von Anfang an begeistert. Das hat mir geholfen, den Rollstuhl unter mir immer mehr zu vergessen.
Klar habe auch ich mal den Gedanken, warum gerade mir das passiert ist. Aber das sind – selbst für mich überraschend – nur kurze Momente. Ich hatte, so blöd das klingen mag, ein gutes Alter, um in den Rollstuhl zu kommen. Gerade wohl auch, weil ich seit meinem 15. Lebensjahr schon ziemlich viel erlebt habe: Da waren die vielen Reisen im Vergleich zu einem 18-Jährigen, der noch nicht auf der ganzen Welt unterwegs war. Ich habe einfach nicht das Gefühl, dass ich aufgrund der Tatsache, dass ich im Rollstuhl sitze, viel verpasst habe.
Ich erlebe sehr viel Hilfsbereitschaft. Mittlerweile lasse ich mir im Alltag gerne helfen, wenn ich da-rauf angewiesen bin. Aber ich kann es nicht leiden, wenn mir jemand hilft, ohne mich zu fragen, mich zum Beispiel schiebt, weil er denkt, mir einen Gefallen zu tun.
Einmal wollte mich ein junger Mann unaufgefordert eine Brücke hochschieben und ich sagte ihm, er solle das lassen. Daraufhin war er sauer und sagte, dann helfe er eben nie wieder jemandem. Als ich oben war und es wieder leicht bergab ging, überholte ich ihn und seine Freunde. Ich lächelte ihn an und fragte, ob ich ihn mitnehmen solle, ich sei ja jetzt viel schneller als er. Wir haben beide gelacht und ich glaube, er hat damit verstanden, worum es mir ging.
Ich freue mich, wenn mir jemand Hilfe anbietet, aber nicht, wenn ich bevormundet und übergangen werde. Das ist in solchen Fällen wie die Brücke hochschieben noch in Ordnung. Aber wenn es etwa um den Beruf geht, ist es schmerzhafter. Manches wird mir nicht mehr zugetraut, nur weil ich im Rollstuhl bin. Das ist für mich frustrierender, als etwa nicht mehr die Treppe hochlaufen zu können.
Heute geht es mir – trotz Rollstuhl und Querschnittslähmung – gut. Ich versuche immer zu sehen, was ich alles kann, und nicht, was ich nicht kann. Denn ich habe noch sehr, sehr viele Möglichkeiten. 2016 etwa habe ich schwimmen gelernt – und diesen Sommer geheiratet.
Bis heute wird mir immer wieder ein hoher Grad an Resilienz bescheinigt.
Ich freue mich über Hilfe, will aber auf gar keinen Fall bevormundet werden.
Benedikt von Ulm-Erbach, 36, nimmt wieder ganz normal am Leben teil. Er ist Betriebswirt und lebt in Innsbruck.
»1999 ist Leon Paul gestorben.
Bis
dahin führte ich
ein ganz normales Leben.«
NICOLE RINDER
Ich war Arzthelferin, in einer Partnerschaft, wurde schwanger und erfuhr im achten Monat, dass mein Sohn nicht lebensfähig sein würde. Er hatte ein Aneurysma, das ist ein Blutgerinnsel im Gehirn, und einen schweren Herzfehler. Er war nicht operierbar. Die Ärzte waren überrascht, dass er überhaupt noch lebte, und davon überzeugt, dass er noch im Mutterleib oder direkt bei der Geburt sterben würde. Für mich war die Diagnose ein Schock. Von einer Sekunde auf die andere konnte ich weder mich noch das Kind in meinem Bauch spüren. Ich wollte nur noch raus aus dieser Situation, wollte einen Kaiserschnitt. Es war fast surreal zu wissen, dass das Kind, das sich in meinem Bauch bewegte, auf einmal tot wäre.
Leon Paul überlebte vier Tage. Er lag an meiner Brust, schlief, wurde gewickelt und weinte wie ein gesundes Baby. Dann brachte mein Sohn den Tod in mein Leben. Als er starb, war das ein Gefühl, als würde mir das Herz herausgerissen. Ich war davon überzeugt, nicht mehr weiterleben zu können. Der Schmerz war einfach zu groß.
Dieser Schmerz ist immer der Gleiche. Der große Unterschied besteht darin, dass die Erinnerungen an ein gemeinsames Leben anders sind. Bei mir standen keine Kinderschuhe im Flur und ich wusste nicht, ob er als Kleinkind gerne Spaghetti gegessen oder wie seine Stimme geklungen hätte.
In den vergangenen Jahren habe ich von vielen betroffenen Eltern gelernt, dass es in Bezug auf den Schmerz keinen Unterschied gibt, wann man sein Kind verliert.
Ich hatte Schlafstörungen und war ohne jeden Appetit, was ganz normale und gesunde Trauerreaktionen sind. Neben dem psychischen Schmerz reagierte mein Körper auf den Tod meines Kindes: Über Nacht bekam ich im Gesicht eine Eiterflechte.
Trauer ist, neben der Liebe, eines der stärksten Gefühle, das wir Menschen empfinden können. Sie reißt einen aus dem normalen Leben heraus und gibt einem teilweise das Gefühl, verrückt zu werden. Man wird in eine neue Welt hineinkatapultiert, in der man sich nicht auskennt. Das Gefühl, man ist der einzige Mensch, dem so etwas geschieht, begleitet einen sehr lang.
An dieser Weggabelung sah ich nur zwei Möglichkeiten: In eine Trauerstarre zu verfallen und mir das Leben zu nehmen. Ich hätte mich den Rest meiner Tage dagegen wehren können, dass mir das passiert ist, damit immer weiter hadern können, in eine Opferrolle fallen und depressiv werden. Oder es annehmen.
Ich wollte damals nicht weiterleben. Nicht, dass ich mir konkret Gedanken darüber gemacht habe, wie ich sterben wollte, nur war der Schmerz einfach so groß, dass ich mir nicht vorstellen konnte, mit ihm weiterzuleben. Ich dachte: »Daran kann ich nur zerbrechen.« Jeden einzelnen Tag habe ich mir gewünscht, am nächsten nicht mehr aufzuwachen. Ich sehnte mich nur nach Erlösung. Tatsächlich kommen manche Menschen nie wieder aus ihrer Trauer heraus. Sie verlieren den Sinn im Leben, verfallen der Alkohol- oder Tablettensucht, bekommen Depressionen.
Mein Trauerprozess ging jedoch in eine gesunde Richtung: Ich begann, mich mit anderen Menschen auszutauschen und versuchte, mich mit der Trauer und meinem neuen Leben auseinanderzusetzen. Ich habe versucht, das Beste aus meinem Schicksal zu machen. Auch wenn es mich heute noch manchmal berührt, wenn ich 16-Jährige sehe und denke: So alt wäre Leon jetzt. Doch es wirft mich nicht mehr aus der Bahn, wenn mich jemand auf ihn anspricht.
Der Tod gehört zum Leben. Leons Tod hatte trotzdem keinen Sinn. Ich habe mich nur dafür entschieden, mit dieser Erfahrung weiterleben zu wollen. Es gibt ein Leben davor und eines danach.
Trauer ist unfassbar anstrengend. Darum spricht man auch von Trauerarbeit.
Der Tod ist nicht sinnvoll. Erst recht nicht, wenn ein Kind von uns gehen muss.
Das Leben muss ohne den geliebten Menschen gelebt werden. Und nach einem Jahr fühlt man sich manchmal noch genauso wie am Anfang. Doch unsere Gesellschaft gesteht uns eine lange Trauer leider nicht zu. Man muss relativ schnell wieder funktionieren, lachen, Freunde treffen, weil das Leben ja weitergeht. Ja, das stimmt – es geht weiter, aber anders. In meiner Arbeit begegne ich vielen trauernden Menschen. Und so viele es gibt, so unterschiedliche Trauerreaktionen gibt es. Manche brauchen Berührungen, andere nicht. Manche weinen und sprechen viel, andere verstummen.
Es gibt Kinder, die wollen wieder zurück in die Schule, obwohl sich ihre Mutter gerade das Leben genommen hat, weil sie dieses verbliebene Stück Sicherheit brauchen. Andere ziehen sich völlig zurück, essen nichts mehr, schweigen oder weinen, Angehörige und Freunde sind dann oft völlig überfordert. So wie Erwachsene oft nur kleine Inputs und Mut machende Sätze brauchen, geht es auch Kindern. Sich gegenseitig seine Art und den Ausdruck der Trauer zuzugestehen, hilft jedem, seinen eigenen Trauerprozess zu durchleben.
Ich musste lernen, dass sich auch die Lebenspartner nach dem Tod ihres Kindes weiterentwickeln. Männer und Frauen trauern anders, Männer finden ihren Ausdruck dafür oft in Aktivitäten. Viele gehen in ihrer Arbeit auf, machen mehr Sport oder werden kreativ. Sie brauchen den körperlichen Ausdruck oft mehr als den kommunikativen Austausch. Als mein Mann nach dem Tod unseres Kindes wieder zur Arbeit ging, wurde er gefragt, wie es mir ginge. Er wunderte sich, dass sich niemand danach erkundigte, ob auch er trauerte.
Frauen verarbeiten viel, indem sie über das Erlebte sprechen. Sie können eher Seelsorge zulassen. Auch mir war der Austausch sehr wichtig. Ich dachte, ich sei allein auf dieser Welt, und erfuhr, dass mein Umgang damit nicht unnormal war, als mir davon ganz viele erzählten. Es gab mir das Gefühl, nicht verrückt zu sein.
Viele empfahlen mir, gleich wieder schwanger zu werden, damit ich wieder eine Aufgabe bekäme. Da fiel mir auf, dass es ihnen offenbar sehr schwerfiel, mit mir und dem Tod meines Sohnes umzugehen. Alle wollten, dass es schnell wieder »gut« wird, und waren der Meinung, das ginge nur mit einem neuen Kind. Aber man kann das verstorbene nicht einfach durch ein anderes Baby ersetzen. Allein eine erneute Schwangerschaft wäre schon mit ungeheuren Ängsten besetzt gewesen. Am wichtigsten war mir aber, dass es kein Ersatzkind werden sollte. Nach zwei Jahren hatte ich den Tod meines Sohnes in mein Leben integriert und traute mir wieder zu, alles aushalten zu können, was käme, wenn ich wieder schwanger werden würde.
Am Anfang hat es die Beziehung zwischen meinem Mann und mir gestärkt: Unsere Herzen waren so offen, wir waren verletzlich und uns gleichzeitig so nahe wie nie. Ich war davon überzeugt, dass uns nie wieder etwas trennen würde, weil wir gerade das Schlimmste durchmachten, was man im Leben durchmachen kann.
Ohne Abschied ist kein Neubeginn möglich.
Sechs Jahre nach dem Tod unseres Sohnes trennten sich mein Mann und ich. Jeder ging leise einen neuen Weg. Für mich wurde der Tod zum Lebensthema. Ich habe Bücher darüber gelesen, Vorträge gehört, Filme geschaut. Ich wollte sehen, wissen, hören, wie andere damit umgehen. Mein Partner hat mir da nie im Wege gestanden, auch nicht bei meiner beruflichen Weiterorientierung. Wir mussten uns eingestehen, dass wir in zwei unterschiedliche Richtungen unterwegs waren.
In der Trauerpsychologie ist man sich mittlerweile einig, dass die bekannten Phasen nicht zwingend alle eintreten: Leugnen, aufbrechende Emotionen, Loslassen, Akzeptanz und Neuanfang. Diese Phasen müssen weder in einer bestimmten Reihenfolge stattfinden noch müssen alle bei jedem eintreten. Sie geben lediglich eine Orientierung.
Loslassen ist ja auch so ein schräges Wort. Nicht nur beim Tod, sondern auch bei einem Partner, der sich abwendet. Dann heißt es schnell, man solle loslassen. Das heißt aber nicht, dass man den anderen vergessen soll. Es geht darum, sich zu verabschieden und zu begreifen, dass man jetzt nicht mehr mit seinem Partner in den Urlaub fahren kann, er nicht mehr mit einem Geburtstag feiert, an Weihnachten nicht da ist. Dass man das, was man mit ihm verbunden hat, nicht mehr hat, aber dass all die Erinnerungen in einem weiterleben dürfen.
Ich unterscheide zwischen Depressionen und ganz großer Trauer sowie Niedergeschlagenheit. Wenn man sich seine eigene Trauer genau anschaut, wird einem auffallen, dass man sich selbst betrauert. Wir trauern darum, dass wir nicht mehr das Leben führen, das wir uns vorgestellt haben. Wenn etwa mein Mann mit 40 an Krebs stirbt und ich aber noch weitere 40 Jahre mit ihm leben wollte. Oder wenn ich eben darum trauere, dass mein Kind gestorben ist, weil ich mir ein Leben mit ihm vorgestellt habe. Ich betrauere, dass ich mit diesem Menschen keine Zukunft haben werde. Dabei geht es in der Regel um mich. Natürlich geht es auch zum Teil um den Verstorbenen, dem ich ein längeres, schönes und gesundes Leben gewünscht hätte. Aber letztendlich betrauere ich mich selbst.
Wenn etwas todsicher ist, dann ist es der Tod. Er gehört zum Leben. Wir können auch Kinder nicht vor ihm schützen.
Wir wissen nicht, was kommt. Das Leben ist nicht planbar. Es geht um das Leben hier und jetzt. Dass wir uns von Menschen, der Erinnerung an sie und der damit verbundenen Vorstellung von Zukunft verabschieden, ist eine harte Erkenntnis und Quelle eines schier unerträglichen Schmerzes. Aber warum schaffen es manche Menschen, solche Schicksalsschläge auszuhalten und manche nicht? Warum leben die einen weiter, während die anderen daran zerbrechen? Ich glaube, es geht um das, was wir als Kinder gelernt haben. Ob wir Eltern hatten, die bei Krisen und Problemen immer einen Weg gefunden haben – oder die früh resignierten. Es spielt auch eine Rolle, wie früh man selbst mit Schicksalsschlägen konfrontiert wurde und ob man Strategien entwickeln musste, um mit Verlust umzugehen.
Manche Eltern lehnen es ab, mit ihren Kindern auf Beerdigungen zu gehen, weil die so traurig sind. Klar ist das traurig. Aber Eltern müssen ihren Kindern zeigen, dass man weinen darf! Wenn man nicht trauert, holt einen das ein. Wenn man seine Kinder nicht zu einem Abschied am offenen Sarg von Oma oder Opa mitnimmt, dann nimmt man ihnen die Chance zu begreifen, dass die Großeltern nicht schlafen. Sie sollen sehen, dass der Körper gestorben ist, dass dieser beerdigt werden kann. Es ermöglicht das Begreifen.
Auch ich bin angesichts mancher familiärer Schicksalsschläge sprachlos. Frage mich: Wie viel kann ein Mensch ertragen? Trotz aller Tragik schaffen es manche und können ihr Schicksal irgendwann annehmen. Diesen Menschen begegne ich mit großem Respekt. Sie sind zu meinen Vorbildern geworden, gerade wenn die Angehörigen Opfer von Gewaltverbrechen wurden. Es ist ein Unterschied, ob jemand einen geliebten Menschen durch einen Mord, durch Suizid oder einen Unfall verliert. Bei Gewaltverbrechen, gerade wenn Kinder getötet werden, ist es für die Überlebenden oft schwer, einen Weg zu finden, der das Weiterleben möglich macht. Diesen Eltern wünsche ich, dass sie nicht daran zerbrechen – und doch würde ich es verstehen. Ich möchte damit auf gar keinen Fall die Trauer anderer Hinterbliebenen schmälern, ganz im Gegenteil.
Der Schmerz ist bei vielen unendlich und verändert das Leben. Doch die Umstände des Todes beeinflussen ein Weiterleben immens.
Ich bin für manche ein Vorbild, weil ich es auch geschafft habe. Allerdings habe ich nichts Vergleichbares erlebt. Mein Kind starb an einer Krankheit. Ich konnte mich drauf vorbereiten, mich verabschieden und den Tod meines Sohnes in mein Leben integrieren. Ich hatte mir für mein Leben viele Kinder gewünscht, es ist bei meinem einzigen geblieben.
Seit ein paar Jahren gibt es ein neues Herzensprojekt: Wir bieten mit unserer AETAS-Kinderstiftung an, Kinder und Jugendliche nach einem einschneidenden Ereignis zeitnah zu betreuen, um spätere psychische Erkrankungen und Traumata zu verhindern. Es sind Kinder, die den plötzlichen Tod eines geliebten Menschen oder Suizid eines Elternteils miterleben mussten, Zeugen eines tragischen Unfalls wurden oder eine erschütternde Gewalterfahrung gemacht haben.
Unsere spendenfinanzierte Einrichtung steht ihnen, ihren Eltern, Verwandten, Freunden und Nachbarn in schweren Zeiten kostenfrei zur Seite. Besonders die Kinder zu sehen, die in ihrer Trauerarbeit so leicht übersehen werden, und Präventionsarbeit zu leisten, bevor die kleinen Seelen krank werden, ist mir eine Herzensangelegenheit.
Nicole Rinder, 45, leitet mit Florian Rauch das Beerdigungsinstitut AETAS am Münchner Westfriedhof, auf dem auch ihr Sohn liegt. Mit Rauch hat sie drei Bücher geschrieben: Das letzte Fest. Neue Wege und heilsame Wege Rituale in der Zeit der Trauer, Damit aus Trauma Trauer wird und Weiterleben nach dem Suizid eines nahestehenden Menschen sind im Gütersloher Verlagshaus und Wie Kinder trauern im Kösel Verlag erschienen. Ihr Institut und die Kinderstiftung sind im Internet unter www.aetas.de zu finden. Gerade ist auch ihre Biografie Der Tod bringt mich nicht um im Patmos Verlag erschienen
»Ich habe heute keinen Hass mehr auf die Deutschen.«
ANDRZEJ KORCZAK-BRANECKI
Ich wurde am 15. Januar 1930 in Warschau geboren. Mein Vater starb noch vor Kriegsbeginn, ich musste die Schule verlassen und meiner Mutter von da an bei der Versorgung meiner drei jüngeren Geschwister helfen.