Eine Nacht in der Sternwarte

»Oh, Stella, ich hab schon richtig Herzklopfen, und du?« Pauline hüpfte aufgeregt neben mir her und redete wie ein Wasserfall.

»Also …«, begann ich, doch meine beste Freundin plapperte einfach weiter.

»Was war der ungewöhnlichste Ort, an dem du je übernachtet hast?«, fragte sie. »Bei mir war es Oma Hannes Partykeller. Da steht ja immer noch ein uralter Plattenspieler und es hängen lustige Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand. Ich glaube, Oma hatte früher echt viel Spaß auf ihren Feiern. Außerdem gibt es eine richtige Theke und Gläser in allen möglichen Größen und Formen! Aber halt, nein, noch besser fand ich die Pyjamaparty bei Helena auf dem Dachboden. Oder die Schulübernachtung. Weißt du noch, wie Clemens und Max die ganze Zeit am Fenster standen und nach Außerirdischen Ausschau gehalten haben? Mannomann, diese beiden …«

Wir hatten wirklich schon einige Übernachtungen zusammen erlebt. Trotzdem gab es für mich diesen einen besonderen Ort, an dem ich am allerliebsten schlief. »Ich übernachte am liebsten in meinem Baumhaus«, meinte ich. »Klingt vielleicht nicht so spektakulär, aber manchmal passieren dort äußerst ungewöhnliche Dinge.«

Pauline lachte auf. »Das kannst du wohl laut sagen. Das mit Vega ist einfach das Verrückteste, was ich jemals gehört habe. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie einfach so vom Himmel gefallen ist.«

»Ich auch nicht«, antwortete ich und dachte wieder an meine erste Begegnung mit dem Sternschnuppenmädchen. Vega hatte einfach so in unserem Garten gestanden, mitten in der Nacht. Barfuß und in einem wunderschönen, glitzernden weißen Kleid. Ich weiß noch genau, dass ich gedacht hatte, ich würde träumen. Doch Vega war kein Traum, im Gegenteil: Sie war quicklebendig und wirbelte hier seit einiger Zeit alles durcheinander – aber auf eine gute Art! »Ohne Vega würden wir heute bestimmt nicht in der Sternwarte übernachten«, sagte ich.

»Ach, wer weiß«, meinte Pauline. »Irgendwann bietet Aurora das bestimmt als öffentliche Veranstaltung für alle an. Schlafen unterm Sternenhimmel, oder so was. Sie liebt doch verrückte Ideen!«

Aurora war die Besitzerin der Sternwarte und hatte Vega bei sich aufgenommen. Erst war mir die Frau ein bisschen unheimlich gewesen, aber im Nachhinein hatte alles einen Sinn ergeben. Als Sternschnuppenmädchen war Vega in der Sternwarte wahrscheinlich am besten aufgehoben.

»Da vorne ist es schon«, sagte ich und deutete auf das wunderschöne alte Backsteingebäude mit einer großen Kuppel in der Mitte und einer kleineren links davon.

Pauline hielt an und kniff die Augen zusammen. »Aurora steht doch schon oben am Fenster und winkt, oder?«, fragte sie und deutete auf die linke Seite des Gebäudes. Dort lag nämlich Auroras Wohnung.

Mein Blick war allerdings nur auf den Balkon gerichtet. »Ich habe ihr doch gesagt, dass sie das nicht machen soll!«, schimpfte ich und beschleunigte meine Schritte.

»Was denn?«, fragte Pauline. »Ist doch nichts Schlimmes dabei!«

»Nichts Schlimmes? Sie könnte runterfallen und sich die Beine brechen!«, antwortete ich.

»Aber das Fenster ist zu, nehme ich an«, sagte Pauline.

Ich fing an zu rennen, denn ich konnte mir das nicht länger ansehen. »Ich meine nicht Aurora, sondern Vega. Guck doch mal, wo sie sitzt.«

»Oh nein!«, rief jetzt auch Pauline und lief los. »Wahrscheinlich will sie dem Himmel wieder ganz nah sein.«

Vega hatte wie selbstverständlich auf der Brüstung Platz genommen. Sie ließ die Beine baumeln und blickte verträumt nach oben. Das tat sie häufiger, weil sie hoffte, sich an irgendein Detail aus ihrem früheren Leben zu erinnern. Als sie uns entdeckte, fing sie mit beiden Armen wie wild an zu winken.

»Vorsicht!«, rief ich, denn ich hatte das Gefühl, sie würde jeden Moment vornüberkippen.

»Ich komme zu euch runter!«, rief Vega, und kurz dachte ich, sie würde von der Brüstung springen. Zuzutrauen war ihr das, schließlich war sie vor einiger Zeit aus viel größerer Entfernung vom Himmel auf die Erde gefallen, ohne sich zu verletzen. Doch sie schwang die Beine zurück auf den Balkon und lief ins Innere der Kuppel.

»Ein Glück«, sagte Pauline und wurde wieder langsamer. Wir gingen um die Sternwarte herum zum Hintereingang, wo Vega schon auf uns wartete.

»Hey, ihr zwei, da seid ihr ja!«, rief sie und hielt uns die Tür auf. »In einer halben Stunde öffnet die Sternwarte. Aurora bietet heute eine Führung an. Wenn wir Lust haben, können wir dabei sein.«

»Oh ja«, sagte ich. »Das ist bestimmt spannend.«

Jedes Mal, wenn ich durch die Sternwarte zu Auroras Wohnung hochging, war ich fasziniert von den alten Sternkarten, die überall hingen, den verschiedenen Teleskopen und den Weltraum-Fotografien. Es hatte fast schon etwas Feierliches, durch die Backsteinbögen zu schreiten.

»Es muss ein tolles Gefühl sein, an so einem Ort leben zu dürfen«, schwärmte Pauline, der es offenbar genauso ging wie mir.

»Ist schon nicht schlecht«, gab Vega zu. »Allerdings weiß ich ja auch nicht, wie es ist, irgendwo anders zu leben.«

»Bekommst du nicht Heimweh, wenn du das alles hier siehst?« Ich deutete nach oben auf die dunkelblau gestrichene Decke mit den goldenen Sternbildern drauf.

Vega schien über meine Frage nachzudenken. »Heimweh nicht direkt«, sagte sie schließlich. »Ich habe ja keine Erinnerungen an mein Leben als Sternschnuppe und weiß gar nicht, wen oder was ich genau vermissen könnte. Aber manchmal überkommt mich so eine unbestimmte Sehnsucht und mein Herz wird schwer. Wisst ihr, was ich meine? Ich glaube, ich bin dann einfach etwas melodisch.«

Auch wenn das wieder einer von Vegas typischen Versprechern war, über die wir häufig lachen mussten, wusste ich genau, welches Gefühl sie da beschrieb. Melancholisch wurde ich nämlich auch manchmal, wenn ich an meine verstorbene Mama dachte.

Wir gingen die Treppe zu Auroras Wohnung hoch und wurden dort schon erwartet. »Seid gegrüßt, meine Hübschen«, flötete Aurora und schloss uns in ihre Arme. Wie immer trug sie ein langes, weites Kleid mit einem wilden Muster drauf, dazu eine Kette mit großem Anhänger. Ihre glatten Kleopatra-Haare waren ordentlich gekämmt und wurden von einem goldenen Band zurückgehalten.

Aurora zeigte auf ein orientalisch anmutendes Sitzkissen. »Legt eure Taschen erst mal hier ab. Euer Schlaflager machen wir dann nach der Führung fertig. Nicht dass es sich die Besucher auf euren Matratzen gemütlich machen.«

»Führst du die auch durch deine Wohnung?«, fragte Pauline irritiert.

Aurora lachte. »Natürlich nicht. Aber wollt ihr etwa in meiner langweiligen Wohnung übernachten?«

»Äh, wo denn sonst?«, meinte ich.

Aurora stemmte die Arme in die Hüften. »Ihr seid hier in einer Sternwarte«, antwortete sie. »Da schlaft ihr natürlich unter der Sternenkuppel. Ihr dürft das einzigartige Gefühl von Freiheit und Unendlichkeit genießen, ohne Angst haben zu müssen, dass ihr nass geregnet oder von einem Bären gefressen werdet.«

»Vom Großen Bären oder vom Kleinen Bären?«, fragte Vega mit ernster Miene, und diesmal musste ich wirklich loslachen. »Aurora meint wahrscheinlich nicht die Sternbilder, sondern echte Bären«, sagte ich. »Mit Fell und großen Tatzen. Aber die laufen hier bei uns eigentlich nicht frei herum.«

»Na, dann ist ja gut«, sagte Vega und ging durch einen Vorhang in das Wohnzimmer.

»Setzt euch doch«, meinte Aurora und quetschte sich neben ihre Katze auf den Sessel. »Und bedient euch bitte.« Auf dem kleinen Tisch standen eine Schale Popcorn, Wasser und Apfeltee. Das war Vegas Lieblingsgetränk, seit Theo ihr den mal in unserem Garten serviert hatte.

»Wie geht es denn voran mit den Renovierungsarbeiten im Findefundus?«, fragte Aurora und warf sich eine Handvoll Popcorn in den Mund.

Der Findefundus war Mamas Kostümverleih, der sich unten bei uns im Haus befand und seit vielen Jahren geschlossen war. Am nächsten Wochenende sollte er allerdings wiedereröffnet werden – und das hatten wir größtenteils Vega zu verdanken.

»Papa ist ziemlich im Stress«, berichtete ich. »Mit dem Renovieren sind sie so gut wie fertig, aber die Planung für die Feierlichkeiten läuft wohl etwas zäh. Er hat sich da irgendetwas in den Kopf gesetzt, was nicht so einfach ist.«

»Ja?«, fragte Pauline. »Was denn?«

»Vielleicht kann ich ihm helfen«, sagte Vega und begann, wie verrückt zu zwinkern. Das tat sie immer, wenn sie versuchte, einen Wunsch zu erfüllen. Schließlich war sie eine Sternschnuppe! Bislang hatte das leider noch nicht geklappt. Also, mit kleineren Wünschen nicht. Mit riesengroßen Herzenswünschen schon.

»Du hast uns schon geholfen«, sagte ich. »Ohne dich wäre der Findefundus wahrscheinlich für immer geschlossen geblieben. Das werde ich dir nie vergessen, echt.«

Vega lächelte verlegen. »Hab ich doch gerne gemacht. Auch wenn ich gar nichts dafür konnte.«

In der letzten Sternschnuppennacht im Sommer hatte ich mir gewünscht, dass Papa nicht so oft traurig ist wegen Mama und alles etwas lockerer wird. Und dann kam Vega zu uns und hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Papa hatte das erste Mal seit Jahren den Findefundus betreten und am Ende sogar beschlossen, ihn wieder zu eröffnen.

»Er hat sich vorgenommen, alles genauso zu machen wie damals, als der Findefundus das allererste Mal eröffnet wurde«, erklärte ich.

»Das ist doch schon Ewigkeiten her, oder?«, fragte Pauline.

»Zwanzig Jahre ungefähr«, sagte ich. »Opa hatte damals mit seinen Tauschnachbarn das Büfett zubereitet und viele davon sind weggezogen oder sogar gestorben. Jetzt muss er zusehen, dass er an die Rezepte kommt. Und das ist nur eines von vielen Problemen.«

Aurora seufzte. »Ach je, da hat er sich aber in etwas verrannt, der Gute. Wahrscheinlich wird er sich nur schwer davon abbringen lassen.«

»Das glaube ich auch«, antwortete ich.

Natürlich freute ich mich über die Wiedereröffnung, allerdings war ich auch froh, dass ich dem Chaos heute mal entkommen war und bei Aurora übernachten durfte. »Aber eine Sache ist echt cool«, sagte ich und klopfte auf meine Hosentasche. »Papa hat mir Geld gegeben, damit wir morgen auf den Flohmarkt gehen können. Wir sollen noch nach ein paar ausgefallenen Requisiten für den Laden Ausschau halten.«

»Requi…was?«, fragte Vega entgeistert.

»Requisiten«, wiederholte Pauline. »Kleinigkeiten, eine Maske, ein Handspiegel oder ein Bild in einem alten Rahmen. So was in der Art.«

»Ahhhh«, machte Vega. »Ihr meint Schnackschnick! Das ist übrigens eines meiner Lieblingswörter, die ich hier bei euch auf der Erde aufgeschnappt habe.«

Pauline lachte. »Ich schreibe bald ein Buch über Vega-Wörter. Die sind viel besser als das Original.«

Aurora blickte auf die Uhr. »Oh, schon so spät. Ich werde gleich mal nach unten laufen und die Tür aufschließen. Wenn alle Besucher da sind, beginne ich mit der Führung. Also in zehn Minuten, einverstanden?«

Kurze Zeit später gingen wir ebenfalls nach unten und stellten uns zu den Besuchern, die inzwischen eingetroffen waren.

»Es geht gleich los«, flötete Aurora und schloss ihr Kassenhäuschen ab.

Es hatten sich etwa fünfzehn Leute versammelt: eine Gruppe älterer Damen, die sich mit lauten Ohs und Ahs umblickten, Nina aus unserer Klasse mit ihren Eltern, zwei von Opas Tauschnachbarn sowie ein Mann mit lustig abstehenden Haaren, der ein rothaariges Mädchen dabeihatte, das wahrscheinlich etwas jünger war als wir.

Pauline stieß mich in die Seite. »Das da drüben ist doch Theo, oder?«

»Stimmt«, sagte ich. »Was macht der denn hier?« Die Antwort ergab sich von selbst, als ich ein blondes Mädchen mit glatten, langen Haaren neben ihm entdeckte, um das er seinen Arm gelegt hatte. Mein Bruder war schon siebzehn und hatte immer mal wieder eine Freundin. Diese hier musste neu sein, jedenfalls kannte ich sie noch nicht. Aber so verliebt, wie sie ihn anblickte und ihren Kopf an seine Schulter lehnte, schien es schon etwas ernster zu sein.

Als Theo uns entdeckte, lächelte er verlegen und hob eine Hand zum Gruß.

»Willst du gar nicht zu ihm gehen?«, fragte Vega.

»Nein«, sagte ich. »Ich glaube, er möchte nicht gestört werden.« Ich war lange genug kleine Schwester, um zu wissen, dass es manchmal besser war, sich zurückzuhalten.

»Klingelingeling!«, rief Aurora und klatschte in die Hände. »Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kinder! Ich heiße Sie und euch herzlich in meiner guten alten Sternwarte willkommen. Unser astronomisches Observatorium, wie eine Sternwarte in Fachkreisen auch genannt wird, wurde im Jahr 1888 erbaut und verfügt über zwei Kuppeln. In der einen werde ich Ihnen zum Abschluss dieser kleinen Führung unseren Sternenhimmel zeigen, in der anderen lebe ich zusammen mit meiner Nichte.«

Da niemand wissen durfte, dass Vega ein Sternschnuppenmädchen war, gab Aurora sie als ihre Nichte aus. Das schien bisher auch ganz gut zu funktionieren. Sie winkte uns in den ersten Raum, der vom Backsteinbogengang abging und in dem ein paar interessante Fotografien hingen.

Mit der Klasse waren wir schon in ein paar Museen gewesen, da hatte ich die Führungen meist todlangweilig gefunden, aber Aurora erzählte lauter spannende Dinge über die Bilder und die alten Teleskope, die schon lange nicht mehr in Betrieb waren.

Die Zeit verging wie im Flug. »Sag mal, kennst du dieses Mädchen?«, fragte Pauline mich, als wir im großen Kuppelsaal auf den Sesseln Platz nahmen. Sie deutete auf das Kind mit den roten Haaren, das mit seinem Papa da war und uns jetzt zuwinkte, bevor es sich kichernd wieder abwandte.

»Noch nie gesehen«, antwortete ich, grübelte aber nach, ob mir das Mädchen von irgendwo her bekannt vorkam.

Aurora machte das Licht aus und ließ den Sternenhimmel erstrahlen.

»Miau!«, schrie Vega in die Dunkelheit hinein, und ein paar Besucher fingen an zu kichern.

»Was haben die denn?«, fragte Vega. »Ist ja wohl der Wahnsinn, dieser Sternenhimmel.« Ich erklärte ihr nicht zum ersten Mal, dass es »Wow« und nicht »Miau« hieß und die Leute deshalb lachten. Aber das war Vega egal. »Da ist der Polarstern!«, rief sie und zeigte auf einen der helleren Punkte in der Kuppel. »Der gehört zum Sternbild des Kleinen Bären.«

»Pst«, machte ich. »Das erklärt Aurora bestimmt gleich alles.«

»Aber ich könnte ihr helfen. Ich weiß echt viel über die Sterne«, sagte sie etwas leiser. »Wisst ihr, dass der Polarstern gar nicht der hellste Stern am Himmel ist? Das ist nämlich Sirius. Und Sirius gehört zum Sternbild Großer Hund, das ist kein Witz.« Sie kicherte. »Wenn ich das nächste Mal bei euch bin, zeige ich es Jupiter.«

Ich lächelte. Das würde Jupiter, unserem verfressenen Neufundländer, bestimmt gefallen. Ich war der Überzeugung, dass er alles verstand, was wir sagten, und ein bisschen Sternkunde konnte sicher nicht schaden.