Milla |
Glaubst du an Wahrsagerei? |
Henry |
Natürlich nicht! |
Milla |
Ich auch nicht, aber ich wusste, |
Milla saß auf dem Flur und starrte das rote Licht an. Die Lampe mit der Aufschrift Bitte Ruhe hing über der Tür, hinter der ihr Vater arbeitete. Solange das Licht leuchtete, durfte niemand hinein. Auch Milla nicht und selbst dann nicht, wenn sie ihm unbedingt etwas erzählen musste. So wie heute.
„Geh aus! Geh schon aus, du doofes Licht!“ Milla konzentrierte ihre Gedanken auf das rote Leuchten, doch das klappte nicht. Natürlich klappte das nicht, wie sollte es auch? Milla glaubte nicht an Hokuspokus. Es gab nur eine Möglichkeit, das Licht zu löschen: Jemand musste auf den Schalter drücken. Der aber befand sich auf der anderen Seite der Tür.
Direkt gegenüber von Millas Stuhl hing ein Fernseher an der Wand. Auf dem Bildschirm waren das Logo des Senders Sternzeichen TV und ihr Vater zu sehen. Michael hatte Karten in der Hand, die er auf dem Tisch ausbreitete. Dabei sprach er in ein Mikrofon. Doch weil der Ton des Fernsehers abgestellt war, konnte Milla ihn nicht hören. Brauchte sie auch nicht. Sie wusste genau, was er erzählte: dass alles, wirklich alles, gut werden würde. Vielleicht nicht sofort, aber spätestens in ein paar Monaten, und dass sich die Anruferin keine Sorgen machen müsse. Das sagte er immer, das kannte Milla schon.
Die Leute, die im Fernsehstudio anriefen, bezahlten viel Geld dafür, sich über das Telefon die Zukunft voraussagen zu lassen. Es waren fast ausschließlich Frauen und meistens ging es um eine unglückliche Liebe oder Geldsorgen oder beides.
Milla gähnte und griff nach ihrem Rucksack, der neben ihrem Stuhl auf dem Boden stand. Wenn sie schon warten musste, bis die Sendung zu Ende war, konnte sie auch mit den Hausaufgaben anfangen.
Milla überlegte, womit sie beginnen sollte. Sie entschied sich für Mathe, das fiel ihr am leichtesten. Milla mochte Mathe, umso mehr ärgerte sie sich immer noch über den Blödsinn, den ihre Lehrerin heute im Unterricht erzählt hatte. Milla schnaufte verächtlich bei dem Gedanken daran und begann, ihre Aufgaben zu lösen. Dabei behielt sie den Monitor mit einem Auge im Blick.
Ihr Vater hatte die Karten gegen bunte Steine eingetauscht. Mit einer lässigen Handbewegung würfelte er die roten, grünen und blauen Steine über den Tisch und betrachtete dann ihre Lage, um daraus die Zukunft der Anruferin zu lesen. Zumindest behauptete er das in seiner Sendung. Milla musste grinsen. Sie wusste, dass das totaler Unsinn war, und ihr Vater wusste es auch.
Milla hatte die Hälfte ihrer Aufgaben erledigt, als eine Frau mit einer Kaffeetasse über den Flur auf sie zukam. Milla kannte die Frau. Sie hieß Katja und war eine Kollegin ihres Vaters.
„Dein Dad ist echt klasse.“ Katja zeigte auf den Monitor. „Seit Michael bei uns arbeitet, haben sich die Anruferzahlen verdoppelt. Die Zuschauerinnen mögen ihn.“
„Ich auch“, murmelte Milla und starrte auf ihr Matheheft. Sie hatte keine Lust, mit Katja zu reden.
Die Kolleginnen ihres Vaters waren alle supernett zu ihr. Milla wusste, dass die Nettigkeit nicht ihr galt. Seit sich herumgesprochen hatte, dass ihre Mutter sich von Michael getrennt hatte, schleimten sich alle Frauen im Sender bei Milla ein, um mehr über ihren Vater zu erfahren.
„Mathe?“ Katja zeigte auf Millas Heft. „Du Ärmste! Ich habe Mathe auch immer gehasst.“
„Ich mag Mathe.“
„Echt?“ Katja sah Milla überrascht an und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee.
„Echt! Bei Mathe ist alles klar und logisch, da kann man nicht bescheißen. Nicht so wie hier.“ Sie deutete in Richtung Monitor.
Katja verschluckte sich an ihrem Kaffee. Es dauerte eine Weile, bis sich ihr Hustenreiz gelegt hatte und sie wieder sprechen konnte.
„Willst du mit reinkommen? Die Sendung ist in fünf Minuten vorbei“, sagte Katja. „Du musst aber mucksmäuschenstill sein, versprochen?“
Milla nickte und steckte ihr Heft weg.
Katja öffnete die Tür unter der roten Lampe, indem sie eine Magnetkarte durch ein Lesegerät zog. Dahinter lag ein Studio, in dem nur der Tisch hell beleuchtet war, an dem Millas Vater saß. Vor ihm stand eine Kamera. Der Rest des Raumes lag im Halbdunkel.
Trotzdem hatte Michael sie entdeckt und begrüßte Milla, indem er die rechte Augenbraue leicht nach oben zog. Draußen vor den Fernsehgeräten hatte das sicher niemand bemerkt, aber Milla war es aufgefallen. Sie winkte ihrem Vater zu und lehnte sich gegen die Studiowand, um sich von dort aus den Rest der Sendung anzusehen. Gerade war eine Frau mit einer piepsigen Stimme in der Leitung.
„Mein Mann hat mich vor einem Jahr verlassen und ich wüsste gerne, ob ich jemals wieder einen Menschen treffe, den ich lieben kann und der mich liebt.“ Die Frau schluchzte leise. „Ich fühle mich so schrecklich einsam!“
„Das werden wir gleich sehen“, sagte Millas Vater und warf die bunten Steine über den Tisch. Dann beugte er sich tief über sie und betrachtete jeden einzelnen, als könnten sie ihm tatsächlich ein Geheimnis verraten. Langsam richtete sich Michael wieder auf und blickte lächelnd in die Kamera. „Die Lage der Steine ist ganz eindeutig. Sie werden schon bald einen Menschen treffen, der Sie so liebt, wie Sie es verdienen. Gehen Sie raus, gehen Sie unter Menschen! Wenn Sie nur in Ihrer Wohnung hocken, werden Sie Ihren Herzensmenschen vielleicht verpassen.“
„Und wann? Wann treffe ich ihn?“, fragte die Frau aufgeregt.
Wieder warf Michael einen Blick auf die Steine. „Nicht morgen und wahrscheinlich auch nicht übermorgen, aber spätestens in ein paar Wochen oder Monaten. Gut Ding will Weile haben. Ich wünsche Ihnen viel Glück und danke für Ihren Anruf.“
Michael warf seiner Tochter einen kurzen Blick zu. Milla steckte sich den Zeigefinger in den Mund, um ihrem Vater zu zeigen, was sie von seiner Telefonberatung hielt. Er grinste kaum merklich zurück und beendete seinen Auftritt mit den Worten: „Das war der letzte Anrufer für heute. Gleich ist meine bezaubernde Kollegin Katja für Sie am Apparat. Wir sehen uns dann morgen wieder. Ich freue mich auf Sie!“
Eine Musik erklang und auf dem Monitor erschien ein Clip, der für die anschließende Sendung Werbung machte.
Millas Vater erhob sich und legte das Mikrofon zur Seite.
„Und? Wie war ich?“, fragte er, als er neben Milla stand.
„Großartig!“ Katja hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und ging hinüber zu dem Tisch, um ihren Platz vor der Kamera einzunehmen.
Milla verdrehte die Augen und brummte: „Grottig wie immer.“
„Es kann nie schaden, verschiedene Meinungen zu hören“, erwiderte Michael fröhlich. „Was machst du eigentlich hier? Hast du kein Training?“
„Später, aber ich muss dir unbedingt was erzählen!“, sagte Milla.
„Was denn?“
„Heute in Mathe hat die Dreistein …“
„Wer ist die Dreistein?“, unterbrach Michael seine Tochter.
„Na, meine Mathelehrerin! Die hat heute allen in der Klasse ihr Horoskop aus der Zeitung vorgelesen. Aber nicht aus Spaß, sondern so, als ob sie wirklich dran glauben würde. Das war so schlimm!“
„Ich dachte, du magst Mathe.“
„Tu ich ja auch, aber nicht die Dreistein. In ihrem Horoskop stand, dass Waagen heute vorsichtig sein sollen. Die ganze Stunde über ist sie nicht ein Mal von ihrem Stuhl aufgestanden. Aus Angst, sie könnte sich ein Bein brechen, wenn sie eine unglückliche Bewegung macht. Und das alles nur, weil sich irgendein Betrüger diesen Quatsch ausgedacht und aufgeschrieben hat. Ist das nicht krass?“
„Nicht so laut.“ Michael schaute sich um, ob ihnen irgendwer zugehört hatte. Aber die Techniker im Studio waren damit beschäftigt, alles für die nächste Sendung vorzubereiten. „Hier gibt es eine Menge Leute, die auch an Horoskope glauben.“
„Du aber doch nicht, oder?“
„Seh ich so aus?“ Michael grinste.
„Und warum machst du diesen Mist hier dann überhaupt?“
„Unter anderem, um dein Taschengeld bezahlen zu können – und alles andere auch“, flüsterte Millas Vater. „Darüber haben wir doch schon oft gesprochen.“
Milla sagte nichts, sondern blickte Michael nur vorwurfsvoll an. Auch wenn sie wusste, dass das nichts bringen würde. Er hatte ja recht, über seinen Moderatorenjob hatten sie sich schon tausendmal gestritten, ohne dass er beim Sender gekündigt und sich einen neuen Job gesucht hatte.
„Sieh es doch mal so: Ich tu niemandem weh, im Gegenteil, ich gebe den Menschen neue Hoffnung“, sagte er. „Übrigens kommt heute Abend noch Kundschaft. Ich brauch dich dann.“
Milla verdrehte die Augen. Seit sich in ihrer Nachbarschaft herumgesprochen hatte, dass ihr Vater bei Sternzeichen TV arbeitete, kamen immer wieder Leute zu ihnen nach Hause, denen Millas Vater die Zukunft weissagte. Manchmal sollte er auch einen Kontakt zu irgendeinem Verstorbenen herstellen. Millas Job war es dann, versteckt hinter der Gardine für eine möglichst gruselige Stimmung zu sorgen.
„Jetzt mach nicht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.“ Michael boxte seine Tochter sanft in die Seite. „Geh erst mal zum Training, tob dich aus und dann ist deine Laune auch wieder besser. Ich habe hier noch zu tun, ich muss Katja helfen.“
„Aha“, sagte Milla. „Katja. Helfen.“
„Das ist rein beruflich“, versicherte ihr Vater. „Wir sehen uns heute Abend. Frau Müller kommt um acht.“
„Ist das nicht die aus dem Nachbarhaus, deren Mann vor einem Jahr unter die Straßenbahn gekommen ist?“, fragte Milla.
„Genau die, und jetzt will sie wissen, ob es ihm gut geht im Jenseits.“ Michael wiegte den Kopf hin und her, als wenn er einen Moment nachdenken müsste. „Ich glaube, wir können die gute Frau beruhigen.“
„Jetzt Ruhe bitte, Katjas Sendung geht gleich los!“, rief jemand durch das Studio.
Michael gab Milla einen Kuss aufs Haar und öffnete ihr mit seinem Ausweis die Tür. Auf dem Flur schnappte sie sich ihren Rucksack und machte sich wütend über die Dreistein und ihren Vater auf den Weg zum Training. Wer immer ihr dort gegenüberstehen würde, war nicht zu beneiden.
Milla ging in Grundstellung. Das linke Bein vorne, das rechte nach hinten abgewinkelt stand sie auf der Matte und fixierte ihre Gegnerin durch das enge Drahtnetz ihrer Schutzmaske. Mit zehn hatte sie angefangen zu fechten, weil es für sie der perfekte Sport war. Man musste gelenkig sein, Ausdauer haben und ein gutes Reaktionsvermögen besitzen. Das Wichtigste aber war zu erkennen, welchen Angriff der Gegner als Nächstes plante. Das hatte nichts mit Hellseherei zu tun, sondern vor allem mit der Fähigkeit, sein Gegenüber genau zu beobachten und daraus abzuleiten, was er vorhatte.
Die Fechterin, die ihr auf der Matte gegenüberstand, sprang plötzlich nach vorne, um Milla mit ihrem Florett zu attackieren. Aber Milla hatte das längst geahnt, weil das Mädchen kurz zuvor ihren Körperschwerpunkt kaum merklich verlagert hatte.
Milla wich geschickt nach hinten aus und der Angriff ging ins Leere. Jetzt hatte sie selbst leichtes Spiel: Ein schneller Stoß – und Milla landete einen Treffer auf der weißen Schutzweste des Mädchens. Drei Minuten später stand es sieben zu null und das Gefecht war beendet.
Milla nahm die Maske ab und reichte ihrer Gegnerin die Hand. Doch statt ihr zum Sieg zu gratulieren, zischte das Mädchen nur „Hexe!“ und lief in die Umkleide.
Seit sich im Verein und in der Schule herumgesprochen hatte, dass ihr Vater als Wahrsager arbeitete, kassierte Milla in der Halle und auf dem Schulhof ständig solche Sprüche. Anfangs hatte sie sich darüber geärgert, aber mittlerweile hörte sie gar nicht mehr hin, oder versuchte es zumindest.
Milla setzte sich auf die Bank, um auf ihr nächstes Gefecht zu warten. Sie nutzte die Zeit, um zu lesen. Sie hatte ihr Lieblingsbuch dabei. Es war kein Roman, sondern eine Biografie über das Leben von Harry Houdini. Er hatte Anfang des letzten Jahrhunderts gelebt und Milla war überzeugt, dass er der größte Entfesselungskünstler aller Zeiten war.
Einmal hatte er sich in Amerika an Armen und Beinen gefesselt von einer Brücke in einen eiskalten Fluss werfen lassen und sich dann unter Wasser von den Ketten befreit. Tausende Zuschauer hatten am Ufer gestanden und ihn bejubelt, als er wieder auftauchte. Aber keiner wusste, wie es ihm gelungen war, die Schlösser zu öffnen. Ein hoher Polizeibeamter hatte ihn vor dem Sprung ins Wasser sorgfältig durchsucht, um sicherzugehen, dass er nicht irgendwo einen Schlüssel versteckt hatte.
Mit Zauberei hatte das Ganze nichts zu tun, da war Milla sich sicher. Houdini hatte sein Leben lang gegen Hellseher und Scharlatane gekämpft, die behaupteten, mit Geistern und dunklen Mächten in Kontakt zu stehen. Für Houdini waren das alles Betrüger – auch deswegen bewunderte Milla ihn. Seine Tricks beruhten auf Schnelligkeit, Beobachtungsgabe, Präzision und vielen Stunden Training.
Ganz ähnlich wie beim Fechten, dachte Milla und legte das Buch zur Seite. Seit sie das erste Mal von Houdinis Entfesselungstrick unter Wasser gelesen hatte, grübelte sie darüber nach, wie er es gemacht hatte. Milla hatte sich zu Weihnachten Handschellen schenken lassen, um den Trick selber auszuprobieren. Nicht in einem kalten Fluss, sondern in der warmen Badewanne. Aber es war ihr nie gelungen, die Handschellen abzustreifen oder zu öffnen. Jedes Mal hatte sie vorher wieder auftauchen müssen, weil sie keine Luft mehr bekam.
„Milla, du bist dran!“, rief der Fechttrainer.
Ihr nächster Gegner wartete schon auf der Matte. Es war ein Junge, zumindest nahm sie das an. So leicht war das bei dem Helm und der Schutzkleidung nicht zu erkennen. Es war aber eindeutig niemand, den sie kannte. Er oder sie musste neu im Verein sein.
Milla nahm sich einen Moment Zeit, um ihren Gegner genau zu studieren. Danach war sie sich sicher, dass es ein Junge war. Die leicht überheblich wirkende Körperhaltung und das ungeduldige Herumfuchteln mit seiner Waffe waren klare Anzeichen dafür. Außerdem hatte er eine Spinne mit roter Farbe auf das Gitternetz seines Helms gesprüht. Milla vermutete, dass er seine Gegner damit verunsichern wollte, und auch das war etwas, was die Mädchen, die sie kannte, nie tun würden. Mit einer Spinne schon gar nicht.
Milla belächelte den Versuch, sie mit einem so billigen Trick einzuschüchtern. Sie setzte ihren Helm auf und freute sich darauf, dem Kerl zu zeigen, wer hier die beste Fechterin in der Halle war.
Doch diesmal war es nicht so leicht wie bei ihrem ersten Kampf. Der Fremde war gut, ziemlich gut sogar. Er war schnell und schien immer schon zu ahnen, welchen Schritt Milla als Nächstes plante. Die beiden jagten sich auf der schmalen Matte hin und her. Mal gelang Milla ein Treffer, dann ihrem Gegner. Keiner von ihnen konnte entscheidend in Führung gehen, das Gefecht war völlig ausgeglichen. Milla hatte schon lange nicht mehr gegen jemanden gefochten, der so stark war wie sie selbst, und diesen Kampf wollte sie auf keinen Fall verlieren.
Plötzlich stürmte der Junge auf sie zu. Sie hatte den Angriff nicht kommen sehen, trotzdem konnte sie zurückspringen und dem Florett ihres Gegners im letzten Moment ausweichen. Milla wollte die Gelegenheit nutzen und gleich einen Gegenangriff starten. Doch der Junge war schon wieder zurückgewichen und ihr Stoß ging ins Leere. Im selben Moment spürte sie, wie er sie an der Schulter traf.
Sie hatte verloren und das war ihr schon ewig nicht mehr passiert.
Der Junge verbeugte sich höflich, drehte sich um und ging mit schnellen Schritten Richtung Jungenumkleide, ohne seinen Helm abzunehmen.
Milla musste grinsen, weil sie mit ihrer Vermutung, dass es ein Junge war, recht gehabt hatte. Die Freude übertraf sogar den Ärger über ihre Niederlage. Außerdem war es knapp gewesen und die Revanche würde sie ganz bestimmt gewinnen.
„Hey, warte doch mal!“, rief sie dem Jungen hinterher.
Doch er drehte sich nicht zu ihr um, sondern verschwand in der Tür zur Umkleide.
„Kennen Sie den?“, fragte Milla ihren Trainer.
„Nein, er war das erste Mal da. Aber er ist gut, oder?“
„Ziemlich gut“, erwiderte Milla und sah auf die Uhr. Es war höchste Zeit, nach Hause zu gehen.
In der Umkleide ignorierte sie das Getuschel der anderen Mädchen, die sich darüber freuten, dass die „Hexe“ nach langer Zeit mal wieder verloren hatte.
Milla störte das nicht. Es war ein guter Kampf gewesen und mit etwas Glück hätte auch sie gewinnen können. Was sie ärgerte, war, dass sie nichts über ihren Gegner wusste. Wo er herkam und warum er sich eine Spinne auf den Helm sprühen musste, obwohl er solche albernen Spielchen gar nicht nötig hatte.
Als Milla auf dem Nachhauseweg durch den Park kam, fiel ihr ein Plakat auf, das für ein Mittelalterfest am Rande der Stadt warb. Auf den Fotos waren Männer mit Schwertern zu sehen. Milla verdrehte die Augen. So wie die Ritter dort ihre Waffen hielten, würden sie niemals einen Treffer landen können.
Sie griff nach ihrem Handy, um das Plakat zu fotografieren. Im selben Moment klingelte es und auf dem Display erschien das Bild ihres Vater.
„Was gibt’s?“, fragte Milla.
„Bei mir wird es ein bisschen später“, erklärte Michael. „Kannst du bitte schon mal alles vorbereiten? Du weißt ja, was zu tun ist.“
„Das volle Programm?“
„Das volle Programm.“
„Heute war übrigens ein Neuer beim Fechten. Er hat mich besiegt. Ich habe schon ewig nicht mehr verloren.“ Milla kniete sich auf den Boden, weil sie auf der Wiese Löwenzahn entdeckt hatte.
„Sah er gut aus?“
„Papa! Das konnte ich doch gar nicht sehen. Da tragen alle Masken“, erwiderte Milla, während sie den Löwenzahn pflückte und die Blätter in ihrer Fechttasche verstaute.
„Erzähl mir das alles heute Abend, in Ruhe. Ich muss jetzt Schluss machen.“
Im Hintergrund hörte Milla Stimmen und das Lachen einer Frau. „Ist Katja bei dir?“
„Warum fragst du?“
„Nur so.“ Milla bemühte sich, ihre kurze Antwort möglichst vorwurfsvoll klingen zu lassen.
„Es ist nicht so, wie du denkst“, verteidigte sich Michael. „Wir sind hier nicht zum Spaß im Café …“
„Klingt aber so.“
„Wir müssen noch eine wichtige Sache für den Sender besprechen. Und jetzt sei ein braves Mädchen und geh nach Hause. Ich komme dann bald nach.“
Michael legte auf und Milla streckte dem Foto ihres Vaters, das noch immer auf dem Bildschirm leuchtete, die Zunge raus. Sie glaubte ihm kein Wort. Von wegen wichtige Sachen für den Sender besprechen.
Zu Hause angekommen, kümmerte sich Milla zuerst um Siggi und Roy. Die beiden weißen Kaninchen wohnten in einem Käfig, der so groß war, dass auf dem Balkon niemand anderes mehr Platz hatte. Wenn Milla und ihr Vater im Sommer draußen frühstücken wollten, mussten sie den Käfig als Tisch benutzen und sich auf zwei winzige Stühle direkt vor der Balkontür quetschen.
Die Kaninchen waren von ihrer Mutter. Sie hatte sie Milla geschenkt, als ihre Tochter angefangen hatte, sich für Houdini und seine Entfesselungstricks zu interessieren.
„Die kannst du dann aus deinem Zylinder zaubern“, hatte ihre Mutter gesagt.