Der Olymp – circa 15 Jahre zuvor
Zeus, der Göttervater, sah sich um. Sie waren alle gekommen. An der riesigen Tafel konnten kaum alle sitzen, der Raum platzte aus allen Nähten.
Es war erschreckend.
Es war furchtbar.
Er betrachtete Thor, den nordischen Gott. Zeus hatte ihn einst hammerschwingend vor Augen gehabt, stolz und unbesiegbar. Doch der Hammer war einem Stock gewichen, auf den er sich stützen musste.
Amor war nicht in der Lage, Pfeil und Bogen zu halten.
Hermes, der Götterbote, war bleich, seine Flügel dünn wie Papier, sie würden ihn nirgendwohin bringen können.
Die schöne Helena war alt und faltig und ihr Haar weiß.
Zeus mochte gar nicht weiter in die Runde sehen. Nur ein paar südamerikanische Gottheiten schienen noch etwas besser in Schuss. Dort war der Glaube noch ein wenig stärker.
Aufgeregtes Stimmengewirr füllte den Raum. Thor ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl neben Zeus sinken und grinste. »Wenn ich meinen Hammer noch schwingen könnte, dann würde ich ihn jetzt auf den Tisch sausen lassen. Willst du nicht mal für Ruhe sorgen?«
Zeus nickte. Er hätte selbst keinen Hammer mehr heben können. Er pfiff auf seinen Fingern. Armselig, aber wirkungsvoll.
Dann räusperte er sich. Seine Stimme war kräftig. Noch. »Ihr wisst, warum dieses außergewöhnliche Treffen einberufen wurde.«
Betretene Stille. Sie hatten sich alle gegenseitig gemustert. Es musste den Göttern der Erde klar sein, dass die Symptome kein vorübergehender Zustand waren. Dennoch wollte Zeus es noch einmal deutlich aussprechen. Er musste. Auch um sich selbst zu überzeugen, dass es keinen anderen Ausweg gab.
»Wir verblassen. Wir alle werden verschwinden.«
»Wir sind unsterblich, das geht vorbei.«
Zeus hasste es, unterbrochen zu werden. Das war Dylan, der Sohn der Welle, der walisische Meeresgott.
»Du weißt, dass dem nicht so ist. Wer erinnert sich denn noch an dich? Kommen die walisischen Kinder und sprechen mit dir? Nein, stattdessen steigen sie mit ihren Eltern auf Schiffe und erkunden die Welt. Sie können überallhin, ihre Technik ist die neue Gottheit. Niemand hat mehr Angst vor einem Meeresgott, niemand bittet ihn um Hilfe bei Wind und Sturm. Das erledigen ihre komischen Maschinen, die das Wetter berechnen können. Keiner von uns ist dem gewachsen. Der Glaube ist fort.« Zeus machte eine Pause. Einst hatten die Götter der Welt ihn zu ihrem Oberhaupt erkoren. Er hätte nie gedacht, dass diese Versammlung einmal würde stattfinden müssen. »Wir. Werden. Sterben.« Ein entsetztes Raunen ging durch die Menge. Das hatte geholfen, auch den letzten unter ihnen wachzurütteln. »Nicht in dem Sinne, wie Menschen sterben, aber wir werden durchsichtig sein, ohne Seele und Empfindung durch die Welt streifen. Wir werden nichts sein.«
So wie die Menschen sich vor dem Tod fürchteten, so hatten die Götter eine Abneigung gegen das Nichts.
»Es muss doch etwas geben, das wir tun können! Können wir uns nicht ihrer Technologie bemächtigen?« Das war der Einwand von Hypnos, der mit seinen Eltern Nyx, der Nachtgöttin, und Thanatos, dem Tod, gekommen war.
»Hättest du noch genug Kraft, sie einschlafen zu lassen?«, fragte Zeus, danach wandte er sich an Hypnos' Vater. »Hast du noch genug Kraft, sie sterben zu lassen?«
Vater und Sohn schüttelten den Kopf.
Juno, der römischen Göttin des Himmels und der Weiblichkeit, liefen Tränen über die Wangen. »Was soll aus den Mädchen und Frauen werden, wenn ich sie nicht mehr durchs Leben begleiten kann?« Sie schluchzte laut.
»Sie wissen nichts über dich und werden dich demnach auch nicht vermissen«, erwiderte der römische Gott Saturn, was ein noch lauteres Schluchzen von Juno zur Folge hatte.
Frauen! Dass sie immer so nah am Wasser gebaut waren. Gut, das war ein Vorurteil, aber Zeus gestand sich derzeit alles zu, auch Vorurteile. Auf den letzten Metern seines Lebens würde er sich selbst sicher nicht mehr maßregeln.
»Wir können unser Verschwinden ins Nichts nicht aufhalten, aber wir können etwas anderes tun.«
Jetzt hatte er wieder die volle Aufmerksamkeit der Götter. Er machte eine Pause. Ließ sie alle gespannt warten, bis er ein einziges Wort sagte: »Atlantis.«
Atlantis – in der heutigen Zeit
Isabel berührte mit den Fingerspitzen die mit Stuck verzierten Wände. Sie durfte nicht hier sein, aber sie konnte einfach nicht anders. Seit sie sich erinnern konnte, war sie jeden Tag hergekommen. Der Tempel des Poseidon zog sie magisch an. Es war das einzig schöne Gebäude, das es auf dieser Insel gab. Zumindest in ihren Augen.
Die Insel. Niemand hatte sie je verlassen. Niemand schien zu wissen, was es dort draußen zu entdecken gab oder ob sie die einzigen Menschen waren. Es gab ein paar Ältere, die glaubten, dass sie sich auf einem großen Planeten befanden, der noch mehr Leben beinhaltete. Andere sagten, sie seien die Einzigen. Die Todesstrafe stand auf dem Versuch, die Insel zu verlassen.
Isabel trat aus dem Tempel hinaus. Um zurück zu ihrem Haus zu gelangen, musste sie die Statue des Blinden Mannes passieren. Wie jedes Mal jagte ihr der lebensgroße steinerne Mann einen Schauder über den Rücken und verursachte ihr eine unangenehme Gänsehaut. Dies war der Platz, an dem man sie und vier andere Kinder vor 15 Jahren gefunden hatte. Keines der Kinder war älter als zwei Jahre gewesen und keiner von ihnen erinnerte sich daran, wo sie hergekommen waren.
Isabel blieb wie von einem inneren Zwang getrieben stehen. Die blinden Augen schienen in ihr Innerstes zu blicken. Der alte steinerne Mann machte ihr Angst. Die große Tafel neben ihm gab die Worte wieder, die er mit letzter Kraft gesagt hatte, bevor er zu Stein geworden war.
Bewohner von Atlantis, der letzten göttlichen Insel.
Ihr seid nicht allein, aber die Menschen haben den Glauben verloren.
Jenseits der Grenzen sind die, die euch vergessen haben.
Sie haben auch uns vergessen und ihr werdet ihnen den Glauben zurückbringen.
Zu diesem Zweck gebe ich euch fünf unserer göttlichen Kinder.
Gebt eure göttlichen Kinder dazu und bringt den Menschen den Glauben zurück.
Rettet die Götter.
Atlantis war immer schon von einem Ältestenrat regiert worden, der nach dem »Steinernen Wunder« alle Kinder der Insel in Lager gebracht hatte. So verfuhren sie auch heute noch. Nur die fünf Kinder, die der steinerne Mann ihnen gebracht hatte, durften zusammen in einem Haus leben und mussten nicht kämpfen. Stattdessen warteten sie.
Isabel fröstelte. Worauf warteten sie nur? Dass sie anfingen zu zaubern? Fast hätte sie gelacht. Weder sie noch ihre Geschwister hatten außergewöhnliche Fähigkeiten. Was würde mit ihnen passieren, wenn die Ältesten das irgendwann einsehen mussten?
Sie hatte genug davon, die Statue anzustarren. Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Wenn man sie erwischte, dann würde sie wieder tagelang in der Küche Dienst haben und die Köchin war nicht gerade für ihre Freundlichkeit den Jugendlichen gegenüber bekannt.
Isabel überquerte die menschenleere Wiese und öffnete das eiserne Tor, das den Tempel abschirmte. Die Abendsonne ging bereits unter. Auf den Straßen herrschte reges Treiben. Der Marktplatz, den sie passieren musste, war noch recht voll. Die Ernte war in diesem Jahr sehr gut gewesen, es mangelte an nichts. Die Leute tauschten fleißig ihre Waren ein.
Niemand nahm Notiz von ihr. Schnell huschte sie am Marktplatz vorbei und bog in eine enge Gasse ein, die sie aus der Stadt hinausführte. Ihr Haus lag am Rande eines Wäldchens, hinter einigen Feldern. Auf einem dieser Felder befand sich eines der Lager.
Isabel hasste es, dort vorbeigehen zu müssen. Sie hasste die Schreie, die von dort kamen. Die Dunkelheit, die dieser Ort auch an sonnigen Tagen absonderte, war beklemmend und fast körperlich greifbar. Sie spürte den Schmerz und die Verzweiflung, die von diesem Ort ausgingen.
Sie hatte nie ein Lager betreten müssen, wusste aber von Erzählungen, dass dort grausame Dinge vor sich gingen. Folterungen und qualvolle Versuche an Jugendlichen, um herauszufinden, wer von ihnen göttlicher Abstammung sein musste.
Noch schlimmer waren die sonntäglichen Festspiele im Colosseum. Ein paar Mal war sie schon dort gewesen. Die Jungen und Mädchen aus den drei Lagern von Atlantis kämpften gegeneinander. Fünf Kämpfe musste man überstehen, um als göttlich zu gelten, und die Anforderungen wurden von Kampf zu Kampf schwieriger. In den letzten 15 Jahren hatte keiner lange genug überlebt.
Eines Tages würde einer überleben. Was dann geschah, darüber wollte Isabel nicht weiter nachdenken. Drei Jungen und zwei Mädchen würden irgendwann bei den Kämpfen übrigbleiben müssen, denn die fünf angeblich göttlichen Kinder, die auf die Insel gekommen waren, sollten ihr Gegenpart für die Zucht sein.
Isabel ballte die Hände zu Fäusten. Eher würde sie sterben, als sich zwingen zu lassen, mit irgendeinem Auserwählten auf Befehl Kinder zu zeugen.
***
Quinn hatte seinen Vater mal bewundert. Doch er konnte sich nicht daran erinnern, wann das gewesen war. Er wappnete sich gegen den Schmerz, mittlerweile hatte er gelernt, ihn auszublenden. Doch sein Vater fand immer wieder neue Methoden, um ihn, wie er es nannte, »stärker« zu machen.
Er biss die Zähne fest aufeinander, sodass seine Kiefer knackten und das eklige Geräusch in seinen eigenen Ohren widerhallte. Als die eigenartigen Vorrichtungen ihn auf die nackte Brust trafen, blieb ihm die Luft weg. Die beiden handgroßen Vierecke sendeten unterhalb seines Herzens Schmerzen und Hitze durch seinen Körper. Erst versagten ihm die Lungen, dann begann sein Herz so wild zu schlagen, dass er glaubte, es müsse aus dem Brustkorb springen.
Dann kam der Schmerz, der über seine ganze Haut tief in seinen Körper bis in die Eingeweide drang. Quinn schrie, er konnte es nicht verhindern.
Sein Vater schlug ihm ins Gesicht.
»Du wirst mir noch dankbar sein, wenn du auch den dritten Kampf gewinnst. Noch drei Kämpfe und du bekommst eines dieser göttlichen Mädchen.«
Quinn wollte kein göttliches Mädchen. Doch sein Vater, der Aufseher im Lager Nummer eins war, würde nichts anderes zulassen. Außer seinen Tod natürlich. Quinn wollte nicht wieder in diese Arena. Die beiden ersten Kämpfe, die er überstanden hatte, waren noch präsent. Als Narben an seinem Körper und auf seiner Seele.
Egal wie oft er sich sagte: »Entweder die anderen oder ich«, das machte es nicht besser. Tränen der Wut, des Schmerzes und der Verzweiflung liefen ihm über die Wangen. Sein Vater hatte diese seltsamen Vierecke längst von seiner Brust genommen, dennoch glaubte Quinn immer noch, dass ihm jemand die Eingeweide zerriss und seine Haut mit Messern traktierte.
»Du wirst mir noch dankbar für dieses Training sein, mein Sohn«, wiederholte er. »Nur der, der Schmerzen aushält, hat eine Chance, alle Kämpfe zu gewinnen.«
Selbst wenn Quinn etwas hätte erwidern wollen, es wäre ihm nicht möglich gewesen. Sein Hals stand förmlich in Flammen, selbst husten konnte er nicht.
»Steh auf. Es ist gleich Zeit fürs Abendessen.«
Sein Vater schnallte ihn ab und verließ den Raum.
Quinn rührte sich nicht, er konzentrierte sich auf seine Atmung, versuchte so, das wilde Schlagen seines Herzens unter Kontrolle zu bekommen. Schweiß drang in Strömen aus allen Poren.
Er betrachtete die Vorrichtung, die ihm das angetan hatte. Ja, für seinen Erfindungsgeist hatte er einst seinen Vater bewundert, doch jetzt hasste er ihn dafür. Dieses Ding war ihm bei einem Gewitter in den Sinn gekommen. Blitzgerät nannte er es. Ob es sich so anfühlte, wenn der Blitz einen traf? Womöglich ja. Ganz langsam stand Quinn auf und versuchte die Schwärze und die Übelkeit zu verdrängen. Die Schmerzen auf der Haut waren einem unangenehmen, aber erträglichen Kribbeln gewichen. Sein Inneres schien sich auch langsam von den Schmerzen zu erholen.
Er griff nach seinem Hemd. Als er die Knöpfe schloss, sah er die viereckigen Brandwunden unterhalb seiner Brust. Noch ein Andenken. Sollten diese Abdrücke bleiben, würde es darauf auch nicht mehr ankommen. Sein Körper war ohnehin entstellt und mit Narben übersät. Von Kämpfen und der Behandlung seines Vaters.
Wahrscheinlich wäre es besser, etwas zu essen, aber er konnte jetzt keinen anderen Menschen um sich ertragen. Und es waren nun mal noch fast 60 andere mit ihm im Speisesaal.
Das Lager verlassen durfte er nicht, doch was sollten sie ihm schon Schlimmes antun? Die Strafe wäre Auspeitschen, und Peitschenhiebe hatte Quinn bereits so viele in den letzten zehn Jahren eingesteckt, dass ihn das nicht mehr abschrecken konnte.
Das weitläufige Gelände rund um das Lager wurde an einigen Stellen nicht so gut bewacht. Vor ein paar Monaten hatte Quinn eine Lücke in dem Zaun aus Stacheldraht entdeckt, durch die er hin und wieder entkommen konnte.
Wenn er doch nur ganz verschwinden könnte. Doch sie lebten nun mal auf einer nicht besonders großen Insel. Es gab keine dauerhaften Versteckmöglichkeiten.
Also kehrte er immer wieder zurück.
Als Isabel zu Hause ankam, saßen ihre vier Geschwister bereits am Tisch vor ihrem Abendessen. Es war allein schon an ihrem unterschiedlichen Aussehen erkennbar, dass sie keine Blutsverwandten sein konnten, dennoch wurden sie von den Inselbewohnern »die göttlichen Geschwister« genannt.
Im Grunde fühlte es sich auch so an, schließlich war sie mit ihnen aufgewachsen. Da war Brigitte, der sie sich am nächsten fühlte. Sie war sanft, ruhig und immer hilfsbereit, nicht so wie Liliana. Bei Liliana hatte Isabel oft das Gefühl, sie wolle selbst gern einmal in der Arena zum Kampf antreten. Sie argumentierte gern mit ihren Fäusten.
Dann waren da noch die beiden Jungen, Dian und Harry. Die Leiterin ihres Hauses scherzte oft, dass die beiden zu viel mit Frauen zusammen seien. Ja, Isabel musste zugeben, dass beide vom Verhalten her ein wenig weiblich waren. Dian, dessen Haut etwas dunkler war als die der anderen, hatte lange schwarze Haare und liebte es, diese zu pflegen. Harry interessierte sich für die neuesten Stoffe und war immer perfekt gekleidet. Er hatte sich schon als kleiner Junge nie schmutzig gemacht. Doch Isabel liebte die beiden und es war ihr egal, dass sie sich nicht benahmen, wie man es für angehende Männer für schicklich hielt. Harry liebte Bücher, so wie Isabel auch, und sie konnten bis tief in die Nacht über die Dinge, die sie lasen, diskutieren.
Oft hatten sie sich Gedanken gemacht, ob ihre Namen etwas zu bedeuten hatten. Der blinde Mann hatte sie aufgezählt. Aber alles Nachschlagen in den Werken der großen Bibliothek von Atlantis hatte sie nicht weitergebracht.
»Warst du wieder im Tempel?«, flüsterte Harry.
Isabel nickte nur, weil die Leiterin mit ihrem Teller Suppe und etwas Brot hereinkam. Mit ihrem verkniffenen Gesicht und den zu Schlitzen verengten Augen zeigte Lady Grisham ihr Missfallen darüber, dass Isabel sich wieder davongestohlen hatte.
Es war ihr egal. Es war den Aufseherinnen, Lehrern und der Leiterin verboten, ihnen Schaden zuzufügen. Das Schlimmste war eine Verbannung zum Küchendienst.
Als Lady Grisham wieder gegangen war, sah Liliana Isabel herausfordernd an. »Du bringst uns noch alle in Schwierigkeiten. Ich habe keine Lust, wegen dir den nächsten Kampf zu verpassen.« Sie strich durch ihre langen blonden Haare und formte sie zu einem kunstvollen Knoten. Liliana war wunderschön, das musste Isabel ihr lassen. Ihre Augen waren unglaublich, ein helles Blau, das der Himmel nicht schöner hätte darstellen können. Ihre Haut war makellos und schimmerte wie helle Seide. Vor allem war sie stark und hatte einen schlanken, muskulösen Körper. Egal, wie viel sportliche Ertüchtigung Isabel sich antat, ihr Hintern blieb immer dick und ihre Beine kräftig. Kraft hatte sie selbst auch, aber neben Liliana kam sie sich plump vor.
Brigitte empfand das nicht anders. Auch sie kämpfte mit ihrer Figur. Sie war unglücklich über ihre breiten Hüften und den kleinen Bauch, dabei war sie als Kind furchtbar dünn gewesen.
Am Ende war es egal. Für wen mussten sie denn schön sein? Sie würden nie die Gelegenheit bekommen, sich zu verlieben. Stattdessen … Schon allein beim Gedanken daran verkrampfte sich Isabels Magen.
Erst jetzt bemerkte sie, dass Liliana genau über dieses Thema redete. »Ich habe gehört, zum ersten Mal seit fünf Jahren hat es einer geschafft, zwei Kämpfe zu gewinnen. Sollte er in einer Woche auch den dritten Kampf überstehen, wird Gericht gehalten, wem von uns dreien er versprochen wird. Ich bin so gespannt.«
»Aber dann muss er trotzdem noch zwei weitere Kämpfe gewinnen«, warf Dian ein.
Liliana schien geradezu erpicht darauf, einen dieser Kämpfer abzubekommen. Isabel schaute zu Brigitte, die sich ebenso unwohl bei dem Gedanken fühlte. Ihre grünen Augen verloren jedes Mal den Glanz, wenn die Sprache auf dieses Thema kam.
»Wie kannst du dich darüber freuen, wenn andere in unserem Alter sich gegenseitig töten sollen, um einen von uns als Trophäe zu bekommen? Das ist doch unmenschlich.« Isabel konnte sich einfach nicht zurückhalten.
Liliana lachte laut auf. »Wir sind Kinder der Götter, das ist doch wohl das Mindeste, was man erwarten kann.«
Isabel sah in die Runde. Harry und Dian sahen sich betreten an, schwiegen aber. Brigitte schaute angestrengt auf ihren mittlerweile leeren Teller.
»Ach ja, dann sag mir doch, was dich so besonders macht. Kannst du Blitze vom Himmel regnen lassen? Kannst du eine Ebbe zur Flut werden lassen? Kannst du irgendetwas Außergewöhnliches?«
Liliana stand auf und stieß dabei ihr Wasserglas um. »Ich werde meine Kräfte schon noch bekommen. Denkt daran, was der blinde Mann gesagt hat. Wir sind dazu auserkoren, die Menschen zu retten. Ihnen den Glauben wiederzugeben. Ich bin die Erste von uns, die 18 wird. Ich denke, es ist offensichtlich, dass dies das magische Datum sein wird.«
Das hatte Liliana immer geglaubt. Sobald sie alle ins Erwachsenenalter eintraten, würden auch ihre göttlichen Kräfte freigesetzt.
Isabel schwieg. Es machte keinen Sinn, mit ihrer Schwester darüber zu diskutieren. Außerdem rauschte diese nun wütend aus dem Raum.
Leise fragte Isabel in die Runde: »Glaubt ihr das etwa auch?«
Dian schüttelte zaghaft den Kopf und Harry zuckte mit den Schultern. Es war Brigitte, die als Einzige die Frage beantwortete. »Wir können es nicht wissen, nur abwarten können wir. Fakt ist, dass dieser Mann, der uns hergebracht hat, zu Stein wurde. Das ist schon außergewöhnlich, das musst du zugeben.«
Isabel hatte gehofft, dass zumindest Brigitte ihr beipflichten würde. »Aber wer sagt denn, dass er uns hergebracht hat? Vielleicht waren wir schon immer auf dieser Insel und waren Waisen.«
Harry griff über den Tisch und nahm ihre Hand. »Ich weiß, du willst nichts Besonderes sein, aber denk doch mal daran, dass niemand diese Insel verlassen kann. Schiffe werden nach ein paar Meilen zerschmettert. Nie ist jemand von außen auf die Insel gekommen. Und dann ist plötzlich ein Mann da, der uns in einem Bündel dabeihat und zu Stein wird. Du musst schon zugeben, dass wir vielleicht doch außergewöhnlich sind.«
Isabel war der Appetit vergangen. Sie stand auf. »Ihr glaubt das doch nur, weil man euch das seit über 15 Jahren einredet.«
»Isabel!«
Es war ihr egal, dass Harry hinter ihr herrief. Sie musste hier raus. Ihr fiel nur ein Ort ein, an dem sie sich wohlfühlte und sich wieder beruhigen konnte.
Ungesehen schaffte sie es, das Haus zu verlassen, aber selbst wenn sie jemand erwischt hätte, es wäre ihr egal gewesen. Küchendienst und Hausarrest waren ihr schon immer egal gewesen, sie brauchte die Zeit für sich. Die Zeit in der Natur, nur dort fühlte sie sich frei.
Während sie durch den kleinen Wald lief, dachte sie an das Gespräch am Tisch. Liliana hatte etwas nicht bedacht. Ihre Geburtsdaten waren von den Inselbewohnern festgelegt worden und beruhten auf Schätzungen. Dian und Harry würden ihren 18. Geburtstag erst in einem Jahr feiern. Die drei Mädchen hatte man etwas älter eingeschätzt und so würde Brigitte offiziell in drei Monaten in das Erwachsenenalter eintreten, Isabel selbst in zwei Monaten und Liliana in drei Tagen.
Was, wenn sie alle schon längst 18 waren? Dann lag Liliana mit ihrer Theorie völlig falsch. Sie wären normale Menschen ohne göttliche Kräfte. Drei Tage würde Isabel noch warten müssen und dann konnte sie der Welt beweisen, dass sie recht hatte. Sie zweifelte keinen Moment daran, dass rein gar nichts passieren würde. Liliana würde Liliana bleiben, so wie sie jetzt war.
Isabel atmete tief ein und aus, sie mochte die Gerüche des kleinen Waldes. Angst hatte sie keine, außer ein paar Kaninchen, Rehen oder Füchsen konnte ihr niemand begegnen. Auf der Nordseite der Insel gab es angeblich gefährliche Raubtiere, dort, wo es kälter war. Ein paar Wölfe und Bären sollten dort leben, aber gesehen hatte sie niemand in den letzten Jahren.
Die Menschen besiedelten die Mitte der Insel von West nach Ost, dort war das Klima am angenehmsten. Warme Sommer mit einem ausgedehnten Frühling, ein kurzer windiger Herbst und ein noch kürzerer milder Winter. Im Süden lebte niemand, dort gab es nur Wüste und Hitze.
Sie trat aus dem Wald heraus und konnte schon von Weitem das Plätschern des kleinen Wasserfalls hören. Dieser Ort zog sie genauso magisch an wie der Tempel des Poseidon. Umgeben von bunt blühenden Sträuchern lag ein glitzernder See. Die Blumen schienen nie zu verblühen. Auf einer Seite ragte ein silberner Felsen empor, von dem der Wasserfall herunterrauschte.
Isabel zog ihre Sandalen aus und genoss die Weichheit des Untergrundes. Sorgfältig achtete sie darauf, nicht auf die Blumen zu treten.
Das Rauschen des Wasserfalls beruhigte ihre aufgewühlten Gedanken. Die Einsamkeit tat ihr Übriges. Mittlerweile wurde es dunkel. Sie würde niemandem begegnen, denn sobald die Sonne unterging, herrschte auf Atlantis Ausgangssperre, das war schon immer so gewesen. Die Jugendlichen durften ihre Lager ohnehin nicht verlassen.
Das Gras unter ihren Füßen liebkoste sie wie ein flauschiger Teppich. Zum Ufer des Sees hin wurde der Boden steiniger, dennoch lief sie barfuß weiter. Sie wollte die Natur spüren, mit jeder Faser ihres Körpers.
Isabel hob den Blick. Der See war klar und wenn die Nacht hereinbrach, reflektierte er das Licht des Mondes und wurde zu einem unendlichen Meer aus Silber. In freudiger Erwartung auf das Schauspiel lächelte sie, doch im nächsten Moment blieb ihr die Luft weg und sie stolperte fast über ihre eigenen Füße.
Das konnte nicht sein! Noch nie in all den Jahren war sie jemandem an dieser Stelle begegnet. Doch da stand ein junger Mann mitten im See. Er hatte ihr den Rücken zugedreht. Isabel hielt den Atem an. Er war groß und schlank, doch sein Rücken war übersät von schlecht verheilten Peitschenhieben. Ein Meer von Narben, das fast wie eine Landkarte aussah.
Irgendwann musste sie wieder atmen und dummerweise entwich ihr die Luft mit einem Seufzer.
Der junge Mann drehte sich um. Erneut vergaß Isabel, Luft zu holen. Noch mehr Narben, zwei leuchtend rote Vierecke unterhalb seiner Brust. Das schien eine frische Verletzung zu sein. Lange Narben zogen sich quer über seinen Bauch und den rechten Arm, so als sei er dort jeweils einmal aufgeschlitzt worden. Der Mond stand hoch am Himmel und leuchtete hell und sie konnte jedes Detail an ihm sehen. Eine Stelle an seiner Schläfe war uneben, so als sei er da verbrannt worden, und seine Nase war krumm.
Doch all die Narben konnten etwas anderes nicht verdecken. Das, weshalb ihr wirklich die Luft ausgeblieben war. Seine Schönheit. Er war muskulös, aber sehr schlank, hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem Mund, der sie für einen Moment an einen Kuss denken ließ.
Er blickte sie an, aus Augen, die die gleiche Farbe hatten wie das dunkle Meer, das die Insel umgab.
»Was starrst du so?«
Isabel konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Weglaufen konnte sie auch nicht, denn ihre Füße schienen mit der Wiese verwachsen zu sein. Hastig senkte sie den Blick. »Tut … es … entschuldige. Ich hatte nicht damit gerechnet, jemandem zu begegnen.«
»Aus welchem Lager kommst du?«
Isabel sah wieder auf. Er hatte sie nicht erkannt. Er ging davon aus, dass sie aus einem Lager entwischt war. Genau wie er vielleicht? Sie hatte ihn noch nie gesehen. Sie dachte nach. Bisher war sie als Zuschauerin bei einigen Kämpfen von Lager zwei und Lager drei gewesen. Trotzdem war es durchaus möglich, dass er aus einem der beiden Lager kam, aber sie musste es einfach riskieren und davon ausgehen, dass er dem ersten Lager angehörte.
»Ich bin aus Lager zwei.«
Er nickte. »Dachte ich mir, da sind die meisten Mädchen.«
War das so? Isabel hatte keine Ahnung.
Er strich sich die blonden Haare nach hinten. Sie waren ein wenig zu lang und selbst im nassen Zustand fielen sie ihm in die Stirn.
»Wolltest du auch baden?«
Isabel nickte. In ihrem Unterleib zog sich etwas schmerzhaft zusammen. Wurde sie krank?
»Dann komm rein, das Wasser ist schön warm.«
Er grinste und legte dabei den Kopf schief. Doch es war kein wirklich glückliches Lächeln. Er konnte nicht viel älter sein als sie selbst, dennoch waren da zwei kleine tiefe Falten um seinen Mund und eine zwischen seinen Augenbrauen. In den schönen blauen Augen war Schmerz. Doch war das ein Wunder, wenn man sich all die Narben an seinem Körper ansah?
»Hör auf zu starren und komm rein. Du hast doch sicher auch ein paar Narben.«
Nein, die hatte sie nicht, wie sollte sie das erklären? Außerdem hatte sie sich noch nie vor einem Mann ausgezogen, auch nicht vor Harry oder Dian.
Als Kämpferin hätte sie muskulöser sein müssen. Das weiße Kleid, das sie trug, kaschierte geschickt ihren dicken Hintern und die Oberschenkel. »Ich … ich sollte gehen, bevor man mein Verschwinden bemerkt.«
Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Du bist doch gerade erst hergekommen.«
Wurde er misstrauisch?
»Ich wollte allein sein.« Okay, ihre Stimme klang einigermaßen fest. Das war ja auch die Wahrheit, doch auf eine seltsame Art und Weise zog der Mann sie an, sie wäre gern zu ihm ins Wasser gegangen.
Jetzt lächelte er wieder. Ihr Herz schien unregelmäßig zu schlagen. Da war so etwas wie Verstehen in seinem Blick. Langsam kam er durch das Wasser auf sie zu. Er trug nur eine kurze Hose und die nächste Narbe wurde offensichtlich. Wie auch an seinem Arm schien ihm das rechte Bein an der Seite aufgeschlitzt worden zu sein. Ob er schon einen Kampf in der Arena überlebt hatte? Das musste wohl so sein, das alles konnte nicht allein beim Training passiert sein oder durch Bestrafungen.
Am Ufer lagen ein weißes Hemd und diese graue kurze Hose, die alle Männer im Lager trugen. Er zog die Sachen einfach über seinen nassen Körper und die Unterhose.
»Kann ich verstehen, im Lager ist man nie allein, was?«
Als er auf sie zukam, immer noch mit diesem Lächeln, bemerkte sie erst, wie groß er wirklich war. Er überragte sie um mehr als einen Kopf und Isabel war selbst nicht gerade klein für eine Frau.
Er streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Quinn.«
»Isabel.« Mist. Sie war so eine Idiotin.
Er zog die Hand zurück.
»Isabel?«
»Äh … nein, also ich …« Wie dämlich konnte ein Mensch sein? Die Namen der göttlichen Kinder waren jedem auf der Insel bekannt. Kein anderer durfte diese Namen benutzen. Warum hatte sie nicht geschaltet und einen falschen Namen genannt?
Quinn trat einen Schritt nach hinten, als sei sie mit der Pest infiziert.
»Du bist eine von denen.«
Ja, das war sie. Und er musste sie hassen. Denn im Grunde war sie schuld an seinem Leid. Nur weil die göttlichen Kinder auf die Insel gekommen waren, mussten die anderen kämpfen und ihr Leben bis zu ihrem Tod in einem tristen Lager fristen. Nur einige wenige wurden in jedem Jahrgang ausgewählt, um das Geschäft ihrer Eltern weiterzuführen und das Leben auf der Insel aufrechtzuerhalten. Quinn hatte also nicht zu diesen Glücklichen gezählt.
Isabel war mutig genug, ihm weiter in die Augen zu sehen. Der Schmerz und die Ablehnung taten fast so weh, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Jeder freundliche Zug aus seinem schönen Gesicht war verschwunden. Sie konnte es verstehen.
»Na toll! Reicht es nicht, dass wegen euch mein Leben bald vorbei sein wird? Musst du mir auch noch den einzigen Ort, an dem ich kurz alles vergesse, vermiesen?«
Er wollte gehen, doch etwas in Isabel schrie danach, ihn nicht gehen zu lassen. Mit zwei Schritten war sie bei ihm und hielt ihn am Arm fest. »Bitte geh nicht.«
Er löste sich so hastig aus ihrem Griff, dass Isabel nach hinten gestoßen wurde. Sie hatte keine Chance, sich festzuhalten, und wäre im nächsten Moment mit dem Rücken, womöglich auch mit dem Kopf, auf einem Stein aufgeschlagen, doch zwei starke Arme verhinderten das.
»Tut mir leid.«
Isabel klammerte sich an seine Schulter. Sein Körper strahlte eine betörende Hitze aus. Sie starrte auf seine Lippen und dann auf seine Augen. »Mir tut es leid.«
Fragend hob er die Augenbrauen und half ihr wieder auf die Füße. Viel zu schnell ließ er sie los.
»Was tut dir leid?«, fragte er. Sein Tonfall war immer noch abweisend.
»All das.« Sie deutete auf seine Narben. »Es ist meine Schuld. Unsere Schuld.«
Quinn musterte sie. Lange. Isabel glaubte schon, dass er gar nichts mehr sagen würde, doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein, du bist ja nicht auf die Insel gekommen, um diese bescheuerten Lager zu errichten. Auf den Gedanken sind andere gekommen.«
»Aber wenn es uns nicht gebe …«
»Hey!«
Er trat einen Schritt auf sie zu. Sein Ton war sanft, nicht mehr wie eben, und er umfasste ebenso sanft ihr Kinn und hob ihren Kopf an. »Hey, nicht weinen.«
Isabel bemerkte erst jetzt die Tränen, die ihr die Wangen hinunterliefen.
»Ich wünschte, ich könnte es beenden«, flüsterte sie.
»Ist schon gut, bald wird es für mich vorbei sein, niemand kann fünf Kämpfe überleben.« Sein Daumen strich über ihre Wange und fing eine ihrer Tränen auf.
Der Gedanke daran, dass er bald sterben würde, erschreckte sie bis in die Tiefen ihrer Seele. Er war kein anonymer Mensch mehr. Hier stand jemand aus Fleisch und Blut vor ihr. Mit Gefühlen, auf die niemand Rücksicht nahm. Mit einem Körper, den man immer weiter zerstörte.
»Ich muss gehen. Trotz allem war es schön, dich getroffen zu haben. Du bist ganz anders, als ich mir euch vorgestellt habe.«
Isabel wollte ihn noch fragen, wie er sich denn die göttlichen Kinder vorgestellt hatte, doch da war Quinn schon in der Dunkelheit verschwunden.
Ratlos stand Isabel auf der Wiese. Quinn ging sie nichts an. Er hatte ja recht, es war nicht ihre Schuld. Nicht sie hatte verfügt, dass man um die göttlichen Kinder kämpfen musste. Sie hatte niemanden körperlich verletzt.
Dennoch fühlte sie sich schuldig. Seit sie vor drei Jahren zum ersten Mal zu einem Kampf in der Arena mitgenommen worden war. Es waren alles Neulinge im Kampf gewesen. Der erste Kampf sollte angeblich der harmloseste sein, doch in Isabels Augen war das nicht so. Sechs Jungen hatten mit Holzstöcken gegeneinander gekämpft, bis auf den Tod, bis nur noch einer übrig war. Dieser Junge war dann aber bei seinem zweiten Kampf einige Wochen später gestorben. Wieder sechs Jungen, doch dieses Mal hatten sie mit Schwertern gekämpft.
Isabel vergrub das Gesicht in ihren Händen. Neue Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Warum berührte all das ihre Geschwister nicht so? Liliana liebte die Kämpfe sogar.
Man musste doch etwas tun können.
Es gab nur eine Möglichkeit, diesen Wahnsinn zu beenden. Indem die Menschen da draußen endlich kapierten, dass nichts, aber auch gar nichts göttlich an ihnen war. Dass es keinen Grund für diese Kämpfe gab.
Die Tränen wollten gar nicht mehr aufhören zu fließen. Es waren nicht nur Tropfen der Trauer, Isabel weinte auch aus Wut. Wut über so viel menschliche Dummheit.
Sie schniefte laut und hob den Blick zum Mond, doch der wurde von einer dicken schwarzen Wolke verdeckt. Warum war es dann trotzdem so hell?
Das Licht kam von unten, die Blumen im Gras, sie hatten ihre Blüten nicht geschlossen, nein, sie waren wie am Tag weit geöffnet und leuchteten hell! Zumindest die Blumen um sie herum. Ihre Blüten neigten sich ihr zu.
Isabel hielt den Atem an. Da war ein Wispern in der Luft. Es kam ebenfalls von unten.
Nein, nein, nein!
Das bildete sie sich nur ein. Blumen konnten nicht sprechen.
Und sie konnten schon mal gar nicht ihren Namen flüstern!
Entsetzt sprang Isabel auf die Füße und rannte. Dieses Mal achtete sie nicht darauf, wo sie hintrat.
Quinn hatte kaum geschlafen und fühlte sich nach der morgendlichen Laufstunde, als habe er schon zehn Übungseinheiten hinter sich. Dieses verdammte Mädchen war ihm einfach nicht aus dem Kopf gegangen. Sein Leben lang schon hasste er die göttlichen Kinder. Noch nie hatte er eines von ihnen gesehen, nicht einmal bei seinen beiden Kämpfen. Ausgerechnet an seinem geheimen Rückzugsort musste diese Isabel auftauchen.
Sie war ihm allerdings durchaus menschlich erschienen, und hübsch war sie noch dazu. Mehr als hübsch sogar. Die langen braunen Haare umrahmten ein rundes Gesicht, an dem die dunkelbraunen Augen das Schönste waren. Die Augen, die ihn voller Tränen und echtem Bedauern angesehen hatten. Da war es um ihn geschehen. Statt sie einfach stehen zu lassen, hatte er sie getröstet.
Hass. Der war weg. Im Moment zumindest.
»Schlaf nicht ein!«
Mit einem Knall landete die Peitsche des Drillmeisters neben seinen Füßen. Beim nächsten Mal würde sie seinen Rücken treffen, also ging Quinn in Position und zählte seine Liegestütze von hundert abwärts.
Seine Gedanken schweiften wieder zu dem hübschen Mädchen. Es stimmte nicht ganz, sie war ihm nicht nur menschlich erschienen – da war etwas um sie herum gewesen, eine helle Aura. Nannte man den Kram so? Kein Heiligenschein, aber die Luft um sie herum schien schwach geleuchtet zu haben. Vielleicht war es nur eine optische Täuschung durch das Mondlicht.
Quinn zwang sich zur Konzentration. Noch 30 Liegestütze, dann musste er rüber zum Kampftraining. Er richtete seinen Blick auf den Boden, zählte runter, noch fünf, vier, drei, zwei, eins … geschafft.
»Rüber mit dir.«
Er hasste diese Drillmeister. Als wenn man in diesem beschissenen Lager auch nur irgendeiner Trainingseinheit entkommen könnte. Quinn klopfte sich die staubige Hose ab und da bemerkte er es. Wie war so etwas möglich? Ungläubig starrte er auf seine Handinnenfläche.
Gestern, als das Mädchen geweint hatte, hatte er nicht widerstehen können. Er erinnerte sich, eine ihrer Tränen mit dem Daumen aufgefangen zu haben, sie war in seine Handinnenfläche heruntergelaufen. Ihre Tränen hatten eine sonderbare Wirkung auf ihn gehabt. Nicht nur, dass er Isabel nicht traurig sehen wollte, nein, die Träne hatte auf seiner Haut geprickelt. Dort, wo sie entlanggelaufen war, war nun ein kleines Muster auf seiner Haut zu sehen: eine verschnörkelte blaue Linie, die in seiner Handinnenfläche eine Art Kreis bildete, in dem, wenn man genau hinsah, eine Fackel zu erkennen war.
Um Himmels willen, das durfte niemand sehen. Der Kreis war nicht ganz rund, er sah einem Schild ähnlich. Dem Schild eines Kriegers.
Quinn überkam Panik. Er hatte sich heute Morgen gewaschen, da war ihm das noch gar nicht aufgefallen. Im Laufen wischte er sich immer wieder die Hand an der Hose und an seinem Hemd ab, doch die Zeichnung blieb in seiner Haut.
War sie tatsächlich durch Isabels Träne entstanden?
»Da bist du ja endlich.«
Verdammt, sein Vater übernahm heute das Kampftraining mit ihm. Dann würde es hart werden. Warum, das konnte Quinn sich selbst nicht erklären, aber er musste irgendwie verhindern, dass sein Vater einen Blick auf seine Hand warf. Was auch immer mit ihm passierte, niemand durfte davon erfahren.
***
Isabel war mehr als froh. In den nächsten Tagen würden sie keinen Unterricht haben – keine Heldensagen, keine höhere Mathematik, dafür aber Dienst bei den Vorbereitungen zu Lilianas Geburtstagsfeier.
Die anderen saßen bereits am Frühstückstisch und diskutierten darüber, was sie beim Fest tragen würden.
Nach ihrer Begegnung mit Quinn war Isabel nicht mehr ganz wohl bei dem Gedanken an das bevorstehende Volksfest zu Lilianas Ehren, das auf dem Marktplatz und rund um den Poseidon-Tempel gegeben werden sollte. Quinns Reaktion war eindeutig gewesen: Die anderen Jugendlichen auf der Insel hassten die fünf göttlichen Kinder. Sie hätten es sich denken können. Stattdessen waren sie davon ausgegangen, dass die Freude über dieses kurze Entkommen aus dem Lageralltag ihnen die Sympathien der Menschen einbrachte.
»Wir sind verdammt naiv.« Das Gespräch rund um Kleider und Schmuck verstummte augenblicklich und ihre Geschwister starrten sie an. »Sie hassen uns.«
Harry sah sie besorgt aus sanften grauen Augen an. »Von wem redest du?«
»Von den anderen in unserem Alter. Sie sind wegen uns eingesperrt, sie müssen wegen uns kämpfen, sie werden verletzt und getötet, und alles nur, weil irgendwelche Idioten glauben, wir seien Götter. Wacht doch endlich mal auf.« Isabel konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme lauter wurde. Brigitte sah sie alarmiert an, doch Isabel war es egal, ob einer ihrer Aufseher etwas mitbekam. »Sie laufen in zerrissener Einheitskleidung herum, und wir? Ihr wollt euch in euren besten Kleidern zeigen! Wir sind nicht besser als sie, wir sind auch nicht anders als sie. Warum helfen wir ihnen nicht?«
Wenn Blicke töten könnten, wäre Isabel jetzt umgefallen. Sie hatte noch nie so viel Zorn in Lilianas himmelblauen Augen gesehen. »Du bist doch nur neidisch, weil ich die Erste sein werde, die zur Göttin wird.«
Bei dieser Aussage verdrehte sogar Dian die Augen.
»Göttin? Du hältst dich wirklich für eine Göttin? Du bist ein Mensch, kapier und akzeptiere das doch endlich.«
Isabel wusste, dass sie zu weit ging. Liliana war nicht gerade bekannt für ihre Selbstbeherrschung, eher für ihren Egoismus. Zu schnell, als das noch einer hätte reagieren können, sprang ihre Schwester auf und stieg über den Frühstückstisch. Mit einem animalischen Schrei stürzte sie sich auf Isabel, die mitsamt Stuhl nach hinten kippte. Als ihr Kopf hart auf dem Boden aufschlug, sah sie für einen Moment silberne Sterne, dann das wutverzerrte Gesicht von Liliana.
Der Schmerz in ihrem Hinterkopf war nichts gegen den Hass, der ihr entgegenschlug. Eine Faust sauste auf ihr Gesicht nieder und traf sie an der Lippe. Sofort schmeckte Isabel Blut.
Die anderen eilten ihr zu Hilfe, konnten aber die wild gewordene Liliana kaum bändigen. Sie schlug wie wahnsinnig mit den Fäusten um sich und traf Dian an der Schläfe, der zu Boden ging. Brigitte eilte zu ihm und so war es an Harry, Liliana zu bändigen. Er schien all seine Kraft aufbringen zu müssen, um sie festzuhalten und von Isabel wegzuzerren.
Lilianas unkontrollierte Wut richtete sich nun auf ihn. Sie stieß ihm heftig mit dem Knie in den Magen, doch Harry hielt stand wie ein Fels. Er erschien Isabel auf einmal größer und kräftiger, seine grauen Augen wirkten dunkler. Harry mochte keine Gewalt, aber nun wehrte er sich doch. Mit einem gezielten Schlag unterhalb des Kiefers setzte er Liliana außer Gefecht.
Besorgt stürzte er zu Dian, der ohnmächtig auf dem Boden lag. Isabel rappelte sich auf und kniete sich ebenfalls neben ihren Bruder. Es wunderte sie, dass keiner der Aufseher kam. Die nahmen wohl selbst gerade ihr Frühstück im hinteren Teil des Hauses ein.
»Was ist mit ihm? Ist er in Ordnung?« Harry hielt Dians Hand.
Brigitte strich ihm beruhigend über den Arm. »Er ist nur ohnmächtig, es wird ihm gleich besser gehen. Wenn er aufwacht, wird ihm noch ein wenig schwindlig sein, in einer halben Stunde ist alles wieder gut.«
»Woher willst du das wissen? Du bist kein Arzt.« Harry war außer sich vor Sorge.
»Ich weiß es einfach.« Brigitte zuckte gelassen mit den Schultern.
»Was passiert nur mit uns?« Isabel sah auf das Chaos. Ja, sie hatten sich schon oft gestritten, das war doch normal unter Geschwistern, aber handgreiflich war noch keiner von ihnen geworden.
»Das ist deine Schuld.« Diese Aussage von Harry traf sie bis ins Mark. »Dein ewiges Säen von Zwietracht.«
»Das tue ich doch gar nicht. Ich will doch nur …«
Harry hörte nicht weiter zu, denn Dian schlug stöhnend die Augen auf. »Geht es dir gut?«
»Mir ist schwindlig, sonst geht es.« Er fasste sich an den Kopf.
Isabel sah zu Liliana, die jetzt auch stöhnend zu sich kam. So wie es aussah, hatte sie nicht vor, direkt wieder auf sie loszugehen. Brigitte half Liliana auf und redete im Flüsterton, aber eindringlich auf sie ein.
Plötzlich wurde Isabel alles zu viel. Das waren die Menschen, mit denen sie aufgewachsen war, ihre Geschwister. Sie liebte sie alle, dennoch hatte sie auf einmal das Gefühl, als wären sie viel zu verschieden, um sich wahrhaft lieben zu können. Einsamkeit senkte sich wie ein schwarzes Loch, das sie zu verschlingen drohte, über sie. Wie schon gestern Abend trat sie die Flucht aus dem Speiseraum an.
***