Bettany Hughes

Istanbul

Die Biographie
einer Weltstadt

Aus dem Englischen von
Susanne Held

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Istanbul. A Tale of Three Cities«
im Verlag Weidenfeld & Nicolson, The Orion Publishing Group Ltd, London

© 2017 by Bettany Hughes

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © shutterstock / lkpro

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96286-4

E-Book: ISBN 978-3-608-11106-4

 

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Jane und Karl, die mich an Leib und Seele unterstützen.

Für Robin Lane Fox, der mir Hoffnung gab.

Und für alle, denen es nicht mehr vergönnt ist,
auf den Straßen Istanbuls zu wandeln.

Ein Diamant zwischen zwei Saphiren und zwei Smaragden … der kostbare Stein im Ring eines ausgedehnten Reichs, das die gesamte Welt umfasste.

Osmans Traum, ca. 1280 n. Chr.1

Diejenigen, die Konstantinopel noch nicht kannten, starrten ganz verwundert auf die Stadt – nie hätten sie sich vorstellen können, dass es auf der Welt einen solchen Ort gibt.

Geoffroi de Villehardouin,
Vierter Kreuzzug, 1204 n. Chr.2

Wäre einem nur ein einziger Blick auf die Welt gewährt, sollte man ihn auf Istanbul werfen.

Alphonse de Lamartine, Dichter,
Schriftsteller, Staatsmann, 1790–1869 n. Chr.3

O mein Gott! Gewähre, dass diese Stadt bis ans Ende der Zeiten wächst und gedeiht.

Sultan Murad IV., 1638 n. Chr.4

PROLOG

632–718 n. Chr.(10–100 im islamischen Kalender)

Du wirst fürwahr Konstantinopel erobern. Welch wunderbarer Führer wird er sein, und welch wunderbares Heer wird dieses Heer sein!

Traditionelles Hadith, das den Wunsch des Propheten Mohammed(1) formuliert, Konstantinopel zu erobern1

Der Wind des Todes ergriff sie … Die Römer wurden belagert, doch den Arabern erging es nicht besser. Hunger bedrängte sie so sehr, dass sie Leichen aßen, Exkremente und Unrat. Sie waren gezwungen, sich gegenseitig umzubringen, um essen zu können. Ein Modius Weizen war damals zehn Denare wert. Sie hielten Ausschau nach kleinen Steinen und aßen sie, um ihren Hunger zu stillen. Sie aßen Abfall von ihren Schiffen.

Michael der Syrer, Die Eroberung von Konstantinopel, 717 n. Chr.2

Wir kennen den Namen des Boten nicht – doch wir leben mit den fatalen Auswirkungen seiner Botschaft.

In der Mitte des 7. Jahrhunderts n. Chr. herrschte der 25-jährige byzantinische Kaiser Constans II.(1) in seiner Hauptstadt Konstantinopel.3 Da traf die Kunde ein, eine wilde Streitmacht aus Arabern, von denen sich viele als Muslime bezeichneten – »die sich Unterwerfenden«4 –, habe mit einer Kriegsmacht aus rund zweihundert nagelneuen Schiffen die Inseln Zypern(1), Kos(1), Kreta(1) und Rhodos(1) angegriffen. Constans(2) und sein christlicher Hof wussten, dass es sich bei diesen Muslimen, Anhängern einer Religion, die noch keine Generation alt war, um ein Wüstenvolk handelte – Männer, die dem Meer gegenüber so reserviert eingestellt waren, dass es in einem arabischen volkstümlichen Sprichwort hieß: »Die Blähungen von Kamelen sind erfreulicher als die Gebete der Fische.«5 Mit einer Seefahrertradition, die bis mindestens bis zur berühmten Gründung der Stadt durch Seefahrer vom griechischen(1) Festland 1400 Jahre zuvor zurückreichte, und einer Mannschaft, die gegenüber den Muslimen in der Überzahl war, stach Constans(3) von seiner glitzernden, goldüberglänzten Stadt aus in See und betete, dass ihm eine rituelle Erniedrigung seines muslimischen Feindes vergönnt sein möge.

Doch schon nach dem ersten Kampftag war Constans(4) der Gedemütigte – als gemeiner Seemann verkleidet, sprang er über Bord und kauerte sich an Deck eines unauffälligen Bootes zusammen. Verzweifelt floh er aus der Schlacht, die zwischen dem heutigen Zypern(2) und der Türkei(1) ausgetragen wurde.6 So viele wurden in diesem arabisch-byzantinischen, muslimisch-christlichen Konflikt getötet, dass es hieß, das Meer habe sich rot gefärbt. Muslimische Quellen bezeichnen den Kampf als die Schlacht der Masten; neue Schiffsmodelle, die Dromonen und shalandiyyāt,7 erzwangen den Nahkampf: Byzantinische und arabische Schiffe wurden aneinander getäut. Und es war für das christliche Konstantinopel höchst verstörend, dass die Anhänger Mohammeds(2) allen Erwartungen zum Trotz als Sieger aus dem Kampf hervorgingen.

Über ein langes halbes Jahrhundert war die Stadt Konstantinopel, die als Gottes irdische Heimstätte galt, sowohl physisch als auch psychologisch belagert: eine Stadt, die von sich glaubte, sie sei von Gott bevorzugt worden und könne bis zum Weltenende nicht erobert werden. Nur ein Jahrhundert zuvor war dieses Neue Rom(1) – die reichste Stadt weltweit – die christliche Hauptstadt eines Reichs, das sich über zweieinhalb Millionen Quadratkilometer erstreckte. Die Bewohner Konstantinopels hatten solches Vertrauen in ihre Beschützerin, die Jungfrau Maria(1), dass die Gottesmutter den Beinamen »oberste Kriegsherrin« trug.

Nach seiner Flucht kehrte der byzantinische Kaiser Constans(5) zunächst nach Konstantinopel zurück, begab sich aber schließlich nach Sizilien(1) in Sicherheit und ließ seine Mutterstadt schutzlos hinter sich. Die Menschen, die im historischen Zentrum der Stadt über der ehemaligen antiken griechischen(2) Akropolis, die auf das Marmarameer hinausblickte, zurückgeblieben waren, oder zersprengt an den Ufern des Bosporus(1) und des Goldenen Horns(1) saßen, waren außerstande, auch nur annähernd eine geschlossene Front zu bilden. Einigen schien die Eroberung durch die Araber(1) unausweichlich zu sein. Innerhalb nur weniger Jahre nach dem Tod des Propheten Mohammed(3) im Jahr 632 n. Chr. (dem Jahr 10/11 im islamischen Kalender) sah es ganz so aus, als würden die Muslime die Herrschaft über die gesamte damals bekannte Welt übernehmen. 632 hatten arabische Streitkräfte das byzantinische Syrien(1) erobert, 636 wurde in Jarmuk(1) ein byzantinisches Heer zurückgeschlagen, 640 hatte die Einnahme von Heliopolis(1) das Vorrücken ins byzantinische Ägypten(1) ermöglicht, 641 war Alexandria(1) gefallen, 642/643 wurde Tripolis eingenommen, und nun wurde der Vormarsch in Richtung Norden fortgesetzt. Wenn die Dinge sich ihrem natürlichen Gang entsprechend weiterentwickelt hätten, wäre Istanbul vor fünfzehn Jahrhunderten Kalifensitz geworden.

Doch unmittelbar nach der Schlacht der Masten trat eine Kampfpause ein. Das noch unerfahrene muslimische Gemeinwesen war infolge einer Nachfolgekrise und interner Streitigkeiten geschwächt – diese führten später, ab dem Jahr 661, zu der das Angesicht der Erde prägenden Kluft zwischen Schiiten- und Sunnitentum, die bis auf den heutigen Tag anhält.8 In Konstantinopel ging das Leben, wenn auch nicht ohne gewisse Befürchtungen, weiter. Viele verließen die Stadt, weil sie nicht sicher waren, ob sie hier auch weiterhin Nahrung und Schutz erhalten würden. Die Dynastie des Kaisers hatte kurz zuvor eine entstellende Form der Bestrafung eingeführt, die sogenannte Rhinotomie, bei der die Nase von in Ungnade gefallenen Kaisern (sowie die Zunge von deren Frauen) aufgeschlitzt wurde. Die Nasenbedeckung aus Gold wurde zum bezeichnenden Merkmal im byzantinischen Kaiserpalast und an Verbannungsorten. In abgelegenen Gegenden hielten sich byzantinische Bevölkerungsgruppen in befestigten Siedlungen wie Monembasia(1) auf der Peloponnes versteckt, oder sie gruben sich selbst, ihre Häuser, ihre Kirchen und Getreidespeicher in den weichen Fels des kleinasiatischen Kappadokien(1). Kaiser Constans(6) hatte sogar einen Vorstoß gemacht, die Hauptstadt nach Syrakus(1) auf Sizilien(2) zu verlegen.

Die Sorge war berechtigt: Zuerst im Jahr 6679 und erneut 668 und 669 kamen die Araber(2) zurück und rückten mit ihren Truppen bis zu Konstantinopels Goldenem Tor(1) vor. Sie benutzten nach wie vor die griechisch(3)-römischen Schiffe und jene griechisch-ägyptischen Seeleute, die sie nach der Eroberung der Hafenstadt Alexandria(2) im Jahr 641 in ihren Dienst gezwungen hatten. Die muslimischen Araber(3) gingen bei der Siedlung Chalkedon(1) an Land, gerade einmal tausend Meter von Konstantinopel entfernt auf der anderen Seite der Meerenge des Bosporus(2) und in Sichtweite der Stadt, und sie provozierten und bedrohten diejenigen, die im »Sehnen der Welt« wie in einer Falle gefangen saßen.10 Man hatte es hier nun definitiv mit einer neuen Seemacht zu tun. In jedem Frühling griffen die Araber(4) von Kyzikos(1) an der kleinasiatischen Küste aus an. Das einzige, was sie in Schranken halten konnte, war Griechisches Feuer, Konstantinopels teuflische Geheimwaffe, die aus einer Mischung aus kaukasischem Erdöl, Schwefel, Pech und Ätzkalk hergestellt wurde und einen ähnlichen Effekt wie Napalm hatte, sowie die Feuergewalt einer Kriegsflotte aus fünfhundert Schiffen, die Constans(7) während seiner Abwesenheit in Sizilien(3) hatte bauen lassen.11 Neuere Untersuchungen syrischer und muslimischer Quellen lassen vermuten, dass wir uns diese frühen arabischen Attacken eher als übergriffige Nadelstiche vorstellen sollten und nicht so sehr als schlüssig ausgearbeitete Belagerungsstrategie.

Im Jahr 717 n. Chr. veränderte sich die Situation dann grundlegend.

Die Muslime wurden durch Konstantinopels Mauern und seine innovativen Waffen zwar auf Abstand gehalten, doch verloren sie ihr Ziel nie aus den Augen, und im Jahr 717 n. Chr. (98/99 im islamischen Kalender) kehrten die muslimischen Truppen zurück. Die Araber(5) hatten im Jahr 711 einen Stützpunkt auf Gibraltar(1) errichtet, ein Einfallstor zu einem großen Teil der Iberischen Halbinsel. Weite Landstriche im Mittleren Osten und in Nordafrika sowie der Rand Europas befanden sich jetzt in ihrer Hand. Nun war es an der Zeit, sich die Stadt Gottes anzueignen. 717 griffen die belagernden Streitkräfte unter Führung des Bruders des in Syrien(2) residierenden Umayyaden Kalif Sulaiman(1) sowohl vom Land als auch vom Meer aus an.

Der Kaukasus und Armenien(1) waren der byzantinischen Herrschaft bereits entglitten. Eine muslimische Flotte aus 1800 Schiffen transportierte ein gewaltiges Heer. Die Verantwortlichen in Konstantinopel waren so besorgt, dass sämtliche Einwohner aufgefordert wurden, zu beweisen, dass sie die nötigen Mittel zum Kampf besaßen und außerdem über eine wohlgefüllte Vorratskammer verfügten, mit deren Hilfe sie ein Jahr überleben konnten. Wer diesen Ansprüchen nicht genügte, musste die Stadt verlassen. In jenem Jahr pflanzten die Bewohner Konstantinopels in den Lücken zwischen ihren berühmten Mauern Weizen an.12 Das angreifende Heer war durch eine eschatologische Vision – ein Herrscher, der den Namen eines Propheten trage (Sulaiman(2) ist die arabische Entsprechung von Salomon), werde die Stadt erobern – noch zusätzlich motiviert. Es bestand überwiegend aus Arabern und Berbern und hatte gewaltige Mengen an Nahrungsmitteln und Waffen, darunter auch Naphtha, mitgebracht. Die Angreifer errichteten um Konstantinopel herum notdürftig eigene Belagerungsmauern aus Lehm und isolierten dadurch diejenigen im Innern von ihren Verbündeten.

Doch hatte der arabische Plan eine Achillesferse: Die zum Meer hin liegenden Seiten der Stadt konnten von der arabischen Flotte nicht blockiert werden. Zuerst war es dieses entsetzliche Griechische Feuer – sein Einsatz wurde von den Mauern Konstantinopels vom Kaiser selbst kommandiert – und später der willkommene Treuebruch mehrerer christlicher koptischer Ägypter auf den Schiffen der Muslime, die zur Folge hatten, dass Nachschub, Männer und Moral im Schutz der Dunkelheit vom pechschwarzen Meer aus auch weiterhin ins Innere der Stadt gelangen konnten. Die heimtückischen Strömungen im Bosporus(3) waren eine Falle für muslimische Hilfsschiffe, die vom Marmarameer heraufkamen. Die Araber(6) hatten die Umgebung der Stadt verwüstet, also auch selbst keine Nahrung mehr; in ihren Lagern breiteten sich systematisch Hunger, Angst und Krankheit aus. Ein strenger Winter, in dem die gesamte Region zugeschneit war, führte dazu, dass nicht die Belagerten, sondern die Belagerer das Fleisch getöteter Lasttiere aßen, womöglich gar auf Kannibalismus verfielen.13

Schließlich ordnete der arabische Oberbefehlshaber am Fest Mariä Entschlafung, dem 15. August 718, den Rückzug an. Der Sieg wurde der Beschützerin Konstantinopels zugeschrieben, der Gottesmutter Maria(2), deren Ikone man in einer Prozession um die Mauern getragen hatte.14 Als die erschöpften Bewohner von Konstantinopel realisierten, dass sie die Oberhand gewonnen hatten, versammelten sie sich zu einem letzten Angriff auf den zurückweichenden Feind. Viele Muslime ertranken, andere wurden von den Bulgaren unter Druck gesetzt. Die Überlebenden erreichten mit Mühe und Not Gebiete von Verbündeten und machten sich dann auf den Weg zurück nach Hause.

Diese Ereignisse wurden zur Legende, noch bevor sie Geschichte waren. Die Angriffe, der Heroismus, die verzweifelten Fluchten führen uns ein wiederkehrendes Thema in der Geschichte Istanbuls vor Augen: Diese Stadt führt ein Doppelleben – als realer Ort und als Erzählung.

Die Lieder von den Belagerungen Konstantinopels und den auf dem Meer ausgetragenen Schlachten sollten von späteren Generationen auf Jahrhunderte hinaus an den Lagerfeuern gesungen werden. Mittelalterliche Chronisten und neuzeitliche Quellen malten die erzählten Episoden noch weiter aus: Es hieß, der byzantinische Kaiser Leo III.(1) habe die muslimische Flotte versenkt, indem er den Bosporus(4) mit seinem Kreuz berührte. Viele erklärten, Constans(8) habe ein Kreuz geschwenkt, während seine Soldaten Psalmen sangen, und der muslimische Anführer Muawiyah habe darunter einen Halbmond zur Schau gestellt, während seine Männer auf Arabisch den Koran rezitierten. Die Erinnerungshüter ignorierten, dass die Männer in beiden Heeren wahrscheinlich Griechisch sprachen; dass also Soldaten und Zivilisten durchaus in der Lage gewesen wären, sich zu verständigen, während Beleidigungen und Drohungen hin und her flogen und sie ihre Gebete murmelten.

Sowohl in christlichen als auch in muslimischen Häusern wurde das Jahr 717 zu einem Ereignis epischer Größe und eines aufgeschobenen Sieges. Später unternahmen die Osmanen Pilgerfahrten zu den Moscheen und Heiligtümern, die ihrer Meinung nach zur Zeit der Belagerung innerhalb der Stadt erbaut worden waren.15 In zahlreichen arabischen Quellen wird behauptet, faktisch hätten die Muslime gewonnen – damit verbunden ist der Ausblick auf einen weiteren und vollständigen Sieg über Konstantinopel und seine Gebiete am Ende der Tage.16 Es hieß, der arabische Befehlshaber Yazid(1) I. habe Konstantinopels entnervend widerstandsfähige Mauern vor der Belagerung des Jahres 674 erstiegen und daher später den Beinamen fata al-‘arab, »der junge Held der Araber(7)«, erhalten; und arabische Kommandos seien in die Stadt eingedrungen und hätten als Rache für das unter den Muslimen angerichtete Blutbad in der Hagia Sophia(1) einen byzantinischen Kaiser erhängt. Im Westen werden immer noch Epen von Konstantinopels Drangsalen gesungen: In Tolkiens(1) Herr der Ringe ist die Schlacht auf den Pelennor-Feldern, der zu Land und zu Wasser ausgetragene Kampf um die Stadt Minas Tirith,17 von diesen Angriffen inspiriert. Und jedes Jahr am 15. August danken die Gläubigen in der gesamten christlichen Welt nach wie vor Maria(3) für ihre wundersame Schutzmacht. Dass Konstantinopel nicht gefallen war, erhöhte ihren Ruhm. Die Stadt nahm in der Vorstellung vieler Menschen geradezu phantastische Dimensionen an.

Zusammen mit diesen Geschichten eines großen Triumphs erhalten wir durch byzantinische Quellen die sichere Information, dass um die Zeit der Belagerungen von Konstantinopel Araber(8) die Insel Rhodos(1)(2) besetzten, eines der antiken Weltwunder, den Koloss von Rhodos, auseinanderbrachen und an einen jüdischen Händler verkauften (einige behaupten, der Koloss sei während eines Erdbebens im Jahr 228 v. Chr. umgestürzt, andere sagen, er sei von mehreren römischen Kaisern wiederhergestellt oder faktisch ins Meer geworfen worden). Dieses antike Ungetüm wurde dann von neunhundert Kamelen (einige wenige leicht erregbare Chronisten sprechen gar von dreitausend Kamelen) weggeschafft, um als Alteisen verkauft zu werden(2).

Das Ereignis wird zwar in einer Reihe von Texten aus dem Mittelalter und vielen namhaften modernen Geschichtsdarstellungen enthusiastisch wiedergegeben, erscheint jedoch in keiner einzigen arabischen Quelle. Vielleicht handelt es sich um einen Akt verschämter Leugnung durch Verschweigen – vielleicht aber ist diese »Historie« auch schlicht eine erfundene Geschichte mit all den typischen Merkmalen von Vandalismus und Philistertum, die man einerseits von Juden, andererseits von »Sarazenen« erwartet, das Ganze gewürzt mit einer Spur eschatologischer Angst(3).18

Das kulturelle Gedächtnis, die Hoffnung der Geschichte, ist häufig genauso wirkmächtig wie das historische Faktum.

Wir haben damit Istanbul in Reinkultur vor uns. Einen Ort, an dem Geschichten und Geschichte, Wirklichkeit und Erfindung kollidieren und sich aneinander entzünden; eine Stadt, die über Ideen und Informationen wacht und aus ihnen ihr Denkmal formt. Einen Preis, der als Abstraktion und als Traum ebenso viel bedeutete wie als Realität. Eine Stadt, die über Jahrhunderte hinweg eine zeitlose Tradition aufrechterhalten hat, die so alt ist wie die Geburt des modernen Geistes – in der ehemalige Erzählmuster aufbewahrt sind, die uns Aufschluss darüber geben, wer wir gegenwärtig sind. In harte historische Begriffen gefasst, markierten die Fehlschläge der Araber(9) tatsächlich einen Wandel in der Zielrichtung. Man konzentrierte sich nun nicht mehr darauf, dem Byzantinischen Reich »den Kopf abzuschlagen«, sondern auf die Eroberung der umliegenden Territorien im Osten, Süden und Südwesten. Das hatte eine siebenhundert Jahre währende unsichere Parallelexistenz der beiden monotheistischen Religionen zur Folge, in der es beides gab, Kollaboration und Konflikt. Niemand aber vergaß, dass »die Gräte im Rachen Allahs« nicht entfernt worden war.

Für die Menschen vieler Glaubensrichtungen, für den Osten wie für den Westen, ist Istanbul nicht nur eine Stadt, sondern eine Metapher, eine Idee – eine Möglichkeit, die beschreibt, wohin wir unsere Vorstellungskraft schweifen, wo wir unsere Seele einen Ort finden lassen wollen. Eine Stadt, die Abstraktionen und Armeen, Götter und Güter, Herz und Leib und Vernunft und Geist anspornt, sich auf den Weg zu machen.

ANMERKUNG ZU DEN NAMEN

Istanbul hat nicht nur als Stadt viele Namen, es gibt darüber hinaus zahlreiche Varianten, die Namen seiner Herrscher, Einwohner, Protagonisten, Territorien, Feinde und Verbündeten zu transkribieren, abzubilden und zu buchstabieren. Im Großen und Ganzen habe ich mich etwa bei den oströmischen Kaisern für die griechischen(4) Formen entschieden, doch habe ich auch gängige Formen wie Michael verwendet, wo es angemessen war. Absolute Stringenz ist praktisch unmöglich und hat außerdem auch etwas tendenziell Eitles an sich – im Zusammenhang mit einer Stadt, die häufig als »leuchtend« beschrieben wurde, sehe ich mein Ziel eher im Erhellen und nicht im Verdunkeln. Türkische Lautschrift wurde mit der freundlichen Unterstützung von Robin Madden, Lauren Hales sowie meinem großartigen Korrektor Peter James und Fahnenlektor Anthony Hippisley verwendet.1

Der klassische griechische(5) Name Byzantion (lateinisch Byzantium) geht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das protoindoeuropäische *bhugo, Bock, zurück. Möglicherweise hat es eine lokale thrakische(1) Wurzel – Buz –, die einen Bezug zu Gewässern und Quellen andeutet. Jedenfalls ist der große natürliche Reichtum an Flora, Fauna und Geologie von Istanbuls Umland im ersten historischen Namen der Stadt Byzantion gefasst. Konstantinopel leitet sich vom lateinischen Namen Constantinus ab – also dem Namen Konstantins des Großen(1), des römischen Kaisers, der die Stadt im Jahr 324 n. Chr. neu gründete und damit am Anfang einer Zivilisation stand, die allerdings erst im 16. Jahrhundert (genauer: 1557 von dem Historiker Hieronymus(1) Wolf(1)) als byzantinisch bezeichnet wurde. Seit dem Jahr 330 n. Chr. wurde die Stadt auch Neues Rom(2) genannt; der übliche persische und mittelöstliche Name für das Byzantinische Reich war und ist Rum. Istanbul ist entweder eine türkische mundartliche Version der griechischen Wendung eis ten (oder tin) polin – in die Stadt, in Richtung der Stadt; oder von »Islam-Bol«, vom Islam erfüllt. Die Griechen bezeichneten den Ort seit spätestens dem 10. Jahrhundert n. Chr. als Stinpolin, Stanbulin, Polin oder Bulin. Nach der osmanischen Eroberung ergab sich eine willkommene Ähnlichkeit zwischen der türkischen Form von Stanbulin, Stambol, und Islam-bol. Zwar erfreute man sich aufseiten der Osmanen am religiösen Klang des Namens Islam-bol, doch bis zum 20. Jahrhundert nannten auch die Osmanen die Stadt Kostantiniyye oder Konstantiniye, eine Version des arabischen al-Qustantiniyya. Der Name Konstantinopel/Kostantiniyye wurde offiziell erst abgeschafft, als das türkische Postgesetz vom 28. März 1930 durchsetzte, dass in Postadressen der Name Konstantinopel nicht mehr verwendet werden durfte. Nun hieß die Stadt offiziell Istanbul. Mehr als 1500 Jahre lang wurde die Metropole in der gesprochenen und geschriebenen Sprache einfach nur als He Polis – die Stadt – oder Ten Polin – in die Stadt bezeichnet; Fulin, der chinesische(1) Name für das Byzantinische Reich, ist eine abgewandelte Form von Polin.2

Die Ansiedlung in ihrer frühesten historischen Form als Byzantion wird in der hebräischen Bibel und dem griechischen(6) Neuen Testament nicht einmal gestreift (eine Erwähnung des Bosporus(5) wurde jetzt als Missverständnis nachgewiesen).3 Obwohl Istanbul später eine florierende jüdische Bevölkerung besaß, war dieser Ort in der biblischen jüdischen Tradition immer »anders«, eine mystische Präsenz – weder Stadt der Sünde noch Gelobtes Land. In der Ilias kommt Byzantion ebenfalls nicht vor. Auch für die frühen Griechen war der Landbogen, der vom Bosporus ins Marmarameer hineinbrach, ein bewaldetes Schwellengebiet, das sein Geheimnis für sich behielt, ein geisterhafter Ort am Rande der Zivilisation. Der Überlieferung nach zeigte der Teufel Jesus den Bosporus, das Goldene Horn(2) und die byzantinische Akropolis von Çamlıca in Kleinasien, um ihm »all die Macht und Herrlichkeit der Welt und ihrer Reiche« vor Augen zu führen: einen Ort, der den Eindruck von Perfektion erwecken sollte, die Inkarnation von Versuchung.

Im kulturellen Durcheinander der Stadt gab es neben Römern, die seit dem 7. Jahrhundert n. Chr. nicht mehr Lateinisch sprachen, griechischsprechende Muslimen, die dort bis zum 9. Jahrhundert lebten. Die lateinischen Angreifer des Jahres 1204 bezeichneten die Bewohner als Graikoi (Niketas Choniates(1), Historia), wohingegen die Christen der Stadt die antike griechische(7) Bezeichnung Hellenen wegen des heidnischen Beigeschmacks vermieden und den Begriff Romaios vorzogen. Die Griechen des 21. Jahrhunderts nennen sich auf sämtlichen Kontinenten noch heute Romaioi – Römer, Kinder des Neuen oder Zweiten Rom(3). Griechischstämmige Personen aus Istanbul werden auch heute noch Romoi oder Rumlar genannt.

Die Einwohner dieser Stadt zwischen 700 v. Chr. und 1450 n. Chr. als »Römer« zu bezeichnen, stellt zwar psycholinguistisch eine einschneidende Entscheidung dar, ist jedoch tendenziell eher verwirrend. Daher werden in diesem Buch als Römer die Römer der Antike bezeichnet, diejenigen hingegen, die in der Stadt lebten, die vormals Byzantion, dann Byzantium, dann Konstantinopel hieß, bezeichne ich als Byzantiner. Byzantium bezieht sich auf die Stadt, Byzanz auf das Reich oder auf die Idee vom Reich der Byzantiner. Der Name der Stadt selbst wurde mit Sicherheit sowohl verwendet, um die Stadt zu rühmen, als auch, um sie als Einheit abzugrenzen. Im Mittelalter wurde die Zivilisation Konstantinopels im Westen jahrhundertelang als konstantinopolitanisch bezeichnet. Allerdings war Konstantinopel unmittelbar vor dem Zeitpunkt, da die Stadt im Jahr 1453 an die osmanischen Türken fiel, praktisch nur noch eine von Mauern umgebene Ruine, zu der kaum mehr umliegendes Land gehörte.4

Die Osmanen in Istanbul verwendeten die Bezeichnung Türke ursprünglich, um eine reichlich ungehobelte Person aus der tiefsten Provinz zu bezeichnen. Heute wird im städtischen Slang an der Westküste der USA als Türke ein junger, extrem draufgängerischer Mann bezeichnet, ein Ausdruck der volkstümlichen, jahrhundertealten stereotypischen Angst, die kürzlich in der politischen Rhetorik wiederbelebt wurde, als die Türkei(2) sich um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union bewarb.5 (Im Deutschen(1) hat das Verb »türken« die Bedeutung von fingieren oder fälschen – man denke etwa an »getürkte Karten«, AdÜ.) Im Jahr 1578 fragte John Lyly, ob »je ein Schelm so böse und barbarisch war, je ein Türke so roh und niederträchtig«;6 und in Wörterbüchern des Jahres 1699 wird »Türke« ganz allgemein als grausamer Mensch definiert. Der Ausdruck Ottomane bezeichnete zwar auch ein niedriges Schlafzimmermöbel ohne Lehne, doch wurde Ottomane bzw. Osmane in den Empfangszimmern des Westens häufiger in Bezug auf die osmanische Gefahr verwendet, welche die christliche Zivilisation bedrohte.7

Der Bosporus(6) (die Rinderfurt) erscheint im Lateinischen und Griechischen des Mittelalters als Bosphorus bzw. Bosphoros. Ich tendiere dazu, die Form Bosphorus zu verwenden, die (im Unterschied zum Deutschen(2)) im Englischen stärker verbreitet ist (in der Übersetzung hingegen wird die im Deutschen übliche Form Bosporus verwendet, AdÜ). Wenn ich einen allgemeinen, nicht zeitspezifischen Aspekt der Stadt thematisiere, verwende ich den Namen Istanbul oder, wenn die Quellen es nahelegen, Byzantium, Konstantinopel oder Kostantiniyye. Das ist vielleicht stellenweise chronologisch nicht ganz angemessen, aber ich glaube, die längst verblichenen Bewohner von Byzantion, Byzantium, Konstantinopel und Istanbul werden mich verstehen und – so hoffe ich – Nachsicht mit mir haben.