Lutz Seiler
schrift für blinde riesen
Gedichte
Suhrkamp
schrift für blinde riesen
für Charlotta
stunde null im habitat. der sogenannte affenmensch
sitzt in der savanne & kann
nichts sehen – das gras
ist zu hoch. dann das knacken, hörbar
in den kapseln, ein druck, ein griff
nach der geschichte: daumen & zeigefinger
kommen zusammen, die
schreibhand entsteht. zehntausend jahre
vor dem aufrechten gang
ich hab dem vogel stimmen nachgesagt
in sprachen, die es kaum noch gab.
ich hab dem knochenausschuss vorgetanzt
ich hatte keinen blassen.
ich war ein maurer, nicht zum spaß
(»ein guter estrich sandet nicht«) & so
misslang mir auch das.
ich übte das köderköcheln im dunkel –
die grundredensarten, die sprachgliedmaßen, ich
las. so wurde ich besser, so wurde ich blass; ich war
ein insekt, der droste nahestehend, ja: »ich hab
auch die vokale hier ins feld
geführt, viel edler rüdiger«, ich war
ein held voll aventure, »doch
nun sagt an, herr lutz, für wen?« »für dich, allein
für dich, mein unersättliches poem«
seit dem sturz trag ich das mal
der aschenbahn in meiner hand, ich
nannte es: den schlangenbiss.
jeder wusste, woher, aus
welcher grube diese schwärze
kam & lange wusch ich die wunde
im bach. ich spürte die kühle
der schatten im nacken:
die eichen, der hausberg, das waldstadion –
ich spielte bei den »knaben« (später »schüler«
»jugend« »junioren«), ich war
verteidigung, dann mittelfeld, kein
linksfuß, aber immer links, ich spielte
mit uran im urin & zerschlagenen knien
auf dem schlackeplatz unserer lieder
unten die anstalt … in
den schächten das licht, die hände
lagen auf dem tisch, es fehlte
das gebet. das gebet war verloren
gegangen über die felder, das akkordeon war
verloren gegangen, äste brachen
ab & man stürzte (das akkordeon im aschekübel)
von bäumen herunter ohne
gebet; man lag im krankenhaus von gera (es war
noch das alte bezirkskrankenhaus), lange
flure, hohes gewölbe, man weinte, erwachte, litt
man sah ja die häuser, wie sie vorüber
flogen, das waren fassaden
ohne gebet & die eltern
in lochkarten begriffen, jedes haus eine schöne maschine, 0
oder 1, ohne gebet …
ich musste genesen.
ich sammelte dinge, als hätten sie inne
das gebet; es war nur verstummt, in ihnen verstummt, es
hob manchmal an & verstummte, hob an
& verstummte
WAS in der luft liegt, wird leise
beiseite gesprochen. der regen
füllt die stimmen auf
& ordnet die reste im graben:
ein schuhabsatz, ein fingernagel.
banderolen an den stämmen heißt
wo jetzt zu roden ist.
so kehrtest du nach haus zurück
in die langsam
langsam atmenden schatten der bäume