Norwegen, 1035: Ein junger Wikinger liegt schwer verwundet auf dem blutigen Schlachtfeld. Sein Name: Harald Sigurdsson – er ist der Bruder des verstorbenen Wikingerkönigs. Zum Sterben zurückgelassen, kämpft er sich tapfer zurück ins Leben. Trotz der Niederlage weigert er sich, sein Volk aufzugeben. Für Harald beginnt eine lange Reise voller politischer Ränkespiele, Intrigen und grausamer Schlachten um Rache und Macht. Sein einziges Ziel: sein Volk als Wikingerkönig zu wahrer Größe führen.
Justin Hill studierte Englisch und mittelalterliche Literatur an der Durham University und arbeitete viele Jahre als freiwilliger Helfer in China und Ostafrika. Als Autor hat er mehrere Preise gewonnen, darunter der Somerset Maugham Award und der Betty Trask Award. Heute lebt und arbeitet er in der Nähe von New York.
DER ZORN DES
LETZTEN
WIKINGERS
Aus dem Englischen von
Axel Franken
beTHRILLED
Deutsche Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Justin Hill
Titel der britischen Originalausgabe: »Viking Fire«
Originalverlag: Little, Brown, London
First published in Great Britain in 2016 by Little, Brown, an imprint of Little, Brown Book Group.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze
Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause
Covergestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von Motiven von © Stephen Mulcahey/Arcangel
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-6283-1
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
York, 1069
An die überaus vortreffliche Ingegerd, Königin der Dänen,
ich danke Euch für Euren Brief und die freundlichen Worte für meine Brüder, die mir mehr bedeutet haben als glänzendes Gold oder fein geschliffene Edelsteine. Was Eure Frage anbelangt, die Antwort lautet ja. Ich kenne den Ruheplatz der Gebeine Eures Vaters König Harald.
Wir haben sie heimlich aufbewahrt, hier, in unserer Kirche, all die Jahre, seit das Unheil in Gestalt von Wilhelm, Herzog der Normandie, in unser Land kam, den Gott über uns erhoben hat, um uns für unsere Sünden zu strafen.
In der Woche, die ich mit ihm verbracht habe, hat Euer Vater mich dicht an seiner Seite behalten. Bei einem Menschen, der vor allem für seinen Heldenmut als Krieger berühmt war, erwartete ich einen raubeinigen und ungebildeten Mann, doch ich wurde überrascht. Er sprach ausführlich über sein Leben, und er war keineswegs so roh und ungehobelt, wie wir befürchtet hatten. Er war belesen und weise und hatte seine Zeit bei den Griechen nicht vergeudet. Ich glaube, er vermisste die Gesellschaft gebildeter Menschen, und er suchte in diesen fünf Tagen, die wir zusammen verbrachten, oft das Gespräch mit mir. Manchmal unterwegs, häufiger jedoch am Abend, wenn die Feuer entzündet wurden und die Dunkelheit für eine Weile zurückwarfen.
Er war kein junger Mann mehr. Er ahnte vielleicht, dass seine Zeit knapp war, und wollte alles erzählt bekommen.
»Die Northumbrier kenne ich zur Genüge, aber berichte mir von den Sachsen und den Merciern. Was haben sie für Gesetze und Bräuche?«
Ich beantwortete seine Fragen so aufrichtig ich konnte, und schon nach kurzer Zeit entstand zwischen uns ein brüderliches Gefühl. Er war weiter gereist als jeder andere Mann, den ich kenne. Sogar bis zum Mittleren Meer, das die Menschen der Antike Mare Mediterraneum nannten. Er sprach davon, in der Stadt, die er gerade gegründet hatte, ein Kloster zu errichten. »Ich will Mönche und eine Klosterkirche aus Stein und Land für das alles. Und eine Bibliothek!«, rief er. »Ihr müsst hier doch eine Bibliothek haben. Wie viele Bücher?«
»Siebenundzwanzig.«
Ich zählte sie auf, und nach der Hälfte lehnte er sich verwundert auf seinem Stuhl nach vorn. »Weißt du, in Micklegard gibt es Bibliotheken, die Hunderte von Büchern haben!«
»Ich habe auch schon einmal so etwas gesehen«, antwortete ich. »In Rom.«
»Du bist in Rom gewesen?« Er lehnte sich zurück. »Ich war auch in Rom. Und in Micklegard. Und in Jerusalem.«
»Du warst in der Heiligen Stadt?«, fragte ich.
Er nickte.
»Was hast du dort gemacht?«
Er lachte. »Du würdest mir nicht glauben, wenn ich es dir erzähle!«
Wir saßen da, und jeder von uns erlebte im Geiste noch einmal das Staunen, das ein Raum voller Bücher erweckt. Er wollte eine Bibliothek und ein Skriptorium einrichten, und ich nannte ihm die Namen einiger junger Mönche, von denen ich glaubte, dass sie willens und geeignet wären, den Nordmännern das Licht Gottes und des Lernens zu bringen. Er stellte Fragen – wie viel Land erforderlich wäre, woher die Mönche kommen würden und ob sie der Ostkirche oder der Kirche Roms folgen sollten.
Ich erklärte, wir seien gebildet und rechtschaffen und folgten dem Herrn auf all seinen Wegen.
»Dasselbe haben die griechischen Priester gesagt«, warf er ein.
»Aber wir folgen der Regel des heiligen Benedikt.«
»Und was besagt diese Regel?«
»Quia tunc vere sanctimoniales sunt«, zitierte ich. Sie sind dann wirklich Mönche, wenn sie wie unsere Väter und die Apostel von ihrer Hände Arbeit leben.
»Dann folge auch ich der Regel des heiligen Benedikt«, sagte er.
Ich war überrascht, und ich glaube, es war mir anzumerken. Er streckte mir seine Hände entgegen, die von alten Narben überzogen und deren Fingernägel vom Blut anderer Männer gerändert waren. »Von denen habe ich mein ganzes Leben lang gelebt.«
»Ich glaube nicht, dass der heilige Benedikt die Arbeit des Kämpfens gemeint hat«, sagte ich.
»Nicht?«
»Nein. Ich meine, er wollte, dass die Menschen tätig sind und Ackerbau betreiben und heilen.«
Er lehnte sich vor und bedachte mich mit einem Kopfschütteln. »Wenn wir alle Heiler wären, wer würde dann die Schwachen beschützen? Oder die Ungläubigen bestrafen? Oder die Gesetze gegen böse Menschen achten?«
Als ich nicht antwortete, lehnte er sich wieder zurück.
»Das ist es, was ich getan habe«, fuhr er fort. »Mein Leben lang. Mein erster Kampf war gegen den Teufel.«
»Du meinst die Versuchung?«
»Nein«, erwiderte er mit plötzlichem Ernst. »Luzifer persönlich.«
»Und, hast du gewonnen?«, fragte ich.
Er blickte mich an, als hätte ich einen Scherz gemacht. »Nein, natürlich nicht. Nur Gott kann den Teufel besiegen.«
Beim Anfertigen dieser Darstellung (womit ich einen wahren Bericht meine) habe ich mich dreier Quellen bedient: meiner eigenen Erinnerungen, der Erinnerungen anderer (die manchmal im Widerspruch zu meinen eigenen standen) und der Aufzeichnungen, die ich zu der Zeit machte, als Euer Vater und ich mit der Arbeit an einem Manuskript begannen, das als Heiligengeschichte seines Bruders Olaf geplant war. Doch rasch lief es auf ein zweites Buch hinaus, das gesondert von dessen Leben handeln würde.
Im Laufe der vergangenen drei Monate haben zwei meiner besten Schreiber eine vollständige Abschrift des Originals für Eure Bibliothek angefertigt. Erst beim Entstehen des Werkes erinnerte ich mich an einige Zwischenfälle, die weiterer Erklärungen bedurften. Damit sich das Versenden dieses Buches nicht noch weiter verzögerte, habe ich, statt das Pergament wieder abzukratzen, diese Kommentare als Randbemerkungen hinzugefügt oder zusätzliche Doppelseiten eingefügt, je nachdem, was sich als weniger mühsam erwies. In einigen seltenen Fällen, in denen unmöglich war, zu wissen, was jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt gedacht oder sich vorgestellt hat, bin ich dem Beispiel bedeutenderer Chronisten wie Herodot gefolgt, der bisweilen Märchen erzählt hat, die ihm passend schienen.
Wo ich mir etwas ausgedacht habe, da hoffe ich wie Thukydides, dass meine Erfindungen in der Geschichte ihren Zweck erfüllen und Ihr sie nicht als allzu störend empfinden werdet.
Die Schlacht bei Fulford
20. September 1066, vor dem Osttor von York
»Mann, reich mir deine Hand! Ich, Harald Hardråde, werde dich nicht töten.
Seht, Männer! Seht, was wir gefunden haben! Einen Erzbischof! So etwas auf einem Schlachtfeld zu finden, und das unversehrt! Gott ist mit dir, wie ich sehe.
Allerdings ist er nicht mit deinem Heer. Schau nur, dein Herr, Earl Edwin, hat seine Röcke gerafft und sucht das Tor zu erreichen. Ich glaube nicht, dass er es schaffen wird. Derjenige, der die Verfolger anführt, ist Rolf der Kahle. Großartige lange Beine. Er bleibt nie stehen, dieser Mann. Sein Vater war genauso. Kein einziges Haarbüschel mehr, sobald sie dreißig wurden.
Willst du da unten in dem Graben bleiben? Jemand wird dich irrtümlich für eine Leiche halten. Man wird deinen Kopf als Trittstein benutzen. So ist’s recht, nimm meine Hand. Komm, es ist nur Blut, und es ist auch nicht von uns.
Schieb den alten Kämpen von deinen Beinen. Seine Stunde ist gekommen und gegangen. Kennst du ihn? Gestern Abend hat er wahrscheinlich auf Edwins Bänken gesessen und damit geprahlt, wie er uns ins Meer zurückwerfen würde wie die Fische. Heute Morgen saß er in Edwins Halle und nahm sein Frühstück ein, stiefelte durch die Scarborough Road, hielt an dieser Furt an und bereitete sich auf die Schlacht vor. Er lenkte sein Pferd zur Seite, weit entfernt von der Schlacht, umklammerte seine Schildfessel, bekreuzigte sich und belehrte die Männer neben sich, hieß sie, sich nicht zu fürchten.
Und dann kam ich.
Armer, alter Mann. Er hätte im Bett bleiben sollen. All diese Leichen hätten das tun sollen. Sie hätten alt werden können und lästig und ihre Enkelkinder mit Geschichten aus ihrer Jugend langweilen. In diesem Moment hält die Frau dieses Mannes ein paar Meilen entfernt nach ihm Ausschau. Sie steht an der Tür ihres Langhauses. Die grünen Äcker Northumbrias erstrecken sich vor ihr. Der Wind trägt Kälte mit sich. Der Weizen ist eingebracht, aber etwas beunruhigt sie. Sie weiß nicht, ob die Schlacht stattgefunden hat oder nicht. Sie atmet schwer, wälzt ihre Sorgen: Hat der Earl Frieden geschlossen? Warum sind die Schweine unter den Buchen unruhig? Wo steckt dieser Junge?
Der Samen ihres Mannes ist in ihrem Schoß herangewachsen, und sie denkt an die letzten beiden Kinder, die sie in der Fastenzeit beerdigt haben. Dieses neue Kind wird zu Ostern mit den Lämmern auf die Welt kommen. Hinter ihr sitzt seine Tochter im Licht des Rauchlochs und lernt die Arbeit an der Spindel. Wegen der beiden Kätzchen, die unter ihrem Hocker herausspringen, ist sie abgelenkt. Das weißgefleckte klettert an ihren Röcken hoch.
Im Hof zupft das Sklavenmädchen einen Halm trockenen Sommergrases aus dem Milcheimer. Er ist ihr beim Gehen aus dem Ärmel gefallen, während die Milch an ihr linkes Bein schwappte. Von unten auf dem Feld beobachtet sie der Sohn dieses Mannes. Er sitzt mit dem Rücken an einer Buche. Er ist wütend, weil er sich für alt genug zum Kämpfen hält, und verübelt seinem Vater, dass er ihn zurückgelassen hat.
›Kümmere dich um deine Mutter!‹, war das Letzte, was sein Vater zu ihm gesagt hatte, und der Sohn fingert an diesen Worten herum, verdreht sie in seinem Kopf wie die Enden eines Strohseils. Er pflückt lange Grashalme und kaut darauf herum. Die äußeren Hüllen sind trocken, aber das Innere ist noch feucht und grün. Der Saft ist bitter. Er kaut die Enden flach. Er schleudert das Gras wie einen Wurfspieß in das stechende Waldlicht, das ihn umgibt. Das erste Buchenblatt fällt. Es landet zu seinen Füßen, hell wie eine frisch geprägte Münze. Er weiß es nicht, aber wenn jener Junge hier wäre, so wäre er auch tot. Drei Körper tief in den Schlamm getrampelt. Und jetzt liegt dort sein Vater, den Mund zum letzten Atemzug geöffnet.
Sieh nur! Die Housecarls deines Earls wollen immer noch für ihn sterben. Drei von ihnen haben einen Schildwall errichtet, um die Verfolger aufzuhalten. Es sind junge Männer. Sie haben ihre Speere verloren. Ihre Schwerter blitzen silbern auf, als sie sie zücken. Zwei von ihnen tragen Stahlhelme. Der andere hat dunkles Haar. Der Wind spielt mit seinen Locken. Natürlich haben die Männer keine Chance. Siehst du den Riesen, der gegen sie vorrückt? Den mit dem russischen Schild? Das ist Grimketel. Er war mit mir in Micklegard. Er ist ein elender Lumpenhund. Ich habe ihn drei töten und nach einem Vierten suchen sehen. Seine Gegner denken immer, weil er so groß ist, würde er gegen sie wüten, aber schau hin, er ist schlau wie ein Fuchs. Sieh einfach zu.
Da!
Es ist vollbracht. Ich habe es dir gesagt.
Könige haben oft recht.
Ich hoffe, sie haben ihren Frieden mit Gott gemacht.
Es scheint, dein Earl wird den Sonnenuntergang doch noch erleben. Selbst Rolf ist stehen geblieben. Noch näher heran an die Palisaden, und die Bogenschützen würden ihn mit den Federn ihrer Bolzen schmücken. Er dreht sich um und sieht, dass sich hinter ihm die anderen bücken, um den Männern die goldenen Armbänder abzustreifen und die Schwerter mit den Silbergriffen zu entwenden, die sie besser hätten führen sollen.
Viele Male war ich an seiner Stelle. Die Schlacht ist gewonnen, und die Raserei legt sich, und man stellt fest, dass man auf einem Feld mit Schätzen steht und weniger tapfere Männer, die zurückgeblieben waren, sich niederbeugen wie Frauen zur Erntezeit. Schau, schon sind sie dabei, Ringe abzuschneiden, Leibriemen zu lösen und sich mit den Schwertern toter Männer zu gürten. Es ist ein unschönes Geschäft. Die Hände werden dabei viel blutiger als meine. Gib mir deinen Mantel. Er ist nass genug.
So. Jetzt sind meine Hände sauber. Das hat doch Pontius Pilatus gesagt, oder?
Lasten deine Sünden auf dir?
Meine lasten nicht auf mir. Aber dieses Kettenhemd schon. Bei Christi Eiern! Ich habe es früher den ganzen Tag getragen, ohne darüber nachzudenken. Ich habe darin geschlafen. Aber fünfzig Winter fordern ihren Tribut. Kettengeflecht lastet schwer auf den Schultern alter Männer. Schau das Silber hier, das habe ich aus Micklegard mitgebracht. Den Leibgurt aus Rom. Dieser Saum wurde von sizilianischen Nonnen für mich gewebt, weil ich sie vor den Heiden gerettet habe. Es ist ein feines Kettenhemd, nicht wahr?
Ich nenne es Emma.«
Olaf kommt!
Mein Bruder Olaf war König von Norwegen.
Als ich ein Junge war und die Winterabende lang und kalt waren und der Sturm den Mund ans Rauchloch hielt und lange, schwermütige Töne blies, pflegten wir uns alle dicht am Feuer zu versammeln. Schulter an Schulter, den Rücken der Dunkelheit zugekehrt, die Hände zu den Flammen hin gespreizt, lauschten wir, während der Geschichtenerzähler sein Garn spann.
Ich saß dann auf dem Schoß meiner Mutter, eingehüllt in ihren Umhang, und hörte zu und träumte, halb in dieser Welt, halb in der Welt der Götter und Riesen und einzigartiger Männer, die lieber starben, als sich zu unterwerfen. Blaue und gelbe Flammen leckten langsam an den abgelagerten, dunklen Holzklötzen in der Feuerstelle und stiegen bernsteinfarben in die Dunkelheit empor. Ich malte mir immer aus, wie ich als Erwachsener der Kriegshund meines Bruders wäre, sein Schild in der Schlacht, sein ergebenster Kämpfer.
Vor meinem geistigen Auge sah ich alles vor mir. Ich teilte das Bierhorn mit ihm, ich war an seiner Seite, wenn die Schlacht begann. Und wenn alle um uns herum erschlagen waren, war ich derjenige, der Rücken an Rücken mit ihm dastand und mit meinem eigenen Körper die Hiebe abfing, die ihm galten. Ich starb, während ich ihn verteidigte, und mein Name würde immer in Erinnerung bleiben als Harald, König Olafs Bruder.
Mein Land ist Oppland am Nordweg.
Wir nennen es Norveyr. Norwegen, in deiner Sprache. Mein Vater war König von Ringerike. In den Jahren vor meiner Geburt trug mein Bruder Olaf einen großen Schatz aus England und Frankreich zusammen. Meine früheste Erinnerung an ihn stammt aus der Zeit, als ich fünf oder sechs war. Mein Bruder Halfdan schnitzte mit seinem Essmesser Runen in die Kirchentür. Ich war der Beobachtungsposten, aber ich sah nichts, weil ich Halfdan bei der Arbeit zusah.
Die Geräusche, die aus unserem Haus drangen, hatten sich verändert. Selbst Halfdan hielt inne.
»Was ist los?«, fragte er.
Ich wusste es nicht.
Meine Mutter rief. Sie rief meinen Namen. »Ha-rald!«
Ich hätte Halfdan nicht helfen sollen. Ich wusste, dass ich eine Tracht Prügel beziehen würde. Dann kam sie in der Nähe des Schweinekobens um die Halle und sah mich schuldbewusst wie einen Schafdieb dastehen.
»Harald!«, rief sie. »Was machst du da?«
»Nichts«, sagte ich.
Sie zeigte über die Felder dorthin, wo mein Vater bei den Knechten aushalf. »Olaf kommt!«
Anfangs begriff ich nicht.
»Rasch!«, rief sie. »Der König! Lauf und hol deinen Vater!«
Ihre Befehle gellten über den Hof, während sie herummarschierte. »Sattelt das Pferd mit dem vergoldeten Sattel! Schrubbt die Bänke! Reinigt die Trinkbecher! Bring das Bier, Frau!« Sie brachte uns völlig durcheinander, und ich rannte los, um unseren Vater zu suchen, ausgelassen wie ein junger Hund oder ein Lamm im Frühling.
Die Hunde bellten, als ich meinen Vater fand, der am Rand des Feldes stand und seine falbe Stute betrachtete. Der Nordwind bewegte ihre geflochtene Mähne und ihren Schweif, als sie sich zum Grasen hinunterbeugte.
»Vater!«, rief ich laut, und er drehte sich auf die ihm eigene Weise um, fast so, als würde er sich fragen, wer man war und warum man ihn störte, und ging wieder zu seinen Knechten.
»Sie lahmt schon wieder«, sagte einer der Männer, während ich verschnaufte. Er dachte offensichtlich, man sollte sie schlachten und an die Hunde verfüttern, aber mein Vater war ein gütiger Mann.
»Gebt ihr eine Woche!«, sagte er. »Und dann lasst sie nicht am Karren arbeiten, bis wir mit der Schur fertig sind.«
Er blickte zu den Wolken auf, um zu sehen, ob die Zeit zum Scheren gut war. Ich zupfte ihn am Ärmel.
»Vater«, sagte ich. »Mutter sagt, dass Olaf bald eintrifft! Sie sagt, du musst kommen! Seine Schiffe sind im Fjord!«
Ich zog ihn noch einmal am Ärmel, und als er sich zu mir umwandte, konnte ich sehen, dass er nicht froh darüber war, gestört zu werden.
»Sag Mutter, ich komme.«
Ich rannte durchs Rispengras. Es reichte mir bis zur Taille. Ich lachte und rief immer wieder Olafs Namen, obwohl er mir damals nichts sagte. Kinder sind wie Welpen, sie begeistern sich schnell. Ihnen, die noch so wenig gesehen haben, ist alles neu.
Als ich zur Halle zurückkam, hatte meine Mutter die Ärmel aufgekrempelt und schrie meinen ältesten leiblichen Bruder, Guttorm, an, er solle seine Schuhe säubern und sich die Spreu aus den Haaren bürsten.
Halfdan hatte sich davongestohlen, aber mich sah sie und spießte mich mit einem Ruf auf. »Da steckst du!« Sie marschierte auf mich zu, legte mir beide Hände auf die Schultern und führte mich auf den Milchhof, wo die Mägde so laut zwitscherten wie Vögel in der Hecke, während sie einander die Haare bürsteten.
»Inga!«, sagte sie. »Zieh ihn an!«
Inga war mir die liebste unter Mutters Mägden. Sie hatte weiche, saubere Hände, grüne Augen und eine kleine Stupsnase, die mit blassen Sommersprossen besprenkelt war. Sie lispelte ein wenig, was ich immer ganz bezaubernd fand, leicht und zart, wie ein ins Netz gegangener Sperling, den ein Junge in der hohlen Hand hält.
Inga führte mich ins Zimmer meiner Mutter, in dem der hölzerne Fensterladen offen stand. Sie stellte mich ins Licht und zog mir stachelige Kletten aus Haaren und Cotte. Sie bürstete mir das Moos von den Ellbogen, zog dann ihre sommersprossige Nase kraus und stieß einen Seufzer aus, als sie eine Schafzecke an meinem Bauch entdeckte. »Was hast du getrieben?«
»Nichts«, log ich. Sie gab eine Äußerung von sich, einen beiläufigen heidnischen Fluch, den Leute damals ohne nachzudenken ausstießen, und beugte mich über ihr Knie, um mich in das Viereck aus Licht vom offenen Fensterladen zu bringen.
Ich schniefte, als sie mit ihren Fingernägeln den Kopf der Zecke freilegte. Als die Sonne herauskam, verwandelte sie die Bodenbinsen in Gold. Das tiefe Brummen einer Hummel schwebte in den Raum und dann wieder hinaus. Hier gibt es keine Blumen, dachte ich, sie sind alle draußen, ganze Hänge voll, die sich nach unten wälzen wie gelbe Lawinen.
Endlich war Inga fertig und rieb die Bissstelle mit Bienenwachs ein. Sie stellte mich vor sich hin, zog etwas von meinem Kopf und hielt es mir vor die Nase, damit ich es sehen konnte. »Warst du Vogelnester plündern?«
»Nein«, sagte ich, obwohl das nicht die Wahrheit war. Wie jeder Held erprobte ich mich, auch wenn meine Prüfungen Kleinigkeiten waren, wie den höchsten Ast des Apfelbaums im Garten zu erklimmen, wagemutig in die feuchte, dunkle Brunnenöffnung zu klettern, durch den finsteren Wald nach Hause zu gehen, wenn die Abendhexe die Röcke raffte und man spüren konnte, dass sie einen holen kam, und man nur noch rennen wollte.
Inga ließ den Zweig auf den Boden fallen. Er war mit grünem Moos behangen, dünn und zottelig wie der Bart eines alten Mannes, und ein verknotetes Büschel meiner eigenen Haare hing auch daran, silbrig golden im fahlen Licht.
»So!«, sagte sie, als sie fertig war, und drehte mich herum, um meine saubere blaue Cotte, die schwarze Hose und die Kalbslederstiefel zu betrachten. Sie fuhr mir mit den Fingern an den Schläfen durchs Haar und schüttelte die Locken aus. Wir trugen die Haare alle lang, Männer ebenso wie Frauen. »Sehr stattlich!«, sagte sie. Sie beugte sich herab, sodass ihr Kopf dicht an meinem war.
»Und jetzt fort mit dir! Und handele dir keinen Ärger ein!«
Das war mein Bestreben an jenem Tag, als ich hinauslief, um meine Mutter zu suchen.
Sie war aufgeregt wie eine junge Magd. Sonnenlicht stieß durchs Rauchloch der Halle wie ein Finger Jesu. Es schrägte sich ab und traf die Seite der Feuerstelle. Wo es auf die frisch gefegten und angefeuchteten Herdsteine fiel, vergoldete es sie, beleuchtete auch die geschnitzten Eichenbänke und holte ihre Umrisse aus den Schatten.
»Gut«, sagte sie und ließ sämtliche englischen Wandbehänge ausschütteln und wieder längs der Hallenwände aufhängen, bis alle Spaten, Hacken und Sensen verborgen waren und der Raum mit Gestalten und Farben kleiner gestickter Männer und Frauen angefüllt war, die mit Mut, Tapferkeit und Entschlossenheit große Taten vollbrachten.
Ich versuchte, nicht im Weg zu sein, als meine Mutter mit den Mägden frisches Stroh auf den Hallenboden streute und sie Trinkkrüge und Bier auf die Tische stellten. Plötzlich sah sie mich und hielt inne. »Wo ist dein Vater?«
Ich stand einen Moment lang mit offenem Mund da, denn ich dachte, ich hätte vergessen, ihm Bescheid zu sagen, doch dann fiel es mir wieder ein, und ich platzte heraus: »Er kommt!«
»Bist du sicher, dass du es ihm gesagt hast?«
Ich nickte.
»Wo ist er?«
Ich rannte zum Halleneingang, konnte ihn aber nicht sehen und geriet in Panik.
Aber dann kam mein Vater durch die Hintertür herein, wo im Winter das Vieh gehalten wurde. Er warf seinen breitrandigen grauen Hut auf den Ehrentisch und nahm die aufgeregte Geschäftigkeit mit gelassener Miene auf.
»Da bist du ja endlich!«, sagte meine Mutter und sah ihn auf eine Weise an, die mir verriet, dass er eine Enttäuschung für sie war.
Er machte sich nichts aus Krieg, es sei denn, er war nötig. Er machte sich aus gar nichts etwas, außer der Landwirtschaft. »So. Unser König ist hier, was?«, sagte er zu mir, als wäre meine Mutter nicht bei uns im Raum. »Tja, ich sollte gehen und mich ankleiden, sonst ist deine Mutter nicht glücklich.«
»Ja, zieh dich um!«, sagte sie. »Und wechsle deine Stiefel!«
Nach einer ganzen Weile trat mein Vater in seinem scharlachroten Umhang samt Schwert und Helm aus der Kammer im hinteren Teil der Halle, aber er trug immer noch seine blaue Wollhose und die Ackerstiefel.
»Sie sind voller Schlamm!«, sagte meine Mutter.
»Erde«, erwiderte er, »kein Schlamm.«
»Du bist der König von Ringerike«, erklärte sie ihm, als hätte er es vergessen, aber auch darin hörte ich die Enttäuschung. Mein Vater hatte an nichts größere Freude, als seine Rinder zu begutachten, seine Lämmer zu zählen, seine Mädchen hochzuheben und sie auf einem Arm zu tragen oder seinen Söhnen zu zeigen, wie man einen Ochsen anschirrte.
»Das bin ich«, sagte er, »und ich finde, ich sehe danach aus.«
»Von den Stiefeln aufwärts«, erwiderte meine Mutter.
Der Name meines Vaters war Sigurd. Sigurd Sau nannten die Leute ihn, aber er hatte nichts von einem Schwein an sich, als er das mit Edelsteinen besetzte Zaumzeug seines Hengstes ergriff und sich hochschwang. Er war ein ausgezeichneter Reiter und bewegte sein Pferd mit lässiger Leichtigkeit, als der Hof sich mit den Nachbarn und ihren Männern füllte. Alle trugen ihre prächtigsten Kleider. Er begrüßte jeden Einzelnen. Sie riefen und lachten, und die Luft war voller Hufgetrappel, als weiter entfernte Nachbarn die Neuigkeit hörten und hergeritten kamen, um dazuzustoßen.
»Auf geht’s!«, rief mein Vater, schwenkte die Hand über dem Kopf und führte sie davon. Die wirbelnde Menge der Männer und Frauen folgte ihm nach und nach hinunter zur Küste, um die Langschiffe zu begrüßen. Halfdan und ich rannten eine kurze Strecke neben ihnen her, solange die Begeisterung andauerte.
Die Welt, in der ich aufwuchs, war jenes kleine Stück ebener Erde zwischen den gewaltigen Bergen, wo die Winde die alten Bäume zu fremdartigen Formen folterten, und den Tiefen des Fjords, wo Ungeheuer lauerten und die Mitte so tief war, dass kein Senkblei den Grund finden konnte. Dort war es, wo die Midgardschlange schlief, hieß es, und bis Ragnarök wartete, wenn sie an Land gleiten und gegen Thor und die Alten Götter um dieses Midgard kämpfen würde, zwischen den Gipfeln und der Küste.
Ich stand mit den Füßen im Schlamm und beobachtete, wie mein Vater Olaf von der Küste hinaufgeleitete.
»Bist du aufgeregt?«, fragte Inga. Sie hatte vermutlich die Aufgabe, auf mich aufzupassen.
»Ja!«, rief ich.
»Erinnerst du dich an deinen Bruder?«
»Nein!«, rief ich.
»Aber das musst du doch!«, sagte sie. Ich schüttelte den Kopf, und deshalb hob sie mich hoch und streckte den Arm aus. »Da ist er! Das ist dein Bruder! Er ist der König.«
Ich hatte die Erzählungen über Olaf verschlungen, bevor ich sprechen konnte, hatte sie schluckweise aus den Brüsten meiner Mutter getrunken, sie auf mein Brot und meinen Brei gestreut, sie hinuntergelöffelt, wenn der Skalde aufstand, um mit eintöniger Stimme seine Geschichten zu erzählen, und der oft gefüllte Bierkrug von Hand zu Hand weitergereicht wurde. Mein Bruder war kleiner, als ich ihn vor meinem geistigen Auge gemacht hatte, beleibter, als ein Held sein sollte, mit strohblondem Haar und breiten Wangen, die Meersalzwinde rot gescheuert hatten. Aber wie bei einem schönen Mädchen war etwas an ihm, das die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, und es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, dass es seine Augen waren, die vom blassesten Blau und dunkel gerändert waren, so kalt und abschreckend wie winterliches Schmelzwasser.
Er brachte sein Pferd zum Stehen, schwang ein Bein über den Sattel und landete schwer wie ein Sack Weizen vor uns.
Die Erde erzitterte, als er aufkam. Ich spürte es durch meine Kalbslederstiefel.
Er sprach laut wie ein Held. »So, dies sind also meine Brüder!«, brüllte er, und wir standen da und starrten ihn an. Meine Mutter musste meinen ältesten Bruder nach vorn schubsen, und er sagte: »Wir sind erfreut, dich wohlbehalten aus deinen Schlachten zurückkehren zu sehen, Bruder.«
»Ich danke dir. Du musst Guttorm sein.«
Guttorm errötete und verbeugte sich.
Olaf ging die Reihe ab. »Du musst Halfdan sein.«
Ich stand an Halfdans Seite, dem ich bis zur Schulter reichte, und beobachtete, wie mein mittlerer Bruder den Kopf hängen ließ und stumm langsam nickte, die Finger am Mund, wie ein Leibeigener, der fürchtet, sich mit Worten zu verraten.
»Und du musst Harald sein!«
Olaf beugte sich herab, sodass er auf meiner Höhe war, und runzelte die Stirn, was er wohl für eine finstere und bedrohliche Miene hielt. Ich blickte düster zurück, sodass er mir die frisch gekämmten Haare zerzauste, die Inga bearbeitet hatte, und ich stieß seine Hand weg – wie ich es bei Halfdan und Guttorm machte, wenn sie mich ärgerten.
Ingas Finger kniffen in meine Schultern und verrieten mir, dass ich mich auf eine Tracht Prügel gefasst machen konnte. »Begrüße den König anständig!«, forderte sie mich auf, aber ich weigerte mich. Niemand schubste mich herum! So klein wie ich war.
Olaf streckte eine harte, königliche Hand aus, und ich stieß ihn wieder weg.
»Harald!«, zischte meine Mutter.
Selbst mein Vater tat einen Schritt nach vorn. »Harald«, sagte er und winkte mit der Hand, »zeige etwas Respekt!«
Ich spürte aller Augen auf mir, als sie mich vorwärtsschoben wie einen Ochsen, der mit Weidengerten zur Axt des Schlachters getrieben wird. Doch dann lachte jemand.
Es war einer von Olafs Kriegern.
»Nun hat er’s dir gezeigt, Olaf!«
Da lachte auch Olaf, zerzauste mir noch einmal die Haare, heftiger diesmal, und gab mir einen Stoß, der nicht freundlich war.
Meine Mutter schlug mich. Halfdan und Guttorm betrachteten mich kopfschüttelnd, und sogar meine Schwestern bedachten mich mit »dem Blick«. Nur Inga suchte nach mir, als das Festessen begann, die Scheite vom letzten Jahr hoch aufgetürmt und die Feuer entzündet wurden.
»Geht es dir gut?«, fragte sie.
Ich stand auf dem Hof vor der Halle, wo die Hunde und Ziegen frei herumliefen. Die weiße Dogge meines Vaters kaute auf einem Schweineohr. Ihre Fangzähne waren zu sehen, als der harte Knorpel unter ihren Backenzähnen knirschte. Ich schniefte, nickte und wischte eine Schleimspur aus Rotz auf meine frische Cotte.
»Du solltest besser reinkommen«, meinte sie.
Ich verschränkte die Arme und zog den größten Schmollmund, den ich zuwege brachte. »Ich will nicht!«
»Deine Mutter wird wütend sein.«
»Ist mir gleich!«
Sie legte einen Arm um meinen Schultern. »Komm, Harald, setz dich auf mein Knie.«
»Nein«, sagte ich.
»Und wenn ich dir einen Kuss gebe?«
»Nein«, wiederholte ich, aber sie beugte sich herab, um mich zu küssen. Ihr Atem roch nach Minze. Ich drehte mich weg, und sie küsste mich weiter, und schließlich lachte ich.
Die weiße Dogge war inzwischen fertig mit dem Ohr, schnüffelte unter dem Ast, an dem der Schweinekadaver aufgehängt worden war, und leckte an dem heruntergetropften Blut. Einer der Hunde schnupperte an mir. Ich hatte keine Angst vor ihnen und hielt ihnen die Hand hin, damit sie daran lecken konnten.
»Komm!«, sagte Inga und fasste mich am Arm. »Oder ich gebe dir noch mehr Küsse! Ich wette, du könnest am Ehrentisch sitzen, wenn du versprichst, brav zu sein.«
Ich werde brav sein, nahm ich mir vor, und sie führte mich hinein.
Es sah so aus, als wäre mir vergeben worden. Meine Mutter hielt mir unter dem Tisch die Hand hin, eine heimliche Geste, die für mich aufgespart war.
»Geh schon!«, sagte Inga und gab mir einen sanften Schubs, aber meine Mutter machte ein langes Gesicht, als ich an ihr vorbeirannte.
Ich hatte einen besseren Platz erspäht, neben dem König, auf dem breiten Schoß meines Vaters. Er war ebenso überrascht wie sie.
»Na komm hoch!«, sagte er und setzte mich auf seinen Schoß.
Er und Olaf sprachen von Dingen, die ich nicht verstand. Die Jarls von Lade. Wie einem rebellischen Stammesführer Angst einzujagen war. Dingen, von denen ich nicht gewusst hatte, dass mein Vater sich damit beschäftigte.
Olaf ertappte mich ein paarmal dabei, wie ich ihn ansah, und als seine Wangen röter wurden, wandte er sich mir zu und nahm meine Hand. Ich weiß nicht, was ich dachte, wie die Hände eines Königs sein würden, aber seine waren dreckig und rau wie die eines Knechts.
Meine waren sauber und glatt, und er drehte eine Hand mit dem Daumen um und nahm auch die andere.
»Arbeitest du auf den Feldern?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
Seine Augen waren kalt wie Wintersonnenlicht. Manchmal erschreckten sie einen dermaßen, dass man keinen Ton mehr hervorbrachte.
»Gehst du fischen?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich war der Jüngste. Ich tat, was mir gefiel. Ich arbeitete nicht in Halle, Hof oder Boot.
»Es bringt nichts, ein Kind zu verhätscheln.«
»Er wird nicht verhätschelt«, sagte mein Vater. In seiner Stimme lag ein Anflug von Anspannung. Sein Zusammenleben mit Olaf als Stiefsohn war nicht glücklich gewesen.
»Ach nein?«
»Nein. Er wird nicht verhätschelt. Er ist noch klein, das ist alles.«
»Er ist fünf«, sagte Olaf. »Als ich fünf war, hast du mich arbeiten lassen.«
»Nein«, sagte mein Vater.
»Doch«, sagte Olaf. »Das hast du.«
»Nun, es hat dir nicht geschadet.«
»Und ihm wird es auch nicht schaden.«
Als das Mahl beendet war und die Diener die Schüsseln und Teller abräumten, kippte Olaf sein Horn nach hinten und trank. Dann stand er auf.
»Es ist gutes Angelwetter«, sagte er und nahm mich beim Arm, hoch oben über dem Ellbogen, und zog und trug mich gleichermaßen vom Schoß meines Vaters. »Macht das Boot fertig!«
Stimmen erhoben sich, und Worte flogen durch die Halle, um ihn davon abzubringen – nicht königlich, schwer zu handhaben, gefährlich, nass und rau –, aber seine Finger lagen fest um meinen Arm, und er führte mich direkt ans Ufer, so wie ein Dieb zum Galgenbaum geführt wird.
Er schleifte mich über das frisch gestreute Schilf, über die hohe Schwelle und durchs Gras hinunter zum Midgardschlangen-Kiesufer des Fjords.
»Rognvald!«, rief er. »Otli! Speer-Hedin! Kalf!«
Seine Gefolgsleute kamen nach vorn und nahmen die Ruder. Olaf ließ mich los, aber ich konnte nicht fliehen, nicht, wo aller Augen auf mich gerichtet waren.
Das Boot schwankte, und das Wasser spritzte auf, als sie an Bord kletterten. Sie schwangen die Ruder über den Köpfen und steckten sie in die Dollen. Dann schoben zwei von Olafs Männern das Boot ganz ins Wasser hinaus, und wir sechs waren auf See. Er bückte sich und atmete Wein und Bier auf mich, als er mir zeigte, was er gelernt hatte, als er ein Knabe war. Ich sah ihm zu und blieb stumm und unwillig.
»Jetzt du!«, forderte er mich auf, und ich strengte mich an.
»Gut!«, sagte er, und da mochte ich ihn. »Hier, nimm das Ende des Netzes! Wir werfen es hinein, wenn das Wasser tief ist. Dort gibt es die besten Schwärme.«
Wir waren keinen Bogenschuss vom Ufer entfernt, als meine Mutter Olafs Namen rief.
Er war gerade über mich gebeugt und zeigte mir, wie man das Netz entwirrte. Er sah nicht auf. Meine Finger waren klein. »Ja«, sagte er. »Gut.«
Wieder rief meine Mutter. »O-laf!«
Sie winkte und zeigte irgendwohin, doch er nahm keine Notiz von ihr. Er war der König.
Es war einer seiner Männer, der sprach.
»Olaf«, sagte der mit Namen Kalf. In seinem Tonfall lag etwas Warnendes, das uns beide bei unserer Arbeit mit dem Netz innehalten ließ. Kalfs Blick wanderte am Fjord entlang dorthin, wo die Bergtürme Wache standen über die ruhelosen Wellen der schimmernden dunklen See.
»Jagende Wale«, sagte er.
Das kiellose Boot schwankte, als Olaf sich umdrehte, um zu schauen, und durch seine Beine sah ich die schwarzen Schlangen des Walrudels durchs graue Wasser in großen Sprüngen auf uns zukommen.
»Ein Speer!«, rief Olaf, doch da war keiner, deshalb gaben sie ihm ein Ruder. Am Ufer wurde geschrien: Ratschläge, Warnungen, Aufforderungen. Die Tiere kamen so schnell auf uns zu, dass ihm kaum Zeit blieb, das Ruder über den Kopf zu heben. Ich stand an Olafs Seite, und er hielt sich an mir fest, um das Gleichgewicht zu halten, nahm alle Kraft zusammen und schleuderte das Ruder.
Die Bugwelle warf uns nach hinten. Ein Wal rammte uns hart. Jemand schrie entsetzt auf. Es könnte ich gewesen sein, ich vermag es nicht zu sagen. Ich fiel in die Netze und klammerte mich daran fest, als Wasser in das Boot schwappte. Sie waren wie das Knotenmuster des Goldschmieds überall um uns herum. Auf meinem Gesicht war nasser Walatem. Er roch nach Hering und Austernwasser. Eine schwarze Flosse streifte mich. Ich sah Schwarz und Weiß und dann ein Auge, dunkel wie die Brunnenöffnung, das mich anblickte, und ich konnte Gedanken darin lesen, übelwollende, böse, unbarmherzige Gedanken.
Das kalte Fjordwasser brodelte wie in einem Kochkessel, als Hunderte von silbernen Heringen aus dem Meer sprangen. Die Möwen kreischten, stießen herab und schlugen sich den Bauch voll. Olaf packte mich von hinten und hob mich hoch.
Das Boot schaukelte wie wild, die Ruderer schrien ängstlich auf, aber ich wusste, er würde mich nicht fallen lassen. Er war mein Halbbruder. Wir hatten einen Mutterleib gemein. Ich werde sein Mann sein, wenn ich erwachsen bin, dachte ich. Er wäre ein Narr, mich fallen zu lassen, und Olaf ist kein Narr, das weiß jeder.
»Fürchtest du dich?«, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich schüttelte den Kopf. Falls ich zitterte, so war es wegen der kalten Seeluft und der Brise, die alles durchdringt. »Dies ist ein Gemetzel, Harald«, zischte er, und ich nahm alles in mich auf.
Möwen segelten auf der Brise. Sie pickten betäubte Fische aus dem Wasser. Ich rief und lachte. Es gibt keine Worte für so unverfälschte Freude.
»Fliehe nie!«, flüsterte er mir ins Ohr. »Fürchte dich nie! Hast du verstanden?«
Ich öffnete weit die Augen für das Tosen von Wasser, Wal und verzweifeltem Fisch. Ich beobachtete den Todeskampf der Heringe und empfand keine Furcht. Ich nickte, und Olaf hielt mich hoch, als die Wale den Heringsschwarm in einen immer kleiner werdenden Kreis einschlossen.
Und dann war es vorbei. Das Gemetzel war vorüber, das Wasser beruhigte sich wie Staub, der langsam niedersinkt, wenn die Pferde des Heeres nicht mehr zu sehen sind, und wir waren nicht tot.
Von dem ganzen Schwarm von Tausenden von Heringen waren nur ein paar übrig geblieben, die seitlings dahintrieben. Die kabbelige See hatte sich geglättet, Möwen landeten und schwammen auf dem Wasser und zankten sich wie die Fischweiber um einen letzten benommenen Fisch, der mit der Seite nach oben zwischen den kleinen Wellen trieb. Der Wind blies über den Fjord und machte das Wasser stumpf wie gebürsteten Stahl, und ich lachte. Es gibt keine Worte für so unverfälschte Freude. Selbst Olaf schien verzückt, und er drehte mich um, sodass einander in die Augen sahen. »Gut?«, brüllte er.
»Noch mal!«, rief ich. Er lachte und presste mich an seine Brust, und für einen Moment waren unsere Körper vereint. Wir waren Überlebende, wir waren beide Könige. Zwei Halbbrüder, die eins wurden.
Damals war ich noch so klein, dass er mich in seinen Armen hochheben konnte; klein genug, um alle Geschichten zu glauben, die ich hörte; klein genug, um wie ein Kind an Helden zu glauben.
Budlis Hengst
Ich war zwölf, als Olaf aus Norwegen floh.
Es war ein gewöhnlicher Septembermorgen im Jahr 1027. Der Reif, der sich in der Nacht niedergeschlagen hatte, schmolz zu dickem weißen Tau, die Kiefernwälder auf den hohen Hängen waren vom ersten Schneefall überzuckert, und über den tiefen, geeggten Feldern sammelten sich Nebelschwaden wie Klatschweiber.
Es war die Zeit im Jahr, die wir Gormánuður nennen – der Monat des Viehschlachtens. Die Schafherden waren von den Hängen heruntergetrieben worden. Sie drängten sich unruhig in ihren Pferchen, während die Schweine noch nach den letzten Bucheckern wühlten, und über den Fjord hörte ich den langen, traurigen Ruf eines Wolfes, bei dem sich allen Hunden die Nackenhaare sträubten. Wachsam standen sie da, mit steifen Schwänzen, die Nasen in die Luft gereckt, um zu wittern, ob Gefahr drohte.
Ich verbrachte den Morgen mit meinem Bogen auf der Suche nach Haselhühnern und verfehlte einen Reiher und eine Gans. Halfdan war mit einem Boot zu einer der wilden Inseln gefahren, um ein oder zwei Robben zu schießen, und als ich endlich die Stelle wiederfand, an der ich meine Stute angebunden hatte, war meine Stimmung schon sehr getrübt. Ich schwang mich hinauf und drehte ihren Kopf gen zu Hause.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wer die Nachricht überbrachte, aber als ich ankam, war sie bereits eingetroffen. Das Gesicht des Stalljungen konnte es nicht verheimlichen. Etwas Schlimmes stand bevor, verrieten mir seine Augen, bevor er das Zaumzeug nahm und mein Pferd zur Koppel führte.
Ich dachte, jemand sei gestorben. Ich spürte, dass alle Augen auf mich gerichtet waren, als ich den Köcher von der Schulter streifte und zur Halle hinüberging.
Als ich näher kam, konnte ich ein Gebrüll hören. Es war mein Vater. Ich musste mich auf der Schwelle noch nicht bücken, und ich entsinne mich, dass mir die Luft dunkel und kühl erschien wie in einer Höhle, als ich aus der Sonne trat. In diesem Moment warf mein Vater die Tür zu seiner Kammer hinten in der Halle zu, schlug sie noch einmal so heftig zu, dass die Balken in der Halle bebten und Stäubchen alter grauer Asche in der Luft schwebten.
Ich stand da und blickte um mich. Niemand wollte sprechen. Von meinen Eltern kamen genügend Worte – laut, wütend, einander beschuldigend. Es war wie Thors Gewittersturm, aber nicht hoch oben am Berghang, wenn man die Augenblicke zwischen dem Blitz und dem Donner zählen kann, sondern hier, im Inneren der Halle – Ärger, Zorn und Lärm, wo Wärme, Zuflucht und Kameradschaft hätten sein sollen.
Niemand wusste, wo er hinschauen sollte. Sämtliche verbliebenen Diener flohen nach draußen und versuchten, einen geschäftigen Eindruck zu machen, um nicht bemerkt zu werden, um nicht das Toben dieses Sturms auf sich zu ziehen. Ich blieb, trotz meiner Befürchtungen. Ich war zwölf und hielt mich für Manns genug, alles zu hören.
Als die Erregung abklang und Stille sich herabsenkte, näherte ich mich den Eichenbohlen ihrer Tür und legte die Hand auf das raue Holz. Ich spürte das gramerfüllte Zittern in der Stimme meiner Mutter. »Er ist geflohen! Er hat uns verlassen!«
Dann herrschte Schweigen. Zuerst glaubte ich es nicht, doch dann hörte ich, wie sie voller Furcht weitersprach.
»Jetzt werden sie wegen uns kommen! Wir sind als Nächstes an der Reihe. Wir alle.«
Ich stand wie gelähmt da. Olaf konnte nicht geflohen sein, nicht ohne mich. Seinen Bruder.
Ich stellte mir vor, wie mein Vater dorthin ging, wo sie stand – eine Hand auf ihrem Truhendeckel, die Faust auf den Mund gepresst. Vor meinem geistigen Auge legte er seine Hand auf ihre Schulter. Er war kein Freund von liebenswürdigen Gesten, aber er hatte es schon einmal getan, als ihr Lieblingspferd sich das Bein gebrochen hatte, und damals hatte es geholfen.
»Er ist geflohen«, sagte sie noch einmal. Sonst nichts. Ich drehte ihrer Tür den Rücken zu, als hätte ich die Worte ungehört machen können, als ob Wissen etwas wäre, was wir ungewusst machen können, als hätte ich noch ein wenig länger Kind bleiben und die Weisheit zurückweisen können, die der Schmerz bisweilen mit sich bringt.
Mein Vater stürmte hinaus auf die Felder und warf auf dem Weg jede Tür hinter sich zu. Die Halle, die Stalltür, das Räucherhaus. In der Kammer hörte ich meine Mutter schluchzen. Ich glaube nicht, dass ich sie vorher jemals weinen gehört hatte. Diese Art Frau war sie nicht.
Langsam öffnete ich die Tür. Neben meiner Mutter saßen ihre Mägde. Zwei hielten sich umschlungen, Inga saß auf einem Hocker und starrte ins Leere.
Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, aber meine Mutter weinte, und ich musste zu ihr.
Ich trat in den Raum. Das einzige Licht kam von den zwei Kerzen neben dem Altar mit ihrem silbernen Kreuz darauf und der kleinen Feuerstelle. Ich ging auf meine Mutter zu. Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht fliehen würde. Ich schleppte mich vorwärts. Sie saß auf einem Hocker, die Hände im Schoß, regungslos wie ein Runenstein. Ihr Kopf war gesenkt, Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie schniefte.
Ich bewegte mich so steif wie eine Holzpuppe. Ich musste mich räuspern, um sprechen zu können.
»Mutter?«
»Hinaus!«, zischte sie.
Ich hatte einen Kloß im Hals, weil ich so viel aussprechen wollte, doch sie drehte sich um und blickte mich an. Ihre Augen waren rot und geschwollen, ihr Blick war unmenschlich vor Wut. »Hinaus!«, schrie sie, und ich wich schuldbewusst und entsetzt zurück. Niemand sah mich an.
In den folgenden Monaten setzte ich eine fröhliche Miene auf, wie ein Reisender, der sich gegen die Kälte des Winters in einen Mantel hüllt. Die Menschen Norwegens sind noch nicht an Könige gewöhnt, sagte ich mir. Es war wie der Versuch, ein wildes Pferd zu satteln und sich daraufzusetzen. Olaf hatte Norwegen dreizehn Winter lang geritten. Es war ein feiner Galopp gewesen.
Unter den Gewändern jedoch, mit denen ich mein Gesicht bekleidete, fühlte ich mich verraten. Ich war sein kleiner Bruder, und ich liebte ihn. Ich hätte alles für ihn getan, um nicht derart von ihm im Stich gelassen zu werden.
Ich habe nie über Olafs Flucht gesprochen – bis auf ein einziges Mal. Es war Frühling, die Abende wurden länger. Die Felsenhühner kreischten in ihren hohen Nestern aus dünnen Zweigen, und meine Mutter streckte mir die Hand entgegen. Sie saß auf ihrem Hocker im Gras vor der Halle, einer der schwarzen Jagdhunde meines Vaters lag ausgestreckt zu ihren Füßen. Kälte hatte sich zwischen uns ausgebreitet wie Olafs Schatten.
Ich zögerte. Ich bin jetzt ein einsamer Wolf, dachte ich, ohne Rudel oder Anführer – aber sie winkte mir noch einmal zu. ›Komm!‹, sagte ihre Miene, und ich nahm die Hand und trotz meiner Steifheit zog sie mich heran.
»Es tut mir leid«, sagte sie und drückte mich an sich.
Ich wollte zurückweichen, aber sie ließ mich nicht los. Wir brauchten keine Worte, wir wussten beide, was sie zu sagen versuchte. Schließlich taute ich ein wenig auf und stand bang wie ein Junge da, mit einem Fuß im Boot eines Mannes und einem im eigenen.
»Ich werde nicht fliehen«, sagte ich nach einer langen Pause.
Sie tätschelte meinen Rücken.
»Gut«, sagte sie, und ihre Brust hob sich mit ihrem Atem. »Tu es nicht.«
Danach gab es Überfälle. Männer, die für Dinge, die Olaf getan hatte, als er König war, Rache an seiner Familie nehmen wollten. Männer, die dachten, er hätte vielleicht Schätze zurückgelassen, und Männer, die einfach nur unsere Wachsamkeit auf die Probe stellen wollten und unsere Seelenstärke.
Mein Vater war kein Krieger, aber er führte die Männer des Tals an und vertrieb die Angreifer. Sogar Budli brachte seine Söhne, die rau aussehende Männer waren und über den Fjord gerudert kamen, um uns zu helfen. Wir waren jetzt alle Freiwild.
Die Plünderer nahmen nie mehr als ein paar Schafe, aber es waren angstvolle Zeiten. Wir aßen nur das Nötigste, sagten nur das Nötigste und feierten nicht. Die Flammen des Feuers in der Halle fühlten sich klein, abgekühlt und missgönnend an.
Ich war dreizehn, als meine Mutter starb. »Arbeite weiter an deiner Schwertkunst!«, brachte sie zwischen quälenden Hustenanfällen hervor. Sie hielt sich an meiner Hand fest, als wäre ich ein Seil, das sie nah am Ufer hielt. Je kränker sie wurde, desto fester wurde ihr Griff. »Du bist ein guter Junge. Du wirst ein stattlicher junger Mann werden.«
Ich fand keine Worte, die ich ihr hätte sagen können, aber ich nahm die ihren in mich auf und ließ sie keimen.
Vor dem Ende gab sie mir ein Schwert und einen Helm, in den ich hineinwachsen würde, und als sie schwächer wurde, hielt sie sich mit einer Hand ein Tuch vor den Mund und presste meine mit der anderen. »Olaf wird zurückkommen«, sagte sie. »Und dann wird er dich brauchen.«
Ich stand da und nickte. Ich würde da sein.
Am Ende konnte sie nur noch flüstern. Jeder Atemzug kam langsam, und die Worte zischten heraus wie die Luft aus einem Blasebalg. »Sei stark! Sei tapfer! Sei nicht feige!«
Ich nickte. Ihre Worte erfüllten mich und legten sich in meinen Geist wie Laubmulch in die Kuhlen.
Ich hatte den Tod viele Male gesehen, bei Rindern, Schafen und Menschen. Aber ich hatte ihn vorher noch nie in meiner Mutter gesehen. Tag für Tag zehrte er sie auf.
Ich war neugierig, erschöpft, ängstlich – und wusste nicht, wie ein Tag sein würde, der nicht damit begann, dass sie meinen Kragen zurechtrückte, mich aus der Tür scheuchte und sagte: »Jetzt aber raus mit dir!« Oder an dem sie sich den Finger mit der Zunge befeuchtete und mir einen Schmutzfleck von der Wange wischte. Oder abends mit mir gemeinsam unsere Gebete sprach, einen Seufzer ausstieß, sich umdrehte und nachdachte, was sie vor dem Schlafengehen noch erledigen musste. Sich mir dann wieder zuwandte und sagte: »Sei ein ehrenwerter Mann, Harald.« Ich nickte und entgegnete: »Das werde ich, Mutter«, während ich mich an den austernnassen Atem von Walen auf meinem Gesicht erinnerte.
Aber am nächsten Tag wusste ich es. In einer Nacht änderte sich alles. Sie war tot, ihr Mund zugebunden, um die Seele daran zu hindern zurückzukehren.