Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik
Herausgegeben von Michael Ermann
A. Buchheim: Bindung und Exploration (2016)
U. T. Egle/B. Zentgraf: Psychosomatische Schmerztherapie (2014)
M. Ermann: Herz und Seele (2005)
M. Ermann: Träume und Träumen (2005/2014)
M. Ermann: Freud und die Psychoanalyse (2008/2015)
M. Ermann: Psychoanalyse in den Jahren nach Freud (2009/2012)
M. Ermann: Psychoanalyse heute (2010/2017)
M. Ermann: Angst und Angststörungen (2012)
M. Ermann: Der Andere in der Psychoanalyse (2014/2017)
U. Gast/P. Wabnitz: Dissoziative Störungen erkennen und behandeln (2014/2017)
R. Gross: Der Psychotherapeut im Film (2012)
O. F. Kernberg: Hass, Wut, Gewalt und Narzissmus (2012/2016)
J. Körner: Abwehr und Persönlichkeit (2013)
J. Körner: Die Deutung in der Psychoanalyse (2015)
R. Kreische: Paarbeziehungen und Paartherapie (2012)
W. Machleidt: Migration, Kultur und psychische Gesundheit (2013)
L. Reddemann: Kontexte von Achtsamkeit in der Psychotherapie (2011)
A. Riehl-Emde: Wenn alte Liebe doch mal rostet (2014)
C. Stadler: Traum und Märchen (2015)
U. Streeck: Gestik und die therapeutische Beziehung (2009)
R. T. Vogel: Existenzielle Themen in der Psychotherapie (2013)
R.T. Vogel: Das Dunkle im Menschen (2015)
L. Wurmser: Scham und der böse Blick (2011/2014)
H. Znoj: Trauer und Trauerbewältigung (2012)
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Dieses Buch stellt eine grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung der Vorlesungen dar, die der Autoren zum gleichen Thema im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2010 gehalten haben. Unter www.auditorium-netzwerk.de ist eine Übersicht aller Aufnahmen der Lindauer Psychotherapiewochen einzusehen, die unter audionetz@aol.com angefordert werden kann.
2. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-030240-2
E-Book-Formate:
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Für Jan Felix und Bernhard Julien
(U.G.)
Für Lisa
(P.W.)
Sind so kleine Hände
winzge Finger dran
Darf man nie drauf schlagen
die zerbrechen dann
Sind so kleine Füße
mit so kleinen Zehn
Darf man nie drauf treten
könn’ sie sonst nicht gehen
Sind so kleine Ohren
scharf – und ihr erlaubt
darf man nie zerbrüllen
werden davon taub
Sind so schöne Münder
sprechen alles aus
darf man nie verbieten
kommt sonst nichts mehr raus
Sind so klare Augen
die noch alles sehn
darf man nie verbinden
könn’ sie nichts verstehn
Sind so kleine Seelen
offen und ganz frei
Darf man niemals quälen
gehn kaputt dabei
Ist son kleines Rückgrat
sieht man fast noch nicht
darf man niemals beugen
weil es sonst zerbricht
Grade klare Menschen
Wär’n ein schönes Ziel
Leute ohne Rückgrat
habn wir schon zu viel
(Bettina Wegner)
© Anar Musikverlag, c/o Bettina Wegner
Dieses Buch wendet sich an alle, die Menschen mit Folgen von Gewalterfahrungen in der Kindheit begleiten. Es ist für Psychiater, Psychotherapeuten und alle Angehörigen psychosozialer Berufe geschrieben. Es hat zum Ziel, Sie als Leser für dissoziative Symptome und Störungen zu sensibilisieren. Die Grundlage für dieses Buch bildet unsere Vorlesung zum Thema »Dissoziative Störungen« auf den Lindauer Psychotherapiewochen 2010. Der Anregung zur Publikation kamen wir gerne nach. Denn dissoziative Störungen gehören – nach den posttraumatischen Belastungsstörungen – mit zu den häufigsten Traumafolgeerkrankungen.1 Sie werden im Bericht des Runden Tisch zum Thema »Sexueller Kindesmissbrauch« ausdrücklich als mögliche Traumafolge erwähnt.2 Gleichwohl werden sie bislang oft übersehen oder fehlgedeutet und finden in der Behandlung zu wenig Beachtung.3
In den letzten Jahren wurde erstmals in breiter Öffentlichkeit darüber diskutiert, dass seelische, körperliche und sexuelle Gewalt gegen Kinder hierzulande keine Seltenheit ist – weder in öffentlichen Einrichtungen noch in Familien. Die Bundesregierung benannte unabhängige Beauftragte (Christine Bergmann und Johannes-Wilhelm Rörig) und ließ den »runden Tisch« zu diesem Thema einrichten. Dieser hatte zum Ziel, »Bedingungen zu schaffen für eine Kultur des Hinsehens und Eingreifens«4. Er rief Betroffene dazu auf, über den Missbrauch zu sprechen und sich damit von der Macht der Täter – versinnbildlicht durch eine übermächtige Hand, die den Mund zuhält – zu befreien ( Abb. 1).
Der »Runde Tisch« beschreibt in seinem Bericht, dass »sexueller Missbrauch von Kindern …, ebenso wie Vernachlässigung und Misshandlung, (nicht nur in der Gesellschaft, sondern) auch in der Wissenschaft vielfach ein Tabuthema« ist.5
Ein solches Tabu wurde bereits von Judith Hermann in ihrem Klassiker »Narben der Gewalt« beschrieben. Sie spricht von der zentralen Dialektik des psychischen Traumas, vom »Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen«6. Auch die Gesellschaft und mit ihr die Wissenschaft sind in diesen Konflikt verhaftet und verwickelt. Eine Ent-Wicklung kann nur gelingen, wenn der Konflikt und seine Auswirkungen immer wieder thematisiert werden. Denn »um dem Stigma von kindlicher Gewalterfahrung wirksam zu begegnen, muss es bekannt sein«7. Wir Autoren gehen davon aus, dass die Dynamik dieses Konfliktes bei dissoziativen Störungen in besonderer Weise am Werke ist. Dies gilt vor allem für die Dissoziative Identitätsstörung (DIS). Sie stößt bis heute auf professionelle Skepsis und Voreingenommenheit, die der wissenschaftlichen Faktenlage nicht gerecht wird.8 Die Akzeptanz dieser Diagnose ist jedoch Voraussetzung dafür, dass Menschen mit DIS von den bestehenden therapeutischen Möglichkeiten profitieren können. Und dass sie Vertrauen schöpfen können, um über ihre erlittenen Traumatisierungen zu sprechen ( Abb. 2).
Im vorliegenden Buch soll das gesamte Spektrum von Dissoziation dargestellt werden, doch liegt aus den oben geschilderten Gründen der Schwerpunkt auf der Beschreibung der DIS. Wir wollen damit einen Beitrag leisten, um auch in der medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung Bedingungen für eine Kultur des Hinsehens und Eingreifens zu verbessern.
Nach unserer Lindau-Vorlesung erschienen weitere wichtige Publikationen, die wir mitberücksichtigt haben. Dies gilt insbesondere für die aktualisierten Guidelines der International Society for the Study of Trauma and Dissociation, deren deutsche Übersetzung inzwischen auch als Expertenempfehlungen vorliegt.9, 10 Zudem erschien das erste Manual zur Behandlung dissoziativer Störungen von Boon, Steele und Van der Hart mit dem Titel »Traumabedingte Dissoziation bewältigen«, das ein »hilfreiches Skills-Training für Klienten und ihre Therapeuten« bereithält.11 Schließlich wurde eine neue und umfassende Definition zur Dissoziation der Persönlichkeit bei Trauma von Nijenhuis und Van der Hart vorgestellt, an der wir uns hier vorrangig orientieren.12
Unser Buch ist den Vorlesungseinheiten entsprechend aus fünf Kapiteln aufgebaut. Jedes kann für sich gelesen werden, zumal wir immer wieder Querverweise eingebaut haben. Wir schildern in Kapitel 1, wie das Konzept der Dissoziation vom Gründungsvater Pierre Janet beschrieben wurde und sich – bei wechselhafter und bewegter Geschichte – bis heute ausdifferenziert hat. Hierbei gehen wir ausführlicher auf das Konzept der Strukturellen Dissoziation ein, ebenso auf die Fehlannahmen und Mythen, die das Krankheitsbild der DIS umgeben. In Kapitel 2 schildern wir, wie sich die verschiedenen dissoziativen Störungen zurzeit in den offiziellen Manualen (noch recht uneinheitlich) abbilden und wie sich eine einheitliche Definition und Weiterentwicklung gestalten könnte. Wir stellen zudem dar, dass es sich bei dissoziativen Störungen um häufige Erkrankungen handelt, in der Prävalenz vergleichbar mit Schizophrenie oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen, dass sie aber bislang oft zu spät und unzureichend diagnostiziert werden. Wir veranschaulichen in Kapitel 3, wie das klinische Augenmerk früher auf dissoziative Störungen gelenkt werden und mehr Sicherheit in der Diagnostik und Differentialdiagnostik gewonnen werden kann. Schließlich geben wir in Kapitel 4 einen orientierenden Überblick zur Behandlung und beschreiben abschließend in Kapitel 5 mögliche Schwierigkeiten und Fallstricke. Auch hier legen wir den Schwerpunkt auf die Therapie der Dissoziativen Identitätsstörung und ihrer Subform, weil bei diesen Krankheitsbildern bislang eine große klinische Unsicherheit vorliegt – gleichzeitig aber auch ein wichtiges Potential zur weiteren Verbesserung in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung besteht.
Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen in der Vorlesung in Lindau, deren Fragen, Rückmeldungen und Diskussionsbeiträge zur Entstehung dieses Buches mit ermutigt haben. Wir danken insbesondere Professor Michael Ermann für seine Anregung zu dieser Ausgabe und Ulrike Albrecht und Celestina Filbrandt für ihre verlegerische Betreuung.
Vor allem aber danken wir den Patientinnen und Patienten, die uns ihr Vertrauen geschenkt haben, uns an ihrem Erleben teilhaben ließen und lassen und uns zudem gestattet haben, in Lindau und in diesem Buch darüber zu berichten.
Ursula Gast
Pascal Wabnitz
Abb. 1: Motiv der Kampagne »Sprechen hilft« der damaligen Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine Bergmann. Aktuelle Informationen zum Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung finden Sie unter www.beauftragter-missbrauch.de (siehe auch S. 162 mit Hinweisen zum www.hilfeportal-missbrauch.de).
Abb. 2: Wie Frau P. ergeht es vielen Patientinnen mit dissoziativen Störungen: Sie können nicht spontan über ihre erlittenen Traumatisierungen sprechen, sondern »sprechen« durch die Symptome.
1 Flatten et al. (2013), S. 38
2 Bergmann (2011), S. 31
3 Positionspapier der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (2013)
4 Abschlussbericht »Runder Tisch« (2011), S. 3
5 ebenda, S. 24, Ergänzungen in Klammern von U.G.
6 Hermann (1992/2006), S. 1/9
7 Schomerus (2013)
8 Brand et al. (2016), zu »Mythen versus Fakten zur Dissoziativen Identitätsstörung« Kap. 1.4, S. 29
9 International Society for the Study of Trauma and Dissociation (2011)
10 Deutsche Bearbeitung Gast & Wirtz (2016)
11 Boon, Steele & Van der Hart (2011/2013)
12 Nijenhuis & Van der Hart (2011)
Dissoziation bedeutet im allgemeinen Sinne Trennung, Teilung, Spaltung, Zerfall – im Gegenteil von Assoziation, was Verbindung und Verknüpfung bedeutet. Dissoziative Störungen zeichnen sich dadurch aus, dass mehr oder weniger grundlegende Verbindungen und Verknüpfungen im psychischen Funktionieren unterbrochen und/oder gestört sind. Dies betrifft die »Integration von Bewusstsein, Gedächtnis, Identität, Emotionen, Wahrnehmung, Körperbild, Kontrolle motorischer Funktionen und Verhalten … Symptome können potentiell jeden Bereich psychischen Funktionierens beeinträchtigen«.13 Dissoziative Störungen treten häufig in der Nachwirkung traumatischer Erlebnisse auf. Viele der Symptome, einschließlich Gefühle der Beschämung und Verwirrtheit über das Auftreten der Symptome oder dem Wunsch, sie zu verbergen, werden durch die Nähe zum Trauma beeinflusst.14 Eine traumatische Bedrohung kann eine Dissoziation der Persönlichkeit als Gesamtsystem hervorrufen.15 Die Persönlichkeit eines Menschen setzt sich nämlich aus verschiedenen emotionalen Systemen zusammen, wie dies sehr unterhaltsam und anschaulich in dem Animationsfilm »Alles steht Kopf« beschrieben wird. In der Regel gelingt im Laufe der kindlichen Entwicklung eine ausreichende Integration dieser Systeme, sie kann jedoch – angesichts schwerer Belastungen, insbesondere in Form von Gewalt – auch scheitern oder wieder zerbrechen. Unter Einbeziehung sowohl traditioneller Dissoziationskonzepte als auch moderner Emotions- und Motivationsforschung formulieren van der Hart et al.15,16 und Nijenhuis et al.17 folgende Kurzdefinition (ausführlicher Kap. 1.6.2):
Dissoziation aufgrund von Traumatisierungen beinhaltet eine Teilung der Persönlichkeit des Individuums, d. h. des gesamten dynamischen biopsychosozialen Systems, das die charakteristischen mentalen und verhaltensmäßigen Handlungen des Individuums bestimmt.
Dissoziation im psychischen Bereich bedeutet also eine mehr oder weniger schwerwiegende innere Teilung oder Aufspaltung der Persönlichkeit durch traumatische Lebensereignisse. Die Schwere und Komplexität der Teilung ist dabei von der Art, Schwere und Häufigkeit des Traumas abhängig, und vor allem auch vom Alter und dem damit verbundenen psychischen Entwicklungsstand des betroffenen Menschen.
Die Dissoziation der Persönlichkeit erfolgt dabei nicht willkürlich und zufällig, sondern an biologisch vorgegebenen Sollbruchstellen – diese sind im Kindesalter sehr viel sensibler als im Erwachsenenalter.16 Deshalb führen traumatische Erfahrungen in der Kindheit auch zu sehr viel komplexeren und tiefer greifenden Aufspaltungen als im Erwachsenenalter. Die Sollbruchstellen in der Persönlichkeit der Menschen befinden sich als eine Art Spalten zwischen den verschiedenen biologisch verankerten Systemen, die der Bedürfnisbefriedigung oder Überlebenssicherung dienen. Bei günstigen Lebensbedingungen verbinden und vernetzen sich im Laufe der Entwicklung die verschiedenen Systeme und Subsysteme miteinander – eine wichtige Voraussetzung für ein subjektives Gefühl von Einheitlichkeit oder Konsistenz im Identitätserleben. Belastende oder traumatische Lebensereignisse, insbesondere in der Kindheit, können diese Vernetzung behindern oder unmöglich machen. So können sich verschiedene abgespaltene Subsysteme der Persönlichkeit autonom entwickeln und eine Art Eigenleben führen, die dem Alltagsbewusstsein nicht ausreichend zugänglich sind. Zudem können bereits geknüpfte Vernetzungen zwischen den Systemen durch traumatische Ereignisse im Erwachsenenalter wieder zerreißen. Auch hier entstehen dann Aufteilungen der Persönlichkeit, die dann allerdings weniger tiefgreifend voneinander getrennt sind. Charakteristisch ist bei diesen Aufteilungen, dass jeder Anteil der Persönlichkeit eine eigene, vom anderen Anteil unterschiedliche Ich-Perspektive besitzt. Diese kann nur rudimentär, aber auch sehr differenziert ausgestaltet vorliegen. Letzteres ist insbesondere bei den durch frühe Traumatisierungen im Kindesalter erzeugten Aufspaltungen der Fall.
Phänomenologisch zeigt sich die Aufteilung der Persönlichkeit in dissoziativen Symptomen, die als negativ (Funktionsverluste wie Amnesie oder Paralyse) oder positiv (Intrusionen wie Flashbacks oder Stimmenhören), als psychoform (Symptome wie Amnesie oder Stimmenhören) oder somatoform (Symptome wie Anästhesie oder Ticks) kategorisiert werden können.17
Die Tatsache, dass Menschen eine gespaltene Persönlichkeit aufweisen können, hat man zunächst an solchen Fällen entdeckt, die sehr spektakuläre Dissoziationen aufwiesen. Die damaligen Fallbeschreibungen von extremer Dissoziation waren Sigmund Freud18, 19 und Piere Janet20 gleichermaßen bekannt.21 Sie flossen in deren Theorien mit ein, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Während Janet mit Dissoziation eine Struktur bzw. Organisationsform der Persönlichkeit beschreibt, interpretiert Freud Dissoziation als Abwehr.22 Durch den Aufschwung der Psychoanalyse sowie des Konzepts der Schizophrenie (Bleuler)23 geriet die Theorie der Dissoziation zunächst in Vergessenheit.24 Erst mit dem Erstarken der Psychotraumatologie in den 70er Jahren kam es in der Psychiatrie zu einer Neubesinnung auf die Dissoziationsforschung von Janet. 1980 wurden die dissoziativen Störungen in das DSM-III25 aufgenommen und entwickelten sich seither zu einem wichtigen Thema in der Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Allerdings haben sich die Definitionen in den Manualen von der ursprünglichen Idee Janets, dass mit Dissoziation die Spaltung der Persönlichkeit gemeint ist, entfernt, was zu einer zunehmenden definitorischen Unschärfe führte.26
Die Arbeitsgruppe um Nijenhuis, Van der Hart und Steele27, 28 bringt mit dem Wiederanknüpfen an Janet hierüber neue Orientierung. Unter Einbeziehung aktueller Erkenntnisse zu Persönlichkeit und Bewusstsein entwickeln sie das Modell der Strukturellen Dissoziation, so wie wir es oben bereits sehr vereinfacht skizziert haben. Sie formulieren zudem eine neue, umfassende Definition, wobei die Dissoziation der Persönlichkeit das zentrale Kernmerkmal eines Traumas darstellt. Vor dieser Matrix bieten sie eine Neuordnung traumabezogener Diagnosen an ( Kap. 1.5), die sich an der Komplexität der Aufspaltung orientiert. Das Konzept der Strukturellen Dissoziation rundet die Wiederentdeckung des Dissoziationskonzeptes insofern ab, als es den Bogen zu den Gründungsvätern spannt und ihre Theorien mit den neuen Erkenntnissen der Hirnforschung untermauert. Diesen Bogen – von der Entdeckung der Aufspaltung der Persönlichkeit von den Pionieren der Dissoziationsforschung zur Wiederentdeckung ihres Konzeptes, bei der die konzeptionelle Klarheit zunächst verloren ging und sich nun neu herausschält, – wollen wir in diesem und dem folgenden Kapitel nachzeichnen. Wir beginnen mit einem geschichtlichen Rückblick.
Erste Fallbeschreibungen von Dissoziation der Persönlichkeit reichen bis in Zeit der Aufklärung zurück, als sich die Psychiatrie als Wissenschaft etablierte. Dissoziative Phänomene und Veränderung von Persönlichkeit durch Trance und Besessenheit lassen sich allerdings bis in die primitiven Heilkünste der Schamanen zurückverfolgen. Sie wurden mit dem Konzept der dämonischen Besessenheit erklärt, das über viele Jahrhunderte das westliche Denken dominierte. Mit dem Entstehen der Psychiatrie als Wissenschaft wurde »Besessenheit« jedoch nicht mehr als Erklärung für störendes oder auffälliges Verhalten akzepiert – gleichzeitig wurden die ersten Fälle Multipler Persönlichkeit diagnostiziert.29 Eine Falldarstellung über eine »ausgetauschte Persönlichkeit« wurde 1791 von Gmelin in Tübingen publiziert, in der er eine 20-jährige Frau beschrieb, die plötzlich wie ausgewechselt in ihrem Persönlichkeitsverhalten wirkte, perfekt französisch sprach und wie eine Aristokratin auftrat. Als »deutsche Persönlichkeit« war sie amnestisch für das, was sie in ihrem »französischen Zustand« erlebt hatte. Weitere frühe Beispiele sind die Falldarstellungen über Mary Reynolds30 sowie die detailreiche Beschreibung über die Behandlung von Estelle,31 einem 11-jährigen Schweizer Mädchen, das verschiedene Ich-Zustände aufwies.
Auch der französischen Psychiater Pierre Janet (1859–1974) berichtete über eine Reihe verschiedener Fälle von dissoziierter Persönlichkeit, mit denen er zum Teil sehr intensiv therapeutisch arbeitete.32 Er beobachtete bei seinen Patientinnen und Patienten, dass sich bestimmte umschriebene Verhaltensweisen oder Erinnerungen durch psychisch sehr belastende und traumatische Lebenssituationen ihrer bewussten Kontrolle entzogen und als »fixe Ideen« eine Art Eigenleben führten. Er beschrieb einen automatisch ablaufenden Prozess der Abtrennung und dem »Nebeneinanderher« existieren von Bewusstseinsinhalten.33 Der Begriff »Dissoziation« wurde dabei ursprünglich als Bezeichnung für eine Spaltung der Persönlichkeit oder des Bewusstseins verwendet.34 Janet erklärte zudem, eine Dissoziation beinhalte eine Spaltung zwischen »Systemen von Ideen und Funktionen, welche die Persönlichkeit ausmachen«.35 Die Persönlichkeit beschreibt er dabei als eine Struktur, die aus verschiedenen Systemen besteht. Morton Prince legte das Konzept von Janet seinen Untersuchungen über dissoziative Persönlichkeit zu Grunde und führte im Rahmen seiner Fallschilderung den Begriff der multiplen bzw. alternierenden Persönlichkeit sowie die Bezeichnung »Co-Bewusstsein« ein.36
Von den umfangreichen kasuistischen Darstellungen dieser Zeit erlangte der Fall der C. Beauchamp wohl den größten Bekanntheitsgrad. Sie wurde von dem amerikanischen Psychiater Morton Prince behandelt. Christine Beauchamp klagte über Schwäche, Kopfschmerzen und »Willenshemmung«, und Prince diagnostizierte eine extreme Form der Neurasthenie, also ein psychisch bedingtes Erschöpfungssyndrom. Im Verlauf der Therapie, als Prince versuchte, die hartnäckigen Symptome mit Hypnose zu lindern, nahm der Fall jedoch einen überraschenden Verlauf: Normalerweise wirkte die Patientin sowohl im wachen Zustand als auch unter Hypnose bedrückt, deprimiert, ohne Energie und zeigte zurückhaltende, übergewissenhafte und ängstliche Persönlichkeitszüge. Eines Tages veränderte sich unter der Hypnose ihr psychischer Zustand völlig unvermittelt: Für einen umschriebenen Zeitraum wurde die Patientin viel jünger, außerdem lebhaft, keck und sehr impulsiv. In diesem neuen Zustand bestand sie darauf, eine völlig andere Person zu sein als die zurückhaltende, die zuvor da gewesen sei und mit der sie sich einen Körper teile. Sie bezeichnete sich selbst als »Sally« und grenzte sich von dem anderen Zustand ab, indem sie von diesem nur in der dritten Person als »sie« sprach. Im späteren Therapieverlauf trat noch ein weiterer Persönlichkeitszustand auf, der wiederum neue Charaktereigenschaften aufwies und sich launisch, ehrgeizig und selbstbezogen zeigte. Prince nannte diesen Zustand »die Frau« oder »die Realistin«, während »Sally« diesen ungerührt »die Idiotin« nannte. Die Beschreibung der inneren Kämpfe, Konflikte und Verwirrungen, die sich aus dem dramatischen Auftauchen und Verschwinden der drei verschiedenen Persönlichkeitszustände ergaben, wurden von Prince ausführlich beschrieben und die Patientin wurde als geheilt angesehen. Sie wurde später als Mrs. Clara Norton Fauler identifiziert, die einen Assistenten von Prince heiratete.
Die Behandlung der Patientin Christine Beauchamp bildete die Grundlage einer ersten umfassenden Studie über die »Dissoziation einer Persönlichkeit: Eine biographische Studie zur abnormen Psychologie«, die 190537 erschien. Die Vorstellung Janets von Dissoziation als Aufspaltung der Persönlichkeit entlang vorgegebener Systeme wurde von Charles Myers weiter herausgearbeitet: Basierend auf seinen Beobachtungen an akut traumatisierten Soldaten im Ersten Weltkrieg nahm er an, dass sich durch das Trauma eine Dissoziation der Persönlichkeit in zwei Teile vollzieht, die er als »apparently normal personality« und als »emotional personality« bezeichnete, ein Begriff, der später im Modell der Strukturellen Dissoziation aufgegriffen wird.38 Um die Wende zum 20. Jahrhundert waren die Themen Dissoziation und Multiple Persönlichkeit zu den von Psychiatern und Philosophen am häufigsten diskutierten Interessensgebieten herangewachsen. Es wurden ausführliche Fallbeispiele publiziert, verschiedenste experimentelle Untersuchungen an Patienten mit dissoziativen Störungen durchgeführt und erste Klassifikationen und Theorienbildungen entworfen.39
Mit dem Konzept der Dissoziation wurde Janet zum wissenschaftlichen Konkurrenten und Gegenspieler von Sigmund Freud, der an seinen hysterischen Patientinnen ähnliche Symptome beobachtete. Auch Freud vermutete zunächst traumatische Erfahrungen, insbesondere innerfamiliären sexuellen Missbrauch, von dem ihm die Patientinnen berichteten, als Ursache der beschriebenen Symptome. In Ermangelung eines gesellschaftlichen Resonanzbodens für seine Thesen distanzierte er sich bekanntlich später davon und stufte die Mitteilungen über sexuellen Missbrauch als Phantasien der Patientinnen ein. Seine – weniger anstößige – Theorie der Verdrängung ebnete ihm den Siegeszug der Psychoanalyse. Gleichwohl kannte Freud die damals publizierten Fälle von Multipler Persönlichkeit, lehnte die Theorie der Dissoziation, insbesondere die eines geteilten Bewusstseins jedoch ab:
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