Karl Heinz Bohrer
Was alles so vorkommt
Dreizehn alltägliche Phantasiestücke
Suhrkamp
Für Angela
Die berühmteste Fahrt nach Brüssel war die in einer Kutsche, in der vier phantastische Gestalten beisammensaßen: eine alte Zigeunerin, ein Bärenhäuter, ein weiblicher Golem und eine bösartige Alraunwurzel, die menschliche Züge und Fähigkeiten besaß und zur Hauptfigur erkoren wurde. Erzählt hat diese Fahrt Achim von Arnim 1812, und rund zwanzig Jahre später pries sie Heinrich Heine den Franzosen als das Grauenhafte und wahrhaft Gespenstische an, das ihre urban geprägte Phantasie übersteige.
Möglicherweise wäre er anderer Meinung gewesen, hätte er ihre Fahrt nach Brüssel gekannt. Als sie letzten Juli gegen 14 Uhr in Köln auf den Zug warteten, tauchten sie in eine Hitze ein, die besser noch als Lauge beschrieben wäre. Überraschend, irgendwie grotesk, als wäre man aus dem deutschen Wald in eine tropische Gegend geraten, in der bald auch deren Tiere erscheinen würden. Vor ihnen lag die bekannte Strecke über Aachen und Lüttich/Liège. In zwei Stunden würden sie in Brüssel sein. Es war noch heißer als am Tag zuvor. Sie hatte sich in den schmalen Schatten einer Säule gestellt, um den Angriff der Sonne, anders konnte man es nicht nennen, etwas abzuwehren. Sie liebte das kühle Wetter und vermied die Hitze, soweit es möglich war.
Der Zug hatte nur zehn Minuten Verspätung, aber als er einfuhr, war es auch für den Mann erlösend. Die Kühle des Wagens erster Klasse ließ ihn die extreme Temperatur unter der gläsernen Bahnhofskuppel als überstandene Gefahr empfinden.
Damit aber fing alles erst an. Der Zug fuhr sehr langsam an. Er fuhr sehr langsam weiter. Er nahm auch nicht Fahrt auf, als er das Stadtgebiet verlassen hatte. Wieso nicht? War an den Gleisen, auf denen sie fuhren, etwas nicht in Ordnung? Aber man würde es doch nicht riskieren, auf einer Strecke zu fahren, die defekt war. Nun ja, es würde irgendeinen harmlosen Grund geben, bestimmt. Und auch der schon eingetretene Zeitverlust war bislang unerheblich für das Umsteigen in Brüssel in den Zug nach London, als plötzlich eine Stimme aus dem Wagenlautsprecher zu hören war: Man könne wegen Komplikationen nicht auf der üblichen Strecke nach Aachen weiterfahren, man müsse warten, bis diese beseitigt seien. Der Wagen kam allmählich zum Stehen. Der Wagen stand. Er stand ziemlich lange. Offenbar dauerte das mit der Regelung der Verhältnisse. Der Verdacht, dass gar nichts geregelt würde, lag nahe. Die Stimme aus dem Lautsprecher meldete sich wieder, in ihrem belgischen Französisch, Englisch und Deutsch nur schwer verständlich. Dass sie sich etwas umständlich entschuldigte für die entstandene Verspätung, so viel wurde jedoch klar, und dass man sogar zurückfahren müsse, um ein unbeschädigtes Gleis in Richtung Aachen zu finden. Nicht bloß das Gleis, offensichtlich auch die vorausliegende Schaltstelle funktionierte nicht. Mehr als die Hälfte der angesetzten Fahrzeit nach Aachen war mittlerweile bereits verstrichen, und immer noch hatten sie die ganze Fahrt dorthin vor sich. Immerhin funktionierten die Kühle spendenden Luftmaschinen.
Die nächste Ansage teilte jedoch eine neue Überraschung mit, wenn man so etwas denn Überraschung nennen kann: Man würde jetzt nicht auf einer Strecke nach Westen fahren, die sie unmittelbar zur deutsch-belgischen Grenze brächte. Nein, wegen des Zustands aller Gleise in dieser Richtung ginge es zunächst nach Nordwesten. Was für ein Zustand? Warum? Die abermals sich meldende Lautsprecherstimme schien um Verständnis zu flehen. Sie erklärte nichts, sie teilte vielmehr als weitere Neuigkeit mit, dass man, sobald man Aachen erreicht habe, nur noch nach Liège weiterführe. Dort hätten alle Reisenden, die nach Brüssel wollten, in einen wartenden belgischen Regionalzug umzusteigen.
Irgendwo auf der Höhe von Mönchengladbach musste der Zug schließlich die Richtung nach Südwesten genommen haben, den Zwischenhalt Aachen nunmehr endlich im Visier. Gesagt wurde den beiden das zwar nicht. Doch die nun auftauchenden kleinen Orte und Städte lagen südlich von dem gerade zurückgelassenen Mönchengladbach. Der Zug fuhr nach wie vor sehr langsam. Der nervöse Schaffner, der die ganze Zeit hin- und hergelaufen war, antwortete auf die Frage, warum man noch immer so langsam fahre, ob denn auch diese Gleise nicht in Ordnung seien: »Das weiß ich nicht.« Derweil hatten die nächstsitzenden jungen Männer ihre Mutmaßungen über diese seltsame, absurd wirkende Fahrt vorgebracht: Es seien nicht die technischen Fehler schuld, die man seit längerer Zeit der Deutschen Bahn nachsage und die Ursache der häufigen Verspätungen einer Institution geworden seien, die sich einmal auf dem Ruf ihrer Pünktlichkeit habe ausruhen können. Nein, das sei es nicht. Es sei die seit Tagen wie noch nie brennende Sonne, die nicht bloß die Stellwerke außer Betrieb gesetzt, sondern hier und dort die Gleise selbst an die Schmelzgrenze gebracht habe. Demnach konnten die Schienen nach Aachen überall beschädigt sein. Mit Sicherheit wusste das, wie schon der Schaffner es ausgedrückt hatte, jedoch keiner zu sagen. Und sie alle verstanden ja im Grunde auch nichts von Eisenbahntechnik. Man wusste nur, dass etwas sehr Beunruhigendes vor sich ging. Das bisher als sicherstes geltende System, das so lange Vertrauen erweckende Gefährt, war außer Kontrolle geraten, ohne dass jemand es erklären konnte. Das war es: So viel die Stimme im Lautsprecher auch redete, sie wusste nichts wirklich Aufklärendes zu sagen. Wie sollte sie auch! Man wusste, dass Schienen durch Regenüberschwemmungen und winterliches Eis unbefahrbar werden können. Das kam immer wieder mal vor. Das hier aber war noch nie vorgekommen.
Es hatte etwas Chaotisches. Es war das Chaos! Dass so etwas von der Natur herrührte, war in diesen Breitengraden neu. Das Wort, das man bislang nur metaphorisch benutzt hatte, um Unordnung, ein Durcheinander der gewohnten Ordnung, zu charakterisieren, hatte plötzlich seinen metaphorischen Charakter verloren. Nun saßen die Leute im Zug und fühlten sich zusehends einem nichtverständlichen Zwang von oben ausgesetzt, den die verschwommenen Sätze aus dem Lautsprecher nur noch verstärkten. Die dazugehörige Stimme schien aus dem Mund eines Verwirrten zu kommen, der sich seiner Lage selbst bewusst war und sich ständig dafür entschuldigte. Die Stimme wirkte panisch, als er nun das Gegenteil von dem sagte, was er gerade zuvor gesagt hatte. Die Namen der Städte, der kleinen Orte flogen nicht vorbei, sondern zogen gemächlich dahin, gut lesbar für alle. Und als der Name Geilenkirchen auftauchte, wussten jene, die sich etwas in der Gegend auskannten, sich tatsächlich auf dem Weg in Richtung der Grenzstadt Aachen. Immerhin! Man hätte sie vor einer Stunde in Richtung Brüssel verlassen sollen. Am nächsten Tag würde in der Zeitung zu lesen sein, dass bei Geilenkirchen die Sonne mit 40,5 Grad am intensivsten über Deutschland gestanden habe. Wegen des noch funktionierenden Kühlsystems war sie bisher nur zu ahnen gewesen.
Die Lautsprechererklärung hatte nicht gesagt, die Schienen würden schmelzen. Konnte Eisen überhaupt außerhalb eines Feuers schmelzen? Zuvor – das wusste man, wenn man einmal in einer Schmiede zugesehen hatte – glühte es. Doch nirgends glühten die Schienen, was jedoch nichts änderte an den sich längst einstellenden Zweifeln an der gewohnten Ordnung der Dinge. Die Sonne musste – anders waren die langsame Fahrt und ihr Umweg ja gar nicht zu erklären – überall Schienen beschädigt haben. Man war also auf offenem Feld unter den Effekt ihres Feuers geraten. Als dieser Gedanke ihn als Gedanke, noch nicht als Furcht, überkam, mengte sich dem die Vermutung einer möglichen, die Kultur verändernden Katastrophe in der Natur bei. Was bisher ein Thema der Umweltschützer gewesen war, schien nunmehr in Realität umgeschlagen.
Die Gegend, durch die sie fuhren, war ihm von Jugend an als attraktiv erschienen. Nicht, dass man sie als schön bezeichnen konnte. Sie war ja flach, irgendwie langweilig, verglich man sie mit dem eigentlichen Rheinland. Aber manche Orte hatten es ihm angetan, weil an ihren Namen das Sich-Nähern, die näher kommende Grenze nach Westen erkennbar wurde. Düren war noch so vertraut wie die westlichen Vororte von Köln, Bocklemünd und Bickendorf. Kerpen und Jülich, nicht viel weiter westlich, klangen da schon verheißungsvoll fremder. Noch vielversprechender war der Name der südlich gelegenen Stadt Zülpich, in deren Gegend er einmal als Student mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war. Die Stadt hatte einst »Tolbiacum« geheißen. Damals, als die rheinischen und die salischen Franken unter ihren Königen Sigibert und Chlodwig die Alemannen nach einer Entscheidungsschlacht endgültig nach Süden und Südwesten abgedrängt hatten. Aufgrund militärischer Großtaten gab es natürlich berühmtere Orte. So etwa Tannenberg im Osten, wo die Kreuzritter 1410 vom polnisch-litauischen Heer geschlagen wurden und deutsche Truppen 1914 die zweite russische Armee am weiteren Vordringen in Ostpreußen gehindert und vernichtet hatten. Er hatte sich aber den weniger bekannten Namen »Tolbiacum« besonders eingeprägt, weil hier die Zukunft Frankreichs und Deutschlands vorentschieden worden war. Die Rheinfranken sollten sich später mit ihren alten Feinden, den Niedersachsen und Westfalen, zusammenschließen und auch die Alemannen mit in ihr neues Staatsgebilde aufnehmen. Das hieß dann zwar immer noch »Regnum Francorum«, doch war hier nicht mehr nur das rhenanische Land, sondern ein übergreifendes Territorium mit seinen Stämmen in einer politischen Einheit zusammengeschlossen. In dieser Gegend, die wir nun durchfuhren, sprachen sie noch immer den alten rheinisch-fränkischen Dialekt, den die Flamen zum Teil verstanden, nicht aber die Bayern. Die Kölner Vororte und das Zentrum der Stadt wimmelten von Erinnerungen an die fränkische Zeit, angefangen beim Chlodwigplatz bis hin zum Severinstor, getauft auf den Namen des heiligen Bischofs von Köln, kölnisch »Severins-Porz« (oder auch »Vringspooz«) genannt – »Porz« für »Porta«. Die Gegend war Geschichte, ganz alte Geschichte.
An diesem Mittag war diese Geschichte jedoch vorbei. Es gab nur noch die Natur, das Naturereignis. Mit einer vermeintlichen Unterbrechung. Denn als sie endlich, statt nach einer Stunde nach drei Stunden, in den Grenzbahnhof Aachen einfuhren, wagte sich der Gedanke nach vorn, das Chaos läge hinter ihnen. Was sich bisher abgespielt hatte, wäre verschwunden. Doch war das eine falsche Hoffnung. Dieselbe Sonne stand über den gleichen Gleisen, auch wenn sie jetzt von belgischen Bahnmitarbeitern und Ingenieuren kontrolliert wurden. Und ihr Zug würde, wie der Ansager gesagt hatte, nur nach Liège fahren, so dass diejenigen mit Brüssel als Ziel dort in einen belgischen Zug umzusteigen hätten.
Inzwischen deutete noch etwas anderes darauf hin, dass man sich auf alles gefasst machen musste: Die Luft im Wagen begann – wie soll man es nennen – auf diesem letzten Stück vor Liège schwer zu werden. Ja, schwer, nicht nur zunehmend verbraucht. Lauwarm, schwül. Bei der Weiterfahrt stellte sich heraus, dass die Klimaanlage in den benachbarten Wagen der zweiten Klasse ausgefallen war und infolge der ständig auf- und zugehenden Türen die drückende Luft immer stärker hereindrang. Die ursprünglich frische Kühle ihres Abteils verschwand nach und nach. Diese Veränderung verstärkte die sich seit Stunden aufdrängende Unruhe, mit nichts Absehbarem mehr rechnen zu können. Er schaute seine Begleiterin forschend an, wusste er doch, wie sehr sie die kühle Luft brauchte und selbst Kälte ihr nichts ausmachte. Noch liefen einige Kinder spielend und lachend auf dem Gang umher. Die Erwachsenen waren stiller geworden. Er spürte ihre Unsicherheit, und sie fragten sich, was alles noch auf sie zukommen würde, zumal der Zug abermals Wartezeiten einlegte und zuweilen nur noch im Schrittempo vorankam. Liège – das wurde ihm, obwohl er die Strecke so oft schon gefahren war, erst im Blick auf die Landkarte im Nachbarabteil klar – lag keineswegs in der Mitte zwischen Aachen und Brüssel, sondern war von Brüssel noch weiter entfernt als von Aachen. Es stand nun fest, dass sie ihren unmittelbaren Anschluss in Brüssel nach London nicht mehr erreichen würden. Immerhin aber würde es noch weitere, spätere Züge dorthin geben.
Die würden ihnen vorerst aber nicht aus der unberechenbaren Lage heraushelfen. Wenige Minuten vor Liège – die Luft im Abteil war nun fast unerträglich drückend, und der Schweiß klebte immer unangenehmer am Körper – meldete sich noch einmal der Bordlautsprecher: Man würde nur fünf Minuten Zeit haben, um in den dort wartenden Zug nach Brüssel umzusteigen. Die Folge: Reisende bedrängten sich noch stärker als gewöhnlich vor den Türen. Dann die Explosion! Ja, eine Explosion von ungeheurer Hitze, auf die man sich im Wagen nicht hatte vorbereiten können, obwohl die Beflutung mit kühler Luft schon kaum mehr spürbar gewesen war: Auf dem Bahnsteig von Liège schien die Sonne steil auf sie herabzustoßen und alle und alles mit ihren Strahlen zu erfassen. Man konnte nicht mehr atmen, wie man es für gewöhnlich tat. Darüber hinaus stand auch der wartende Zug nach Brüssel weder gegenüber noch auf einem nahen Gleis. Man hatte zunächst die Treppe zu einem unüberdachten Übergang hochzusteigen, sich dann, Gott sei Dank nur mit Koffer, nicht auch noch mit Kind und Kegel, zur Gleishöhe des wartenden Zuges zu schleppen und von dort wieder die Treppe hinab, um möglichst das erste Abteil zu erreichen. Die erste Klasse zu suchen, dafür war keine Zeit.
Das also war der Glutofen, von dem er vor einer Woche in Berlin gelesen hatte. Wenn man hier nicht mehr wegkäme oder einem im Auto auf der Landstraße das Benzin ausginge – was wäre dann? Man ging durch die Hölle, um in das Paradies des wartenden Zuges zu entkommen. Kein Vergleich mehr mit den Minuten auf dem Kölner Bahnhof, die ja schon unangenehm genug gewesen waren. Vor Wochen hatte er in einer BBC-Sendung von einem durch Wassermassen, die sich in einen reißenden Strom verwandelt hatten, bedrohten Wall gehört. Ein Bewohner des Dorfes vor dem Wall hatte gesagt: »I believe something dreadful could happen.« Vor dem Umsteigen in Liège war ihm das Wort »dreadful« wieder eingefallen; es war ihm zunächst erneut als wunderlich aufgestoßen, aber er hätte nicht gedacht, dass es ihm selbst einmal als zutreffende Beschreibung seiner eigenen Lage erscheinen könnte. Als sie sich jedoch durch die Hitzelauge die Treppen hinauf- und hinunterschleppten, dachte er an etwas Derartiges, Schreckliches, das womöglich bevorstand, und der harmloseste Gedanke dabei war noch der, dass sie im Sommer nicht mehr ins kontinentale Europa würden fahren können. Es sei denn, der Brexit zwänge sie dazu.
Der Zug nach Brüssel fuhr ab, kaum dass sie den ersten Wagen erreicht hatten. Zufällig war es die erste Klasse, aber sie erstarrten, buchstäblich, als sie in ihrem Abteil angekommen waren. In dem extravagant mit violetten Polstern ausgestatteten leeren Wagen konnte man es nicht eine Minute aushalten. Die dort angestaute Hitze machte jedes Atmen unmöglich. Sie überfiel einen nicht, sondern man bekam einfach keine Luft mehr. Als ob die heiße Luft wie eine aus Klötzen gemachte Masse auf einem läge. Wären es doch Eisklötze gewesen! Sie wollten, sie mussten hinaus, sofort. Der Gang vor ihrem Abteil war von Reisenden besetzt, die einander in der Hoffnung auf klimatisierte Abteile nach vorn schoben. Die jedoch gab es gar nicht, es war ja nur ein Provinzzug. Die Herde – sie mittendrin – schob sich weiter in den nächsten Wagen, dessen Plätze alle schon von größtenteils belgischen Passagieren besetzt waren, und auch auf dem Gang konnte man, wenn man Glück hatte, nur mehr angelehnt stehen. Hier war die Hitze nicht ganz so unerträglich, wenngleich sie einem auch hier nach einiger Zeit unter die Haut ging. Viele der dort sitzenden Frauen, meist ältere, hielten Fächer in den Händen. Sie waren offenbar vorbereitet, und ihre Fächer setzten die Luft zwischen den Sitzenden in Bewegung. Die meisten schwiegen. Manche sahen so aus, wie er sich das Wurzelmännchen in Arnims Kutsche vorstellte: faltig, regelrecht runzelig, und durch die Hitze hatte jedes Gesicht eine andere Färbung angenommen.
So ging es durch die Spätnachmittagssonne, ohne Klimaanlage und ohne ein Lüftchen von den Fenstern, die man keinen Spalt weit öffnen konnte. Er stand, inzwischen mit hochrotem Gesicht – das bemerkte er im Spiegel der Toilette, die aufgrund mangelnden Wassers kaum mehr zu benutzen war –, ohne sich zu bewegen, kerzengerade gegen eine Sitzlehne gelehnt. Sie hatte noch einen freien Platz bekommen. Neben einer Australierin, die nach Paris wollte und das heute nicht mehr schaffen würde. Wo in Brüssel bleiben? fragte sie. Eine unerquickliche Andeutung dessen, was auch ihnen blühen könnte.
Wenn es auch auf der Toilette kein Wasser gab, so hatte die belgische Bahn doch zumindest für eine ausreichende Menge Wasserflaschen gesorgt, die jetzt herumgereicht wurden. Viel Wasser, auch Zucker, so hatte er gehört, seien in einer solchen Situation notwendig. Sie tranken in der ersten halben Stunde jeder zwei kleine Wasserflaschen aus. Es war jetzt noch stiller als während der Fahrt nach Aachen. Noch stiller als während der Fahrt nach Liège. Merkwürdigerweise beschwerte sich, soweit er das beobachten konnte, keiner der Reisenden über den Umstand, dass die belgische Bahn sich bei solchen Innentemperaturen überhaupt in Bewegung setzte.
Als er schweigend dastand, die Luftbewegung des Fächers der Frau spürend, musste er wieder an das überhitzte, violett gepolsterte »Kolonial«-Abteil denken. Darin hatte sich die ganze Misere der bisherigen Fahrt konzentriert. Sie setzte der belgischen Bahn sozusagen die afrikanische Krone auf. Bei diesem Bild musste er plötzlich an das Kolonialmuseum in Brüssel denken. Ungeniert hatten dort die Fotografien von als Barbaren gezeigten »Kongo-Negern« neben exotischen Tieren gehangen. Und das unter der Aufsicht ihrer belgischen Herren. Solche ohne historisch-politische Erklärung, geschweige Distanzierung zu betrachtenden Museumsbilder konnten auf Dauer nicht folgenlos bleiben. Man hatte die Vorfahren der heute in Brüssel lebenden Schwarzen in ihrer damaligen Nacktheit oder Buntheit so drastisch vorgeführt, dass es mit diesem naiv-zynischen Rassismus inzwischen vorbei ist. Das Kolonialmuseum wurde nach brutaler Einsicht in die belgischen Kolonialgreuel umgestaltet. Der Name des verantwortlichen Königs, Leopold, ist von den Brüsseler Plätzen verschwunden. Der violette Plüsch hatte all das in ihm aufgerufen.
Etwas anderes irritierte ihn erneut: Sie fuhren offensichtlich nicht die übliche Strecke von Liège nach Brüssel, die sie eigentlich in einer halben Stunde zurückgelegt hätten. Statt dessen hielt der Zug an kleinen Orten, und diese Orte lagen nicht auf der geraden Strecke, die er kannte, sondern beträchtlich weiter südlich. So hatte er den Namen »Andenne« gelesen. Waren sie etwa am nördlichen Rand der Ardennen entlanggefahren? Beim Namen des nächsten Ortes handelte es sich um die Stadt Namur, und so wurde der vermutete Umweg, wie er auf der kleinen Landkarte in seinem Notizbuch erkannte, Gewissheit. Das hieß mit anderen Worten: Wenn der Zug von Namur aus nun wirklich in nordwestlicher Richtung nach Brüssel führe, dann würde er die gleiche Zeit brauchen, die sie für die Strecke von Aachen nach Liège benötigt hatten. Anstatt um 16 Uhr würden sie um 20 Uhr Brüssel erreicht haben. Nicht nur der von ihnen inzwischen vorgesehene, sondern alle Anschlusszüge wären dann abgefahren. Aber, so verbreitete der in Abständen auftauchende und immer lächelnde Schaffner, es würde noch ein letzter Zug nach London eingesetzt werden, eben für diejenigen, die aus diesem Zug dort hinwollten, und das waren eine ganze Menge.
Diese Menge bestand vor allem aus Männern. Sie hatten – das nahm er erst allmählich wahr – durchweg einen sehr ernsten, gespannten Gesichtsausdruck. Als ob etwas Entscheidendes auf dem Spiel stünde. Er konnte sich nicht verkneifen, auch wegen der eigenen Anspannung, einen besonders finster blickenden, direkt an der Wagentür stehenden, sozusagen auf den Ausstieg als erster hoffenden Mann zu fragen, wie denn die Lage sei. Wenn man Pech habe, müsse man sich ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs suchen, antwortete dieser, und das bei solcher Hitze. Aber noch hoffe er. In London seien die Temperaturen auf 29 Grad gestiegen. Also noch harmlos. Sein Gegenüber nickte.
Als die ersten Vororte von Brüssel aufgerufen wurden, war es ihm, als ob dadurch die belgische Hauptstadt, das vorläufige Ziel der Schreckensfahrt, als Ort der Rettung ausgezeichnet würde. Es war jetzt 20.30 Uhr. Tatsächlich sollte ein Extrazug nach London eingesetzt werden. Um 23 Uhr würde dieser nach London abfahren, ohne in Lille oder Calais anzuhalten. Das bedeutete, sie würden gegen ein Uhr nachts in London ankommen.
In den unteren Regionen des Brüsseler Bahnhofs war es hinter der Passkontrolle nicht mehr sonderlich heiß. Sie hätten todmüde sein müssen. Noch aber bemerkte er die eigene Müdigkeit nicht, zu sehr war er damit beschäftigt, welch ein Glück ihnen zuteil geworden war! Ja, ein Glück. Es war, als wäre er zum ersten Mal etwas wirklich Üblem entkommen. Ein solches Glück hatte er eigentlich noch nie empfunden! Nicht einmal als Junge während des Krieges. Und das, obwohl er immer viel Glück gehabt hatte. Lebensglück und Glück von Fall zu Fall. Diesmal aber erst nach etwas zutiefst Beunruhigendem, Erschreckendem.
Er hatte es bereits auf dem Bahnhof in Köln gespürt und vorher schon in dem gruseligen kleinen Hotel an der Hinterseite des Bahnhofs, wo sie für eine Nacht untergekommen waren und über das zu warme Zimmer ohne Klimaanlage noch hatten lachen müssen. Wohlverstanden nicht das übliche Kommerz-Hotel, in dem er sonst am liebsten übernachtete, obwohl man diesem Hotel nachsagte, es sei ein Stundenhotel. Dass etwas sich grundlegend verändert hatte, war ihm schon an den Reibekuchen aufgefallen, für die Köln einmal berühmt gewesen war, die nun aber selbst im Gaffel-Restaurant gegenüber dem Dom nicht mehr das waren, was sie einmal gewesen waren. Diese Reibekuchen schmeckten nicht mehr nach in Öl gebratenen Kartoffeln, sondern nach dem gelben Bindemittel, das man schon von außen an ihnen erkennen konnte. Das waren nicht mehr jene Reibekuchen, die er einst mit Vorliebe in einer Bude auf dem Bahnhofsplatz gegessen hatte.
Auch in London war es an diesem Tag extrem heiß gewesen, viel heißer, als der Mann im Zug behauptet hatte. Ihr Haus war, als sie schließlich um drei Uhr nachts dort ankamen, so warm wie nachts noch nie zuvor. Die Vorstellung, die beruhigende Gewissheit, die kontinentale Wetterkatastrophe werde die Insel nicht erreichen, hatte sich als falsch herausgestellt. Gewiss, es war nicht ganz so heiß geworden, aber immerhin. Gewiss, im Nordwesten Englands, in Schottland und in Wales hatte es nicht dieselben Temperaturen wie im Süden Englands gegeben. Es würde sie wohl auch vorläufig nicht geben, sagten die Wetterdiagnostiker. Aber in London, in London gab es sie eben doch.
Die Sonne hatte die europäischen Gleise im Juli und im August weiter im Griff gehabt. Nach wie vor – das war zu lesen – hatten Bahnarbeiten zwischen Köln und Aachen eben jene Strecke unbefahrbar gemacht, auf der sie im Juli nicht weitergekommen waren. Noch im Oktober, so erzählten Freunde, dauerte die Fahrt von Brüssel nach Köln eine Stunde länger, weil abermals eine Umleitung gewählt werden musste. Man hörte, im Unterschied zu Schottland, wo die Gleise längst mit einem anderen Stahl verstärkt worden waren und die Hitze nicht mit derselben Gewalt wie in Deutschland, Belgien, Frankreich und Südengland gewütet hatte, ähnliches jetzt auch von den englischen Bahnstrecken. Dies bedeutete einen Bruch mit der englischen Tradition des auf Eisen und Stahl ausgerichteten Lebens. Die englischen Brücken waren lange Zeit, wie die Engländer selbst es gerne ausdrückten, der »Neid Europas« gewesen: Die Brücke von Newcastle im Norden etwa war seit jeher ein ikonisches Zeugnis der glorreichen englischen Stahlkonstruktionen. Ähnlich wie die englischen Tanks, die Vorläufer der Panzer, am Ende des Ersten Weltkriegs
Wann würden sie im nächsten Jahr auf den Kontinent reisen können? Wohl nicht im Juli. Müssten sie, um sicherzugehen, das tun, was sie eigentlich nie taten, nämlich mit einem Flugzeug nach Berlin fliegen?