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Prof. Dr. Mone Welsche, Freiburg i. Br., Bewegungstherapeutin und -pädagogin, ist Professorin für Entwicklungsförderung im Kindes- und Jugendalter an der Katholischen Hochschule Freiburg.

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbe- zeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kenn- zeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02751-4 (Print)

ISBN 978-3-497-60465-4 (PDF)

ISBN 978-3-497-60983-3 (EPUB)

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Covermotiv und Abbildungen im Innenteil unter Verwendung von Fotos von Prof. Dr. Mone Welsche und Hannah Heine

Satz: Sabine Ufer, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Geleitwort

Einleitung

1     Eine beziehungsorientierte Bewegungspädagogik nach V. Sherborne

1.1   Biographisches

1.2   Die Laban-Bewegungslehre – Inspiration und theoretische Grundlage

1.3   Grundannahmen, Ziele und Bausteine des Sherborne-Konzeptes

1.4   Pädagogische Prinzipien und didaktische Hinweise

1.5   Beobachtung als förderdiagnostischer Zugang

1.6   Anmerkungen zum Forschungsstand

2     Anreicherungen

2.1   Eine bewegungsorientierte Perspektive

2.2   Eine beziehungsorientierte Perspektive

2.3   Das Selbstkonzept als integrierendes Element

2.4   Förderung nach dem Sherborne-Konzept über die Lebensspanne und bei verschiedenen Zielgruppen

3     Anregungen für die Praxis

3.1   Körperwahrnehmung als Vergewisserung des Ichs

3.2   Raumwahrnehmung als Achtsamkeit für den Kontext

3.3   Bewegungsqualitäten als Erprobung von Handlungs- und Ausdrucksspielräumen

3.4   Beziehungsdimensionen als Erfahrung von Gegenseitigkeit

4     Anwendungsbeispiele

4.1   Gruppe mit Mädchen und Jungen der ersten und zweiten Klasse im Hort

4.2   Gruppe für kognitiv beeinträchtigte Mädchen und Jungen zwischen sechs und zehn Jahren

4.3   Gruppentherapie mit Mädchen zwischen 13 und 16 Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

4.4   Eltern-Kind-Gruppe mit drei- und vierjährigen Kindern

4.5   Frühförderung mit einem vierjährigen Jungen

4.6   Inklusive Gruppe mit Kindern zwischen vier und zehn Jahren

4.7   Gruppe mit kognitiv beeinträchtigten Erwachsenen

4.8   Gruppe mit SeniorInnen in einer Alterseinrichtung

Literatur

Anhang

Filmverzeichnis

Fortbildungsmöglichkeiten

Sachregister

Hinweise zur Verwendung der Icons

images     Gruppenaktivität
images     Partneraktivität
images     Einzelaktivität
images     Körperwahrnehmung
images     Raumwahrnehmung
images     Bewegungsqualität

Geleitwort

In den 1960er Jahren begann die englische Leibeserzieherin Veronica Sherborne, ihre besondere Form der Bewegungspädagogik in Filmen zu dokumentieren und so einem größeren Personenkreis bekannt zu machen.

Filmtitel wie „In Kontakt sein“ (1965), „Erkundungen“ (1971), „Ein Gespür für Bewegung“ (1976), „Eine Sache des Vertrauens“ (1980), „Brücken bauen“ (1982) und „Gute Freunde“ (1986) sind kennzeichnend für ihre Botschaft: Bewegung ist das zentrale Medium ihres besonderen heil- und bewegungspädagogischen Ansatzes, der auf Vertrauen basiert, der freudvoll und gemeinschaftsstiftend ist und der es vermag, „Brücken in die Welt“ besonders für solche Menschen zu schlagen, die einer besonderen Förderung bedürfen.

V. Sherborne arbeitete zunächst bei Kindern mit einer geistigen Behinderung. Später erweiterte sie ihre Tätigkeit auf Gruppen mit anderen Behinderungen und Störungsbildern, sog. „Special Needs“ wie Autismus, Schwerstbehinderung und Verhaltensauffälligkeiten. Zeitgleich mit dem Jahr ihres Todes 1990 hat sie unter dem Titel „Developmental Movement for Children“ ihre Ideen und praktischen Anregungen in eine schriftliche Form gebracht. Ihr Konzept erweiterte sie hier von Kindern mit einer Behinderung oder anderen Auffälligkeiten auf alle Kinder sowie auch auf die Früherziehung. Ihr Buch erschien – u. a. nach Veröffentlichungen in Skandinavien, Japan und Holland – unter dem Titel „Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik“ 1998; in Deutschland, eingeführt und übersetzt von C. Dirjack. Durch die deutschsprachige Titelwahl wurde ein Aspekt ihrer Arbeit, die Anbahnung von Beziehung und Kommunikation durch gemeinsame Bewegungsaktivitäten, besonders hervorgehoben.

Trotz einer weitreichenden internationalen Beachtung ist der Ansatz von V. Sherborne hierzulande einer größeren Fachöffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben: Und das vor allem in der akademischen Disziplin der Leibeserziehung (seit Mitte der 1970er Jahre der Sportpädagogik), die sich zwar zentral mit der bildenden Bedeutung von Bewegungs-, Spiel- und Sportaktivitäten befasste, ohne sich jedoch in ihren didaktischen und methodischen Konzepten näher auf Personen außerhalb des schulischen „Mainstreams“ zu beziehen. In den Präambeln der Richtlinien für die Schule und in wenigen Einzelpublikationen wurde zwar immer wieder die sozialbildende Kraft von Bewegung und Sport beschworen mit insgesamt nur einem geringen Einfluss auf die Praxis des schulischen Sportunterrichts. Dieser orientiert sich größtenteils weiterhin – nach Schulform allerdings unterschiedlich – an einem sportlich bestimmten Leistungsbegriff mit eindeutigen Bewertungsszenarien. In der wissenschaftlichen Sportpädagogik wurde ab Mitte der 1990er Jahre sogar eine intensive Debatte darüber geführt, ob eine Instrumentalisierung des Sports für übergeordnete Bildungszwecke wie z. B. sozialem Lernen nicht seiner ursprünglichen Sinngebung zuwiderliefe.

Jenseits dieser meist akademischen Diskussion hatten schon erheblich früher, d. h. ab Mitte der 1980er Jahre u. a. mit der Psychomotorischen Erziehung in Kindergärten, Sonder- und Grundschulen sowie außerschulisch mit den „New Games“ und der Erlebnispädagogik Konzepte erfolgreich Einzug gehalten, die sich in ihren Zielen und Methoden weitgehend jenseits von dominierenden schulsportpädagogischen Überlegungen bewegten. Eine Veränderung und neue Dynamik für die Mainstream-Sportpädagogik wurde erst wieder durch die vor kurzem von internationalen Entwicklungen angestoßene gesellschafts- und bildungspolitische Entscheidung für mehr Inklusion ausgelöst. Wurden bis dahin Themen wie Integration, Behinderung, Inklusion und Teilhabe – im Gegensatz zu internationalen Entwicklungen – in der deutschsprachigen Sportpädagogik eher randständig behandelt, so erfahren neuerdings diese Themen in Lehre, Forschung und Praxis eine größere Aufmerksamkeit und Berücksichtigung.

Auf diesem Hintergrund ist auch die (Wieder-) Entdeckung der Arbeiten von V. Sherborne mit ihren theoretischen und praktischen Anreicherungen durch die Autorin dieses Buches zu verstehen. Das ursprüngliche Konzept wird hier in neuartiger Weise um ausgewählte sportpädagogische und entwicklungspsychologische Aspekte ergänzt und unter besonderer Berücksichtigung der Inklusion auch für andere Adressatengruppen handhabbar gemacht.

Ein entscheidendes Merkmal des ursprünglichen Ansatzes von V. Sherborne bleibt dabei jedoch weitgehend erhalten: Die enge Orientierung an dem Phänomen der Bewegung selbst, die – so ihr theoretischer Mentor Rudolf von Laban – entscheidend durch die konstitutiven Merkmale Kraft, Zeit, Raum und Antrieb bestimmt wird. Dass die Übung und das Spiel mit diesen Merkmalen allerdings nicht für die Begründung eines erzieherischen, heilpädagogischen oder therapeutischen Konzepts hinreichend ist, macht Laban 1966 ebenfalls deutlich:

„Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass es unsinnig ist, dem Tanzen als solchem [der Bewegung als solcher, G. H.] irgendeine heilende oder erzieherische Wirkung zuzuschreiben“ (Laban 1966, zit. n. Willke et al. 1991, 88).

Laban macht für die positiven Wirkungen von Bewegung – und dies bezieht er vor allem auch auf rhythmische Bewegungen in der Arbeitswelt und das Spiel von Kindern im Alltag – eine „magische Kraft“, ein „gewisses Etwas“, ein „Mysterium“, eine „Zauberei“ verantwortlich. Dieses „magische Element“, das er auch als „Anmut der Bewegung“ beschreibt, bleibt letztlich auch durch qualitativ diagnostische Verfahren wie die Labanotation oder eine biomechanische Bewegungsanalyse nicht beschreibbar und ist, wie z. B. die Noten in der Musik, nur recht unvollkommen immer wieder gleich reproduzierbar.

Das vermag wohl auch zu erklären, warum V. Sherborne zur Verbreitung ihrer Ideen eher die filmische Darstellung mit einem atmosphärischen Eindruck des Geschehens, mit der sichtbaren Mimik und Gestik als lebendigem Ausdruck des Interesses und der Freude gewählt hat und nicht die sprachlich festgelegte Form eines Buches, das die Besonderheiten des nonverbalen Ausdrucks nur unvollkommen zu beschreiben vermag. Für die weitere Lehrbarmachung und Verbreitung einer ursprünglichen an V. Sherborne gebundenen „MeisterInnenlehre“ sind jedoch aktualisierte Anbindungen an aktuelle sport- und heilpädagogische sowie entwicklungspsychologische Aspekte unbedingt notwendig.

Eben dies hat die Autorin u. a. auf der Basis ihres heil- und sportpädagogischen Wissens und ihrer vielfältigen Erfahrungen mit unterschiedlichen Gruppen von Menschen mit Behinderungen und Auffälligkeiten getan.

Fachbücher vermögen jedoch nicht die Mühe zu ersetzen,

„sich mit den eigenen Bewegungen und den gezielten Gefühlsregungen, die sich darin widerspiegeln, vertraut zu machen“ (Laban 1966, zit. n. Willke et al. 1991,86 f).

Den LeserInnen dieses Buches wünsche ich beides: Dass sie die „Magie und Anmut der Bewegung“ hinreichend selbst erleben dürfen und die Fähigkeit entwickeln, das Erlebte professionell einzuordnen und zu reflektieren. Besonders für das Letztere ist das Buch eine gute Hilfe.

Gerd Hölter, Bornheim im September 2017

Einleitung

BEISPIEL

Maria, Paul, Tim und Eva sind Vorschulkinder eines Regelkindergartens. Die ErzieherInnen der Gruppe beklagen, dass die Kinder untereinan der sehr wild seien und häufig rangeln würden. Da viele offensichtlich Schwierigkeiten hätten, ihre Kräfte zu kontrollieren, würde das spielerische Kämpfen oftmals in Streit ausarten. Mittlerweile wurden Verhaltensregeln aufgestellt, die die „Kämpfchen“ verbieten. Trotzdem sei bei vielen Kindern das Rangeln kaum zu unterbinden.

Peter, Til und Jakob sind zwischen 11 und 12 Jahren alt und Schüler an einer inklusiven Schule. Bei Peter besteht Verdacht auf ADHS. Er ist unruhig, impulsiv und kann sich schlecht konzentrieren. Er streitet viel mit anderen Kindern und versucht häufig, sich mit unfairen Mitteln durchzusetzen. Til ist als Regelschüler in der Klasse. In seinen Bewegungen und Verhalten ist er eher unsicher und zurückhaltend. Blickkontakt nimmt er kaum auf, Konfrontationen geht er meist aus dem Weg. In Situationen, die eine Kooperation mit anderen erfordern, zieht er sich eher zurück. Jakob hat eine leichte geistige Behinderung und sitzt im Rollstuhl. Diesen kann er an „guten Tagen“ verlassen und ein paar Schritte gehen. Er ist gut in die Gruppe integriert.

Frau Scholz ist 75 Jahre alt. Sie lebt zurückgezogen in einem Pflegeheim. Bei ihrer Alltagsgestaltung braucht sie Unterstützung, da sie im Rollstuhl sitzt und auch in ihren feinmotorischen und kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt ist. Es kommt regelmäßig eine Pflegekraft, die ihr beim Waschen und Anziehen hilft. Frau Scholz nimmt am gemeinsamen Essen teil. In den angebotenen Sing- und Bastelkreisen ist sie eher passiv und wenig motiviert, was sich in ihrem zurückhaltenden Verhalten äußert. Es besteht der Verdacht auf Demenz im frühen Stadium.

Unter dem Schlagwort „Förderung der emotional-sozialen Kompetenz“ zieht sich die Entwicklung einer positiven Beziehungsgestaltung zur eigenen Person und zu anderen Menschen als zentrale Aufgabe durch sämtliche pädagogische Arbeitsfelder. Auch die Unterstützung in der Ausbildung oder im Erhalten von motorischen Kompetenzen, verstanden als Handlungskompetenz und Ausdrucksmöglichkeit, bildet ein Kernthema vieler pädagogischer Aufträge.

In den einleitenden Fallbeispielen werden Menschen beschrieben, die Unterstützungsbedarf in einem oder beiden Bereichen haben und von einem pädagogischen Angebot zur Förderung von Beziehungs- und Bewegungskompetenz profitieren können. Obgleich das Sherborne-Konzept die Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Beziehungsgestaltung ermöglicht wie kein anderes, ist es in Deutschland bisher eher unbekannt. In meinem Studium hatte ich das Glück, ein Seminar zu diesem bewegungspädagogischen Ansatz belegen zu können, der sich durch zwei Bausteine auszeichnet:

1. Eine von Rudolf v. Laban geprägte Bewegungsarbeit, in welcher Körper-, Bewegungs- und Raumerfahrung im Vordergrund stehen, und

2. die Beziehungsgestaltung zu anderen Personen im Füreinander, Gegeneinander, Miteinander.

Im Erleben und Reflektieren des Sherborne-Konzeptes wurde mir klar, dass es optimale Möglichkeiten bietet, um differenzierte Beziehungserfahrungen zu vermitteln. In anderen bewegungspädagogischen und –therapeutischen Methoden wird der Begriff der Beziehungsgestaltung, außerhalb von bindungstheoretischen Überlegungen, meist nicht explizit benannt. Verschiedene Ebenen wurden bereits mit den Kompetenzbereichen der frühen Psychomotorik angedeutet, die von Hölter (1993) für Therapiezwecke präzisiert wurden. In seinem Ansatz zu einer Methodik der Mototherapie mit Erwachsenen unterscheidet er zwischen der Beziehung zur eigenen Person, zur Gruppe und zu Material und Umfeld. Mit dieser Unterscheidung bietet Hölter eine Systematik, die sich ähnlich im Sherborne-Konzept wiederfindet, hier allerdings enger am Phänomen der Bewegung im interpersonalen Kontakt ausgearbeitet wurde.

Sherbornes Aufteilung in die drei Beziehungsdimensionen Füreinander, Gegeneinander und Miteinander erschien mir schon damals besonders einleuchtend und im Vergleich zu anderen Ansätzen, die den Bereich der Sozialerfahrung thematisieren, wesentlich differenzierter und in der Einfachheit brillant. Auch Labans Bewegungslehre, als Basis des Sherborne-Konzeptes, machte für mich sehr viel Sinn und bot eine wertvolle Ergänzung zu einer von mir oft als wenig am Phänomen der Bewegung wahrgenommenen Psychomotorik.

In meiner späteren bewegungstherapeutischen und -pädagogischen Tätigkeit stellte Sherbornes Konzept einen festen Bestandteil meines Methodenrepertoires dar. Wann immer das Thema „Beziehungsgestaltung“ zu anderen Menschen und zur eigenen Person Therapie-, Förderziel oder Stundenmotiv wurde, griff ich auf die Idee von Sherborne zurück und erlebte, wie ich mithilfe der Bewegungsaktivitäten Beziehung in den drei Dimensionen strukturieren, erfahrbar machen und Entwicklung unterstützen konnte – und wie sich dabei eine positivere Selbstwahrnehmung meiner PatientInnen zu entwickeln schien.

Um das Konzept in den deutschen bewegungspädagogischen Methodenkanon zu etablieren, ist eine aktuelle deutschsprachige Bearbeitung mit einer theoretischen Fundierung, die über Labans Bewegungslehre hinausgeht, dringend notwendig. Mit diesem Buch versuche ich, diese Lücke zu schließen.

Dazu stelle ich zunächst das Konzept von Veronica Sherborne als eine beziehungsorientierte Bewegungspädagogik vor. Mit der Betonung des Beziehungsaspektes, für die sich auch Dirjack (1998) in seiner deutschen Übersetzung des Sherborne Buches entschieden hat, greife ich das für Sherborne zentrale Thema des „Relationship Play“ als spielerische Beziehungsgestaltung in Bewegung auf und binde es in Theorien und Modelle aus der Bewegungs- und Sportpädagogik, Psychomotorik, Entwicklungspsychologie und Selbstkonzeptforschung ein.

Mit den Sherborne typischen Bewegungsaktivitäten werden sowohl Beziehungserfahrung zum „Ich“, zum „Du“ als auch zum „Wir“ vermittelt. Das Verständnis von „Beziehung“ ist in dieser Bearbeitung des Konzeptes also breit gedacht. Es bildet den Kern und gleichzeitig die übergeordnete Struktur:

1. Es beinhaltet die Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen. Die Bewegungsaktivitäten zum Füreinander, Gegeneinander und Miteinander ermöglichen es, differenzierte Beziehungserfahrungen zu vermitteln. Wie Sherbornes Filme zeigen, arbeitete sie bereits in den 1980ern mit heterogenen Gruppen. Sie sah Unterschiede in den Fähigkeiten und Fertigkeiten der TeilnehmerInnen als Chance für die Entwicklung jedes einzelnen, die es zu nutzen und nicht zu vermeiden galt. Das Konzept verdeutlicht, neben den Möglichkeiten einer allgemeinen Förderung von Beziehungserfahrung und -kompetenz, wie der Anspruch eines inklusiven Miteinanders in Bewegung umgesetzt werden kann und zeigt sich damit anschlussfähig an die Diskussion zur Umsetzung der UN-Behinderten-rechtskonvention in Bewegungs- und Sportpädagogik, Heilpädagogik, Sozialer Arbeit und Erziehungswissenschaften.

2. „Beziehung“ bedeutet auch die Wahrnehmung der eigenen Person. Im Sherborne Konzept wird die Bedeutung einer guten Körper-, Bewegungs- und Raumwahrnehmung sowie Bewegungskontrolle betont. Diese ist notwendig, um sich an die Umwelt anzupassen, sie den eigenen Wünschen und Bedürfnissen entsprechend zu gestalten und sich ausdrücken zu können.

Neben diesen inhaltlichen Besonderheiten stellen sich zwei weitere Merkmale als wertvoll für die Praxis heraus:

a. ein weitgehender Verzicht auf spezifische Materialien und

b. die Unabhängigkeit von großen oder besonderen Räumen, was beides z. B. in der Psychomotorik und auch im Sportunterricht oft benötigt wird.

Ziel dieses Buches ist Sherbornes Konzept als eine theoretisch fundierte beziehungsorientierte Bewegungspädagogik vorzustellen und zu erweitern. Gleichzeitig soll es Fachkräften und Studierenden im pädagogischen Feld einen praxisnahen Zugang zum Konzept bieten.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Am Anfang steht die Beschreibung der Kernelemente des Konzeptes. Zunächst wird Veronica Sherborne und die Eckpunkte ihrer Biographie vorgestellt. Im Anschluss erfolgt eine Darstellung der Laban-Bewegungsanalyse, die Sherborne zur Entwicklung ihres Konzeptes inspirierte. Anschließend werden Grundannahmen, Entwicklungsbereiche und Ziele benannt und die einzelnen Bausteine ausführlich erläutert. Die Zusammenfassung handlungsleitender Prinzipien und didaktischer Hinweise veranschaulicht die Umsetzung in die Praxis. Nachfolgend wird mit dem Abschnitt über Beobachtung als förderdiagnostischen Zugang die Relevanz zielgerichteter Beobachtung für die Stundenplanung dargestellt. Dabei bildet die Beschreibung der aus dem Konzept abgeleiteten Beobachtungsparameter die Basis für den Beobachtungsbogen, der als Download auf der Internetseite des Ernst Reinhardt Verlags unter www.reinhardt-verlag.de/de/downloads zur Verfügung steht und zur Dokumentation eingesetzt werden kann. Anmerkungen zum Stand der Forschung schließen diesen Abschnitt.

Im zweiten Kapitel nehme ich eine theoretische Anreicherung des Konzeptes vor. Sherborne beschreibt in ihrer vorwiegend praxisorientierten Veröffentlichung fast ausschließlich Labans Bewegungslehre als Grundlage und Ausgangspunkt. Inwieweit sie darüber hinaus theoretische Erkenntnisse aus Psychologie und Pädagogik einbezieht, bleibt unklar, auch wenn sich Hinweise zwischen den Zeilen herauslesen lassen. In den letzten Jahren wurden Verknüpfungen zu theoretischen Modellen von verschiedenen Fachleuten aus dem Feld der Bewegungspädagogik hergestellt, um das Konzept auf ein stabiles theoretisches Fundament zu setzen, so z. B. von Dirjack (1998) in seinem Vorwort zur deutschen Übersetzung mit einem entwicklungspsychologischen Fokus, Hill (2006) mit lerntheoretischem Bezug und Thornquist (2012) mit einer bewegungs- und physiotherapeutischen Perspektive.

Um das Sherborne-Konzept in den Rahmen einer erweiterten beziehungsorientierten Bewegungspädagogik einzubetten, nehme ich Bezug auf Überlegungen und Theorien zu Bewegung und Beziehung. Fruchtbare Anknüpfungspunkte ergeben sich meiner Ansicht nach zur Bewegungs- und Sportpädagogik, Psychomotorik, Entwicklungspsychologie und Selbstkonzeptforschung. Anschließend werden Möglichkeiten für den Einsatz des Konzeptes über die Lebensspanne und bei spezifischen Zielgruppen dargestellt.

Das dritte Kapitel bietet vielfältige Praxisanregungen und beinhaltet eine ausführliche Darstellung der Aktivitäten und Spiele zu den verschiedenen Bausteinen des Konzeptes.

Im vierten Kapitel werden Anwendungsbeispiele mit verschiedenen Zielgruppen beschrieben und kommentiert, um die Arbeit mit dem Konzept exemplarisch und praxisorientiert abzubilden.

Von der Idee bis zum Abschluss des Buchprojektes war es ein langer Weg, auf dem mich viele Menschen begleitet haben. Ich möchte mich als erstes bei den vielen Studierenden bedanken, die mich in Seminaren immer wieder bestätigt haben, dass das Sherborne-Konzept sinnvoll und im heil- wie sozialpädagogischen Kontext „gebraucht“ wird. Das Interesse und der sehr häufig geäußerte Wunsch nach geeigneter Literatur haben mich darin bestärkt, dieses Buch zu schreiben.

Ohne den Einsatz von Bettina Friedrich, Hannah M. Heine, Maike Hülsmann, Gabi Weiss und Ralf Werthmann wäre es nicht so geworden, wie es jetzt ist. Danke für kritisches Korrekturlesen, Fallbeispiele, geduldiges Zuhören und viele hilfreiche Anregungen, die das Buch besser gemacht haben.

Ein besonderer Dank gilt Gerd Hölter. Danke für die Impulse und Hinweise, die mich motiviert haben, genauer hinzuschauen und weiterzudenken, für die Hilfestellung beim Umgehen von Stolpersteinen – und die Bestärkung, „mein“ Buch zu schreiben.

Anschauliche Fotos machen dieses Buch lebendig und manche können zeigen, was sich nicht so leicht beschreiben lässt. Bei Gilda, Konstantin und Dirk Halemba, Annabell, Lilly und Oskar Dörr und die Studierenden meines Semi-nares „Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik“ 2016/17 bedanke ich mich herzlich für die Bereitschaft, mit mir in die Turnhalle zu gehen, Aktivitäten auszuprobieren und sich dabei auch noch fotografieren zu lassen.

Und ohne Euch – Dirk und Tinusch – wäre das alles eh nicht möglich gewesen. Danke für eure aktive und emotionale Unterstützung!

1 Eine beziehungsorientierte Bewegungspädagogik nach V. Sherborne

Dieses Kapitel beginnt mit einer kurzen Biographie Sherbornes und der Vorstellung der Laban-Bewegungsanalyse. Anschließend werden Grundannahmen, Ziele, Bausteine des Konzeptes und Prinzipien skizziert sowie didak-tisch-methodische Hinweise gegeben. Anmerkungen zur Beobachtung und zum Stand der Forschung schließen diesen Teil des Buches.

1.1    Biographisches

Veronica Sherborne lebte von 1922 bis 1990 in England. Als Studierende am Bedford College of Physical Education lernte sie in einem Workshop mit Rudolf von Laban und Lisa Ullmann, Labans Theorie der menschlichen Bewegung kennen. Nach seiner Immigration nach England im zweiten Weltkrieg entwickelte Laban gemeinsam mit seiner Schülerin Lisa Ullmann Überlegungen zur Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung durch die Ausbildung eines möglichst breiten Bewegungsrepertoires. Dies stellte für Sherborne eine neue Perspektive auf den menschlichen Körper, das Phänomen Bewegung sowie die bewegungspädagogische Arbeit mit Menschen dar. Die Erfahrung im Workshop mit der Arbeit von Laban und Ullmann beeindruckt sie tief, so dass sie sich nach mehreren Jahren der Berufstätigkeit als Sport-, Gymnastik- und Tanzlehrerin entschloss, bei Laban und Ullmann am Art of Movement-Studio zu studieren.

Sherborne übertrug Labans Bewegungslehre in ihre Tätigkeit als Ausbilderin von Pädagogen, Ergo-, Physio- und Sprachtherapeuten sowie Krankenschwestern auf die Arbeit mit Kindern mit und ohne Behinderung. Als Mutter von drei Kindern und als Praktikerin mit langjähriger Erfahrung entwickelte sie die Grundannahmen, die für ihr Konzept handlungsleitend wurden (Kap. 1.3).

Sherborne berichtet im Vorwort ihres Buches, wie sie begann, den Beziehungsaspekt in der Ausbildung von Sonderpädagogen zu betonen. Ihr Ziel war es damals durch Gruppen– und Partnerarbeit den Studierenden ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und so eine gute Voraussetzung für Zusammenarbeit zu schaffen. Die Erkenntnis, dass nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen von den Sequenzen zur Beziehungsgestaltung profitieren können, motivierte Sherborne, ihr eigenes Konzept zu entwickeln. Die Bedeutung der frühen und unterstützenden Beziehungserfahrungen und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der kommunikativen und sozialen Fähigkeiten, die sie als mehrfache Mutter selbst mit ihren Kindern erlebte, bilden das Fundament ihres Konzeptes. Dies wird ergänzt um die bedeutsame Rolle, die sie der Bewegung für die individuelle Entwicklung zuschrieb.

Sherborne wird als sehr charismatische Person und begnadete Lehrerin beschrieben, die eine besondere Fähigkeit hatte, Menschen anzusprechen, sie einzubeziehen und zu motivieren, selbst aktiv zu werden. Ihre Haltung war geprägt von einer grundlegenden Wertschätzung aller TeilnehmerInnen und ihrer Fähigkeiten. Die Bewegungsaktivitäten sah sie als Erfahrungsmöglichkeiten, als dynamische Prozesse des gemeinsamen nicht wertenden Lernens und Interagierens, und sie betonte immer wieder, dass sie nicht als festgelegte Übungen missverstanden werden dürfen.

Schon früh schrieb Sherborne Artikel über ihr Konzept, wählte aber vor allem die filmische Dokumentation, um ihre Arbeit sichtbar zu machen und zu zeigen, wie die Aktivitäten für Bewegungsstunden mit verschiedenen Zielgruppen eingesetzt werden können.

Mit ihrer Überzeugung, dass Menschen unterschiedlicher Entwicklungsniveaus und Fähigkeiten wunderbar miteinander spielen, sich bewegen und Spaß wie Erfolgserlebnisse haben können, war sie ihrer Zeit um einiges voraus. Denn lange vor der UN-Behindertenrechtskonvention und Überlegungen zu inklusiven Bewegungs- und Sportangeboten dokumentiert sie vor allem mit dem Film „Gute Freunde“ (1986) in eindrücklicher Art und Weise, wie Bewegungsstunden mit heterogenen Gruppen zum Gewinn aller Beteiligten gelingen können. Erst 1990 brachte sie auf Drängen einiger SchülerInnen und KollegInnen kurz vor ihrem Tod ein Buch heraus, in welchem sie die Grundlagen ihres Konzeptes anschaulich und praxisorientiert beschrieb. Dieses liegt mittlerweile in englischer Sprache in der zweiten Auflage (Sherborne 2001) vor und wurde von Cristian Dirjack 1998 ins Deutsche übersetzt.

Mit einer der letzten Veröffentlichungen Daniel Sterns (2011) zu den Ausdrucksformen der Vitalität erfahren die Eckpfeiler des Sherborne-Konzeptes, die bewegte Interaktionserfahrung im Zusammenhang mit dynamischen Merkmalen des Bewegungsverhaltens, eine eindrucksvolle Anerkennung und Bekräftigung durch einen der bedeuteten Entwicklungspsychologen und Psychoanalytiker (Kap. 1.2).

Sherbornes Konzept ist heute international unter dem Namen Sherborne Developmental Movement (SDM) bekannt.

1.2    Die Laban-Bewegungslehre – Inspiration und theoretische Grundlage

Das Sherborne-Konzept basiert in Teilen auf der Bewegungslehre von Rudolf von Laban (1879–1958). Laban entwickelte als Kernstück seiner Arbeit eine Lehre der menschlichen Bewegung und ein Notationssystem (Perrottet/Laban 1995, Laban 2003), um Bewegung analysieren und ähnlich der Notenschrift erfassen und dokumentieren zu können. Mit seiner Arbeit gehört er bis heute zu den wichtigsten Bewegungstheoretikern unserer Zeit. Sein System bietet eine bisher einzigartige differenzierte Grundlage, um menschliche Bewegung erlebbar zu machen, sowie diese präzise und wertfrei zu beschreiben. Labans Schaffen vor dem zweiten Weltkrieg in Deutschland beeinflusste die Entstehung der Körperkulturwelle und die Entwicklung des Ausdrucktanzes und späteren Modern Dance maßgeblich. Zentren für Tanz und Bewegung gab es damals in jeder größeren Stadt in Deutschland. Nach seiner Immigration nach England entwickelte er, gemeinsam mit Lisa Ullmann, einer seiner Schülerinnen, pädagogische Überlegungen zur Bedeutung von Bewegung für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen. Das Konzept des Modern Educational Dance (Laban/Ullmann 2003) fand zum damaligen Zeitpunkt große Anerkennung, insbesondere im Schulbereich. Bis heute existiert das Fach „Tanz“ mit Laban-Elementen als Bewegungserziehung in englischen Grundschulen. In Deutschland ist die Laban-Bewegungslehre und -analyse vor al-lem in der Tanzausbildung und in der Tanztherapie (Willke et al. 2014) bekannt, z. T. auch in der klinischen Bewegungstherapie und als Methode der Bewegungsdiagnostik (Welsche et al. 2007a, 2007b). Aus Labans Ansatz entwickelten sich zwei sehr erfolgreich eingesetzte Verfahren der Bewegungsanalyse. Die Movement Pattern Analysis (Welsche et al. 2007c) wurde von Warren Lamb, einem Schüler Labans, entwickelt. Dieses Instrument ermöglicht die Analyse des Entscheidungsfindungsprozesses durch die Interpretation spezifischer Bewegungsmuster. Sie wird in erste Linie in der Management Beratung und im Karriere Coaching eingesetzt. Das Kestenberg Movement Profil (Koch 2009) basiert auf den Arbeiten der Psychoanalytikern Judith Kestenberg zur Beobachtung von Kleinkindern und deren Bewegungsmustern und wird für diagnostische als auch Forschungszwecke eingesetzt.

Unter dem Namen der Laban-Bartenieff-Bewegungsstudien (LBBS) besteht in Deutschland und international die Möglichkeit zur Ausbildung als BewegungsanalytikerIn (s. Anhang). Labans Lehre wurde hier um die Bartenieff Fundamentels ergänzt – ein Konzept der Körperarbeit, das von Irmgard Bartenieff, einer weiteren Schülerin Labans, entwickelt wurde. Die LBBS finden eine breite Anwendung in sämtlichen mit Körper und Bewegung befassenden Feldern, wie z. B. Tanz-, Theater- und Bewegungspädagogik, Physiotherapie, Sport- oder Musikpädagogik (Kennedy 2010).

In Deutschland wird Labans Bewegungsanalyse im Sport- und Bewegungswissenschaftlichen Kontext bisher nur vereinzelt aufgegriffen (z. B. Funke-Wieneke 2007) und weder in der bewegungs- noch sportpädagogischen Ausbildung systematisch gelehrt. In den skandinavischen Ländern gehört die Bewegungserziehung nach Laban hingegen zur Ausbildung von Grundschul- und Sportlehrern.

Die zu Sherbornes Zeiten in England bekannten Bewegungskategorien Labans wurden im amerikanischen Institut of Laban / Bartenieff Movement Studies weiterentwickelt. Das System besteht nun aus sechs Kategorien (Abb. 1).

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Abb. 1: Kategorien der Laban-Bewegungsanalyse (angelehnt an Kennedy 2010)