Martin Bleif
Das Tier in uns
Die biologischen Wurzeln der Menschlichkeit
Klett-Cotta
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Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Dr. Petra Kunzelmann, Coburg
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung einer Abbildung von © akg-images
(Agnolo Bronzino, Porträt von Cosimo I. de’ Medici als Orpheus)
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
ISBN 978-3-608-96486-8
E-Book ISBN 978-3-608-11655-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Lina
Black lives matter! In den USA stirbt – wieder einmal – ein Afroamerikaner durch die Hand eines Polizisten. Wenige Tage später brennt es in den Städten, als wären die Rassenunruhen(1) der 1960er Jahre gestern gewesen. Das halbe Jahrhundert dazwischen, inklusive eines schwarzen Präsidenten Obama(1), scheint vergessen zu sein. Wenige Tage später werden in Hongkong Menschen verhaftet, weil sie die Formel »ein Land, zwei Systeme« ernst nehmen. Die Volksrepublik China, die größte Volkswirtschaft der Erde, lässt wenig Zweifel daran, dass sie keine Absicht hat, das gebeutelte Hongkong am Wesen von »System Zwei«, der Demokratie westlichen Zuschnitts, wieder genesen zu lassen.
Weiter westlich, in Afghanistan, greifen mittelalterlich anmutende Religionsschüler(1) unverhohlen nach der Macht: Nationbuilding, Säkularisierung, Frauenrechte perdu! Überhaupt, die Religionen! In vielen islamischen Ländern haben Demokratien keinen guten Ruf; Autoritarismus und Theokratie dagegen stehen hoch im Kurs. Selbst in Europa spült eine (Rück-)Besinnung auf »nationale Werte« Politiker in die Parlamente, denen die Spielregeln einer »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« wenig oder gar nichts bedeuten, damit aber unsere Demokratien infrage stellen und dies auch unumwunden zugeben. Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie haben auch in Europa Konjunktur. Gleichzeitig stellen seltsam diffuse »postkapitalistische« Blütenträume die Systemfrage von der anderen Seite des politischen Spektrums.
Schnitt! Dreißig Jahre zuvor sah die Welt ganz anders aus. Damals schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama(1) (*1952) sein Buch: Das Ende der Geschichte.[1] Das »Ende« war nicht im Mindesten apokalyptisch gemeint – im Gegenteil. Fukuyama vertrat die Ansicht, dass nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes der Streit der Ideologien ein für alle Mal beendet und Politik von nun an eine angenehm technokratische Angelegenheit sei, bei der sich Politiker vorurteilslos um die Lösung praktischer Menschheitsprobleme kümmern könnten.
Nun, die Jahre nach dem Fall der Mauer sind beinahe entgegengesetzt verlaufen. Warum nur? Wieso fällt es uns so schwer, die Kunst der vernünftigen »Regelung des Gemeinwesens« vom Mehltau der Vorurteile und der Ressentiments zu befreien? Dazu gäbe es unendlich viel zu sagen. Aber wenn wir mit besonders eklatanten Rückfällen in Egoismen oder gar in atavistische Brutalität konfrontiert sind, wird das Bild vom »Tier im Menschen« bemüht, als ob dieses »Tier« – unsere Natur – etwas ist, das uns nachhängt wie ein Schleppanker, der die Menschheit auf ewig hindern wird, wirklich human und mitmenschlich zu sein.
Hier kommt die Biologie ins Spiel, die für Natur und für Tiere zuständig ist. Für Menschen auch? »In der Politik geht es letztendlich«, schrieb vor einigen Jahren der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman(1), »um die Wünsche und das Wohl der Menschen. In jede politische Frage fließen bestimmte Annahmen über die menschliche Natur ein«.[2]
Um diese Frage geht es in diesem Buch: Kann die moderne Biologie etwas zum Streit über die Natur des Menschen beitragen? Die Vorstellung, wie und was der Mensch sei, ist der Humus, in dem unsere politischen Weltbilder wurzeln. Unsere Weltbilder haben entscheidenden Anteil daran, ob wir Menschen uns eher für gut oder für böse, für egozentrisch oder für mitfühlend, für erziehbar oder determiniert, für »Kultur(1)«- oder »Natur-Wesen« halten. Politik ist geleitet von expliziten und impliziten Urteilen und Hypothesen(1) über die Natur des Menschen. Dabei stellt sich ein Problem: Diese Form von Wissen lässt sich nicht in Expertengremien auslagern. Spekulationen über den »Naturzustand« des Menschen gibt es, seitdem Menschen über sich nachdenken. Lange Zeit existierte kein empirischer Zugang zu diesen fundamentalen Fragen. Bis tief ins 19. Jahrhundert waren sie Domäne von Philosophie, Theologie und Staatskunde. Ohne eine durch Empirie auf die Realität zurückgespiegelte Theorie standen sich die unterschiedlichen Ansichten leider oft aggressiv bedrohlich, wütend, zornig, aber auch unentscheidbar gegenüber. Bis tief ins 19. Jahrhundert trugen die Naturwissenschaften zur Stellung des Menschen in der Natur und zur Frage nach der conditio humana(1) wenig bei. Dies hat sich in den vergangenen 150 Jahren dramatisch geändert, und darauf versuche ich aufmerksam zu machen. Vielleicht kann die Biologie heute an einigen Stellen in die Rolle eines Schiedsrichters treten.
Bereits an dieser Stelle wird etliche Leser ein Gespenst erschrecken: Kirchen, Redaktionen, Feuilletons und Fakultäten rund um den Globus fürchten sich vor dem Gespenst des Biologismus(1)! Ein Begriff, der zum Schimpfwort geworden ist. Daher werde ich im vorderen Teil der vier Kapitel des Buches den Versuch unternehmen, dieses »Gespenst« aus der Nähe zu betrachten. Biologismus ist keine Biologie. Dennoch – es steckt ein Tier in uns, aber im rechten Licht betrachtet ist dieses ›Menschentier‹ freundlicher, als viele glauben mögen.
Das Geheimnis des »rechten Lichts« liegt in der Perspektive, in der Kunst, sich zu bescheiden und die richtigen Fragen zu stellen. Naturwissenschaften – Biologie ist keine Ausnahme – nehmen keine universelle Perspektive ein. Ihr Erfolg beruht auf Zerlegung, Begrenzung, Reduktion. Die Wissenschaften blicken auf die Welt wie auf ein mehrgeschossiges Gebäude und betreiben Arbeitsteilung. Für jedes Stockwerk fühlt sich eine Disziplin zuständig. Trotz dieses »begrenzten Blickes« sollten Theorien über den Menschen nicht in Widerspruch zu dem geraten, was wir über seine Physik(1), Chemie(1) oder Biologie wissen. Diese These belege ich im vorderen Teil der vier Kapitel des Buches. Um die Natur dieser Bedingtheit zu erklären, betrachte ich wie der Philosoph Nicolai Hartmann(1) (1882–1950) in seiner Ontologie die materielle(1) Welt als ein System »hierarchisch angeordneter Schichten«.[3] Ich habe mir erlaubt, Hartmanns Bild den Erfordernissen dieses Buches anzupassen:
Wir können uns demnach die Welt als ein Gebäude mit einem geheimnisvollen Keller und vier überirdischen Stockwerken vorstellen, wobei einige der Stockwerke in mehrere Untergeschosse unterteilt sind. Tief unter der Oberfläche der sichtbaren Welt, in dunklen und nicht vollständig erschlossenen Kellern, liegt der platonische(1) Zoo der subatomaren »Teilchen«, regiert von den Gesetzen einer immer noch nicht wirklich verstandenen Physik(2).[4] Dagegen ist das Erdgeschoss recht ordentlich kartiert. Hier sind die Atome(1) zuhause; sie konstituieren das »Material«, aus dem die Welt besteht. Den Grundriss dieses Geschosses entworfen und ihn gezeichnet hat der russische Chemiker(2) Dimitri Iwanowitsch Mendelejew(1) (1834–1907) im Jahr 1869. Seit Mendelejew ist der eine oder andere ›Bewohner‹, das eine oder andere Element, hinzugekommen,[5] aber das Geschoss blieb überschaubar.[6]
Die Etage darüber, der erste Stock, nimmt deutlich mehr Raum ein. In seinen hohen und lichten Sälen wurden inzwischen drei Zwischengeschosse eingezogen. Im Untersten finden wir einfache chemische(3) Verbindungen, wie Salze(1) (z.B. NaCl) und kleine anorganische(1)(1) Moleküle(1) wie Wasser(1) (H2O), Kohlendioxid(1) (CO2) oder Kalk(1) (CACO3). Hier gelten die Gesetze der anorganischen Chemie. Im Zwischengeschoss darüber logieren organische(1) Moleküle, etwas größere Aggregate von Atomen(2), die zwei Dinge gemeinsam haben: Ihr Rückgrat besteht aus Kohlenstoff(1). Und sie werden in der Regel von Lebewesen produziert. Beispiele sind Zucker(1), Aminosäuren(1), Nukleotide(1) oder Harnstoff(1). Im obersten Zwischengeschoss finden wir die Riesen unter den Molekülen. Dort sind Makromoleküle(1) zuhause, Eiweiße(1) (Proteine), große Kohlenhydrate(1) und Nukleinsäuren(1). Dem Verhalten(1) dieser komplizierten Gebilde widmen sich die organische Chemie und die Biochemie(1).
Zwischen diesem und dem nächsten Stockwerk verläuft eine mysteriöse Grenze, die Grenze zwischen Leben und Tod. Der zweite Stock gehört den Lebewesen. Dort wohnen Individuen(1). So unterschiedlich diese Individuen sind, sie verbindet eine Gemeinsamkeit. Sie sind einzigartig und lebendig![7] Anders als Strukturen der unbelebten Welt haben Lebewesen die Fähigkeit zur Selbstregeneration(1), zum Stoffwechsel(1) und zur Reproduktion(1). Dafür benötigen sie Energie und Baumaterial. Sie stehen daher in ständigem Austausch mit der Welt. Und bezogen auf solche Individuen ist es zum ersten Mal angebracht, von Interessen zu sprechen. Denn Individuen verfolgen Ziele – bewusst(1) oder unbewusst. Sie »wollen« überleben und sich vermehren; sie haben Interessen und werden von ihnen geleitet. Die Wissenschaft, die sich für dieses Panoptikum verantwortlich fühlt, ist die Biologie.
Unter all diesen Lebewesen findet sich eine Affenart, die einige ganz spezielle Eigenheiten entwickelt hat. Wegen dieses Affen, dem Homo sapiens(1), wurde das Weltgebäude um ein Stockwerk erweitert. Manche Eigenarten des Homo sapiens entziehen sich der Sprache der Biologie. Für seine Intentionen, Motive und sein bewusstes Denken(1) und Handeln(1) fühlen sich Psychologen(1), Linguisten(1) oder die Kulturwissenschaftler zuständig, ›vermessen‹ und deuten die Produkte des menschlichen Geistes. In diesem obersten Stockwerk finden wir ferner die Strukturen und Abstraktionen, die durch den Zusammenschluss menschlicher Individuen(2) entstehen: Familien, Dorfgemeinschaften, Stämme, Völker, Staaten und Organisationen. Ihre Eigenarten, Erscheinungsformen, Regeln und Produkte nennen wir Kultur(2).[8]
Dieses verführerisch übersichtliche Gebäude entspricht unserer zutiefst menschlichen – anthropomorphen – Sicht der Welt. Eine Kopfgeburt, aber »heuristisch(1) wertvoll«. Arbeitsteilung und Beschränkung sind Gründe für den Erfolg der Naturwissenschaften. Und demnach nehme ich im vorderen Teil der vier Kapitel die Perspektive der »Welt der Stockwerke« ein. Um sich im Riesenreich der Biologie zurechtzufinden, braucht es Karte und Kompass. So werden in diesem Buch drei zentrale Konzepte vorgestellt, die unterschiedlichen Stockwerken angehören, und ein weiterer Entwurf, der die Biologie erst zur Wissenschaft macht. Kapitel Eins beginnt mit einem kurzen Porträt der Evolutionstheorie(1), weil sie der Mörtel ist, der die Biologie im Innersten zusammenhält. Kapitel Zwei widmet sich dem Konzept der Gene(1) – materiell(2) betrachtet, nicht als große Moleküle(2). Sie wohnen daher im Erdgeschoss. Allerdings wird sich zeigen, dass sie Eigenschaften entwickelt haben, die über die Materie hinausweisen. Im dritten Kapitel wird das »Atom(3) des Lebens« behandelt – in zweifachem Sinn. Zellen(1) sind Lebewesen und daher im ersten Stock zuhause. Der Blick in die Zelle wird enthüllen, worin das Geheimnis des Lebens besteht. Kapitel Vier dreht sich um das Gehirn(1). Gehirne sind zunächst nichts anderes als Verbünde von Zellen, die es in sich haben. Denn nach Ansicht fast aller Biologen ist das Gehirn die Grundlage des Menschseins.
Am Ende jedes Kapitels dreht sich der Blickwinkel um 90°. Was die Biologie über Evolution(1), Gene(2), Zellen(2) und Gehirne(2) erzählt, führt direkt an die Kreuzungen, wo sich Menschen seit Jahrhunderten über die Natur des Menschen die Köpfe heißgeredet und viel zu oft auch eingeschlagen haben. Kapitel Eins schließt mit der Frage nach den biologischen Wurzeln von Gut und Böse. In Kapitel Zwei geht es um die rätselhafte Beziehung zwischen Genen und Merkmalen(1), um die Rolle von Erbe und Erziehung, um die vielen Mythen zwischen Tabula(1) rasa und genetischer Marionette, um Volk und »Rasse(1)«, Sex und Gender(1), Menschenzucht, Optimierung und vermeintliche Perfektion. Das Problem der Definition von Anfang und Ende einer menschlichen Existenz, die Fragen nach dem Geheimnis des Lebens werden am Ende von Kapitel Drei gespiegelt in dem Bild, das die Biologie von Evolution, Gen, Zelle und Gehirn gezeichnet hat. Kapitel Vier konfrontiert die biologischen Erkenntnisse über das Gehirn mit Fragen nach der Konstitution des menschlichen Ichs, seinen Fähigkeiten, Freiheiten und Grenzen. Ist unser Gehirn auf die Wirklichkeit bezogen und wenn ja, wie? Es geht aber ebenso um Maschinenmenschen, um Geister in der Maschine, um das Animal rationale und die (un)vernünftige Vernunft – es geht um uns und in gewisser Weise um alles, woran wir Menschen beteiligt sind, und darum, wer und was wir sind.
Das ist die eine Seite dieses Buches. Die andere Seite ist eine Art Gebrauchsanleitung, die in und zwischen den Zeilen versteckt liegt. Natürlich sind Menschen beides, Natur- und Kulturwesen(3). Und die Biologie ist pikanterweise selbst ein Kulturprodukt. Als solches ist sie nicht immer einfach zu lesen. Ein Blick auf die vergangenen 150 Jahre zeigt, dass die Furcht vor dem Gespenst des Biologismus(2) nicht unbegründet ist. Missbrauchte und missverstandene Biologie hat im 20. Jahrhundert viel Unheil angerichtet.
Die Gebrauchsanleitung beginnt daher mit zwei Geboten: Das erste Gebot heißt: Du sollst mich nicht überstrapazieren. Schließlich gibt es Aspekte des menschlichen Lebens, zu denen die Biologie nichts zu sagen hat. Eine biologische Theorie der barocken Lyrik etwa wäre im besten Fall grob unvollständig, vielleicht auch nur lächerlich. In diesem Sinne gibt es keine »Theorie für alles«.[9] Zweifeln ist der Wissenschaft näher als Glauben. Wer Wissenschaft zur Religion(2) erhebt, aus Biologie Biolog-ismus macht, versetzt ihr den Todesstoß. Ich werde über einige solcher unangemessenen Überdehnungen berichten.
Dennoch, der Homo sapiens(2) ist ein Produkt der Evolution(2). Und im weiteren Verlauf wird sich zeigen, dass das sowohl für den Gattungsbegriff Homo wie auch für den Zusatz sapiens zutrifft. Das zweite Gebot lautet deshalb: Du sollst mich nicht ignorieren. Die Geschichten von Evolution, Genen, Zellen(3) und Gehirnen(3) werden hoffentlich klar machen, mehr zu sein als beliebige und frei verhandelbare »Narrative«. Theorien der Biologie sind keine Moden, die einander ablösen, wie der Minirock den Maxirock. In der Regel löst in der Wissenschaft die bessere, die umfassendere die schlechtere und begrenztere Theorie ab. Kopernikus(1) ersetzte Ptolemäus(1) und Einstein(1) folgte auf Newton(1), nicht weil die Altvorderen nicht mehr »fancy« waren, sondern weil Einstein und Kopernikus Fragen beantworten und Widersprüche auflösen konnten, die ihre Vorgänger offenlassen mussten.
Zur Gebrauchsanleitung fehlen noch die »Leseregeln«: Die Metapher von der Welt als mehrgeschossiges Gebäude hat etwas verführerisch Übersichtliches. Das ist gut so! Für jedes Stockwerk ist eine Wissenschaft zuständig, die ihre speziellen Gegenstände, Fragen, Regeln und Methoden, sogar ihre eigene Sprache hat. Gerade die Sprache ist aber ein ewiger Quell von Missverständnissen. Mit dem Abstecken der Claims und mit der Mahnung zu sprachlicher Sorgfalt ist die Gebrauchsanleitung nicht komplett. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und den Verbrechen der Nationalsozialisten war die Vermischung von biologischen und gesellschaftlichen Fragen anrüchig geworden. In wunderbar dialektischer Manier schlug das Pendel in den 1950er und 1960er Jahren ins Gegenteil um. Die Lösung schien einfach und hieß von nun an: Schuster, bleibt bei euren Leisten! Jede Wissenschaft sollte sich auf ihren Kern konzentrieren und die Wissenschaften von der Natur sollten sich aus Fragen zu Mensch und Gesellschaft heraushalten. Heraus kam das, was der Brite Charles Percy Snow(1) Ende der 1950er Jahr als Spaltung des »intellektuelle[n] Leben[s] der gesamten westlichen Gesellschaft« in die »zwei Kulturen« diagnostiziert hat, eine Spaltung in die Welt der Naturwissenschaft und in die der Humanwissenschaften. Snow(2) beklagte diese Spaltung. Zu Recht! Denn der partitionierte Blick produziert Missverständnisse und Fehleinschätzungen, vor allem wenn im obersten Geschoss über den Menschen gestritten wird, ohne die Beschaffenheit der Etagen darunter zu kennen.
Die Natur von Missverständnissen dieser Art zu identifizieren, ist das dritte und letzte Ziel der »Gebrauchsanleitung«. Die Metapher vom »mehrgeschossigen Haus« sorgt für Übersicht. Spezialisierung ist notwendig, weil die immer komplexeren Strukturen auf jeder Ebene Phänomene produzieren, die sich nur mithilfe von Begrifflichkeiten innerhalb dieser Ebene erklären lassen.
Der Hirnforscher(1) Valentin Braitenberg(1) schrieb vor einigen Jahren: »Letztlich ist [auch] alles Geistige zurückzuführen auf verschiedene Gestaltungen der Materie(3)«. Dieser Satz ist für viele Menschen eine Zumutung. Aber hier ist Gelassenheit angesagt, denn es fehlt der entscheidende Nachsatz – etwas, das »entweder innerhalb eines Dings oder im Zusammenhang der Dinge untereinander entstehen kann«. Was er damit meint, versucht er mithilfe eines harmloseren Beispiels deutlich zu machen. Etwas, was nur im Zusammenspiel vieler Dinge entstehen kann, ist zum Beispiel der Tauschwert einer Münze. Braitenberg fährt fort: »Schönheit, Wert, historische Bedeutung, Echtheit sind Begriffe, die nur innerhalb dieser GEISTERLEHRE zu verstehen sind«.[10] Mit Geisterlehre meint er, durch eine ganz bestimmte Anordnung von Materieteilchen könne etwas entstehen, das über die Materie selbst hinausgeht, das neu ist, das Bedeutung hat und nur innerhalb des Bezugs- und Begriffssystems einer neuen, übergeordneten Ebene vernünftig beschrieben werden kann. So etwas schien schon der griechische Philosoph Aristoteles(1) (384–322 v. Chr.) erahnt zu haben, als er schrieb »Das, was aus den Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, nicht nach der Art eines Haufens, sondern wie ein Wort, das ist offenbar mehr als die Summe seiner Teile«.[11] Philosophen haben dafür einen Begriff geprägt. Sie sprechen von Emergenz(1), wenn sich aus einer Kombination von Teilsystemen ein neues komplexes System mit eigenen Systemeigenschaften ergibt.[12] Der Verhaltensforscher(1) Konrad Lorenz(1), der den raunenden Unterton dieses Begriffs nicht mochte, weil er den Anschein erwecken könne, hier trete etwas vorher Vorhandenes, bisher Verborgenes, endlich ans Licht, ersetzte Emergenz durch den alten scholastischen Begriff der Fulguration(1) (von lat. fulgur = Blitz), um klar zu machen, dass hier schlagartig Neues entsteht. Egal wie wir das Kind nennen, Beispiele für die Entstehung »neuer Ganzheiten« gibt es unzählige. Auf den ersten Blick scheint sich tatsächlich Geisterhaftes abzuspielen, eine Art ›creatio ex nihil‹.[13] Denn solche Bewohner der nächsthöheren Ebene sind mehr als die Summe ihrer Bausteine aus den Stockwerken darunter. Ein zweiter Blick auf die konkreten Beispiele mag helfen, Emergenz zu entmystifizieren. Moleküle(3), Zellen(4), Lebewesen, Kühlschränke oder Computer, auch Texte oder Theorien, sie alle produzieren emergente Phänomene: Ein Elektron(1) ist ein fast masseloses, negativ geladenes Teilchen, ein Proton(1) ein schweres, positiv geladenes. Vereinigen sie sich, so entsteht ein Wasserstoffatom, das zwar so schwer wie Proton und Elektron zusammen, aber elektrisch(1) neutral ist, eine neue emergente Eigenschaft. Wasserstoff(1) hat weitere emergente Eigenschaften. Er ist brennbar und reagiert mit Sauerstoff(1) explosionsartig zu Wasser(2). Sauerstoff und Wasserstoff sind Gase(1). Verbinden sie sich, so entsteht Wasser, eine Flüssigkeit mit wieder neuen emergenten Eigenschaften. Auch Sprache hat emergente Charakteristika. Aus 26 Buchstaben lassen sich alle Wörter der Welt zusammenfügen. Ihre zig verschiedenen Bedeutungen sind etwas, das aus einer speziellen Anordnung von Buchstaben – einer Struktur – hervorgeht. So betrachtet hat Emergenz nichts Magisches.
Mit der Emergenz(2) ist allerdings ein Problem verknüpft. Eigenschaften komplexer Systeme lassen sich nicht immer vollständig aus den Teileigenschaften ihrer Bausteine herleiten oder erklären. Daher müssen zur Beschreibung emergenter Phänomene Begrifflichkeiten entwickelt werden, die auf den Beschreibungsebenen darunter, dort, wo die »Einzelteile« zuhause sind, keinen Sinn ergeben.[14]
Manche Freunde der Emergenz(3) schütten an dieser Stelle das Kind mit dem Bade aus und glauben, damit wäre der naturwissenschaftliche Anspruch auf allgemeine Gültigkeit ihrer Gesetze bis in die Grundfesten erschüttert. Emergenz wird gerne bemüht, um wissenschaftliche Theorien aus dem obersten Stockwerk, der Soziologie(1) oder Psychologie(2), gegenüber Zumutungen aus den Kellergeschossen in Schutz zu nehmen. Aber natürlich wirken die Gesetze der Physik(3) nicht nur in Atomen(4), sondern auch in Mäusen und Menschen. In diesem Sinn sind die Naturgesetze universell.
Nur ist die Sprache der Physik(4) nicht gemacht, um alle Phänomene zu beschreiben, die uns in den höher gelegenen Stockwerken begegnen. Selbst der scheinbar grundsolide und universelle Begriff Materie(4) zerfällt zu semantischem Staub, wenn er in die subatomare Welt der Quarks und Strings entführt wird.[15] Begriffe wie elektrische(1) Ladung oder Bindungsvalenz(1)[16] beziehen sich auf Atome(5) und Moleküle(4), sind also im Keller des Gebäudes, wo die subatomaren Teilchen hausen, ohne Sinn. Polarität(1), Chiralität(1) oder Tertiärstruktur(1) sind Eigenschaften von Molekülen. In dem Stockwerk, auf dem die Atome wohnen, haben diese Erscheinungen keine Bedeutung. Das Problem dieses terminologischen Relativismus zieht sich durch alle Ebenen. Jeder Begriff ist in seinem Bedeutungsraum zuhause und löst sich jenseits seiner Grenzen in Rauch auf. Gift und Giftigkeit macht nur in Bezug auf Lebewesen Sinn. Moleküle oder Minerale(1) lassen sich nicht vergiften, höchstens im metaphorischen Sinn. Wir werden sehen, was passiert, wenn Begriffe aus den obersten Stockwerken wie Information, Bedeutung, Absicht, Glück, Liebe, Schönheit, Bewusstsein(2), Wille, Sinn, Vergnügen, Hass oder Freiheit aus ihrer angestammten Heimat entführt und in die falschen Stockwerke verschleppt werden.