William Gibson

Die Neuromancer-Trilogie

GOLDEDITION

Klett-Cotta

Inhalt

Dieses E-Book enthält die folgenden Bände der Neuromancer-Trilogie:

Neuromancer

Count Zero

Mona Lisa Overdrive

Cover 1

William Gibson

Neuromancer

Aus dem Amerikanischen von Reinhard Heinz und Peter Robert

Roman

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Neuromancer« im Verlag Ace, New York

© 1984 by William Gibson

Vorwort © 2016 by Neil Gaiman

Published by Arrangement with Neil Gaiman

Das Vorwort wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung eines Fotos von © Steve Roe Photography

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50488-0

E-Book: ISBN 978-3-608-12111-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Vorwort

Worüber Wir Sprechen, Wenn Wir Über Science-Fiction Sprechen

Es gibt ein Sprichwort, das besagt, das Goldene Zeitalter der Science-Fiction sei dann, wenn man gerade zwölf ist, und da ist etwas dran. In den späten 1960er und frühen 70er Jahren  – meiner Kindheit – gab es die von Brian Aldiss edierten Kurzgeschichten-Anthologien, die erschütternden Armageddons eines J. G. Ballard, die sehr viel gemütlicheren Armageddons eines John Wyndham, die funkelnden, bitterbösen und urkomischen Zukunftsvisionen eines Alfred Bester. Und es gab Autoren wie Robert Sheckley, Ray Bradbury, Edgar Pangborn, Fritz Leiber und Philip K. Dick: allesamt kraftvolle Schriftsteller, die die Gedanken im Kopf dieses Jungen grundlegend veränderten, als er ihre Bücher las.

Es ist mir daher eine Freude, dieses Vorwort zu schreiben. »Für wen schreibst du es?«, hat mich meine Frau gefragt. Und ich hatte keine Antwort darauf. Doch jetzt, bei Tag betrachtet, glaube ich, ich schreibe es für jemanden, der neugierig ist. Sie haben ein paar Science-Fiction- oder Fantasy-Romane gelesen – oder vielleicht sehr viele – und Sie wollen noch mehr davon. Und Sie möchten wissen, was die ganze Aufregung soll.

Zu Beginn sollten wir unsere Begriffe schärfen. Für Science-Fiction  – auch bekannt als Sci-Fi oder SF oder Phantastische Literatur (auf Englisch »Speculative Fiction«, den Begriff habe ich immer am meisten gemocht)  – gibt es viele Erklärungen. Brian Aldiss’ Definition als »Hybris, die von der Nemesis verprügelt wird« gefällt mir ganz gut (und ist merkwürdigerweise ziemlich akkurat). Eine andere ist »die Literatur der Ideen«. Ich persönlich tendiere dazu, Science-Fiction als all das zu bezeichnen, auf das ich zeige, wenn ich sage »Jep, das ist Sci-Fi.« Das ist einfacher.

Phantastische Literatur erfüllt einen anderen Zweck als andere Genres der fiktionalen Literatur. Die meiste Literatur hat zum Ziel, die Welt, in der wir leben, zu beleuchten, indem sie sie so genau und vollständig wie möglich beschreibt. Das Ziel von Sci-Fi ist es hingegen, die Welt zu beleuchten, indem sie etwas sehr anderes beschreibt als die gewöhnliche, alltägliche Realität; stattdessen wird uns darin eine gespiegelte Welt gezeigt, eine extrapolierte Version unseres Lebens. Ein winziger Trend kann zu etwas Riesigem aufgeblasen, oder auch isoliert für sich betrachtet werden. Etwas, das wir erleben oder uns vorstellen, kann topografisch auf ein neues System übertragen werden, immer mit dem Ziel, es noch deutlicher zu beschreiben. In der Phantastischen Literatur werden Ideen und Betrachtungsweisen des Universums so wichtig wie – und manchmal sogar noch wichtiger als – die Menschen.

Doch auch wenn Sci-Fi eine Literatur der Ideen ist, heißt das nicht, dass es darin keine Figuren gibt, die uns am Herzen liegen, keine Schönheit der Sprache, keine menschlichen Entwicklungen oder Veränderungen in der Handlung. Es heißt jedoch, dass die Ideen oftmals wichtiger sind als alles andere in der Geschichte, oder vielleicht auch, dass die Ideen die Existenzgrundlage der Geschichte bilden. Und auch wenn wir die Menschen in den Geschichten sehen und sie uns am Herzen liegen, wird deren Zeitalter und Leben doch erleuchtet von Ideen.

Letzte Nacht, während ich in den Schlaf sank und gerade auf der Schwelle zum Reich der Träume stand, wurde mir auf einmal schlagartig die Gemeinsamkeit zwischen Science-Fiction und Surrealismus bewusst, nämlich dass beide, um die beste Wirkung zu erzielen, absolut für bare Münze genommen werden müssen. Metaphern sind immer Metaphern, klar. Doch erst, wenn wir sie wörtlich nehmen, erhalten wir Zutritt zum Land der Träume. In der Science-Fiction wird, wenn wir Sätze wie »Sie hatte Hasenaugen« oder »Vor fünf Jahren hatte sich ihre Welt aufgelöst« oder »Jeden Morgen wachte sie auf und starb« wörtlich nehmen, die Tür zu den Realitäten der Geschichte aufgestoßen. Das sind keine lahmen Metaphern; es sind Beschreibungen der Welt. Das gesamte Werk wird zur eigentlichen Metapher.

Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines

Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war.

Als William Gibson 1983 diesen Satz schrieb – es ist der Eröffnungssatz seines Romans Neuromancer –, konnte ein toter TV-Kanal nur eines sein: eine Melange aus elektrostatischen Punkten, die über einen undefinierbaren grauen Hintergrund rauschten. Wir alle hatten sie schon mal angestarrt, irgendwann, wenn wir von Kanal zu Kanal schalteten, hatten mit zusammengekniffenen Augen geschaut, ob sich darin ein Bild verbarg, hatten dem Rauschen gelauscht.

1997, als ich gerade einen Roman namens Niemalsland schrieb, hatte ich meinen Spaß daran, eine kleine Hommage an Gibson einzubauen: »Der Himmel hatte dieses perfekte, sorgenfreie Blau eines Fernsehbildschirms ohne Signal«, schrieb ich. Im Jahr 1997 war die analoge Welt bereits in der Versenkung verschwunden und die digitale Welt war Realität geworden, und tote Kanäle auf Fernsehbildschirmen waren jetzt blau.

Letzte Woche befragte ich mehrere Teenager und junge Erwachsene in meinem Freundeskreis, die mit Fernsehsendungen auf Computern und Handys großgeworden waren, was sie glaubten, wie ein Fernseher auf einem toten Kanal ihrer Meinung nach als Himmel aussähe. Sie alle mussten kurz nachdenken, und sie alle waren der Meinung, dass ein solcher Himmel komplett schwarz wäre, ein Nachthimmel ohne Sterne.

Der Eröffnungssatz von Neuromancer hat sich nicht verändert, wir hingegen verändern uns stetig, und mit uns verändert sich auch die Art, wie wir die Worte auf dem Papier lesen. Die Zeit ist erbarmungslos und Wandel und Unsicherheit sind die einzigen Konstanten auf unserer Reise ins Morgen und alle Morgen, die noch folgen. Alvin Toffler nannte das in seinem Buch von 1970 den »Zukunftsschock« – das Gefühl, dass sich die Dinge zu schnell verändern, als dass wir dabei mithalten können, die Orientierungslosigkeit und die Belastung, der wir ausgesetzt sind, während wir in die Zukunft taumeln. Science-Fiction, phantastische Literatur, die Fiktion der Vorstellung, ist ein Kissen, oder vielleicht ein Stoßdämpfer, gegen den Zukunftsschock. Die Zeit mag uns und die Welt, in der wir leben, verändern – die Science-Fiction ist schon dort gewesen und hat uns mit einem Verständnis für die Welt ausgestattet, in der wir uns nun wiederfinden.

Jede fiktionale Literatur handelt von dem Jetzt des Schreibenden; von was könnte sie sonst handeln? Doch sie ist auch eine Methode, um das Jetzt erträglicher und verständlicher zu gestalten. Historische Romane handeln vom Jetzt. Fantasy-Romane, egal, wann oder wo sie spielen, handeln vom Jetzt. In beiden Fällen hält die Fiktion uns, den Leserinnen und Lesern, einen Spiegel vor, und zeigt uns uns selbst: Vielleicht tragen wir seltsame Kleidung, aber unter den ungewohnten Gewändern sehen wir in unsere eigenen Gesichter.

Was jene, die Science-Fiction- und Fantasy-Romane schreiben, tun, ist, über uns zu schreiben – das tun alle Menschen, die schreiben. Wir schreiben darüber, was wir sehen und was wir denken und was wir fürchten und was wir hoffen. Was wir nicht tun, wenn wir Sci-Fi schreiben, ist, zu versuchen, die Zukunft vorherzusagen, und selbst wenn wir einmal zufällig die Dinge beschreiben, wie sie in der Zukunft sind, erhalten wir keine Extrapunkte fürs Rechthaben.

Wir mögen zuweilen Zukünfte erschaffen oder bei ihrer Entstehung helfen, oder die Welt und die Leserschaft vor Gefahren warnen, die uns auflauern wie Wölfe im tiefen, dunklen Wald. Denn was immer wir glauben, was wir tun, wenn wir schreiben, in Wirklichkeit schreiben wir doch über unsere Gegenwart. Was wir schreiben, ist immer eine Spiegelung unserer jeweiligen Zeit, und wird es immer sein, wie die Frisuren in Filmen, die unsichtbar sind für die Menschen, die die Filme bei ihrem Erscheinen sehen, und die sie dann für immer in einer bestimmten Zeit verankern.

Während sich die Zeiten ändern, verändert sich auch das, was wir geschrieben haben, selbst, wenn die Worte auf dem Papier die gleichen bleiben. Aus einer Zukunftsvision aus den 1950ern erfahren wir mehr über die Ängste und Hoffnungen und Träume der 1950er, als wir darin jemals über die Zukunft erfahren werden.

Das trifft jetzt mehr denn je zu: Immerhin leben wir jetzt in der Zukunft, die man sich in so viel Sci-Fi-Literatur der Vergangenheit vorgestellt hat. Im Jahr 2001 haben wir jedenfalls nicht, wie in Arthur C. Clarkes Roman, den seltsamen Monolithen auf dem Mond gefunden. Für einige von uns war es das Jahr, in dem das World Trade Center zerstört wurde; für andere ist es bereits Teil der fernen Vergangenheit, der unendlich weiten Geschichte der Zeit vor unserer Geburt. Doch ich vermute, je prophetischer und stichhaltiger durchdacht ein Science-Fiction-Text ist, vielleicht sogar je genauer ein solcher Text als Vorhersage fungiert, desto weniger Nutzen hat er als Fiktion, sobald sein Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist. Die genauen Vorhersagen werden zum reinen Hintergrund und damit geradezu unsichtbar für die Leserschaft, während die Löcher und Ungenauigkeiten ablenken. Während also einige alte Zukünfte nur schlecht altern – von innen vermodern und irgendwann zerbröckeln –, gibt es andere, die reifen wie guter Wein.

Einen größeren Nutzen als Vorhersagen bieten uns Gedankenexperimente. Es ist egal, dass 1984 in seinen Details, wenn man sie als Vorhersagen versteht, nicht eingetroffen ist. Was uns Orwell über Organisationen und Menschen erzählt hat, über das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, über die Art, wie Regierungen und Gruppierungen das Individuum kontrollieren und zerstören können  – all das ist heute so wahr wie eh und je. Gedankenexperimente – jene, die mit »Was wäre, wenn …« beginnen und mit »Wenn doch nur …« und »Wenn es so weitergeht  …«  – ermöglichen uns zu sehen, dass die Dinge anders sein können, und dann schreiben wir selbst Geschichten, die von jenen Gedanken inspiriert sind.

Was wäre, wenn wir mithilfe von Elektrizität die Toten wieder zum Leben erwecken könnten? Was wäre, wenn eine Invasion von Marsianern in riesigen dreibeinigen Maschinen die Erde bedroht?

Wenn doch nur die Menschen in einer perfekten Welt leben würden …

Wenn es so weitergeht, werden Bücher verboten und verbrannt von Menschen, deren Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass niemand mit verstörenden neuen Gedanken infiziert wird.

Wenn diese Konzepte in Geschichten gefasst werden, dann oft mit dem Ziel, die Hauptfiguren aus ihrer bestehenden Weltanschauung in eine neue, radikal andere Sicht auf die Dinge zu führen. Es ist dieselbe Reise, auf die Schriftsteller*innen auch ihre Leserschaft mitzunehmen hoffen. Wir möchten Ihnen zeigen, dass Ihre Art, die Welt zu sehen, wie auch bei den Menschen in den Geschichten, irgendwie falsch ist – dass vielleicht Ihre Weltanschauung veraltet ist oder irrelevant; vor allem, dass sie unvollständig ist. Wir möchten, dass Sie sich vorstellen, dass die Dinge anders sein können. Und wir möchten das, weil Sie dann am Ende der Geschichte das Buch zuklappen und, vielleicht, Ihre Welt verändern werden.

Klassiker der Phantastischen Literatur müssen lange genug existieren, um Klassiker zu werden. Wenn sie dann zu Klassikern geworden sind, sind ihre Mahnungen oftmals zu den Mahnungen von gestern geworden, der Zeitgeist, den sie heraufbeschwören oder dem sie abschwören oder vor dem sie warnen, ist nicht mehr der unsrige. Was sie jedoch zu Klassikern macht, ist ihre Stimme, die uns davon berichtet, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, die uns die Augen öffnet für eine Welt, die wir, oder unsere Eltern, oder deren Eltern, uns niemals hätten vorstellen können.

Das Jahr 1984 scheint noch so nah und doch schon so weit weg. Es war ein Science-Fiction-Jahr: Orwells Vision von einem totalitären England  – was wiederum eine dunkle Spiegelung des Jahres 1948 darstellte  – war nicht eingetroffen, aber ein Science-Fiction-Zeitalter war angebrochen. Die Zukunft lag unmittelbar vor uns, aber niemand von uns wusste, was uns darin erwartete.

Wir hatten damals noch keine Handys oder das Internet. Wir hatten noch keine Konzepte davon, was auf uns zukam.

Ich frage mich selbst heute noch, inwieweit William Gibson eine Zukunft beschrieben, und wie sehr er sie vielleicht auch ermöglicht hat  – wie sehr die Menschen, die Neuromancer gelesen und geliebt haben, die Zukunft um Gibsons Vision herum gebaut haben. In jedem Fall bedeutete Neuromancer eine Zäsur in dem Genre.

Zusätzlich zum berühmten Eröffnungssatz – ich habe weiter oben bereits darüber gesprochen, wie die Zeit die Bedeutung des fernsehfarbenen Himmels verändert hat  – gibt es andere Momente in Neuromancer, die uns vergegenwärtigen, dass wir uns nicht in unserer Zukunft befinden, sondern hinausblicken auf die Zukunft von 1983: Hier sehen wir eine Reihe altertümlicher Münztelefone nacheinander klingeln, dort ein Modem (1983 eine absolute High-Tech-Spielerei), und meinen persönlichen Favoriten: »drei Megabyte heißes RAM«, die im ersten Kapitel die Handlung lostreten. (Als ich, im Jahr nach dem Erscheinen von Neuromancer, meinen ersten Computer kaufte, versuchte mich der Verkäufer davon zu überzeugen, dass ich keine 20-Megabyte-Festplatte bräuchte. Ich würde die nie vollmachen, erklärte er mir. Ich sollte mir lieber die günstigere 10-Megabyte-Variante zulegen.) Doch das alles schmälert weder das Buch noch Gibsons Errungenschaft.

Konsolencowboy Case hat die ultimative tickende Zeitbombe in seiner Blutbahn und muss eine Mission erfüllen, um am Leben zu bleiben. Dazu kommt, dass er alles und jeden verloren hat, der ihm jemals wichtig gewesen ist, und jetzt tut er das Einzige, was er kann oder in dem er einigermaßen gut ist. Molly, mit den implantierten verspiegelten Brillengläsern und Rasierklingen unter den Fingernägeln, versucht ihn am Leben zu halten so gut sie kann. Es gibt die ein oder andere frei herumlaufende künstliche Intelligenz, und natürlich die Turing-Polizei, die ein Auge auf das Treiben der abtrünnigen KIs hat.

Neuromancer ist sui generis, hat gleichzeitig jedoch einen klar erkennbaren Sci-Fi-Hintergrund, eine furchtlose Vereinigung von Samuel R. Delanys Prosa und Alfred Besters narrativem Bombast. Vor allem hält sich Gibson an Raymond Chandlers Bemerkung, dass man für das Schreiben von Pulp-Fiction, »konstant Action braucht; wenn man innehielt, um nachzudenken, war man verloren. Im Zweifel musste man einfach einen Mann ins Zimmer kommen lassen, der eine Waffe in der Hand hält.« In Neuromancer kommen Männer und Frauen, und teilweise nicht ganz menschliche Dinge durch Türen, und sie alle haben Waffen in den Händen. Wir halten nie inne, um nachzudenken. Das ist sicherer.

Neuromancer ist Gibsons Debütroman, und es ist eine wahre Freude, einem jungen Autor, der zuvor noch nie einen Roman geschrieben hat, dabei zuzuschauen, wie er alles, was er zu bieten hat, in einen großen Topf schmeißt, inklusive seiner Liebe zur Band Velvet Underground, deren Song »Cool It Down« ebenso viel von der Handlung von Neuromancer andeutet, wie es der Song »Pale Blue Eyes« bei Gibsons Kurzgeschichte »Burning Chrome« getan hatte.

Gibson sollte noch zwei weitere Romane in der Zukunft des Sprawl schreiben, die auf die Handlung von Neuromancer aufbauen: Biochips und Mona Lisa Overdrive. Seitdem haben sich die von ihm beschriebenen Zukünfte, allesamt akribisch beobachtet, immer weiter an ihre Bestimmungsorte und auf unsere eigene Zeit zubewegt. Wenn heutzutage Gibsons Romane im Hier und Jetzt spielen, liegt das vielleicht daran, dass das Hier und Jetzt bereits Science-Fiction ist. Wir schwimmen bereits im Zukunftsschock und brauchen jemanden, der uns sagt, wie das Wasser um uns herum schmeckt.

Sciene Fiction nimmt die Menschen mit auf eine Reise. Und wenn man zurückkehrt, ist man möglicherweise nicht mehr dieselbe Person, die man bei der Abreise gewesen ist.

Auf dass Sie unbeschadet zurückkehren, und auf dass Ihre Reise nie ganz ungefährlich ist.

Neil Gaiman

Erster Teil
Chiba City Blues

1

Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war.

»Ich bin ja kein User«, hörte Case jemanden sagen, als er sich durch die Menge an der Tür des Chat drängte. »Mein Körper leidet neuerdings einfach unter Drogenmangel.« Es war eine Sprawlstimme und ein Sprawlspruch. Das Chatsubo war eine Bar für Berufsexilanten; man konnte dort eine Woche bechern, ohne ein Wort Japanisch zu hören.

Ratz schmiss die Bar. Seine Armprothese zuckte monoton, als er einen Schwung Gläser mit Kirin vom Fass füllte. Er sah Case und lächelte. Sein Gebiss war ein Flickwerk aus osteuropäischem Stahl und brauner Fäulnis. Case fand einen Platz an der Theke zwischen der unnatürlichen Bräune einer Hure von Lonny Zone und der steifen Marineuniform eines großen Afrikaners, dessen Wangen von präzisen Reihen wulstiger Stammesnarben gezeichnet waren. »Wage war schon da, mit zwei Mackern«, sagte Ratz und schob Case mit seiner unversehrten Hand ein Bierglas über den Tresen. »Geschäfte, ihr beide, Case?«

Case zuckte mit den Achseln. Das Mädchen zu seiner Rechten stupste ihn kichernd an.

Das Lächeln des Barmanns wurde breiter. Seine Hässlichkeit war legendär  – im Zeitalter käuflicher Schönheit hatte sein Mangel daran Signalwirkung. Der altertümliche Arm surrte, als er nach einem anderen Glas griff. Es war eine russische Militärprothese, ein Greifer mit sieben Funktionen, rückkopplungsgesteuert und eingegossen in schmuddeliges, pinkfarbenes Plastik. »Spielst den Künstler, Monsieur Case.« Ratz grunzte, ein Geräusch, das bei ihm als Lachen fungierte. Er kratzte sich mit der pinkfarbenen Klaue den in ein weißes Hemd gezwängten, überhängenden Bauch. »Jonglierst mit irgendwelchen komischen Deals.«

»Klar«, sagte Case und trank einen Schluck Bier. »Einer muss hier ja komisch sein. Du bist’s jedenfalls nicht, verdammte Scheiße.«

Das Kichern der Hure stieg um eine Oktave.

»Und du auch nicht, Schwester. Also zieh Leine, okay? Zone ist ’n persönlicher Freund von mir.«

Sie sah Case in die Augen und gab den allerleisesten Spucklaut von sich, ohne die Lippen groß zu bewegen. Aber sie ging.

»Mann, was ist das denn für’n mieses Loch?«, sagte Case. »Hier kann man ja nicht mal in Ruhe einen trinken.«

»Ha!« Ratz fuhr mit einem Lappen über das abgescheuerte Holz. »Zone kommt wenigstens mit Prozenten rüber. Der einzige Grund, warum du hier arbeiten darfst, ist dein Unterhaltungswert.«

Als Case nach seinem Bierglas griff, senkte sich einer jener seltsamen Momente der Stille auf den Laden, als wären hundert eigenständige Gespräche gleichzeitig bei einer Pause angelangt. Dann ertönte das schrille Kichern der Hure, durchsetzt von einer gewissen Hysterie.

»Da ist gerade ein Engel durch«, brummte Ratz.

»Die Chinesen«, grölte ein betrunkener Australier, »die Chinesen haben das verdammte Nervenspleißen erfunden. Wenn’s die Nerven sind, würd ich aufs Festland gehen. Die kriegen dich wieder hin, Kamerad …«

»Ach was«, sagte Case zu seinem Glas, und seine ganze Verbitterung stieg wie Galle in ihm auf, »das ist doch totaler Schwachsinn.«

Die Japaner hatten schon mehr Neurochirurgie vergessen, als die Chinesen je beherrscht hatten. Die schwarzen Kliniken von Chiba waren führend auf dem Gebiet; dort wurden ganze Operationstechniken von einem Monat auf den anderen durch neue ersetzt. Trotzdem schafften sie es nicht, den Schaden zu beheben, den Case in einem Hotel in Memphis abbekommen hatte.

Nach einem Jahr hier träumte er immer noch vom Cyberspace, doch seine Hoffnung schwand mit jeder Nacht. Alles Speed, das er nahm, alle Streifzüge durch die Gassen und Winkel von Night City halfen nichts; immer noch sah er im Schlaf die Matrix, helle Gitter der Logik, die sich vor der farblosen Leere entfalteten … Das Sprawl lag jetzt in seltsam weiter Ferne jenseits des Pazifik, und er war kein Konsolenfreak, kein Cyberspace-Cowboy mehr. Nur ein kleiner Gauner unter vielen, der sich durchzuschlagen versuchte. Doch in der japanischen Nacht brachen die Träume über ihn herein wie Hochspannungsvoodoo, und dann weinte er, er weinte im Schlaf und wachte allein im Dunkel seiner Kapsel in irgendeinem Sarghotel auf, die Hände in die Matratze gekrallt, Temperschaum zwischen den Fingern, die nach der Konsole zu greifen versuchten, die nicht da war.

»Hab gestern Abend dein Mädchen gesehn«, sagte Ratz, als er Case das zweite Kirin hinstellte.

»Ich hab keins.«

»Miss Linda Lee.«

Case schüttelte den Kopf.

»Kein Mädchen? Nichts? Nur Geschäfte, mein Künstlerfreund? Voll dem Kommerz verschrieben?« Ratz’ kleine braune Augen saßen tief in faltigen Höhlen. »Mit ihr hast du mir, glaub ich, besser gefallen. Hast mehr gelacht. Irgendwann übernimmst du dich vielleicht mal beim Jonglieren und landest in den Organbanken, im Ersatzteillager.«

»Mir kommen die Tränen, Ratz.« Case trank sein Bier aus, bezahlte und ging, die schmalen Schultern in der regennassen, kakifarbenen Nylonwindjacke hochgezogen. Als er sich durch die Menschenmenge auf der Ninsei zwängte, roch er den eigenen muffigen Schweiß.

Case war vierundzwanzig. Mit zweiundzwanzig war er ein Cowboy, ein Aktiver gewesen, einer der besten im Sprawl. Er war bei den ganz Großen in die Lehre gegangen, bei McCoy Pauley und Bobby Quine, Legenden im Geschäft. Mit ständigem Adrenalinüberschuss, einem Nebenprodukt seiner Jugend und seines Könnens, hing er an einem speziellen Cyberspace-Deck, das sein entkörpertes Bewusstsein in die Konsens-Halluzination der Matrix projizierte  – ein Dieb, der für andere, reichere Diebe arbeitete, für Auftraggeber, die die erforderliche exotische Software lieferten, um schimmernde Firmenfassaden zu durchdringen und Fenster zu reichen Datenfeldern aufzutun.