Titel

Phil Klay

Den Sturm ernten

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer

Suhrkamp

Widmung

Für Jessica, meine große Liebe,
und für unsere Kinder,
Adrian Felipe und Marcos Andres

I

berichte treulich,
wie wir für das Gemeinwohl
metzeln
Seamus Heaney, »Verwandtschaft«

1

ABEL1986-1999

Mein Dorf befand sich auf einem kleinen Hügel am Fluss, an dessen Ufern nichts als Sand lag. Mittags musste man schnell gehen, um sich nicht die Füße zu verbrennen, aber wenn es regnete, machte das Hochwasser unsere Hauptstraße zu Schlamm. Wir Kinder liefen dann alle nach draußen, rutschten herum und schubsten einander, spielten im Matsch, bevor die Sonne ihn hart werden ließ und der Wind ihn als Staub davontrug.

Von diesem Teil meines Lebens zu reden ist, als spräche ich von einem anderen Menschen, von der Figur einer Geschichte, einem Jungen mit einem Vater, einer Mutter und drei Schwestern, eine hübsch, eine klug und eine gemein. Einem Großvater, der zu viel trank und alle beim Domino schlug. Einem Lehrer, der glaubte, der Junge habe Talent. Einem Pfarrer, der ihn für gottlos hielt. Von Freunden und Klassenkameraden und Feinden und Mädchen, die er mit immer größerem Staunen beobachtete, wie Jimena, die dichte Locken und helle Haut hatte und von einem der örtlichen Guerilleros schwanger wurde. Die meisten glauben, ein Mensch sei das, was man in Fleisch und Blut herumlaufen sieht, aber das ist dumm. Knochen und Fleisch und Blut existieren, aber existieren heißt nicht leben; Knochen, Fleisch und Blut allein machen nicht den Menschen aus. Ein Mensch entsteht, wenn es eine Familie gibt, ein Dorf, einen Ort, an dem die Leute einen kennen. Wo jeder, der einen kennt, einen kleinen, unsichtbaren Spiegel hält, und jeder einzelne Spiegel von Verwandten, Freunden und Feinden ein anderes Bild zurückwirft. Der eine Spiegel zeigt den lieben, dicken Jungen, der ich für meine Mutter war. Ein anderer den kleinen Racker, den mein Vater kannte. Wieder ein anderer zeigt die fürchterliche Nervensäge, die ich für Gustavo war. Ein Mensch entsteht, wenn sich all diese Spiegelungen um einen Körper versammeln. Aber was passiert, wenn einem jeder dieser Menschen einer nach dem anderen genommen wird? Ganz einfach. Der Mensch stirbt. Und Knochen und Fleisch und Blut existieren weiter, wandeln auf Erden, als gäbe es den Menschen noch, obwohl Gott und die Engel wissen, dass es nicht so ist.

Also sprechen wir nicht von dem Jungen, als wären er und ich derselbe Mensch anstatt zweier Fremder, von denen der eine vor der Verbrennung mit diesem Körper herumlief und der andere danach. Sprechen wir von diesem Jungen, dessen Erinnerungen und Gesicht ich teile, wie von dem toten Kind, das er ist. Nennen wir ihn Abelito.

Abelito war ein beliebter, dicker Junge. Jeden Tag ging er zu Fuß ins Nachbardorf zur Schule der Männer aus Amerika, die den Kindern Mathematik und Lesen beibrachten, ihnen aber auch von der persönlichen Beziehung zu Jesus erzählten und von einer Gruppe Pfarrer, die Jesuiten hießen und die Bibel gestohlen hätten, um die Worte zu ändern, damit die Menschen dem Teufel in die Arme liefen. Der HERR werde obsiegen und uns erretten, wenn wir nur glaubten, sagten sie, und dieses Glauben sei ein Augenblick, in dem es vom Himmel herniederstrahlte und wir wüssten, dass wir erlöst seien. Mona, die gemeine Schwester, sagte, sie sei errettet und es sei wunder-wunderschön, aber dass Abelito dies selbst nicht spüre, bedeute, er komme in die Hölle. Zwei Wochen später ging seine Mutter mit ihm ins übernächste Dorf zur Beichte, und als Abelito Pater Eustacio von Monas Errettung erzählte, hatte der alte Pfarrer das Gesicht verzogen und all das dumm genannt, denn nur ein grausamer Gott würde auf eine so alberne Art und Weise verdammen und erretten, und Gott sei nicht grausam, sondern in Wahrheit gewaltige, furchteinflößende Liebe. Dann holte er den kleinen Jungen aus dem Beichtstuhl und zeigte ihm den Haut-und-Knochen-Jesus über dem Altar, einen leidenden Christus aus Holz mit in Qualen verkrampften Muskeln und einer blutigen Wunde in der Seite, die aufklaffte, als wollte sie einen verschlingen. Abelito hatte Albträume von diesem Bildnis, aber Pater Eustacio sagte, er solle sich das Leiden anschauen und darin die Liebe Gottes sehen, der Seinem Sohn so etwas angetan hatte. Gott ist Liebe, sagte Pater Eustacio, und Er verteilt keine Errettung, damit man sie sich wie eine Krone aufsetzt. Und Abelito sagte, Also ist meine Schwester gar nicht errettet? Und Pater Eustacio sagte, Nein, was Abelito sehr froh stimmte. Und von dem Tag an nickte Abelito zwar, wenn die Missionare vom persönlichen Jesus erzählten, der zu ihnen kommen und sie wiedergeboren machen würde, aber insgeheim wusste er, dass er dem furchterregenden Christus von Cunaviche treu bleiben würde.

An manchen Tagen nahm Abelitos Großvater ihn und seine schlaue Schwester Maria mit und zeigte ihnen, wie man Boote aus Chachajo schnitzt, einem guten, harten Holz, aus dem auch die besten Kreisel waren, und dann setzten sie sie in den Fluss und schauten ihnen hinterher, wie sie flussabwärts trieben. Abelitos Großvater sagte, alles Wasser fließe zum Ozean, und eines Tages werde er selbst zum Sterben dorthin gehen, wo am Ende alles ankommt.

Maria schnitzte ihre Boote aus Balsa, das einfacher zu bearbeiten ist, aber Abelito nahm lieber das härtere Holz, weil er wollte, dass seine Boote den Ozean erreichten. Abelitos Großvater war weit gereist und erzählte ihm wundersame Geschichten über die Gegenden weit, weit flussabwärts, jenseits der Berge und bis in die Küstenregionen, wo die Leute faul und dumm seien und ein Spanisch sprächen, das klang, als hätten sie Kieselsteine im Mund, wo es Schlangen gebe, die mit einem Biss einen Ochsen töten könnten, und Menschen mit pechschwarzer Haut und noch viele andere erstaunliche Dinge.

Den Tod lernte Abelito kennen, als Marta, seine schöne Schwester, krank wurde und weder der Pfarrer noch die Missionare sie retten konnten, weil sie mit dem bösen Blick belegt worden war. Nach ihrem Tod gab Abelitos Vater den Kindern Armbänder, in die ein winziges Holzkreuz eingewoben war. Es wird euch beschützen, sagte er. Damals verstand Abelito nicht, warum irgendjemand einen anderen mit dem bösen Blick belegen sollte, besonders jemanden wie Marta, die so schön war, dass es immer alle erwähnten, was für ein schönes Kind. Wenn Abelito durchs Dorf ging, schaute er den alten Frauen tief in die Augen, um zu sehen, ob sie gut oder böse waren, aber er konnte es nie erkennen und sich schlicht nicht vorstellen, wie irgendjemand Freude daran haben konnte, Kinder zu töten.

Abelitos Vater spielte gern Spiele mit seinen Kindern. Eins davon hieß »Bär«; dabei stand er bedrohlich brummend am Fluss, und die Kinder mussten heranlaufen, um ihn zu kitzeln, und wen er erwischte, den warf er ins Wasser. Ein anderes war »Pferd«, dabei kletterten sie ihm auf den Rücken und er rannte wiehernd die Straße entlang. Abelito spielte auch Cinco Huecos mit den anderen Kindern von Sona. Sie zeichneten mit einem Stock ein großes Quadrat auf die Straße und dann kleinere Quadrate hinein. Jedes Kind schrieb einen kleinen Buchstaben in sein Quadrat. Ein A für Abelito. M für Maria, die überhaupt nicht gut in dem Spiel war. F für Franklin, der stark und geschickt war und gerne prahlte und die anderen Kinder verhöhnte, bevor er den Ball warf. Dann drehten sie sich um, in der einen Hand einen Ball, in der anderen ein Stöckchen, und sie warfen sich das Stöckchen über die Schulter. Wenn es in ihrem Quadrat landete, versuchten sie, die anderen mit dem Ball abzuwerfen. Ich weiß nicht mehr, wer es sich ausgedacht hatte, aber es war Abelitos Lieblingsspiel. Manchmal kamen Männer auf Motorrädern vorbeigefahren, und die Reifen machten ihre Quadrate kaputt, aber die Kinder durften nichts sagen und nicht mal böse schauen, weil ihre Eltern ihnen gesagt hatten, dass die Männer zu den Paracos gehörten.

Noch besser als die Spiele gefiel es Abelito aber, mit seinem Vater an ihrem Haus zu arbeiten. Seit Abelito denken konnte, werkelten sie daran. Als er gerade laufen konnte, hatte er seinem Vater zugesehen, wie er einen kleinen Fleck Dschungel freihackte. Hier kocht deine Mutter dann, hatte er gesagt und auf eine Ecke am Boden gezeigt. Und hier schlafen deine Schwestern und du.

Dann hatte er Stein für Stein eine Wand gebaut. Wann immer er Geld hatte, kaufte er einen billigen Sack Zement, und die Kinder halfen ihm beim Anrühren, bevor er Ziegel formte und damit den Grundriss legte. Aus Jungen werden Männer, wenn sie mit ihren Vätern arbeiten, und aus Mädchen werden Frauen, wenn sie das Feuer hüten, aber in Abelitos Familie halfen sie alle ihrem Vater mit dem Haus, Brüder wie Schwestern. Anfangs ging es langsam voran, aber schon als Abelitos Vater das große Zimmer fertig hatte, zogen sie alle ein, damit sie keine Miete mehr zahlen mussten. Denn nun hatte Abelitos Vater mehr Geld für Zement, und es ging schneller voran.

Etwa zu der Zeit, als sie die Küche fertig hatten, öffnete die Schule der Missionare, und Abelitos Eltern schickten ihn und seine Schwestern hin, damit sie Bildung genossen. Abelitos erstes Jahr dort war auch das Jahr, in dem viele Leichen den Fluss hinabtrieben und die Schule für einen Monat schloss und Abelitos Vater nicht mehr mit seinen Kindern Bär spielte. Dann kamen keine Leichen mehr, und die Kinder sahen immer weniger Paracos, und die Schule öffnete wieder.

Als Abelito acht war, sah er seine ersten Guerilleros. Das waren die Männer, die die Paracos angeblich bekämpften. Er war mit seinem Vater im Boot unterwegs, als sie eine Gruppe von zehn Männern und vier Frauen auf der anderen Seite sahen. Sie trugen Uniformen und lange Gewehre, wie Abelito sie noch nie gesehen hatte. Sie winkten Abelitos Vater heran und sagten ihm, er solle sie auf die andere Seite bringen, was er dann auch tat. Als sie weg waren, erklärte sein Vater ihm: »Wenn bewaffnete Männer etwas von dir verlangen, geht es nicht um einen Gefallen. Dann gehorchst du einfach.«

Der Anführer der Guerilla wurde der Zimmermann genannt, nach Josef von Nazareth, und man sagte, der Name rühre von seiner Barmherzigkeit gegenüber den Kindern her, die er zu Waisen machte. Er töte niemals Kinder, hieß es, auch wenn er das Risiko einging, dass sie auf Rache sannen. Und manchmal gab er als große Geste den Kindern einen Teil des Geldes, das er ihren Eltern geraubt hatte. Es gebe schlimmere Guerilleros als den Zimmermann, sagten die Leute, und man könne sich glücklich schätzen, dass Gott bloß ihn als Fluch in den Dschungel rund um das Dorf geschickt hatte.

Am Josefstag kam er ins Dorf und hatte viele Flaschen Aguardiente dabei und auch Guerilleros mit Gitarren und Trommeln. Abelitos Vater brachte Abelito mit, und auch wenn Abelitos Vater dem Zimmermann aufmerksam zuhörte, ließ er kein Aguardiente an seine Lippen kommen.

Der Zimmermann war groß und hatte ein raues Gesicht, löchrig wie Bimsstein, gegerbt von einem Leben immer unterwegs von einem Ort zum anderen, vom Schlafen in Guerilla-Lagern und ohne wahres Zuhause. Es war ein ernstes Gesicht, eines, das Abelito beeindruckend fand, bewundernswert. Er fragte sich, wie es sein mochte, ein Leben zu führen, das einem so ein Gesicht einbrachte.

Der Zimmermann sagte, er kämpfe für die Wahrheit. Er sagte, die Menschen verdienten Respekt. Jeder Bezirk solle ein Gesundheitszentrum haben, jede Stadt ein Krankenhaus. Die Leute sollten ihr Land selbst besitzen und die Kinder die Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Alles solle kostenlos sein und die Regierung solle uns Arbeit geben. Dann stand eine Guerillera auf. Sie war groß und sehr hellhäutig, das schwarze Haar trug sie in einem Knoten, und ihr Blick war wütend. Sie erzählte davon, dass ihre Mutter sich nach dem Tod ihres Vaters mit einem Mann eingelassen hatte, der sie jede Nacht missbrauchte. Das habe sie hingenommen, bis ihre jüngere Schwester ihre erste Periode hatte, dann habe sie keine Wahl mehr gehabt. Sie habe dem Mann ein Messer in den Hals gerammt und sei fortgegangen, um sich der Guerilla anzuschließen, und die Revolution sei ihre Mutter und ihr Vater geworden. Die Revolution, sagte sie, sei eine wahre Mutter, ein wahrer Vater. Sie habe ihr Tausende Brüder und Schwestern gegeben. Dann sang sie ein Lied mit einer Stimme, die viele Jahre lieblicher war als ihr Blick. Die Leute tranken, und die Guerilleros sangen noch mehr Lieder, und Abelito beschloss, dass ihm die Guerilla viel besser gefiel als die Paracos, die ihm immer die Partien Cinco Huecos verdorben hatten. Später spielte er mit seinem Freund Franklin Guerilla. Und der stets forsche Franklin spielte den Zimmermann, der grausame, aber gerechte Urteile vollstreckte.

Einen Monat später kehrte die Guerilla wieder ins Dorf zurück und nahm Alfredo mit, der vier Jahre älter war als Abelito, und Matías, der drei Jahre älter war, damit sie sich der Revolution anschlossen. Das hier sei ein Paraco-Dorf, sagten sie, deshalb müsse es eine neue »Impfung« bezahlen, wie sie die Steuer nannten, die sie der Bevölkerung auferlegten. Sie waren viel wütender als beim letzten Mal, und niemand wusste so recht, warum. Manche gaben dem Schlachter Marcos Ardila die Schuld, da er noch Verbindungen zu den Paramilitärs habe. Andere dagegen schoben sie auf Chepe, den Barbesitzer. Wer auch immer sie trug, der Preis waren die Kinder, die sie mitnahmen. Auch Abelito hätten sie mitgenommen, aber sie ließen ihn, weil er eine Schwuchtel sei, wie sie sagten. Es geschah so:

Abelito spielte mit seiner schlauen Schwester Maria, als die Guerilla die Straße entlangkam. Der große, dünne Alfredo, der immer kränkelte, und der kleine, hässliche Matías, der stets freundlich war, folgten ihnen mit großen, ängstlichen Augen. Maria lief fort und versteckte sich, aber Abelito war neugierig und blieb. Die bewaffneten Männer umringten ihn. Willst du dich der Revolution anschließen? Abelito schaute Alfredo und Matías an, die ihre Füße anstarrten und die Tränen zurückhielten.

Einer der Guerilleros nahm eine Granate von seiner Weste und fragte Abelito, ob er wisse, was das sei. Abelito sagte ja. Der Guerillero gab sie ihm und sagte: »Zieh den Splint und wirf. Zeig uns, dass du ein Mann bist.«

Abelito fing an zu weinen, und der Mann sagte: »Schaut mal, eine kleine Schwuchtel.« Und sie alle lachten, alle Guerilleros außer Alfredo und Matías. Die Guerilleros hatten alle Augen wie flache Steine, bis auf den Anführer, dessen Augen waren wie scharfe, kleine Messer. »Wirf schon, los!«, brüllte der Guerillero. Aber Abelito stand bloß mit der Granate da und weinte, bis sie ihm der Anführer wieder abnahm und sagte: »Geh nach Hause zu deiner Mama, du kleine Schwuchtel.«

Schwach wie er war, lief Abelito wirklich zu seiner Mutter. Er hätte den Splint ziehen und die Granate wie bei Cinco Huecos werfen sollen, lässig und so kurz, dass sie ihn und die Guerilleros und all ihre wertlosen zukünftigen Spiele auslöschte.

Aber er tat es nicht, und als die Guerilla die vollständige Kontrolle über die Dörfer rundum hatte und als die Paras nur noch eine Erinnerung waren, brachte die Guerilla die Paisas, und das nächste Spiel begann.

Die Paisas kamen mit Koffern und Samen und dem Versprechen eines neuen Geschäfts ins Dorf, nämlich des Koka-Geschäfts, bei dem die Dorfbewohner gar nicht verlieren könnten. Viele waren begeistert – sie pflanzten, ernteten, arbeiteten und verdienten Geld. Die Paisas zahlten, was sie versprochen hatten, und zwar pünktlich. Und die Dorfbewohner und die Paisas zahlten der Guerilla das Impfgeld.

Mutter und Vater stritten während dieser Zeit. Vater wollte Geld verdienen, aber Mutter fand es zu gefährlich. Ein hässliches Geschäft. Großvater hatte ihr schlimme Geschichten davon erzählt. Schließlich beteiligte sich die Familie nicht an dem Geschäft, das so vielen um sie herum Radios, neue Kleider und vieles andere einbrachte. Aber sie waren glücklich.

Das ging zwei Jahre lang so, und in dieser Zeit veränderte sich die Gegend am Fluss. Großvater beschwerte sich, dass die Dörfer kaum noch mehr als Bars mit einer Straße in der Mitte waren und dass aus den kleinen Mädchen nicht mehr als Huren geworden war. Mutter sagte, er könne sich doch freuen – nun könne er sich betrinken, wo er wolle, und nicht mehr nur vor Abelito und seinen Schwestern.

Es gab Wahlen und nach den Wahlen Schüsse, und die Hälfte des Nachbardorfes floh. Die Paisas kamen mit bewaffneten Männern und waren sehr wütend. Sie sagten, sie würden nun nur noch soundso viel für Koka bezahlen und nicht mehr. Sie sagten, die Dörfer hier seien alle vom Paramilitär verseucht, also habe die Guerilla die Steuern angehoben, um für all den Ärger aufzukommen, den die Leute hier machten.

Franklins Bruder Santiago, der vier Jahre älter war als Abelito und gut rechnen konnte, erzählte, er sei mit seinem Vater flussabwärts gefahren, und dort hätte man mehr für Koka bezahlt. Wenn sie hier so viel zahlten, und so viel in Camaguan, dann zahlen sie in Cúcuta noch eine ganze Menge mehr, hatte er überschlagen, also müssten die Paisas ihnen doch eigentlich viel mehr geben, mehr sogar, als sie früher gezahlt hatten. Er ging in den Dschungel und beschwerte sich beim Zimmermann, und der Zimmermann gab ihm eine Ohrfeige und sagte ihm, sie wüssten, dass das hier ein Paraco-Dorf sei und er aus einer Paraco-Familie komme, also solle er gefälligst die Klappe halten. Dann verprügelte die Guerilla ihn so schlimm, dass er nicht mehr nach Hause laufen konnte, also musste man seinen Vater und seinen Bruder ins Guerilla-Lager rufen, damit sie ihn forttrugen. Zwei Tage später kamen die Paisas wieder, gingen zu ihm nach Hause, zerrten ihn auf den Dorfplatz und erklärten allen, er sei ein Feind des Volkes. In der nächsten Woche kam seine Leiche ganz aufgedunsen den Fluss herabgetrieben, und das Dorf trauerte, und Pater Eustacio kam aus Cunaviche zur Beerdigung. Franklin erzählte allen, er werde seinen Bruder rächen, aber keiner glaubte ihm. Sein Geprahle wurde traurig und ziellos.

Eine Zeit großer Angst begann. Ohne Vorwarnung schloss die Schule der Evangelikalen. Maria erzählte Abelito, die Guerilla habe die Lehrer mitgenommen und zahlen lassen oder halte sie im Dschungel fest, bis sie zahlten. Sie sagte, jeder in Kolumbien müsse der Guerilla das monatliche Impfgeld bezahlen, vor allem die Reichen, und wenn jemand nicht zahle, müsse er ins Gefängnis, bis gezahlt werde. Aber die Guerilla habe keine Gefängnisse, erklärte sie, also hätten sie Abelitos Lehrer in den dichtesten Teil des Dschungels mitgenommen, wo es Sechs-Meter-Anakondas gebe, die Menschen bei lebendigem Leib verschlängen, und sie um den Hals an Bäume gekettet. Sie sagte, dort würden sie bleiben, mit der Kette um den Hals, bis das Geld aus Amerika sie freikaufe oder sie sterben. Aber nach einer Weile wurde auch das normal, und die Leute arbeiteten, ohne zu klagen, für weniger Geld und die Angst war nur noch im Hintergrund wie die Sommerhitze, etwas, was man wahrnimmt, worüber man sich manchmal ärgert, aber von dem man nicht erwartet, dass es sich ändert.

Als er dreizehn wurde, fing Abelito an, auf den Kokafeldern zu arbeiten; das war gute, harte Arbeit. In demselben Jahr schwängerte einer der Paisas Abelitos gemeine Schwester Mona. Als Abelitos Vater das hörte, wollte er sie verprügeln, konnte aber nicht die Hand gegen sie erheben, also tat es die Mutter an seiner Stelle mit einer Rute. Die ganze Familie wurde tieftraurig. Als sie den Paisa fragten, ob er Mona heiraten werde, lachte er nur, und niemand traute sich, etwas zu antworten. Mona sagte, es sei besser so. Den Namen des Mannes sprach sie nie aus, sie nannte ihn nur »das Schwein« und schwor, sie würde sich das Baby lieber selbst aus dem Bauch schneiden, als mit ihm verheiratet zu sein.

Abelito war darauf gefasst, dass das Leben sich änderte, dass seine Schwester ein Kind zur Welt brachte und er seinen Eltern und ihr mit dem Kind helfen würde, aber für die Dorfbewohner änderte sich alles noch viel schneller, als Franklin endlich den Mut fand, den er seit Jahren gesucht hatte.

Der Zimmermann schlief mit vielen der Mädchen im Dorf, aber vor allem mit Jimena. Sie war fünfzehn und hatte schon ein Kind von ihm bekommen. Franklin wartete, bis der Zimmermann wieder einmal zu ihr kam. Er folgte ihm und erwischte ihn allein mit Jimena, die sehr schön und sehr schüchtern war, die immer freundlich zu Abelito gewesen war und die er liebte. Franklin rammte ihnen sein Messer überall hinein, in den Hals, die Arme, die Hände und den Kopf. Franklin erzählte mir, er habe dem Zimmermann die Zunge herausschneiden wollen, die Zunge, die den Paisas vom Plan seines Bruders erzählt hatte, aber als er die Leiche umgedreht und das Gesicht gesehen habe, habe er Angst bekommen und sei davongelaufen.

Nur einer von hundert wehrt sich gegen einen wahren Killer, so wie Franklin es getan hat. Aber auch Franklin hatte nur genug Mut, um es einmal zu tun. Er floh, und seine ganze Familie floh mit ihm, während der Rest des Dorfes wartete wie ein Schwein auf das Messer.

2

Lisette2015

Es fing nicht erst mit den Bombenanschlägen an. Das soll heißen, Kabul war zu dem Zeitpunkt schon lange nicht mehr Kabul. Früher gab es hier Tausende von uns Westlern, hauptsächlich Soldaten und Militär-Dienstleister, aber auch Leute von Hilfsorganisationen, Missionare, Abenteurer, Diplomaten und Journalisten wie ich, die hier ein Zeichen setzen oder viel Geld verdienen wollten, im »guten Krieg«, Afghanistan, im Gegensatz zum »dummen Krieg«, Irak. Das Geld, das wir mitbrachten, hielt alles am Laufen in unserem Kabul, dem Kabul der Westler, der Stadt in der Stadt, die sich normale Afghanen nicht leisten konnten oder zu der sie schlicht und einfach keinen Zutritt hatten. Man nannte es die Kabubble, und die Kabubble hieß importierte Steaks im Boccaccio, geschmuggeltes Heineken an der Flower Street und Dachgarten-Partys mit Blick auf die Lichter, die jeden Abend die Berghänge rund um die Stadt hinaufkriechen. Sie war ein Ort, an dem man sich entspannen und trinken konnte, an dem man Fremden die Lügengeschichten erzählen konnte, die man sich auch selbst erzählte, warum man dort war, was man tat und was man damit bewirkte.

All das war 2015 schon lange vorbei. Die Truppenzahlen waren von ihrem Höhepunkt um hunderttausend auf unter zehntausend gesunken, und sosehr sich all die selbstgerechten europäischen Entwicklungshelfer und zweiundzwanzigjährigen Journalistinnen, die »dem afghanischen Volk eine Stimme geben« wollten, für einen Truppenabzug starkmachten, fiel mir doch auf, wie sich auch ihre Reihen lichteten, als die amerikanischen Soldaten weniger wurden. Man sah in den Tagen lange nicht mehr so viele Korrespondenten, NGO-Koordinatoren oder auch schwerbewaffnete weiße Typen mit Cargohose auf der Street 15. »Das Blatt hat sich gewendet«, hatte Obama 2012 verkündet. Genau.

Dann, früh am Morgen, Anfang August, eine Explosion. Wir hören es im Büro wummern, die Fensterrahmen klappern, und Aasif, einer meiner afghanischen Kollegen, schaut mich hoffnungsvoll an und sagt: »Vielleicht jagt das Militär ein Waffenversteck hoch?« Es ist acht Uhr dreißig, ich habe noch keinen Kaffee getrunken, und keiner von uns hat große Lust, raus an einen Anschlagsort zu rasen und Leichen und Verletzte zu zählen.

Wir laufen beide die Treppe hoch aufs Dach. Ein paar Jahre vorher wäre da schon alles voller Fotografen und Kameraleute gewesen, die auf den schwarzen Rauch draufhalten und Wetten abschließen, was es getroffen hat. Wenn das Ganze überhaupt mal jemandem wichtig war, dann damals. 2015 dagegen interessiert man sich allgemein weniger für irgendwelche Explosionen in Kabul. Die Büros sind leer, und als wir raus aufs Dach kommen, steht da nur Omar, knipst lustlos Fotos und nuckelt an einem winzigen Zigarettenstummel. Wie alt Omar genau ist, weiß ich nicht – am 11. September war er noch ein kleiner Junge, also ist er wohl gerade Anfang zwanzig, aber er macht einen auf abgebrühter Zyniker. »Groß, vielleicht sogar verdammt groß«, sagte er. »Aber zu früh für die große Laufkundschaft, also würde ich sagen« – er begutachtet die Szene mit geschultem Auge – »zehn Tote.« So redet Omar, wenn er nüchtern ist. Betrunken habe ich ihn über solche Sachen weinen sehen, auch idealistisch von seiner Arbeit reden hören, dass er der Welt das Leid seines Landes vor Augen führt. Dann ist er allen ein bisschen peinlich.

Als er seine Verwandten angerufen hat, ob es allen gutgeht, sagt Aasif, er fährt raus an den Schauplatz. Ich nehme an, dass Bob von mir den Alert erwartet, also gehe ich runter und rufe das Pressebüro vom Militär an. Sie sagen, dass es keine kontrollierte Sprengung gegeben habe, können aber auch keine Explosion bestätigen, also schreibe ich: »Hörbare Explosion in afghanischer Hauptstadt. Rauchfahne sichtbar.« Ich lese einmal drüber, zweimal, klicke senden.

Nicht allzu viele Informationen, aber zwei Minuten später, als ich gerade am zweiten Absatz der Eilmeldung sitze, kommt Bob mit einem Becher Kaffee aus dem hinteren Büro und sagt: »Du warst zwei Sekunden schneller als die AP.« Er stellt mir den Kaffee hin, meine Belohnung.

Ich trinke einen Schluck, schreibe den letzten Absatz fertig, insgesamt 125 Wörter und schicke ab. Vier Minuten von Anfang bis Ende. Ganz okay.

Jetzt geht die Arbeit los. Aasif ist schon unterwegs zum Schauplatz – er hat ein Motorrad, also kommt er viel besser durch den Kabuler Verkehr als wir anderen, die auf Taxis oder den Agenturwagen angewiesen sind. Bob lässt mich schreiben und setzt Denise an die Telefone. Denise ist dreiundzwanzig, sieht eher unauffällig aus, aber sie ist so viel jünger als ich, dass sich, selbst wenn wir zusammen unterwegs sind und obwohl ich weiß, dass ich was hermache, wenn ich es darauf anlege, und sie ihr Kopftuch bindet wie die letzte Pennerin, die Männer nach ihr umdrehen. Für einen bestimmten Typ Mann ist sie unwiderstehlich, nämlich für den, der sich noch nicht ganz sicher ist, dass er sich mit seiner Zeit in Afghanistan seine Männlichkeit bewiesen hat, und der insgeheim schreckliche Angst vor dem Tod hat, gegen die er nur ankommt, wenn er junge Frauen vögelt. »Paniksex«, nennt meine Freundin Cynthia das, und wir machen uns beide ein bisschen Sorgen, dass er für uns einfach nicht mehr denselben Reiz hat wie früher. »Ich will mindestens so lebendig sein wie der Pöbel«, zitieren wir Frank O’Hara. Aber wir sind einfach nicht mehr allzu lebendig und wissen nicht mal so recht, ob wir es noch sein wollen. Denn wir verachten die Denises dieser Welt genauso wie unser jüngeres Ich und die Männer, die sie vögeln.

»Können wir es selten nennen?«, fragt Denise ein bisschen zögerlich.

»Wann war denn die letzte?« Bob lehrt nach der sokratischen Methode.

»Vor drei Wochen«, sage ich.

»Zählt das als selten?«, fragt Bob.

»Für ein Kriegsgebiet?«, fragt Denise.

»Kabul ist kein Kriegsgebiet«, sage ich. »Beim letzten Anschlag hat es fünf Tote gegeben …«

»Mit wie vielen Toten wäre Kabul denn nicht mehr sicher?«, fragt Bob.

»Mal zum Vergleich – ist die Mordrate von Kabul schlimmer als die von New Orleans?«, fragt Denise.

»Ist New Orleans denn sicher?«

Aasif ruft an, die Bombe ist in der Nähe des Innenministeriums hochgegangen, oder sogar direkt am Innenministerium; die Polizei lässt ihn nicht durch, aber er hat einen Ladenbesitzer überredet, ihn aufs Dach zu lassen, und Omar macht Fotos der Zerstörung, hoffentlich bekommt er etwas Kunstvolles hin, etwas so Schönes, dass es verbreitet wird, dass es den Leuten diese Gewalt nahebringt und wenigstens einen gewissen Eindruck im Bewusstsein der Allgemeinheit hinterlässt. Die demokratische Öffentlichkeit verlässt sich auf die furchtlose Wahrheitssuche der freien Presse, um mit knallharten Fakten die Phrasendrescherei der Politik zu entlarven und informierte Entscheidungen treffen zu können. Das ist natürlich nach vierzehn Jahren in diesem Krieg bisher noch nicht passiert, aber vielleicht klappt es damit ja doch noch irgendwann mal.

Denise kriegt jemanden am örtlichen Krankenhaus dazu, ihr sieben Tote zu bestätigen, aber wir wissen nicht, wer die Toten sind, und das ist wichtig. Wenn es afghanische Einsatzkräfte sind, stellt ISAF es als gute Neuigkeiten hin. Afghanen, die tapfer ihr Land verteidigen und es vor größerem Unheil schützen. Aber falls die Bombe irgendwo im Innenministerium hochgegangen ist, lässt das die Kabuler Führung schwach aussehen, hoffnungslos unterwandert. Wenn es ein ziviles Anschlagsziel war, tja, dann ist es bloß noch ein Datenpunkt, dass die Taliban nun dazu übergegangen sind, unschuldige Afghanen zu töten. Die afghanische Regierung gibt eine Erklärung ab, in der sie die Schuld irgendwie Pakistan zuschiebt. Das US-Militär sagt, an dem Anschlag sehe man die wachsende Verzweiflung der Taliban, was auch immer das heißen soll.

Bob macht seinen Computer an und zeigt mir einen Twitter-Dialog zwischen @ISAFmedia und den Taliban. »Das Endergebnis steht fest. Die Frage ist nur, wie lange wollen die Terroristen noch unschuldige Afghanen in Gefahr bringen?«, tweetet die ISAF. Und ein selbsternannter Sprecher der Taliban antwortet: »Ihr brngt sie seit 10 J ›in Gefahr‹. Äschrt gnze Dörfr ein. ›Gefahr‹ seid ihr.«

»Schwach«, sage ich.

Ich schaue auf die Uhr. Ich muss an den Anschlagsort, bevor die Polizei alles aufgeräumt hat, um ein bisschen »Farbe« reinzukriegen: ein frisch verwaistes Kind, das weint und hilflos nach seinen Eltern sucht, den grünen Pick-up, mit dem die Verletzten ins Krankenhaus gefahren werden, die Glasscherben und zerstörten Obststände, Geschäfte, Existenzen, Leben. Omars Fotos werden helfen … nicht nur die, die wir rausgeben – Omar macht auch immer ein paar rein dokumentarische Aufnahmen, damit wir solche nüchternen Einzelheiten haben, die auf dem Bild selbst nicht nach viel aussehen, die Story aber knackig machen, wie bei dem letzten Anschlag der ältere Paschtune, der mit blutenden Armen seinen Mantel über die Leiche einer Frau hielt, um sie zu verhüllen. Man muss irgendein Detail finden, das vielleicht jemanden, einen Leser, der morgens seinen Kaffee trinkt und sein hartgekochtes Ei isst und gleich schnell los zur Arbeit muss, das diesen Menschen innehalten und nachdenken lässt. Das ist unter anderem deshalb schwierig, weil solche Details mich selbst immer seltener zum Nachdenken bringen. Als ich gerade hier angekommen war, kochte ich vor Wut darüber, wie gleichgültig den meisten Leuten zu Hause die afghanischen Toten waren. So viele Menschen, die leiden und sterben und in diesem brutalen Land mit unglaublichem Mut ums Überleben kämpfen, einem Mut, der einen zumindest für ein paar Jahre bestärken kann. Ich glaube nicht, dass ich dieses Gefühl jemals wiederbekomme. Das geht mir in der letzten Zeit immer wieder durch den Kopf, wenn ich im Bett liege und einschlafen will: Ich bin kaputt, ich bin kaputt, und ich weiß nicht, wie ich jemals das Loch stopfen kann, das ich mir in die Seele geschnitten habe.

Und dann höre ich das viel lautere Wummern der zweiten Bombe.