Adriana Popescu, 1980 in München geboren, arbeitete als Drehbuchautorin für das Deutsche Fernsehen, bevor sie als freie Redakteurin für verschiedene Zeitschriften und schließlich als Autorin für mehrere renommierte Buchverlage Romane schrieb.
Sie lebt mit großer Begeisterung in Stuttgart.
Mehr Infos unter: www.adriana-popescu.de
Instagram: https://www.instagram.com/popescu_schreibt
Adriana Popescu
Das Weihnachtsmärchen
des
Ben Polar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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1. Auflage 2020
Originalausgabe 2013 unter dem Titel
Das schräge Leben des Ben Polar in der Anthologie ‚Liebe hoch 5‘
© 2020 Adriana Popescu
adriana@adriana-popescu.de
Lektorat: Thomas Lang
Korrektorat: Birgitt Weisser
Umschlaggestaltung & Satz: Grace Gibson Design
pexels/Nubia Navarro (nubikini)
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 9783752639902
Das Weihnachtsmärchen
des
Ben Polar
ADRIANA POPESCU
Für alle Alltagshelden.
Und dich.
Ben Polar, das bin ich.
Wenn mein Leben ein Film wäre, würde man meine Rolle nicht mit einem dieser grandios gut aussehenden Hollywood-Schauspieler mit Waschbrettbauch und perfekter Frisur besetzen.
Und wenn sich ein Regisseur für besagten Film finden müsste, wäre es sicher nicht Steven Spielberg. Dafür explodieren in meinem Leben zu wenig Autos und es landen keine niedlichen Außerirdischen in meinem Vorgarten. (In welchem Vorgarten? Ich kann von Glück reden, wenn ich gerade mal wieder eine Wohnung habe.)
Den Soundtrack dazu schmettert auch nicht Robbie Williams oder Justin Timberlake. Tut mir leid.
Nein, mein Leben wäre ein kleiner Independent-Film, der in ausgewählten, winzigen Kinos am Stadtrand läuft und der es niemals auf die Nominierungsliste der Academy Awards schafft, weil kein großes Studio dahinter steht.
Genau genommen sitzen Sie jetzt schon in diesem Kino und schauen sich den Vorspann meines kleinen Lebens an. Wieso Sie hier sind, fragen Sie sich jetzt vermutlich. Nun, weil auch Alltagsmenschen ihre kleinen Geschichten erzählen. Weil es zwischen den ganzen Helden mit dem perfekten Lächeln und dem makellosen Gesicht, eben auch Menschen wie mich gibt. Jemanden, an dem man auf der Straße ohne einen zweiten Blick vorbeigeht und dessen Gesicht man schon nach drei Schritten vergessen hat. Aber manchmal sind es eben genau diese Menschen, von denen man es nicht erwarten würde, die für einen kurzen Moment ein Leben verändern.
Sind wir doch mal ehrlich, wir alle wollen für diese eine Person ein Held sein, unvergesslich, die Liebe des Lebens oder ein Grund zum Lächeln. Oder? Wenn Sie an dieser Stelle nicken, haben wir vielleicht mehr gemeinsam, als Sie gedacht haben.
Da ich Ihnen kein Popcorn reichen kann, wünsche ich Ihnen einfach viel Spaß. Vielleicht treffen wir uns ja mal auf der Straße und Sie sehen doch ein zweites Mal hin.
Ihr Ben Polar
»Hannah, das kannst du nicht machen!«
Erneut drücke ich auf die Klingel neben dem Namensschild Schwarzbeck/Polar und hoffe, dass sie diesmal nachgibt. Von mir aus darf sie sauer sein. Genervt. Ja sogar wütend – aber sie soll endlich diese verdammte Tür öffnen!
»HANNAH!«
Dauerklingeln, wie früher, als man im Kindesalter die Nachbarn nerven wollte. Aber irgendwann erstirbt das Klingeln. Mist! Sie hat sie ausgeschaltet. Vor zwei Wochen hatte sie ganz unauffällig gefragt, wo man noch mal die Klingel ausschalten könnte … Und ich Idiot habe es ihr selbstverständlich gezeigt. Das Handy hat sie natürlich auch schon längst ausgeschaltet. Ach was, vermutlich hat sie sich letzte Woche eine neue Nummer zukommen lassen. Jetzt stehe ich vor unserer Haustür, zu der mein Schlüssel nicht mehr passt, und drücke auf die Klingel neben dem Schild mit unseren Namen – und es passiert nichts. Meine Freundin geht nicht an ihr Handy und hat mich auf eine sehr uncharmante Weise vor die Tür gesetzt.
Neben mir stehen drei Kartons, meine Sporttasche, mein Kulturbeutel, mein Plattenspieler, die Ski-Schuhe, das Pennyboard und mein Surfbrett. Mit anderen Worten: alles, was mir gehört hat. Nur unseren Kater – also meinen Kater – den sehe ich nicht. Natürlich nicht. Oscar will sie behalten. Oscar, der mich sowieso nicht gemocht und immer in meine Schuhe gepinkelt hat. Es ist der 24. Dezember, ich trage ein Weihnachtsmann Kostüm und meine Freundin hat sich nicht nur von mir getrennt, sondern sie hat mich regelrecht aus ihrem Leben geschnitten. Einfach so. Und ob ihr das jetzt glauben wollt oder nicht, das war noch nicht das Schlimmste, was mir heute schon passiert ist. Aber dazu später.
»Ja, hallo Hannah, ich bin es noch mal. Ben. Ich wollte nur sagen ...«
Was genau will ich ihr noch mal sagen? Dass sie mich bitte zurück in die Wohnung lassen soll und mir eine zweite – okay, vierte! – Chance geben soll? Das könnte ich versuchen, aber es würde nicht ehrlich klingen. Nein, so richtig böse bin ich ihr nicht. Klar, ich hätte auch noch zwei Monate (oder so) mit ihr in der Wohnung leben können. Vermutlich sogar zwei Jahre. Aber eine kleine Warnung wäre eine nette Geste gewesen. Vor allem nach einer so langen Zeit. Drei Jahre war Hannah jetzt die Frau an meiner Seite. Da könnte man doch eine SMS erwarten. So was wie: »Ben, es geht nicht mehr.« Oder: »Ben, du hast zwei Tage, um auszuziehen.« Aber was will ich ihr nun sagen?
» … dass du ein herzloses Miststück bist! An Weihnachten! Das ist echt zum kotzen!«
Damit beende ich etwas aufgebracht meinen Spruch auf ihrer Mailbox und hieve den nächsten Karton in den Kofferraum des Mitsubishi L300, meines geliebten Kleintransporters und Traumwagens. Ein Glück haben wir dieses Jahr keine weißen Weihnachten, das hätte mir nun wirklich noch gefehlt. Die fast schon frühlingshaften Temperaturen lassen mich unter dem Polyesterkostüm schwitzen. Außerdem kratzt der Rauschebart, den ich ebenfalls noch immer trage. Scheiß Weihnachten! Das steht auch jetzt schon fest.
»Schau mal, Mama! Frag doch den Weihnachtsmann!«
Eine Kinderstimme ertönt irgendwo hinter mir auf der Straße und reflexartig ziehe ich den Bart wieder in eine ordentliche Position. Als ob das noch irgendwas retten würde. Ich bin kein guter Weihnachtsmann und die meisten Kinder haben das sofort entdeckt. Leider.
»Lara, das ist kein echter Weihnachtsmann.«
Okay, vielleicht erkennen es auch nur die Mütter. Ein bisschen fühle ich mich in meinem Stolz verletzt und drehe mich langsam um. Der dicke Stoffbauch lässt mich älter wirken als ich bin, und auch wenn ich mit meiner Interpretation von Santa keinen Oscar gewinnen werde, lege ich mich ins Zeug.
»Ho-ho-ho, wer wird denn gleich so was sagen?«
Ich nenne es meine »Ho-ho-ho-Stimme« und zeige ein Lächeln, irgendwo unter diesem Ungetüm von einem Kunstbart, der den Großteil meines Gesichts verdeckt. Eine junge Frau steht mit ihrer kleinen Tochter an der Hand vor mir und sieht mich skeptisch an. Klar. Wir beide wissen, ich bin nicht Santa. Aber müssen wir der Tochter den Weihnachtsspaß ruinieren, nur weil wir einen miesen Tag hatten?
»Frag ihn, Mama!«
Das kleine Mädchen, vielleicht sechs Jahre, sieht ihre Mutter aus großen, blauen Augen an und lächelt. Ihr fehlen zwei Zähne oben, so wie bei Felix auch.
»Lara, der Mann ist nicht ...«
»Frag ihn!«
Wer kann Kinderaugen schon widerstehen? Und so dreht sich die junge Frau zu mir und sieht mich an. Alles in ihrem Blick verrät, was sie wirklich über mich denkt. Ein Kerl, der im Weihnachtsmann Kostüm einen Mitsubishi-Bus einräumt und bemüht lässig an seinem Surfbrett lehnt. Zu viele Details untergraben die Authentizität meines Auftritts.
»Lieber Weihnachtsmann … könntest du … Das ist doch bescheuert!«
Oha. Sie scheint wirklich keinen besonders guten Tag zu haben. Lange braune Haare, braune Augen und ein zierliches Gesicht, das etwas übermüdet aussieht. Sie ist hübsch, ohne jeden Zweifel. Die Kleine zupft an ihrem Ärmel, will sie offenbar motivieren. Diese Situation ist etwas schräg – um es untertrieben auszudrücken. Eigentlich könnte es mir auch egal sein, was diese Frau für ein Problem hat, und wieso sie mich so ansieht, wie sie mich ansieht. Aber das kleine Mädchen, Lara, sieht mich aus ihren Knopfaugen an. Dabei scheint sie von mir so etwas wie die allgemeingültige Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Universums zu erwarten.
»Kannst du machen, dass Papa da ist?«
Wenn Kinder solche Fragen stellen, dann weiß man sofort: Irgendwas ist da wohl im Familiengeflecht nicht so ganz okay. Mama hat braune Augen, Lara blaue. Ergo: Papa hat blaue Augen und Papa ist nicht da. Autounfall? Krankheit? Tod? Zu viele Daily-Soap-taugliche Schicksalsschläge zischen durch mein Gehirn, vermutlich verliere ich irgendwann an diesem Abend meinen Verstand. Es ist nicht die Frage an sich, es ist die Menge an Hoffnung, die Lara in die Frage steckt. Noch ein Kind, das ich heute enttäuschen werde. Langsam gehe ich vor ihr in die Hocke und nehme mir fest vor, die Sache jetzt nicht in den Sand zu setzen. Komisch, dass ich mich immer zu Aufgaben berufen fühle, die nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fallen.
»Wo ist der Papa denn?«
»Der ist einfach nicht gekommen.«
Und dann kullert eine Träne über ihre Wange und ich hasse mein Kostüm. Würde ich es nicht noch immer tragen, wären diese beiden einfach an mir vorbeigegangen. Aber jetzt habe ich eine wütende Mutter und ein weinendes Kind hier. Dabei bin ich gerade vor die Tür gesetzt worden! Mein Leben ist auch nicht gerade das, was man ein oscarreifes Drehbuch nennt. Doch niemand scheint Mitleid mit mir zu haben. Stattdessen sind jetzt diese beiden Menschen in mein Leben gestolpert und wecken einen kleinen Teil meines Herzens, das bisher wie tiefgefroren in meiner Brust hing.
»Dabei hat er es versprochen.«
Ja. So ist das manchmal. Zu gerne würde ich ihr erklären, dass Vatersein nicht immer leicht ist. Er hatte bestimmt seine Gründe, die ein kleines Mädchen nur noch nicht verstehen kann. So ist das doch immer. Aber ein Blick nach oben zu der Mutter, die ebenfalls mit den Tränen kämpft, scheint ein anderes Bild zu zeichnen. Hat er sie sitzen lassen? Mein Blick wandert kurz über das Gesicht der Mutter, die nicht älter als ich zu sein scheint und dennoch gerade älter als nötig aussieht.
Nein, Ben, tue das nicht! Es ist nicht dein Problem. Du hast gerade deine Bleibe verloren.
Ich stehe wieder auf und sehe sie an.
»Wo ist er denn?«
Als ob das etwas ändern würde. Oder mich auch nur im Geringsten etwas angehen würde.
»Er ist in Stuttgart. Hat den Zug wohl verpasst ...«
Das ist die Version, die der Tochter erzählt werden soll, denn sie verdreht dabei die Augen. Offenbar scheint er nicht der zuverlässigste Vater zu sein. Ich nicke, als würde ich verstehen. Dabei verstehe ich gar nichts. Ich verstehe nicht, wieso Hannah die Notbremse gezogen hat, ich verstehe nicht, wieso ich noch immer dieses Kostüm trage – nach all dem Drama – und ich verstehe nicht, wieso mich die Geschichte dieser Frau interessiert.
»Das tut mir sehr leid.«
Es ist ernst gemeint, klingt aber irgendwie wie eine Floskel, die man in einer solchen Situation eben so sagt und die sie bestimmt ständig hört, wenn sie von ihrem Ex-Freund beziehungsweise Vater ihrer Tochter erzählt.
»Klar. Komm, Lara, lass uns gehen.«
»Warte!«
Spätestens jetzt muss ich wie ein gestörter Triebtäter wirken. Aber wenn das Weihnachtsfest der kleinen Lara schon vermiest wurde, dann hat sie doch zumindest ein Trostpflaster verdient. Irgendwo in meinem Bus liegt noch der Sack mit den Geschenken für die Kinder: billige Stofftiere, die beim letzten Jahrmarkt keinen Abnehmer gefunden haben und Spielzeugautos, bei denen sich mindestens ein Rad nicht mehr bewegen lässt. Ich greife ins Innere und ziehe einen hellblauen Plüschhasen hervor. Ein Hase zu Weihnachten. Naja …
»Hier, für dich. Ist nicht der Papa, aber ein kleines Geschenk. Frohe Weihnachten!«
Etwas unsicher sehe ich zwischen Mutter und Tochter hin und her. Das ist eine mehr als alberne Geste. Und der Hase ist vermutlich in einer nicht angemeldeten pakistanischen Fabrik aus gesundheitsschädlichen Stoffen hergestellt worden. Nachdem die junge Frau nickt, nimmt Lara den Hasen und schenkt mir ein schüchternes Lächeln. Mehr kann ich leider nicht für die beiden tun. Auch wenn ich es gerne würde. Aber das ist nun wirklich nicht meine Abteilung. Nicht mein Auftrag. Nicht mein Problem.
»Danke.«
»Nicht dafür.«
Während sie die Straße entlang weitergehen, räume ich den nächsten Karton in den Bus und frage mich, was Felix sich wohl zu Weihnachten wünscht? Ob ich in diesen Wünschen auch nur die geringste Rolle spiele? Und ob das kleine Mädchen ihrem Vater eines Tages verzeihen kann?
»Hey Axel! Lange nicht mehr gehört … ja also … Nee, klar … Ach … Amsterdam, ja? Cool! … Aha. Aha. … Hm. … Ja. Nee, wollte nur frohe Weihnachten wünschen. … Ja. Ciao.«
»Hannes, alte Hütte! Na, was macht das Leben? … Ja … cool … Du sag mal, könnte ich vielleicht ein paar Tage bei dir pennen? … Jaja. Bin ausgezogen … Aha ... Hm. Klar … Nein, kein Ding!«
»Servus Marcel, mein Bester! Hör mal, frohe Weihnachten und so. Kann ich bei dir pennen? … Ach so … Klar … Grüß alle.«
»Hannah, es ist echt frisch und ich habe keinen, bei dem ich pennen kann. Kann ich vielleicht erst nach den Feiertagen ausziehen? Ich entschuldige mich auch für die letzte Nachricht auf deiner Mailbox. Also ich erwarte deinen Rückruf, ja?«
Soviel dazu. Ich habe also jetzt keinen Schlafplatz, keine Freundin, keinen Kater. Würde sagen: Es läuft! Also mache ich das, was alle Menschen an Weihnachten tun: sich ein Festmahl gönnen. In meinem Fall ist das eine Currywurst an der Tankstelle, denn die meisten anderen Läden haben geschlossen. Nur der arme Tankwart und ich stehen zusammen an diesem Feiertag hier. Würde ja gerne behaupten, das schweißt uns zusammen oder es ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft – aber als ich die Soße auf den Fußboden kleckere, bekomme ich dafür einen ordentlichen Anschiss. Somit ist das schon der zweite Mensch, der mich an Weihnachten nicht bei sich haben will. Trotzdem versuche ich, das Beste aus der Situation zu machen.
»Sie wären jetzt auch sicher lieber woanders, oder?«
»Hm.«
Er antwortet knurrend und ich kaue erst mal ein weiteres Stück Wurst klein, bevor ich es noch mal versuche.