Eisenhut und Apfelstrudel – Hauptkommissar Hirschbergs erster Fall
Weihnachtsgans und Krippenmord – ein weihnachtlicher Kurzkrimi mit Hauptkommissar Hirschberg
Krindelsdorf bei München: Hauptkommissar Alexander Hirschberg und seine Frau Susan fiebern der Geburt ihres ersten Kindes entgegen. Das beschauliche Landleben wäre perfekt, wenn nicht eine neue Nachbarin mit jedem im Dorf Streit anfangen würde. Und es kommt noch schlimmer: Roman Rangler dreht seine neue Reality-Show im Ort. Der prominente Fernsehkoch ist nicht nur ein echtes Ekel, auch seine Crew sorgt für reichlich Krach in Krindelsdorf. Dann geschieht ein Mord, und so gut wie jeder ist verdächtig. Hirschberg sucht die Nadel im Heuhaufen – ob er es da noch rechtzeitig in den Kreißsaal schafft?
Urkomisch, spannend, bayrisch: Hauptkommissar Hirschbergs zweiter Fall in Krindelsdorf.
Jessica Müller, geboren 1976 in München, verbrachte ihre Kindheit im Dachauer Land, wo auch der fiktive Ort Krindelsdorf liegt. Nach einem abgeschlossenen Übersetzerstudium folgten Auslandsaufenthalte in England und Irland. Derzeit lebt sie in Bonn und studiert Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität.
Leberkäs und
Hackebeil
EIN BAYERN-KRIMI
beTHRILLED
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat & Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Textredaktion: Texterei Zinßer, Stuttgart
Covergestaltung: U1berlin / Patrizia di Stefano
Unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: MIGUEL GARCIA SAAVEDRA | stockcreations | CL Shebley | canadastock | 5 second Studio und © bazilfoto / istockphoto
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5821-6
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Für Carmen und Chris
Der Winter hielt die bayerische Landeshauptstadt in seiner eisigen Faust und drückte kräftig zu. Verkehrschaos und Unfälle suchten München seit Tagen heim. Wie immer kam der Schnee Anfang Dezember für Bus, Bahn und Bewohner viel zu überraschend.
Renate Piero-Schuster setzte einen winterbestiefelten Fuß zaghaft vor den anderen. Mit einem unterdrückten Fluchen klammerte sie sich an eine Straßenlaterne, als ihre Füße unter ihr davonschlitterten. Die Kapuze ihrer Winterjacke rutschte ruckartig nach hinten, und winzige Schneekörner rieselten auf ihr schwarzgefärbtes Haar. Sie presste ihre knallrot geschminkten Lippen aufeinander, während sie verzweifelt um Bodenhaftung rang. Hitze schoss in ihre Wangen, und ihre Nasenflügel blähten sich. Sie kniff die Augen zusammen, als eine eisige Windböe ihr ins Gesicht schnitt.
Sie war wütend. Der erste Morgen als geschiedene Frau war ein böses Erwachen gewesen. Ihr Ehevertrag war nach Meinung des Richters hieb- und stichfest. Auch ihr überbezahlter Anwalt bedaure, aber die Vereinbarung könne nicht angefochten werden.
Massimo Piero speiste Renate also gerade einmal mit der gemeinsamen Dachterrassenwohnung ab. Hätte Renate gewusst, dass er nach dem Tod seines Onkels in den Genuss eines stattlichen Vermögens kommen würde, hätte sie die Papiere niemals unterschrieben. Stattdessen hätte sie im Scheidungsverfahren den letzten finanziellen Lebenshauch aus ihm herausgepresst.
Renate wollte sich nicht eingestehen, dass sie in ihrem Liebesrausch einfach jedes Dokument unterschrieben hätte. Nun aber wurde die Erinnerung an ihre heiße Wirbelwindromanze vom eisigen Sturm der Ernüchterung hinweggefegt.
Seit Renate ein kleines Mädchen gewesen war, träumte sie von einem virilen Jäger und Sammler, der ihr ein sorgenfreies Leben bescherte. Und nun kaufte sich ihr Schweizer Exmann einfach so frei und machte sie wieder zu einer alleinerziehenden Mutter. Eine Rolle, die nicht zu ihr passte, wie Renate fand.
Doch die Vorsehung schien es gut mit ihr zu meinen. Eine alte Pforte, die sie für immer verschlossen geglaubt hatte, tat sich nun aus düsterem Himmel vor ihr auf. Und die klemmende Tür wartete nur darauf, von ihr aufgestoßen zu werden.
Sie streifte sich die Wollhandschuhe von den Händen und kramte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel. Der Briefkasten war wie jeden Tag überfüttert mit Werbung für Lieferdienste und Fitnessstudios, die sie ungeduldig in den Papiermüll warf, bevor sie innehielt. Ein unbeschriftetes weißes Kuvert erweckte ihre Aufmerksamkeit. Neugierig riss Renate den Umschlag auf und erstarrte, als ein Foto zum Vorschein kam. Die Erinnerung an den Sommertag an der Isar schoss wie ein glühender Pfeil durch ihren Kopf. Ein dickes schwarzes Kreuz zog sich über ihr lächelndes Gesicht.
Renates Magen verkrampfte sich. Der Presslufthammer in ihrem Brustkorb malträtierte ihre Rippen. Ihre Hände zitterten. Sie hatte einen seit Jahrzehnten schlummernden Hund geweckt und musste nun zusehen, wie sie ihn zähmte.
Es dauerte einen Augenblick, bis Renate sich gefangen hatte und sich auf den Weg nach oben machen konnte. Ohnmächtige Wut überkam sie. Sie war kein Mensch, der sich so einfach einschüchtern ließ. Sie würde schon an ihr Ziel kommen, schwor sie sich. Hunde, die bellten, bissen schließlich nicht.
Renate hängte ihre Winterjacke achtlos auf einen Kleiderbügel an der Garderobe und ging mit raschen Schritten in die Küche. Sie betrachtete ihr bleiches Gesicht im Spiegel an der Garderobe und schenkte sich selbst ein zuversichtliches Lächeln – wie sie es immer tat, wenn die Dinge nicht liefen wie geplant.
In der Küche griff sie entschlossen nach dem Feuerzeug in der Besteckschublade. Die hungrigen Flammen zerfraßen die Fotografie in Windeseile.
Renate Piero-Schuster ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und goss sich einen großzügigen Schluck Grappa ein. Sie blickte sich in der edel eingerichteten Küche um, und ihr wurde schlagartig klar, dass ihr bisheriges Leben als Ehefrau eines wohlhabenden Geschäftsmanns für immer vorbei war. Renate schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht länger in der glamourösen Kulisse ihrer gescheiterten Ehe vor sich hinleben. Die vier Wände, die sie einst so geliebt hatte, drohten nun, sie zu ersticken. Und auch die hämischen Gesichter ihrer Nachbarn waren eine Demütigung. Renate wusste, dass sie sich hinter ihrem Rücken das Maul über sie zerrissen. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, schoss es ihr düster durch den Kopf. Sie seufzte. Es war an der Zeit loszulassen und zu neuen Ufern aufzubrechen.
Renate Piero-Schuster griff kurzentschlossen nach der Zeitung auf dem Küchentisch und schlug den Immobilienteil auf. Sie erstarrte, als ihr Blick auf die unscheinbar anmutende Annonce fiel. Das konnte kein Zufall sein, dachte sie bei sich und griff aufgeregt nach dem Telefon. Sie hatte ein neues Zuhause gefunden, und das zu einem Spottpreis!
Hauptkommissar Alexander Hirschberg öffnete die Tür zu seinem frisch renovierten Haus in Krindelsdorf und streifte sich die Winterjacke von den Schultern.
Lars Baumann und Martin Schreiber war das schier Unmögliche geglückt. Der Architekt und der Bauunternehmer verhalfen dem einst modrigen Gemäuer seines Großonkels zu neuem Glanz und machten es zu einem gemütlichen Heim für ihn und seine Frau Susan. Auch die vielen luxuriösen Extras ließen keine Wünsche offen. Nach einer kurzen Phase des Schmollens konnte sich auch Isobel Burton, die Patentante seiner Frau, für das neue Domizil erwärmen. Selbst wenn mit der Entscheidung des jungen Paares, nach Krindelsdorf zu ziehen, die Pläne von Isobels Verlobtem Vincent scheiterten. Es würde hier am Ort kein Filmstudio für Erwachsenenfilme entstehen, Vincents erotische Machwerke mussten nun andernorts produziert und gedreht werden. Doch Sauna und Whirlpool im Keller versetzten Isobel in höchste Verzückung, und sie betonte, das Haus sei ihres Patenkindes durch und durch würdig. Freudestrahlend verkündete sie, ihre Stadtvilla in London Chelsea entsprechend nachrüsten zu lassen. Dort weilte sie derzeit, und hoffentlich blieb das noch eine Weile so, dachte Hirschberg.
Der Hauptkommissar schlenderte in die Küche, um seinen wohlverdienten Feierabend mit einem Glas Rotwein einzuläuten. Ein harter Arbeitstag lag hinter ihm. Der Sohn eines wohlhabenden Unternehmers war am vergangenen Sonntag in seinem Arbeitszimmer mit seiner eigenen Waffe erschossen worden.
Zwei gutbetuchte Ehemänner hatten Sybille Hassler bereits zur Witwe gemacht, und nun starb auch ihr dritter Ehemann und hinterließ ihr ein stattliches Erbe.
Hirschberg nahm einen Schluck Wein. Eine plötzliche Witwenschaft war ein Unglücksfall. Eine zweite vielleicht noch ein tragischer Zufall. Wenn dann aber noch eine dritte hinzukam, hielt er es für ein mörderisches System.
In einer zweiten Befragung brach Sybille Hasslers Freundin schließlich zusammen und ließ das Alibi der frisch Verwitweten platzen. Zudem konnte die Spurensicherung ein Paar von Sybilles Lederhandschuhen sicherstellen, auf denen sich Schmauchspuren befanden. In diesem Fall schien sich das Klischee, dass es letzten Endes doch immer die Ehefrau war, zu bestätigen.
Kam man stets mit unschuldigen blauen Augen davon, wurden Mörder unvorsichtig, dachte Hirschberg ironisch. Sybille Hassler schien auch diesmal alles auf ihre schauspielerischen Fähigkeiten zu setzen. Das Gericht aber war kein Laientheater.
»Susan?«
Mit dem Glas in der Hand machte er sich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo die werdende Mutter mit einer Tasse Tee vor dem prasselnden Kaminfeuer saß.
Susan Waters-Hirschberg wirkte angespannt. Ein Schatten verdüsterte ihre blauen Augen. Sie brachte ein müdes Lächeln zustande, als er sich neben sie auf die Couch fallen ließ.
»Wie war dein Tag?«, erkundigte sie sich und erinnerte ihn daran, ihr das Weinglas nicht direkt unter die Nase zu halten. Seit Beginn ihrer Schwangerschaft ertrug sie nicht einmal den Geruch von Alkohol. Der Verzicht fiel ihr also leicht, betonte sie. Die Geburt ihres ersten Sohnes stand kurz bevor, und Hirschberg wusste, dass seine Frau es kaum erwarten konnte, endlich ihre Füße wieder zu sehen.
»Anstrengend«, entgegnete er und fuhr sich durch sein dichtes Haar. Er streckte seine langen Beine in Richtung Kamin. Seine dunklen Augen musterten seine Frau prüfend. Irgendetwas bedrückte sie so sehr, dass sie sich nicht einmal an ihren langen blonden Locken störte, die ihr ungebändigt in die Stirn fielen. »Aber zumindest haben wir Hasslers Frau festnehmen können. Wir haben Indizien, sie aber kein Alibi.« Er nahm einen Schluck Wein. »Und du siehst alles andere als glücklich aus«, stellte er besorgt fest. »Was ist los, Susan?«
»Frau Dachshofer war heute hier«, begann sie seufzend und prostete ihm mit ihrer Teetasse zu. Die Naturheilpraktikerin und selbst ernannte Kräuterhexe des Ortes, Marianne Dachshofer, kümmerte sich rührend um die werdende Mutter. »Sie hat mir wieder ihre Schwangerschaftsspezialmischung gegen die Übelkeit gebracht. Und sie hat mir erzählt, dass unser Noch-Bürgermeister tatsächlich vorhat, das Angebot dieses Privatsenders anzunehmen.« Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
»Das kann doch nicht sein Ernst, oder?«, stöhnte Hirschberg und legte den Arm um ihre Schultern. »Nach allem, was letzten Sommer passiert ist, will Seitlbach ausgerechnet hier jugendliche Straftäter mithilfe des Fernsehens resozialisieren?« Der Mord an der Frau des Bürgermeisters und der darauffolgende Medienrummel steckten dem Ort noch immer in den Gliedern.
»Morgen will der Gemeinderat abstimmen«, nickte Susan und streichelte ihren Bauch.
Hirschberg konnte sehen, wie winzige Füße gegen ihre Bauchdecke stießen. Langeweile schien sich im Fruchtwasser breitzumachen, wenn Mama zu lange faul herumsaß und ihren Sohn nicht in den Schlaf wiegte. Er schmunzelte.
»Frau Dachshofer meint, dass er das Okay bekommen wird«, fuhr Susan fort, »denn die Gemeinde braucht dringend Geld. Der Sender übernimmt tatsächlich die vollen Kosten für die Sanierung und Renovierung der alten Gaststätte und Brauerei. Und kein Geringerer als Roman Rangler wird sich am Krindelsdorfer Herd die Finger verbrennen«, kam es ironisch über ihre Lippen. »Offensichtlich rechnet man mit immensen Einschaltquoten.«
»Das gefällt mir nicht, Susan«, schüttelte der werdende Vater skeptisch den Kopf.
Günther Seitlbach, der mit anderthalb Füßen schon im Landratsamt stand, plante offenbar, sich mit einem Feuerwerk aus dem Krindelsdorfer Rathaus zu verabschieden. Die kleine Gemeinde war ein emotionales Pulverfass. Jugendliche Straftäter konnten es allein mit ihrer Anwesenheit zum Explodieren bringen, fürchtete der Hauptkommissar.
»Und das ist noch nicht alles.« Susan beugte sich schwerfällig nach vorne, um die Tasse auf dem Couchtisch abzustellen. »Sophie hat heute Nachmittag angerufen. Du erinnerst dich doch an Renate Piero-Schuster?«, vergewisserte sie sich. Er nickte, und ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Sophie Rösner unterrichtete am selben Gymnasium wie seine Frau, und die beiden waren schon seit einigen Jahren eng befreundet. »Ihr Sohn Bruno muss das Gymnasium verlassen, was zwar gut ist, weil sie uns dann nicht mehr auf die Nerven gehen kann, aber leider hat sie es sich allem Anschein nach in München mit ihrer ganzen Nachbarschaft verscherzt. Sie ist diejenige, die das alte Spukhaus gekauft hat, das Schreiber gerade renoviert. Sie hat vor, mit ihrem Sohn dort schon in den nächsten Tagen einzuziehen.« Susan seufzte.
»Dann bin ich mal gespannt, wie lange es die beiden dort aushalten«, entgegnete Hirschberg trocken. Mitte der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts war das Haus Schauplatz eines grausamen Verbrechens geworden. Den Mordfall fand der Kriminalist in ihm sehr interessant, doch Hirschberg glaubte keineswegs, dass es in dem Gemäuer spukte. Auch wenn viele Krindelsdorfer glaubten, die Seelen der Getöteten fänden keine Ruhe und vertrieben jeden Eindringling aus ihrem Haus.
»Glaub mir, diese Frau könnte selbst den hartgesottensten Poltergeist aus ihrem Haus vertreiben. Sie ist die reinste Pest! Und da Schreiber so schnell und effizient arbeitet, kann sie auch schon einziehen.« Susan seufzte und blickte ihren Mann eindringlich an. »Alex, ernsthaft! Diese Frau macht nur Ärger. Sie ist ungeheuer streitsüchtig.« Sie warf verzweifelt die Hände in die Luft. »Und wir kennen den Ort doch inzwischen gut genug. Jugendliche Straftäter, das Fernsehen und dann noch dieses Miststück, das sich mit jedem hier anlegen wird. Ich habe kein gutes Gefühl, Alex. Ich rechne mit dem Schlimmsten.« Susan runzelte missmutig die Stirn. »Uns stehen chaotische Wochen bevor. Frau Dachshofer sagt, dass der Herr Pfarrer schon lautstark gegen das Projekt und die Jugendlichen wettert. Und es gibt einige hier, die ihm zustimmen …«
Hirschberg flüsterte ein paar zuversichtliche Worte in ihr Ohr, doch auch ihm war nicht wohl bei alledem. Er fragte sich, ob Bürgermeister Seitlbach wusste, was er tat.
»Wir haben das doch nun zur Genüge besprochen«, wiederholte Seitlbach ungeduldig. Der Krindelsdorfer Bürgermeister warf einen demonstrativen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk, bevor er den versammelten Gemeinderat eindringlich anstarrte und seine Krawatte lockerte. Der Konferenzraum im Krindelsdorfer Rathaus war stickig.
»Ich bin gewählt worden, um das Beste für unsere Gemeinde herauszuholen. Mir ist es schließlich auch zu verdanken, dass wir nun endlich den langersehnten S-Bahn-Anschluss haben!«, erklärte er den Anwesenden großspurig. »Und ich muss euch sicher nicht daran erinnern, dass die Morde im letzten Sommer nicht gerade gut für unser Image waren, geschweige denn für die gesamte Region.« Seitlbach zog seine Augenbrauen vielsagend nach oben. Dass ihm der Mord an seiner eigenen ungeliebten Frau, die ihn durch ihr Auftreten bei offiziellen Anlässen stets blamiert hatte, nicht so ganz ungelegen gekommen war, las er deutlich auf einigen der ihm zugewandten Gesichter. Er ignorierte die Häme. »Aber mit dieser Sendung können wir unter den Augen der Zuschauer nicht nur unsere soziale Ader unter Beweis stellen, sondern bekommen auch noch ein vollständig saniertes Restaurant mit angegliederter Brauerei obendrein. Und dass diese Sozialfälle auf der Baustelle und in der Küche mithelfen und dadurch mit ihrem Leben besser zurechtkommen sollen, ist ja schön und gut. Aber vor allem werden uns die Gourmets aus München und Umgebung die Tür einrennen!«, prophezeite Seitlbach. »Immerhin wird kein Geringerer als Roman Rangler am Herd des Restaurants stehen! Und außerdem ist es längst an der Zeit, Bayern und auch ganz Deutschland zu zeigen, dass Krindelsdorf durchaus einen Besuch wert ist. Und eben nicht nur, weil es Schauplatz von zwei Morden war.«
Es würde einfach sein, einen Pächter zu finden, wenn das Restaurant und die Brauerei erst einmal saniert und sie die Jugendlichen wieder losgeworden waren, kalkulierte er unbarmherzig. Diese verlotterten Gestalten hielten eine ehrliche Arbeit niemals auf Dauer durch.
Aber Ranglers Name und die Aussicht, ein ihm ebenbürtiger Koch würde das Restaurant nach Ende der Dreharbeiten übernehmen, waren Musik in Seitlbachs Ohren. »Das Geld des Senders und ein Gourmetrestaurant hier am Ort sind ein Glücksfall für Krindelsdorf! Und wir alle wollen doch das Beste für unsere Gemeinde!«
Die tragischen Morde im vergangenen Sommer hatten Krindelsdorf in seinen Grundfesten erschüttert. Günther Seitlbach war deshalb wild entschlossen, seiner Gemeinde ein neues, positives Image zu verpassen. Meine letzte Amtshandlung als amtierender Bürgermeister, schoss es ihm zufrieden durch den Kopf. Schon in wenigen Wochen war Wahltag, und Seitlbach war sich sicher, dass er danach auf einem bequemeren Sessel im Landratsamt saß.
»Ich weiß immer noch nicht so recht, Günther«, meldete sich Jochen Wiesner, Sprachrohr der Ökopartei, zu Wort.
Seitlbach seufzte innerlich. Dem Bürgermeister war klar, dass der Veganer grundsätzliche Vorbehalte gegenüber dem geplanten Edel-Fresstempel hegte. Vor ihm auf dem Teller lag sein mitgebrachter Snack. Ein fleisch- und in Seitlbachs Augen auch genussfreier Tofuburger, der vermutlich für seinen missmutigen Gesichtsausdruck verantwortlich war.
Seit seiner Ernährungsumstellung vor knapp zehn Jahren hatte Wiesner fünfzehn Kilo verloren. Sein Rollkragenpullover, der noch aus der Zeit vor der Gewichtsabnahme zu stammen schien, schlackerte sackartig an ihm herab. Seine Frau, die er vor eben zehn Jahren auf einer spirituellen Ichfindungsreise in Indien kennen und lieben gelernt hatte, wie er stets betonte, nannte sich seither nicht mehr Gerlinde, sondern Indira. Sie war eine feurige Verfechterin der Rohkost und nahm niemals gekochte Speisen zu sich. Ein weiteres Speiselokal, in dem Menschen tote Lebewesen verzehrten, war Wiesner daher ein Dorn im Auge.
Vermutlich hing der Haussegen in der »Villa Freudlos« schief, wenn er dem Projekt zustimmte, schoss es Seitlbach abfällig durch den Kopf. Er dachte an die stets mürrisch dreinblickende Indira Wiesner, die ihren skelettartigen Körper einmal im Monat mit einer mehrtätigen Kur aus giftgrünen Smoothies von jeglichen Giftstoffen reinigte.
»Selbstverständlich bin ich grundsätzlich für das Projekt. Ich finde es durchaus lobenswert, wenn etwas für die auf die schiefe Bahn geratene Jugend getan wird. Aber was ist, wenn einige dieser Jugendlichen nicht zu resozialisieren sind und die Gegend unsicher machen? Es gibt durchaus hoffnungslose Fälle«, erinnerte Wiesner den Noch-Bürgermeister, der es nicht erwarten konnte, sein Büro im Landratsamt zu beziehen. Seitlbach kniff ungehalten die Augen zusammen. Sein Nachfolger auf dem Sessel des Bürgermeisters war nicht zu beneiden.
Einige andere Mitglieder der ökologischen Partei teilten Wiesners Bedenken und stimmten ihm zu. Von der Reaktion seiner Ökofreunde ermutigt, fuhr dieser fort.
»Ich bin mir zwar sicher, dass die meisten der Jugendlichen diese einmalige Chance zu nutzen wissen, aber wenn nun doch einer aus der Reihe tanzt … Vielleicht würde es uns alle beruhigen, wenn Indira zumindest vorher die Auren der Jugendlichen lesen …«
»Das Wohlergehen unseres Ortes und seiner Bürger liegt mir trotz unserer politischen Differenzen genauso am Herzen wie dir, Jochen«, unterbrach Seitlbach ihn mit höflicher Ungeduld. »Aber das Projekt ist todsicher. Die Jugendlichen sind ständig unter Aufsicht. Und sie werden so viel zu tun haben am Herd und mit Herrn Schreiber, dass sie gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen können! Zwei Sozialpädagogen und Herr Rangler werden gemeinsam mit den Jugendlichen bei Herrn Brandl leben.« Der hiesige Gastwirt hatte sich zu Anfang wenig begeistert gezeigt, die Konkurrenz zu beherbergen. Nachdem Seitlbach ihm aber in Aussicht gestellt hatte, Brandls Sohn, der als Bierbrauer gern sein eigener Chef wäre, womöglich mit der Leitung der frisch renovierten Brauerei zu betrauen, hatte er den skeptischen Gastwirt für das Projekt gewinnen können. Außerdem sei Brandls Gaststätte eine feste Institution am Ort, der doch ohnehin niemand den Rang ablaufen könne, hatte Seitlbach jovial hinzugefügt und so ein Lächeln auf das Gesicht des Gastwirts gezaubert. »In zwei Wochen beginnt die Renovierung der Brauerei, denn bis dahin, meint Herr Schreiber, werden die Arbeiten am Restaurant abgeschlossen sein. Er und seine Mitarbeiter haben schon den alten Festsaal im oberen Stockwerk renoviert, und auch die Küche ist bereits fertig und hochwertig ausgestattet. Herr Rangler kann also mit den Jugendlichen jederzeit loslegen. Ihr müsst euch wirklich nicht die geringsten Sorgen machen! Ihr alle wisst, dass die Sicherheit hier in Krindelsdorf für mich oberste Priorität hat!« Seitlbach hoffte inständig, die Bedenken der anderen zerstreut zu haben. Er hegte keinesfalls die Absicht, Wiesners verrückte Frau in die Nähe des Fernsehteams und der Jugendlichen zu lassen! Auch würde Pfarrer Schmalzengruber, der sich sehr gegen das Projekt sträubte, weder die Gelegenheit bekommen, Beichten abzunehmen, noch Exorzismen durchzuführen, schwor er sich grimmig.
»Und wir können das Geld wirklich sehr gut gebrauchen«, setzte er sicherheitshalber hinzu. Wie vielerorts in Deutschland gab es auch in Krindelsdorf Baustellen, für die bislang das Geld fehlte. Das erhöhte Verkehrsaufkommen machte den Bau einer Umgehungsstraße erforderlich, der Kindergarten benötigte dringend eine Renovierung, und das historische Klostergemäuer musste von Grund auf saniert werden. Das Projekt mit diesem Sternekoch bescherte der Gemeinde nicht nur einen unverhofften Geldsegen, sondern lockte gleichsam Besucher an den Ort, die sich womöglich auch für das Heimatmuseum und nicht nur für Verbrechensschauplätze interessierten. Dieses Projekt war ein Gewinn für den Ort. Trotzdem konnte er noch immer Bedenken auf einigen der ihm zugewandten Gesichter sehen. Es war an der Zeit, dass er der kommunalpolitischen Finsternis des Ortes entkam!
»Ich finde, Günther hat recht.« Gabriele Kolbhuber aus den Reihen der Sozis nickte in Richtung Seitlbach. »An allen Ecken und Enden mangelt es uns an finanziellen Mitteln. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass uns der Umbau des Feuerwehrhauses auch noch eine Stange Geld kosten wird.« Sie machte eine ausladende Handbewegung, und Seitlbach frohlockte innerlich. »Wir sollten dem Projekt und den Jugendlichen eine Chance geben. Krindelsdorf soll doch offen und progressiv sein und nicht als das kleinkarierte, bayerische Kaff, in dem zwei Menschen umgebracht worden sind, in Erinnerung bleiben.«
Zu seiner Erleichterung sah der Noch-Bürgermeister nun die Köpfe parteiübergreifend nicken.
Auch die Mitglieder der anderen Parteien konnten schließlich rechnen. Die Einnahmen für die Dreherlaubnis und die zu erwartende positive Publicity waren dann doch zu verlockend.
»Dann sind wir uns also einig?« Er blickte prüfend in die Runde. »Ich kann Herrn Preston anrufen und zusagen?« In Gedanken griff Seitlbach bereits zum Telefonhörer. »Außerdem haben wir ja mittlerweile das LKA am Ort, wie ihr alle wisst«, fügte er grinsend hinzu. »Sollte also tatsächlich der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass einer der Jugendlichen sich nicht benehmen kann, dann wird Hauptkommissar Hirschberg bestimmt schnell zur Stelle sein«, versprach er dem versammelten Gemeinderat.
Aber was sollte denn schon passieren?
»Mein lieber Herr Rangler!«
Jo Preston, der Produzent von »Ranglers Leibgerichte« kam mit jovial ausgebreiteten Armen auf den Sternekoch zu. Der argwöhnische Ausdruck in Ranglers Augen entging ihm nicht. Preston war sich nicht sicher, ob das Vorhaben des Senders dem Star der Kochshow schmecken würde. Sein Fingerspitzengefühl war gefragt.
Roman Rangler hatte die Gaumen der Nation im Sturm erobert. Sein Antlitz zierte mittlerweile die Verpackungen überteuerter Fertigprodukte, deren Palette von Omas Apfelküchlein bis hin zu pseudospanischer Paella reichte. »Ranglers Leibgerichte« war zudem ein Quotengarant, und seine Fangemeinde wuchs von Woche zu Woche. Dumm nur, dass Rangler dank seines Höhenflugs an Bodenhaftung verloren hatte. Nun brodelte es nicht mehr nur am Herd, sondern auch hinter den Kulissen. Prestons Warnungen, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis das gesamte Team gegen den Koch meuterte, verhallten ungehört. Die Küchenmesser wetzte schließlich immer noch er, hatte Rangler Preston nach einem Streit mit seiner Assistentin erklärt.
Vor wenigen Monaten aber war der Sternekoch dann doch zu weit gegangen. Mit Restalkohol, deutlicher Verspätung und offener Hose war er eines Mittags im Studio erschienen. Als er sich zu allem Übel auch noch in den bereitgestellten Schnellkochtopf erbrechen musste, hielt sich die Begeisterung für den Tafelspitz à la Rangler in Grenzen.
Der Vorfall wurde eilends und mit äußerster Diskretion – im wahrsten Sinne des Wortes – vom Tisch gefegt. Ranglers Position war dennoch gesichert, wusste Preston. Immerhin garantierte er dem Sender Einschaltquoten, beachtliche Marktanteile und den Mitarbeitern der Kochshow einen sicheren Arbeitsplatz.
Allerdings musste sich der Star der Show auf Anweisung des Senders einer diskreten Blitzentziehungskur in einer Schweizer Klinik unterziehen. Die offizielle Version seiner Reha-Pause lautete »Starkoch Rangler unterzieht sich komplizierter Hüftoperation«.
»Sie wollten mich sehen, Preston? Was ist so dringend? Ich habe noch einen Termin bei meinem Therapeuten«, knurrte der Sternekoch. Sein Widerwillen war ihm anzusehen. Preston wusste, dass der Entzug ihm sehr zu schaffen machte. Zudem befürchtete er, dass Rangler seine Finger noch immer nicht vom Hochprozentigen lassen konnte. Oftmals roch sein Atem ein wenig zu minzfrisch, schoss es dem Produzenten mulmig durch den Kopf. Der Sender aber unternahm alles in seiner Macht Stehende, einen etwaigen Rückfall des Sternekochs zu verhindern und den Schein vor seinen Fans aufrechtzuerhalten. Das Studio war nach Ranglers Zusammenbruch daher zu einer alkoholfreien Zone geworden. Vor der Kamera wurden nun weißer und roter Traubensaft zu Wein, wenn es das Rezept erforderte.
Rangler seufzte und ließ die Schultern hängen. Trotz all seiner Fehltritte konnte sich Preston eines gewissen Mitgefühls für den Sternekoch nicht erwehren. Vielleicht aber war ja ein neues Projekt genau das Richtige für ihn, sagte sich der Produzent hoffnungsvoll. Ablenkung und Beschäftigung waren sicherlich die beste Therapie!
»Nehmen Sie doch bitte Platz, Herr Rangler.« Preston deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Wir haben Großes mit Ihnen vor.« Preston zog seine Mundwinkel zu einem, wie er hoffte, verheißungsvollen Lächeln nach oben.
»Ich bin ganz Ohr.« Rangler warf ihm einen gequälten Blick zu. »Soll ich auf eine kulinarische Frustreise durch Deutschland gehen und in erkalteten Restaurantküchen das Feuer neu entfachen?« Er verschränkte die Arme vor der Brust und presste seine Lippen aufeinander.
»Aber nicht doch, Herr Rangler. Wo denken Sie hin?« Ein joviales Lachen entfuhr Prestons Kehle. »Wir haben eine viel bessere Idee. Der Sender findet, es sei längst an der Zeit, dass wir nicht nur den genialen Sternekoch Rangler vor die Kamera holen, sondern auch den Wohltäter. Dem Sender ist wichtig, dass die Menschen nicht nur fleißig Ihre Rezepte nachkochen, sondern auch das soziale Gewissen eines Roman Rangler wahrnehmen und schätzen lernen. Sie wissen ja, dass Sozial-TV gerade in diesen Krisenzeiten, wo nur noch gehartzt und gejammert wird, die Einschaltquoten in die Höhe schnellen lässt. Und gerade die Erziehung von Lebensunfähigen ist noch immer ein Quotengarant!« Er machte eine auslandende Handbewegung. »Die Leute wollen sehen, wie Messies plötzlich stubenrein und aggressive Kinder erziehungsunfähiger Eltern zu Musterschülern werden. Das spendet Hoffnung, Herr Rangler. Und das Fernsehen ist zudem längst zu einer Institution geworden, die unterprivilegierte Menschen wieder auf den rechten Pfad bringt, sie mit helfender Hand wieder auf die Beine hievt und ihnen neue Perspektiven fernab des Amts und der Justizvollzugsanstalt eröffnet. Und auch Sie sollen nun ein Stützpfeiler dieses Resozialisierungsprozesses werden!«
»Was genau hat der Sender vor?« Rangler beugte sich nach vorne, und ein interessierter Ausdruck schlich sich in seine Augen. »Will der Sender mich etwa zum Messias der Armen und Chancenlosen machen?«
»Wenn Sie es denn so formulieren möchten, Herr Rangler.« Preston strahlte ihn an. Er konnte die Einschaltquoten schon in die Höhe schnellen sehen. »Wir haben vor, straffällig gewordene Jugendliche mit Ihrer tatkräftigen Hilfe wieder auf den rechten Weg zu führen und ihnen einen soliden Start in ein neues, unbescholtenes Leben zu ermöglichen«, erklärte er ihm. »Wir werden selbstverständlich eng mit Sozialarbeitern zusammenarbeiten, die von unserem Konzept geradezu begeistert sind!«, schwärmte er in den höchsten Tönen. »Bootcamps sind Schnee von gestern! Die Zukunft der alternativen Resozialisierungsprogramme heißt »Ranglers Delikatessenschmiede«! Sie werden an einem passenden Standort ein neues Restaurant eröffnen, dessen jugendliche Auszubildende von Ihnen die einzigartige Chance bekommen, sich auf dem Parkett der Arbeitswelt und in den Reihen der Rechtschaffenen zu bewähren. Wo andere längst aufgegeben haben, schreiten Sie – Roman Rangler! – tatkräftig ein!«
»Ich soll mit verurteilten Straftätern arbeiten?«
Rangler starrte den Produzenten fassungslos an. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.
»Ja, aber die Jungen und Mädchen haben nur Dinge auf dem Kerbholz, die man gerade einmal als Kavaliersdelikte und Jugendsünden bezeichnen kann«, beeilte sich Preston, Rangler zu beschwichtigen, dessen Brustkorb sich mit einem Mal schwerfällig hob und senkte. Das hohe Aggressionspotenzial einiger der Jugendlichen ließ der Produzent unerwähnt. Preston wollte Ranglers offensichtliche Bedenken nicht noch mehr schüren. »Sie wissen schon, Marihuana und kleinere Diebstähle, mehr nicht.« Er wich Ranglers Blick geflissentlich aus.
»Also darf ich diesem Zuchthausnachwuchs nie ein Hackebeil in die Hand drücken und dann den Rücken zukehren«, presste Rangler verächtlich hervor.
»Seien Sie unbesorgt, Herr Rangler!«, lachte Preston und fuhr sich durch seine gefärbten und sorgfältig gegelten Haare. »Die Jugendlichen freuen sich sehr auf die Arbeit mit Ihnen und sind fest entschlossen, ihr Leben zu ändern. Das Projekt ist auch schon unter Dach und Fach. Die endgültige Zusage war ohnehin nur eine Formalität«, ließ er sein Gegenüber wissen. Der Sternekoch schien noch immer wenig begeistert.
»Und wo genau soll ich diese Sozialstation eröffnen?«
»In einer kleinen ruhigen Gemeinde auf dem Land. Die Jugendlichen sollen fernab des Trubels der Großstadt zeigen, was in ihnen steckt. Sie erinnern sich vielleicht an Krindelsdorf?«, vergewisserte sich Preston und blickte ihn erwartungsvoll an.
Rangler blinzelte verständnislos. Dann schien bei ihm der Groschen zu fallen. »Der Ort, wo es letzten Sommer diese beiden Morde gab? Klar, war ja wochenlang in den Medien. Kein Wunder, dass die sich liebend gern mit einem Roman Rangler schmücken würden.« Rangler seufzte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich soll in diesem Provinzkaff kochen und gleichzeitig den Babysitter für diese kriminelle Brut spielen?«
»Ja, genau dort.« Prestons Lächeln war unerschütterlich. Er hatte mit einer solchen Abwehrhaltung gerechnet und sich innerlich gerüstet. »Auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung vor gut zwei Monaten ist mir der dortige Bürgermeister – übrigens ein äußerst ambitionierter Politiker, der es noch weit bringen wird – über den Weg gelaufen. Wir sind ins Gespräch gekommen, und Herr Seitlbach hat mir von einer alten Gaststätte mit angegliederter Brauerei in Krindelsdorf erzählt, die die Gemeinde sehr gern wieder auf Vordermann bringen würde. Wie Sie treffsicher vermuten, will der Ort endlich dieses mörderische Image loswerden. Herr Seitlbach begrüßt daher unsere Idee, eine gastronomische Sozialstation für jugendliche Straffällige dort aufzumachen. Er war tatsächlich ganz begeistert von unserem Konzept«, erinnerte sich Preston. »Ich habe extra einen Abstecher nach Krindelsdorf unternommen, um die Location in Augenschein zu nehmen. Ich kann Ihnen sagen, dass sie perfekt ist für unser Projekt! Wir werden ihr zu neuem Glanz verhelfen! Für die notwendigen Renovierungsarbeiten haben wir bereits mit einem hervorragenden Architekten und einer ortsansässigen Baufirma gesprochen, die bereits ihre Arbeit aufgenommen haben. Die Pädagogen befürworten überdies, dass einige der Jugendlichen, die sich am Herd vielleicht nicht so wohlfühlen, von den Handwerkern für kleinere Aufgaben wie Weißeln in ihre Arbeit miteingebunden werden. Der therapeutische Ansatz hierbei ist Selbstwirksamkeit. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, ist das A und O!«, fügte er mit erhobenem Zeigefinger hinzu. »Und Sie, Herr Rangler, werden sich mit den Jugendlichen am Herd austoben und das kulinarische Genie in ihnen wecken! Kreative Betätigung ist ein wichtiges therapeutisches Mittel zur Verhinderung weiterer Straftaten. Das meint zumindest Herr Angelsberger, der leitende Sozialpädagoge. Im Finale wird das Restaurant dann seine Pforten öffnen, bei dem Sie zusammen mit den Jugendlichen für einige ausgewählte Gäste ein unvergessliches Menü zaubern werden.«
»Tja, vergessen werde ich das Projekt bestimmt niemals«, entgegnete Rangler frostig. »Wann genau soll das Ganze losgehen?« Jetzt hatte Preston ihn so weit: Das Interesse des Starkochs war trotz seiner Skepsis geweckt.
»Da der Krindelsdorfer Gemeinderat gestern grünes Licht gegeben hat, werden Sie schon Anfang nächster Woche mit den Jugendlichen in die Fremdenzimmer beim dortigen Gastwirt Brandl ziehen. Es sind einfache Zimmer, aber für die paar Wochen …« Preston lachte. »Die ortsansässige Baufirma hat die Küche des zukünftigen Sternerestaurants bereits renoviert. Die Ausstattung wird Ende dieser Woche geliefert. Sie können mit den Jugendlichen also sofort loslegen!«
»Ich soll mit den Jugendlichen dort wohnen?«, entfuhr es Rangler. »Muss ich denn wirklich …«
»Aber Herr Rangler«, fiel Preston ihm mit einem nachsichtigen Lächeln ins Wort. »Sie dürfen nicht vergessen, dass die Jugendlichen Ihre Schützlinge sind. Sie werden sie schließlich unter Ihre Fittiche nehmen, zu ihrem väterlichen Freund werden. Und deshalb ist es unerlässlich, dass sie während der Dauer des Projekts vor Ort sind. Das macht die Sache außerdem viel stressfreier für Sie«, versuchte Preston ihn zu ködern. »Im tiefen Winter macht tägliches Pendeln doch keinen Spaß. Und Sie müssen in Bestform sein am Herd und jeden Tag alles geben! Außerdem muss Ihnen klar sein, dass man sich in unserer Branche immer wieder neu erfinden muss, Herr Rangler. Die Zuschauer sind unbarmherzig, wenn sie mit einem Konzept erst einmal überfüttert sind. Sie wollen doch schließlich nicht, dass Ihre Fangemeinde schrumpft und Ihre Einschaltquoten sinken. Dieses neue Konzept, dieser frische Wind, wird Ihnen und dem Sender guttun.«
»Dann auf nach Krindelsdorf«, seufzte Rangler und wich seinem Blick aus.
»Susan, du machst dir keine Vorstellung!« Rosina Baumann blickte ihre Gastgeberin über den Rand ihrer Kaffeetasse an. Ein amüsierter Ausdruck stand in ihren katzenartigen Zügen.
Die Historikerin klopfte in den letzten Wochen oft noch an Susans Tür, bevor sie morgens nach München in die Uni fuhr. Rosina konnte die Geburt von Susans Sohn fast genauso wenig abwarten wie Alexander und sie selbst, dachte die werdende Mutter innerlich schmunzelnd bei sich. Mit Susans wachsendem Babybauch stieg nun auch bei den Baumanns das Babyfieber, und die beiden hatten begonnen, über Nachwuchs nachzudenken.
»Ich weiß, ich bin eine schlechte Ehefrau, weil ich das so lustig finde, aber du solltest Lars’ Gesichtsausdruck sehen, wenn er abends nach Hause kommt!« Ein mädchenhaftes Kichern entfuhr ihrer Kehle, während sie nach einem Keks griff.
Susan erwiderte ihr Grinsen. Rosinas Mann Lars war als ortsansässiger Architekt mit den Plänen für den Umbau und die Renovierung der alten Gaststätte betraut worden. Susan wusste, dass Lars seit seinem Umzug von Kiel nach Krindelsdorf ganz versessen darauf gewesen war, dem alten Gemäuer neues Leben einzuhauchen, aber er hegte Bedenken wegen des Projekts. Die Jugendlichen sollten heute anreisen, und Krindelsdorf würde bald wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt werden. Ginge es nach Noch-Bürgermeister Seitlbach, würden Gourmets aus ganz Deutschland schon bald nach Krindelsdorf strömen und sich unverhofften Gaumenfreuden in historischem Ambiente hingeben, hatte der Architekt aufgeschnappt. Susan fragte sich ebenso wie Lars, ob diese Rechnung so ohne Weiteres aufgehen würde.
»Deinem Mann wird langsam klar, worauf er sich eingelassen hat, nicht wahr?«
»Unser Bürgermeister sieht nur das Geld und die Publicity für den Ort. Dass sich die Leute hier Sorgen machen wegen der Jugendlichen, kümmert ihn nicht weiter.« Rosina zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen. »Er hat den Namen Roman Rangler gehört und war hin und weg. Und noch dazu glaubt er, dass nach der Renovierung und Eröffnung des Restaurants die Sterneköche Schlange stehen werden, um hier bei uns zu kochen.«
»Mir gefällt das nicht, Rosina. Ich habe ein ganz ungutes Gefühl.« Susan lehnte sich seufzend auf ihrem Stuhl zurück und streichelte ihren Bauch, als Klein-Julian kräftig ausholte.
»War das ein Fuß?«, strahlte Rosina und lachte. »Euer Sohn wird mit kräftiger Wadenmuskulatur auf die Welt kommen! Maximilian wird sich freuen, wenn er Fußballnachwuchs bekommt!«
»Ja, es wird ihm wohl langsam zu eng da drin«, bestätigte Susan grinsend. »Er will raus. Aber wer bitte ist Maximilian?«
»Maximilian Schäfer«, lächelte Rosina. »Der große durchtrainierte Ingenieur, erinnerst du dich? Ihr seid euch kurz nach eurem Einzug über den Weg gelaufen, als er etwas mit Lars besprechen wollte.«
»Ach, ja! Natürlich! Ich erinnere mich.« Susan nickte lächelnd. »Ich habe ihn letztens mit diesem netten älteren Herrn gesehen. Du weißt schon, der Herr, der in diesem Haus am Kirchweg wohnt. Herr Schäfer hat gerade vor dem Haus Schnee geräumt.«
»Du meinst Herrn Wegener. Den ehemaligen Direktor der Grundschule. Er ist Maximilians Onkel. Maximilian hängt sehr an ihm.«
Susan nickte. Seit den sechziger Jahren gab es in Krindelsdorf eine Grund- und Mittelschule, wusste sie, und eine Gesamtschule würde vermutlich in ein oder zwei Jahren hier ihre Pforten öffnen.
»Wegener, genau! Jetzt fällt es mir wieder ein. Frau Dachshofer hat mir schon alles über ihn erzählt. Auch, dass sein Gedächtnis langsam nachlässt«, fügte sie bedauernd hinzu. »Aber dass sein Neffe Fußballtrainer ist, hat sie mir nicht erzählt.«
»In seiner Freizeit trainiert Maximilian die Kinder und Jugendlichen hier am Ort. Er ist streng, aber sie lieben ihn.« Rosina zwinkerte ihr zu.
»Hast du gehört, Julian?« Susan streichelte ihren Bauch. »Du wirst Fußballer! Sofern der Ort nicht aus den Fugen gerät.« Sie warf einen Blick aus dem Fenster und runzelte die Stirn.
»Du machst dir Sorgen, nicht wahr?«
»Du weißt doch besser als ich, Rosina, wie schwer sich die Einwohner mit Leuten von außen tun«, erwiderte Susan kopfschüttelnd. »Wenn sich die Jugendlichen hier nur ein klein wenig danebenbenehmen, dann ist die Hölle los. Und einige von ihnen werden bestimmt auf dumme Gedanken kommen. Glaub mir, ich bin Lehrerin, und ich weiß, wovon ich spreche. Ich kann einfach nicht begreifen, was Seitlbach sich dabei gedacht hat!«
»Geld und Publicity«, wiederholte Rosina ihre Worte von vorhin. »Er will triumphal vom Krindelsdorfer Rathaus ins Landratsamt ziehen. Du kennst ihn doch. Was interessieren ihn denn da ein paar skeptische Stimmen am Ort? Aber du darfst auch nicht zu schwarzsehen, Susan. Freu dich auf euren Kleinen. Es wird bestimmt alles gut!« Sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk, und ihre Augen weiteten sich. »Oh Gott, schon so spät! Du bist einfach eine zu gute Gastgeberin!« Sie grinste und sprang regelrecht von ihrem Stuhl auf. »Susan, es tut mir leid, aber ich muss los. Die Studenten erwarten mich.«
Bevor Susan noch etwas erwidern konnte, klingelte es an der Haustür.
»Noch mehr Besuch?« Rosina griff nach ihrer Handtasche und stand auf.
»Ich wüsste nicht …« Susan blickte verwirrt in Richtung Flur und hievte sich schwerfällig von ihrem Stuhl.
»Susan, Darling!« Isobel Burtons Stimme drang von außen an ihr Ohr, als sie sich mit dem gemächlichen Schritt einer Hochschwangeren der Haustür näherte.
Ein gequältes Stöhnen entfuhr ihrer Kehle. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie wollte die letzten drei Wochen ihrer Schwangerschaft in Ruhe und Frieden verbringen, doch ihre Patentante hatte offenbar andere Pläne.
»Du musst jetzt ganz stark sein!«, flüsterte ihr Rosina kichernd ins Ohr.
»Es ist kalt hier draußen. Ich kann meine Zehenspitzen schon nicht mehr fühlen! Mach bitte endlich die Tür auf! Vincent und ich beißen nicht!«
»Tante Isobel, Vincent!« Die werdende Mutter zwang sich zu einem Lächeln, als sie ihre Patentante und deren Verlobten hereinbat. Ihr Puls beschleunigte sich beim Anblick ihrer großen Reisekoffer. Hatte das Paar etwa vor, den Rest des Winters hier zu verbringen? »Das ist ja eine Überraschung!«
Ihr Sohn holte aus und trat ihr kräftig in die Blase. Susan verzog ihr Gesicht.
»Susan, unser Besuch ist doch kein Grund, so ein Gesicht zu machen«, Isobel schüttelte verständnislos den Kopf. Sie streifte sich ihren Designermantel von den Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Sieh dir Frau Baumann an! Sie strahlt! Sie sehen großartig aus, meine Liebe!«
»Es freut mich sehr, Sie beide zu sehen«, lächelte die Historikerin. »Und nennen Sie mich doch bitte Rosina! Frau Baumann ist der Name meiner Schwiegermutter. Ich würde auch gern noch bleiben, aber ich bin leider auf dem Sprung. Meine Studenten warten.« Rosina verabschiedete sich hastig und schlitterte auf vereistem Schnee zu ihrem Wagen.
»Ich habe übrigens mehrmals versucht, dich zu erreichen, Susan, aber die Gegend hier scheint mir ein einziges mit Schnee gefülltes Funkloch zu sein«, seufzte Isobel und verdrehte die Augen. »Es macht dir und Alex doch nichts aus, wenn Vincent und ich eine Nacht bei euch bleiben, oder?« Ohne Susans Zustimmung abzuwarten, fuhr sie fort. »Das Haus ist ja wirklich groß genug, und es geht leider nicht anders.« Sie zuckte mit den Schultern. »Schätzchen, euer Whirlpool ist bei dieser sibirischen Kälte doch bestimmt in Betrieb, oder? Ich würde mich gerne kurz zurückziehen. Ich bin durchgefroren. Und Vincent auch.« Sie warf ihrem Verlobten einen kokett-schmachtenden Blick zu. Susan stöhnte innerlich. In Gedanken riss ihre Tante sich vermutlich bereits die Kleider vom Leib und stürzte sich auf Vincent. Die vielfach geschiedene Cousine ihrer Mutter kannte kein Maß, wenn es um Männer ging. Allerdings schien Dornberg sie auf eine nie gekannte Art und Weise zu fesseln, fand Susan. Isobels Gesichtsausdruck wurde wieder ernst, und sie wandte sich an ihre Nichte.
»Aber bevor wir uns von der anstrengenden Anreise erholen, gibt es noch ein paar Dinge, die wir dringend besprechen müssen, Susan. Du weißt ja, dass Mitte Juni unsere Hochzeit in Schottland stattfindet. Ihr habt unsere Einladung doch bekommen?«
Susan nickte. Eine eisige Hand schien sich um ihren Nacken zu krallen. Ihre Tante war ganz gewiss nicht nur hier, um sich zu vergewissern, dass sie mit Tag und Uhrzeit ihrer Hochzeit vertraut waren.
»Du musst wissen, ich stehe in regem Kontakt mit Nicole Reinhardt. Übrigens auch jenseits ihrer Dessouskollektionen eine bemerkenswerte Frau! Sie ist so intelligent und ambitioniert! Euer Bürgermeister könnte keine bessere Frau an seiner Seite haben!«, rief Isobel bewundernd. »Und deshalb sind wir jetzt auch hier. Eigentlich wollten Nicole und ich uns ja in wesentlich gediegenerem Ambiente in London treffen, um meinen Auftrag zu besprechen, aber da euer Bürgermeister sie derzeit an seiner Seite braucht, hat sie mich gebeten, hierherzukommen. Die beiden müssen zwar noch ein wenig diskret sein wegen der Moralapostel hier, aber sie sind inzwischen verlobt. Und Vincent meinte im Übrigen auch, dass es längst wieder einmal an der Zeit ist, euch zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen, jetzt wo der Kleine doch jeden Moment auf die Welt kommen könnte.« Isobel warf einen Blick aus dem Fenster und rümpfte die Nase. »Auch wenn dieses mit Kuhfladen gepflasterte Mördernest hier der unangefochtene Vorhof zur Hölle ist! Ich bin mir sicher, euer ortsansässiger Großinquisitor hat alle Hände voll zu tun. Pfarrer Schmalzengruber kann hier wirklich ganz in seinem Element sein«, meinte sie mit einem sarkastischen Grinsen. »Was mich jetzt noch interessieren würde, ist, was aus diesem provisorischen Massengrab in eurem Garten werden soll. Sind etwa schon wieder ein paar Morde geschehen, und der Platz auf dem Friedhof geht aus?«
»Das wird ein Außenschwimmbecken, Tante Isobel«, entgegnete Susan entnervt. »Und die Arbeiten gehen weiter, sobald es etwas wärmer ist. Wie du unschwer sehen kannst, sind die Kuhfladen, die du so abstoßend findest, derzeit von einer dicken Schicht Schnee bedeckt.« Sie gab sich keine Mühe, ihre Ironie zu unterdrücken. »Und welchen Auftrag willst du Nicole Reinhardt erteilen?«