Als Ravensburger E-Book erschienen 2017
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© 2017 Ravensburger Verlag GmbH
Text © Gina Mayer
Vermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, München
Cover- und Innenillustrationen: Joëlle Tourlonias
Redaktion: Beate Spindler
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-47837-8
www.ravensburger.de
Das hellblaue Kuvert wurde durch den Briefschlitz in der Ladentür geschoben. Es segelte einen Moment lang durch die Luft und landete mitten im Blumenladen, direkt vor Violets Füßen.
„Hoppla!“ Sie bückte sich, um den Brief aufzuheben. „Was kommt denn da angeflogen?“
An Miss Abigail, stand in schwungvoller Schrift auf dem Umschlag. Persönlich! Und daneben stand in goldenen Buchstaben das Wort Hauptgewinn.
Violets Herz begann schneller zu schlagen. Was Tante Abigail wohl gewonnen hatte? Am liebsten hätte Violet den Brief sofort aufgerissen, aber er war ja leider nicht für sie.
„Schau doch mal!“, zwitscherte Lady Madonna, Tante Abigails türkisgrüner Wellensittich, im Käfig über der Ladenkasse. „Bitte schön! Danke schön!“
Seit Tante Abigail dem Vogel das Sprechen beigebracht hatte, plapperte und plauderte er den lieben langen Tag und ging allen damit mächtig auf die Nerven.
Violet hielt das edle Kuvert an die Nase und schnupperte daran. Der Brief duftete nach salziger Meeresluft und Kokosnüssen. Ein wunderbarer, rätselhafter Geruch.
„Hoffentlich kommt Tante Abigail schnell zurück“, sagte Violet, „sonst platze ich noch vor Neugier.“
Ihre Tante war in die Konditorei von Mrs Blue gegangen, um Marzipanhörnchen zu kaufen. Violet sollte in der Zwischenzeit auf den Laden aufpassen und Blumen verkaufen, falls Kundschaft kam.
„Lass dir ruhig Zeit!“, hatte sie ihrer Tante noch hinterhergerufen.
Denn heute war Mittwoch, da hatte Violet nach der Schule Spezialunterricht im Blumenladen. Ihre Tante bildete sie nämlich heimlich zur Blumenzauberin aus, obwohl Violet eigentlich noch viel zu jung dafür war. Als Tante Abigail ihr eröffnet hatte, dass sie schon jetzt mit der Ausbildung beginnen dürfe, hatte Violet vor Freude gejubelt. Aber inzwischen wusste sie, dass Blumenmagie mindestens genauso schwer zu lernen war wie Klavierspielen oder Seiltanzen. Vor allem, wenn man Abigail als Lehrerin hatte.
So nett und großzügig Violets Tante normalerweise war, so streng war sie in den Unterrichtsstunden. Wenn Violet einer der schwierigen Blumennamen nicht auf Anhieb einfiel, wenn sie bei den Mengenangaben der magischen Rezepte einen klitzekleinen Fehler machte oder bei ihren Hausaufgaben ein winziges bisschen schluderte, dann musste sie noch mal von vorn anfangen.
Manchmal begann ihr Kopf vor Anstrengung fast zu rauchen – und deshalb war sie froh um jede Pause. Wie heute zum Beispiel, als Tante Abigail eingefallen war, dass es bei Mrs Blue frische Marzipanhörnchen gab. Und weil die meistens im Handumdrehen ausverkauft waren, war sie gleich losgelaufen, um ein paar zu holen.
Violet drehte den Brief um und las den Absender auf der Rückseite.
Königliche Lotterie von England, stand da. Buckingham Palace, London. Darunter war eine goldene Krone abgedruckt.
Nun war sie noch gespannter als vorher. Eine Gewinnbenachrichtigung, die nach Meeresluft und Kokosnüssen duftete und von der Königin persönlich kam. Oder zumindest aus ihrem Palast. So etwas bekam man nicht alle Tage.
Oben an der linken Ecke war der Briefumschlag leicht eingerissen, sodass man hineinschauen konnte.
Violet linste angestrengt durch den Riss, aber außer zartblauem Briefpapier war leider nichts zu erkennen.
„Herzlichen Glückwunsch!“, flötete Lady Madonna, die in ihrem Käfig ebenfalls den Hals reckte, um zu sehen, was Violet in den Händen hielt.
Dann fuhren sie beide zusammen, weil die Glocke über der Tür laut zu bimmeln begann. Jemand musste die Ladentür voller Schwung aufgestoßen haben.
„Ach du Schreck!“, zwitscherte Lady Madonna. „Ist das ein Überfall?“
„Genau! Geld oder Leben!“, schrie Jack, die jetzt in den Laden stürmte. Sie formte ihre rechte Hand zu einer Pistole und zielte damit auf den Vogelkäfig.
„Leben!“, piepste Lady Madonna und plumpste rückwärts in ihren Futternapf. „Das Geld ist in der Kasse.“
„Hör auf, den armen Vogel zu erschrecken“, wies Zack seine Schwester zurecht. „Alles in Ordnung, Madonna. Wir sind’s doch nur.“
Jack und Zack Dumpling waren Violets beste Freunde. Die Zwillinge glichen sich wie ein Ei dem anderen, beide waren schlaksig und blond und wurden ständig verwechselt. Dass Jack in Wirklichkeit Jacqueline hieß und ein Mädchen war, vergaßen sogar ihre Lehrer manchmal. Und das war gut so, fand Jack.
„Pfui Teufel!“ Lady Madonna spreizte ihre Flügel und schüttelte die Körner aus den Federn. Dann hopste sie zurück auf ihre Stange und warf Jack einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Sorry, Madonna.“ Jack grinste. Nun fiel ihr der Brief in Violets Hand auf. „Was hast du denn da, Violet?“
„Das ist der Hauptgewinn“, sagte Violet.
„Was?“ Zack trat neben sie und nahm ihr den Umschlag aus der Hand.
„Der Brief ist für Tante Abigail“, sagte Violet. „Von der Königlichen Lotterie.“
Zack machte große Augen, als er die Krone auf der Rückseite sah. „Das ist ja toll!“
„Ich hab auch das große Los gezogen“, verkündete Jack voller Stolz.
„Wie jetzt?“, fragte Violet.
„Jack fliegt mit ihrer Fußballmannschaft nach Frankreich“, erklärte Zack. „Zu einem Turnier.“
„Unser Hotel liegt direkt am Strand“, schwärmte Jack. „Und es gibt ein Badezimmer mit Whirlpool. Übernächste Woche geht es los.“
„Aber da sind doch noch gar keine Ferien“, sagte Violet.
„Genau. Wir fliegen in der Schulzeit.“
„Und weißt du, was das Allerbeste ist?“ Zack blickte sie fröhlich an.
„Was?“, fragte Violet.
„Ich darf mit“, sagte er.
„Du?“ Violet riss verwundert die Augen auf. „Was willst du denn bei einem Fußballturnier?“
Im Gegensatz zu seiner Schwester war Zack nämlich eine Niete in Sport. Nicht weil er unsportlich war – er sah einfach keinen Sinn darin, einem Ball nachzurennen oder über eine Stange in eine Sandgrube zu springen.
„Ich bin als Begleiter dabei“, erklärte Zack stolz. „Ich soll die Bälle aufpumpen und die Wasserflaschen füllen und so was. Olli hat das für mich eingefädelt.“
Olli Carmichael war der Kapitän der Mannschaft. Er war früher Zacks größter Feind gewesen, aber jetzt war er sein bester Freund, nach Violet natürlich.
„Ihr braucht bestimmt noch einen zweiten Begleiter“, sagte Violet hoffnungsvoll.
„Hm.“ Zack runzelte die Stirn.
„Zum Beispiel mich“, sagte Violet. „Ich kann prima Bälle aufpumpen und Wasserflaschen füllen.“
„Aber du bist ein Mädchen“, sagte Jack.
„Du doch auch“, sagte Violet.
„Ja, aber bei mir ist es geheim.“
„Schade, schade, jammerschade!“, zwitscherte Lady Madonna und legte bedauernd den Kopf schief.
Bevor Violet ihr zustimmen konnte, klingelte die Glocke schon wieder und Tante Abigail kam in den Blumenladen. Ihre roten Locken leuchteten mit den Rosen um die Wette, die vor dem Ladentisch in einer großen Vase standen. Und ihre Augen waren so grün wie die Blätter der Lilien daneben.
Violet hatte die gleichen roten Haare und grünen Augen, sie war ihrer Tante überhaupt wie aus dem Gesicht geschnitten. Und auf ihren Nasen, ihren Wangen, ihren Armen und sogar ihren Zehen tummelten sich Hunderte von Sommersprossen.
„Hallo Jack und Zack! Gut, dass ihr da seid.“ Tante Abigail hob ihren Korb, in dem eine braune Papiertüte lag. „Ich hab frische Marzipanhörnchen gekauft. Sie sind noch ofenwarm.“
„Und ich hab einen Hauptgewinn für dich“, sagte Violet und reichte ihrer Tante den Brief von der Königlichen Lotterie.
„Frohe Weihnachten!“, sang Lady Madonna. „Und ein gutes neues Jahr.“
„Was ist das denn?“ Tante Abigail blickte verwundert auf die Schnörkelschrift.
„Mach ihn doch mal auf“, sagte Jack.
Der Brief, den Tante Abigail aus dem Umschlag zog, war sogar noch schöner als das Kuvert. Oben auf dem Blatt prangte eine goldene Krone, darunter stand:
„Das ist ja wunderbar!“ Tante Abigail strahlte über das ganze Gesicht. „Ich hab noch nie irgendwas gewonnen, obwohl ich bei jedem Preisausschreiben mitmache.“
„Der erste Juli ist übernächste Woche!“, rief Jack, nachdem alle gratuliert hatten. „Da fliege ich nach Bordeaux.“
„Und ich auch“, sagte Zack.
Violet schluckte. „Kannst du mich nicht mit auf die Kreuzfahrt nehmen, Tante Abigail?“
Ihre Tante schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich fürchte, das geht nicht. Der Preis ist nur für eine Person.“
„Außerdem hast du ja auch noch Schule“, sagte Zack.
„Schade, schade“, jammerte Lady Madonna.
Violets Augen füllten sich mit Tränen. Sie senkte hastig den Kopf, damit die anderen das nicht sahen. Es war so ungerecht, alle hatten einen Grund, sich zu freuen, nur sie ging leer aus.
„Nicht traurig sein, Violet.“ Tante Abigail legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. „Jetzt gibt es erst mal leckere Marzipanhörnchen und dann sieht die Welt wieder besser aus.“
„Danke.“ Violet löste sich aus der Umarmung und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab überhaupt keinen Appetit mehr.“