Sonderdruck edition suhrkamp
Verkannte Leistungsträger:innen
Berichte aus der Klassengesellschaft
Herausgegeben von Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey
Suhrkamp
Von Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey
Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.
Bertolt Brecht, »Die Moritat von Mackie Messer«
Sie halten den Laden am Laufen – die verkannten Leistungsträger:innen. Ob im Gesundheitswesen oder im Erziehungsbereich, in der Produktion oder der Logistik. Dieses Buch handelt von Menschen, die für die Reproduktion der Gesellschaft unverzichtbar sind, deren Beitrag aber nur selten sichtbar wird. Sie stehen im Schatten – die im Dunkeln sieht man nicht. Ihre Arbeit wird oft schlecht bezahlt, beruht auf unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, ist schwer planbar, beeinträchtigt in vielen Fällen Gesundheit und Lebenszufriedenheit und erhält wenig gesellschaftliche Anerkennung. Sie ist also zumeist, wie es die französischen Soziologen Pierre Bourdieu (2004) und Robert Castel (2008) genannt haben, prekär: In Bezug auf Einkommen, rechtliche Absicherung und betriebliche Einbindung bleibt sie deutlich hinter dem zurück, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Land als »normal« gilt (vgl. Mayer-Ahuja 2003).
Was verbindet die Leistungsträger:innen? Gibt es Gemeinsamkeiten bei dem, was sie tun? Kurz gesagt: Sie sind allesamt in erster Linie mit der Reproduktion von Arbeitskraft und gesellschaftlichen Beziehungen befasst. Dies betrifft Tätigkeiten, die der Sozialisation und Erziehung von Menschen dienen; die dazu beitragen, gesundheitliche und hygienische Standards aufrechtzuerhalten; die Mobilität, Schutz und eine Versorgung mit denjenigen Gütern gewährleisten, die direkt für die Sicherung des täglichen Lebensunterhalts benötigt werden – also für die materielle Reproduktion der Gesellschaft.
Wir wollen mit diesem Buch den Blick dafür schärfen, wer sie sind, wie sie arbeiten und leben, welchen Sinn sie mit ihrer Tätigkeit verbinden, was sie brauchen, um ihre gesellschaftlich notwendigen Arbeiten nach professionellen Ansprüchen zu verrichten, was sie gegebenenfalls daran hindert – und was man daraus über die gegenwärtige Klassengesellschaft lernen kann. Die Frauen und Männer, um die es hier geht, sollen nicht nur sichtbar werden, sondern auch Gelegenheit bekommen, mit eigener Stimme von ihrer Arbeit und ihrem Leben zu berichten.
»Leistung muss sich wieder lohnen!« Mit diesem Versprechen leitete Helmut Kohl (CDU) im Jahre 1982 das ein, was man damals die »geistig-moralische Wende« nannte. Wer könnte sich der Kraft des Arguments entziehen, dass diejenigen, die Leistung erbringen, davon auch etwas haben sollen? Sehen wir uns nicht alle als Leistungsträger:innen? Und möchten wir nicht alle, dass unser Einsatz, unsere Mühen anerkannt werden, dass wir besser dastehen als diejenigen, die nichts oder weniger leisten? So weit der »gesunde Menschenverstand«. Allerdings steckte hinter dem eingängigen Plädoyer für Leistung und deren Belohnung eine problematische Agenda: eine ideologische Neudefinition dessen, was als Leistung gelten sollte, und damit einhergehend der langfristige Rückbau von sozialen Rechten. Es war der Beginn eines langen »Reformprozesses«, der in den kapitalistischen Staaten des Globalen Nordens die Arbeitswelt grundlegend veränderte. Für diejenigen, die ihren Lebensunterhalt durch Lohnarbeit bestreiten mussten, indem sie ihre eigene Arbeitskraft verkauften und »abhängig beschäftigt« waren, war das Kohl’sche Versprechen keine gute Nachricht. Es begann eine Ära, in der die gesellschaftliche Norm der Leistung nachhaltig umgedeutet wurde. Die traditionelle Arbeiter:innenschaft hatte bislang einen nicht unwesentlichen Anteil ihrer Würde und ihres Stolzes aus der Tatsache bezogen, dass sie sich als Produzent:in des gesellschaftlichen Reichtums betrachtete. Eine ihrer frühen politischen Forderungen lautete: »Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagewerk«. Darin spiegelte sich nicht nur das Leistungsprinzip, sondern auch der Wunsch nach Anerkennung. Diese Anerkennung wurde Arbeiter:innen (und auch »kleinen Angestellten«) allerdings zunehmend verwehrt. Der Produzent:innenstolz verschwand zwar nie völlig (wie viele Beiträge dieses Bandes zeigen), aber er war immer schwerer aufrechtzuerhalten. Als Leistungsträger:innen galten fortan andere: Unternehmer:innen, Manager:innen, Berater:innen und all diejenigen, die Geld, Einfluss und Erfolg hatten, egal ob diese selbst erarbeitet waren (Neckel 2008). Die Leistung »normaler« Beschäftigter hingegen wurde weniger anerkannt und »lohnte sich« weniger als zuvor. Dies gilt speziell für die Gruppen, die seit Beginn der Corona-Pandemie gerne als »Held:innen des Alltags« bezeichnet werden. Wie konnte das passieren? Fünf Zusammenhänge verdienen besondere Beachtung.
Erstens wurde der Appell, dass Leistung sich wieder lohnen müsse, schnell in Forderungen nach einer Senkung von Steuern übersetzt. Ausgehend von der gewagten Annahme, dass Vermögen schon irgendetwas mit besonderen Leistungen zu tun haben müsse, verzichtete der Staat auf erhebliche Steuereinnahmen. Dieses Geld fehlte in den folgenden Jahren für die Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen.
Dies hatte (zweitens) direkte Auswirkungen auf die Arbeit in öffentlichen Diensten und deren Bedingungen. In staatlichen Krankenhäusern, Kindertagesstätten oder Einrichtungen der Jugendhilfe wurden die Budgets gekürzt, insbesondere die Personalkosten sollten sinken. Erreicht wurde dies oft durch die Auslagerung von Tätigkeiten an Subunternehmen, ein Trend, der auch in der Privatwirtschaft vielerorts stark ausgeprägt war (wir kommen später noch einmal darauf zurück). Wenn etwa Gebäude nicht mehr durch eigene Angestellte gereinigt werden, die Wäsche nicht mehr durch »eigene Leute« gewaschen und das Essen nicht mehr durch sie gekocht wird, sondern durch das Personal einer Fremdfirma, werden häufig deutlich geringere Löhne gezahlt oder (speziell in Deutschland, wo es diese Möglichkeit seit Langem gibt) »Minijobs« eingerichtet, für die keine Sozialversicherungsabgaben anfallen. Selbst dort, wo staatliche Einrichtungen weiterhin eigene Beschäftigte einsetzen, wird in Zeiten leerer öffentlicher Kassen oft am Personal gespart, weshalb die vorhandene Belegschaft immer mehr Arbeit in immer kürzerer Zeit zu leisten hat. Und private bzw. privatisierte Einrichtungen, die weniger Arbeitskraft einsetzen und entsprechend billigere Angebote unterbreiten können, legen damit Standards fest, an denen auch öffentliche Einrichtungen gemessen werden. Wie diese Abwärtsspirale im Einzelnen funktioniert, lässt sich etwa am Fall des Reinigungsgewerbes (vgl. Mayer-Ahuja 2003) oder auch an Veränderungen im Bereich der Kranken- und Altenpflege ablesen, die in den heute viel beklagten »Pflegenotstand« mündeten. Kurz: Die steuerliche Entlastung von Vermögenden trug zur massiven Reduzierung öffentlicher Dienstleistungen bei. Zugleich schlug sie sich in deutlich schlechteren Arbeits- und Lebensbedingungen für viele derjenigen nieder, die weiterhin für den Staat tätig sind oder in Unternehmen arbeiten, die privatisiert wurden und eine Senkung von Personalkosten durch die Einrichtung prekärer Jobs und die Steigerung von Arbeitsdruck erreichten.
Drittens wurde das soziale Sicherungssystem, das Beschäftigte gegen die Risiken der Lohnarbeit absichern soll, zurückgeschnitten. Damit Leistung sich wieder lohnt, so die Argumentation der Verantwortlichen, sollten Unternehmen und Beschäftigte, die sich etwa im deutschen System die Beiträge zur Sozialversicherung teilen, gleichermaßen entlastet werden. Für Unternehmen war die Senkung der als »Lohnnebenkosten« verunglimpften Sozialabgaben eine ungetrübte finanzielle Erleichterung – in dem Maße, wie die Personalkosten sanken, stiegen die Gewinne. Für Beschäftigte hingegen bedeutete die Durchsetzung von »mehr Netto vom Brutto«, dass sie im Falle von Arbeitslosigkeit, von Krankheit oder im Alter immer weniger Unterstützung bekamen. Die Koppelung der Lohnarbeit an soziale Sicherung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in fast allen kapitalistischen Staaten ausgebaut worden war, wurde dadurch deutlich geschwächt. Die Leistung, die abhängig Beschäftigte im Laufe ihres Erwerbslebens erbringen, lohnt sich seit der Umstellung auf eine »Sozialpolitik der mageren Jahren« (Schmidt 1998) immer weniger.
Viertens begannen staatliche Stellen ab den achtziger Jahren, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen, damit sie möglichst schnell auf den Arbeitsmarkt zurückkehrten und weniger Leistungen der Arbeitslosenversicherung in Anspruch nahmen. Die Beitragszahler:innen sollten, wie es hieß, sicher sein können, dass sich ihre Leistung insofern lohnte, als mit ihren Geldern kein Missbrauch getrieben wurde. Oder, wie es der damalige deutsche Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) im Jahr 2006 formulierte: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« Mit der sogenannten »aktivierenden« Arbeitsmarktpolitik wurde dafür gesorgt, dass Arbeitslose sich so intensiv wie möglich um einen neuen Job bemühen – wer das nicht will oder kann (also keine ausreichende Leistung bringt), muss eine Kürzung der Unterstützungszahlungen oder andere Sanktionen hinnehmen. In der Schweiz wurde dieses System bereits in den neunziger Jahren eingeführt, in Deutschland im Zuge der Hartz-Reformen zwischen 2003 und 2005. Auf Bezieher:innen von Arbeitslosengeld oder Grundsicherung wird seither in beiden Ländern deutlich mehr Druck ausgeübt. Wer arbeitslos wird, muss sich permanent auf Stellen bewerben, auch auf solche, die unterhalb der eigenen Qualifikation und des bisherigen Einkommens liegen.
Auch dank dieser staatlichen Arbeitsmarktpolitik fanden, fünftens, Unternehmen selbst für unattraktive Jobs genügend Interessent:innen. In der Privatwirtschaft wurde es üblich, prekäre Randbelegschaften aufzubauen und/oder Teile des Produktions- oder Dienstleistungsprozesses an Subunternehmen auszulagern. Gerade dort, wo ganze Subunternehmer-Pyramiden aufgebaut wurden, gewannen Leiharbeit und Scheinselbstständigkeit an Bedeutung. Unter diesen Bedingungen wuchs der Niedriglohnsektor in Deutschland rasant – er umfasste 2017 (unter Berücksichtigung von Nebentätigkeiten) etwa jede:n vierte:n abhängig Beschäftigte:n (Grabka/Schröder 2019, S. 252). Und selbst in der Schweiz, einem Hochlohnland, verdienen etwa zehn Prozent der Beschäftigten nur sogenannte »Tiefstlöhne«. In dem Maße, wie die Prekarisierung von Arbeit voranschritt, machte eine immer größere Zahl von Menschen die Erfahrung, dass ihnen im Job immer mehr Leistung abverlangt wurde, die sich (in Sachen Einkommen, Beschäftigungssicherheit oder Lebensplanung) immer weniger lohnte.
Es gibt offenkundig ein dreifaches Problem mit der Rede von Leistungsträger:innen. Zum einen wird selten klar definiert, worin »Leistung« eigentlich besteht. Ist es Ausdruck von Leistungsfähigkeit, ein großes Vermögen geerbt zu haben – oder zeigt sie sich darin, dass man selbst unter schwierigsten Bedingungen gesellschaftlich nützliche Arbeit erbringt? Und was ist eigentlich gesellschaftlich nützliche Arbeit?
Zweitens wurde die Frage, woran man Leistung messen kann, im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich beantwortet. Seit den achtziger Jahren wurde Leistung immer weniger an der Dauer einer Tätigkeit und dem dafür notwendigen Aufwand festgemacht, sondern an deren Marktergebnis. Damit wurden Formen von Arbeit materiell und symbolisch entwertet, die vermeintlich einfach waren, aus Routinetätigkeiten bestanden, die anstrengend und ermüdend, aber nicht immer sichtbar waren. Dies ist deshalb von so großer Bedeutung, weil das Leistungsprinzip in kapitalistischen Gesellschaften eine der wichtigsten Normen für die Verteilung von Lebenschancen, Reichtum und Macht darstellt – und umgekehrt das zentrale Argument für die Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten ist (vgl. Neckel 2008, S. 81).
Drittens wird »Leistung« im Zuge der »Reformen« von Arbeitsmarkt und sozialem Sicherungssystem, die wir seit Jahrzehnten erleben, im Wesentlichen als individuelle Eigenschaft verhandelt. Und wer Leistung bringt, soll belohnt werden. Leistung hat aber gesellschaftliche Voraussetzungen: Wer welche Leistungen erbringen kann, hängt (abgesehen von Arbeitsmarktdynamiken, sozialer Sicherung und öffentlicher Infrastruktur) nicht zuletzt auch vom familiären und weiteren sozialen Umfeld ab, aus dem man stammt, also von der Unterstützung durch Familie und soziale Netzwerke. Diese ist (in den Begrifflichkeiten von Pierre Bourdieu) wiederum dadurch geprägt, welches ökonomische, soziale und kulturelle Kapital man jeweils hat. Deshalb müssen wir über Dynamiken der Klassengesellschaft sprechen, also über die Scheidelinie zwischen Kapital und Arbeit, aber auch über die vielfältigen Gräben, welche die immer weiter wachsende Gruppe der abhängig Beschäftigten und Alleinselbstständigen durchziehen, die eben kein Kapital besitzen und deshalb vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben (müssen). »Verkannte Leistungsträger:innen« sind letztlich diejenigen, die in ihrer Arbeit große Leistungen erbringen, deren Position in der Klassengesellschaft dies jedoch nicht angemessen widerspiegelt.
Die Corona-Krise traf die Gesellschaft wie ein Blitz, und in seinem grellen Licht stellen sich die Verhältnisse in der Arbeitswelt auf ungewohnte Weise dar. Das Bild verhält sich wie ein Negativ zur normalen Fotografie. Plötzlich war die sonst unsichtbare Arbeit der Leistungsträger:innen sichtbar geworden. Jene Berufe und Tätigkeiten, die für gewöhnlich kaum wahrgenommen werden, wurden als unmittelbar »systemrelevant« anerkannt. Kein Weg ging mehr an der Erkenntnis vorbei, dass insbesondere in den Sektoren Gesundheit, Logistik, Sicherheit und Ernährung Menschen tagtäglich buchstäblich unverzichtbare Arbeit leisten. Krankenpfleger:innen und Reinigungskräfte, Post- und Transportarbeiter:innen, Verkäufer:innen und Regalauffüller:innen in Lebensmittelgeschäften, Erzieher:innen, Arbeiter:innen in der Ernährungsindustrie und auch Landarbeiter:innen, ohne die der geliebte Spargel oder die Erdbeeren nicht auf den heimischen Tisch gelangen, halten den Alltag in der pandemiebedingten Krise am Laufen. Ohne sie geht (fast) nichts mehr.
Wer von »Systemrelevanz« spricht, will damit meist nur betonen, dass es hier um gesellschaftlich sehr nützliche Arbeit geht. Wenn man sich den Begriff jedoch ein wenig genauer anschaut, dann stellt sich die Frage, was »das System« ausmacht, für das die genannten Beschäftigtengruppen von so hoher Relevanz sind. Offenkundig handelt es sich bei diesem System um den Kapitalismus, also um eine besondere Form, das Zusammenwirken von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu organisieren. Sie ist geprägt durch die Logik einer bestimmten Art zu wirtschaften. Im Mittelpunkt steht dabei die Produktion von Waren, durch deren Herstellung und Verkauf das eingesetzte Kapital immer weiter vergrößert wird, indem man durch den Einsatz fremder Arbeitskraft Mehrwert schafft, sich einen möglichst großen Teil davon aneignet und dadurch Gewinne erzielt. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass bislang vor allem Berufe und Tätigkeiten als systemrelevant galten, die entweder für die Produktion oder für die Vermarktung von Waren besonders wichtig sind. Wenn etwa in den Jahren der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 von Systemrelevanz gesprochen wurde, ging es etwa in Deutschland meist um die exportorientierte Industrie (etwa die Automobilbranche) oder um die Finanzwirtschaft. Manager:innen, Banker:innen oder Berater:innen galten als die zentralen Leistungsträger:innen. Aber kapitalistisches Wirtschaften hat gesellschaftliche Voraussetzungen, die tagtäglich wiederhergestellt werden müssen.
Damit die Wirtschaft läuft, müssen Menschen arbeiten. Sie müssen ihre Arbeitskraft und ihre Leistungsfähigkeit immer wieder neu herstellen, indem sie essen und schlafen, sich vom Arbeitsalltag oder auch von Krankheiten erholen, neue Kenntnisse erwerben, Anregungen sammeln usw. Wenn man den Blick über den oder die Einzelne:n hinaus richtet, gehört selbstverständlich auch die Geburt, Betreuung und Erziehung von Kindern sowie die Pflege von Kranken oder Alten zu den notwendigen Prozessen der (Wieder-)Herstellung bzw. der Reproduktion von Arbeitskraft. Jene Tätigkeiten aber, die (oft im Dienstleistungsbereich) dazu beitragen, nicht nur Arbeitskraft, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen zu reproduzieren, auf denen kapitalistisches Wirtschaften beruht, genossen bislang meist wenig gesellschaftliche Anerkennung.
Wer durch seine oder ihre Arbeit den Erhalt oder die Wiederherstellung von Gesundheit, die Erziehung von Kindern, die Pflege von Alten oder die Versorgung mit den Notwendigkeiten des täglichen Lebens gewährleistet und so das System am Laufen hält, ist gesellschaftlich nur wenig sichtbar und arbeitet zudem besonders oft unter prekären Bedingungen. Viele Beschäftigte können von ihrer Vergütung kaum die eigene Existenz sichern und haben (manchmal mehrere) Jobs, die auf kurzfristigen Verträgen beruhen, durch Vorgesetzte und Kund:innen streng kontrolliert werden und wenig Raum für Stolz auf die eigene Leistung lassen. Diese Arbeiten sind oft besonders hart, sie werden besonders wenig honoriert und sie sind besonders »systemrelevant«. Anders als die »Bullshit Jobs«, die David Graeber (2018) aufs Korn genommen hat, sind diese Tätigkeiten gesellschaftlich hochgradig nützlich. Es handelt sich in der Regel um Dienstleistungen, die den reibungslosen Ablauf des gesellschaftlichen Alltags gewährleisten: Um im Supermarkt einkaufen zu können, muss nicht nur jemand an der Kasse sitzen, sondern der Supermarkt muss auch regelmäßig gereinigt werden, und die Konservendosen finden trotz Digitalisierung noch immer nicht von allein den Weg ins Regal. Weil es bei solchen Tätigkeiten vor allem darum geht, »normale« Abläufe zu vermitteln und Routinen zu gewährleisten, bleiben sie häufig unsichtbar – sie werden erst als notwendig erkannt, wenn sie ausbleiben (vgl. Berger/Offe 1984, S. 296; Voswinkel 2005). Spätestens im Zeichen der Corona-Pandemie ist jedoch klar geworden: Wenn Kranke nicht gepflegt, Lebensmittel nicht produziert, transportiert und verkauft oder Kinder nicht betreut werden, bricht das System zusammen. Auf die Krankenschwester können wir nicht verzichten, auf den Berater oder die Produktion von Autos zeitweise schon.1
Der Umstand, dass besonders im Frühjahr 2020, während des ersten Lockdowns, den damals sogenannten »Held:innen des Alltags«, die sich stärkeren Infektionsrisiken ausgesetzt sahen als andere Berufsgruppen (Holst et al. 2021), regelmäßig von den Balkonen applaudiert wurde, hat allerdings bislang nicht dazu geführt, dass sich ihre Löhne, ihre Arbeitsbedingungen oder ihre gesellschaftliche Position wesentlich verbessert hätten. Die neue Einsicht in die Systemrelevanz der Tätigkeiten, um die es in diesem Band gehen soll, diente hingegen vor allem als Argument dafür, den Zugriff auf die nun als unverzichtbar geltende Arbeitskraft auszuweiten. Sie führte allenfalls zu einer kurzfristigen moralischen Aufwertung, nicht aber zu substanziellen Verbesserungen für die Beschäftigten (vgl. Mayer-Ahuja/Detje 2020). Im zweiten Lockdown (ab November 2020) war dann selbst von der öffentlichen Sympathie nicht mehr viel zu spüren. Wer an der Supermarktkasse saß, konnte kaum noch mit kleinen Geschenken oder warmen Worten rechnen, sondern sah sich der zunehmend gereizten Stimmung vieler Kund:innen ausgesetzt, die unter »Social Distancing« litten und zum Beispiel den Einkauf nutzten, um Dampf abzulassen. Die »Held:innen des Alltags« mögen nun als systemrelevant gelten, unterbezahlt, schlecht abgesichert und sozial zu wenig geachtet bleiben sie jedoch weiterhin.
Was haben der oben beschriebene arbeitsmarkt- und sozialpolitische Umgang mit abhängig Beschäftigten und ihren Leistungen sowie die aktuelle Neudefinition von »Systemrelevanz« nun mit Fragen von Klasse und Klassengesellschaft zu tun? Grundsätzlich hängt die Position, die ein Mensch in der Gesellschaft einnimmt, und seine bzw. ihre Möglichkeiten, diese Position (zum Besseren) zu verändern, nicht zuletzt von der jeweiligen Funktion im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung ab. Im Kapitalismus stehen diejenigen, die Kapital besitzen und es nutzen können, um fremde Arbeitskraft zu kaufen und dadurch ihr Kapital zu vermehren, denjenigen gegenüber, die eben kein Kapital besitzen und letztlich nur ihre eigene Arbeitskraft zu Markte tragen können. Diese Klasse der Lohnabhängigen ist – entgegen vielen populären Deutungen – fast beständig gewachsen. In Deutschland (76,7 Prozent) und in der Schweiz (84,3 Prozent) lagen die Erwerbstätigenquoten vor Beginn der Corona-Pandemie auf historischen Höchstständen. Gerade weil im Laufe des 20. und frühen 21. Jahrhunderts immer mehr Erwerbstätige nicht mehr selbstständig waren, nachdem sie ihren Hof, Handwerksbetrieb oder Laden aufgegeben hatten, sondern abhängige Beschäftigung aufnahmen, ist die arbeitende Klasse immer größer geworden. In diesem Band geht es um sie: um Menschen, die von dem Lohn oder Gehalt, das sie für den Verkauf ihrer Arbeitskraft bekommen, ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen.
Der Kapitalismus hat von Anfang an eine Klassengesellschaft hervorgebracht, und in ihr leben wir bis heute. Lange Zeit galten Klassen jedoch als etwas, das der Vergangenheit angehörte. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass sich die Arbeits- und Lebensbedingungen von abhängig Beschäftigten nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich verbesserten. Viele profitierten während des Wirtschaftswachstums der Nachkriegsjahrzehnte von Vollbeschäftigung und steigenden Löhnen sowie von einer staatlichen Politik, die auf eine immer bessere Absicherung von Lohnarbeit abzielte. Vieles davon war das Ergebnis erfolgreicher Arbeitskämpfe, welche die Durchsetzung neuer Standards auf tarifvertraglicher und gesetzlicher Ebene vorantrieben.
Der Soziologe Ulrich Beck hat (1986) vom »Fahrstuhleffekt« gesprochen, der Reiche und Arme gleichermaßen nach oben fahren lasse. Die soziale Ungleichheit verschwand keineswegs – das gab auch Beck zu. Doch relativ vielen Beschäftigten gelang es, durch harte Arbeit, Bildungsanstrengungen und die Unterstützung eines stärker fördernden als fordernden Sozialstaates immer mehr Geld zu verdienen, immer besser abgesicherte Arbeitsplätze zu finden, mehr zu konsumieren und speziell den Kindern ihren Start in ein besseres Leben zu erleichtern. Der Historiker Eric Hobsbawm (1995) merkte an, dass diese Generation mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen konnte, dass es die Kinder einmal besser haben würden als man selbst, und nannte dies einen historischen Ausnahmefall. »Die Lohnarbeitsgesellschaft schien einer aufsteigenden Bahn zu folgen, die zugleich ein Anwachsen des kollektiven Reichtums gewährleistete und eine gerechtere Verteilung der Chancen und Garantien bewirkte. […] Diese Bahn ist nun entzweigebrochen«, hat Robert Castel schon vor einiger Zeit betont (2000, S. 334f.). Mit dem Ende des wirtschaftlichen Booms der Nachkriegsjahrzehnte um 1975 wurden die Weichen in vieler Hinsicht neu gestellt. Dazu trug die grundlegende Neuorientierung von staatlicher Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ebenso bei wie personalpolitische Strategien von Unternehmen, die zunehmend ihre stabilen Stammbelegschaften durch prekäre Ränder (aus befristet Beschäftigten, Leiharbeiter:innen, Werkvertragsnehmer:innen usw.) ergänzten, um Personalkosten zu senken und flexibler auf Auftragsschwankungen zu reagieren. Die Aufwärtsmobilität ist seither ins Stocken geraten. Es gibt mehr Abstiege, die Aufstiegskonkurrenz ist stärker geworden, vor allem hat der Anteil prekärer Beschäftigung zugenommen. Insbesondere das untere Drittel der Klassengesellschaft, das Andreas Reckwitz (2019) als »neue Unterklasse« bzw. »prekäre Klasse« bezeichnet, stagniert bezüglich seines materiellen Wohlstands und seiner Lebenschancen (Nachtwey 2016).
Die soziale Ungleichheit hat seit den achtziger Jahren deutlich zugenommen. Nach und nach setzte sich zaghaft die Erkenntnis durch, dass wir keineswegs in einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Schelsky 1953) leben, sondern weiterhin in einer Klassengesellschaft (vgl. Nachtwey 2016, 179-189, Mayer-Ahuja 2018). Mittlerweile erscheint diese immer deutlicher als das, was sie ist: als ein ökonomisch begründetes und politisch wie kulturell verstärktes Korsett, das Lebenschancen beschneidet und persönliche Hoffnungen und Wünsche in Bezug auf Arbeit und Privatleben allzu oft an »Realitäten« scheitern lässt, auf die man als Einzelne:r kaum Einfluss nehmen kann. So sind etwa die Kinder von Arbeiter:innen heute zwar häufiger als in der Vergangenheit an Universitäten anzutreffen, aber nach wie vor ist Hochschulbildung vor allem ein Privileg von Kindern aus den höheren Klassensegmenten (Becker/Lauterbach 2016). Und selbst wenn Arbeiter:innenkinder studieren, wenn also Eltern viel Geld in lange Ausbildungszeiten investieren und es Sohn oder Tochter ermöglichen, ein Hochschulstudium zu absolvieren, während man selbst »nur« Volksschule und Berufsausbildung durchlaufen hat, heißt das nicht unbedingt, dass diese einen ebenso sicheren Arbeitsplatz finden werden, tatsächlich mehr verdienen und eine interessantere Tätigkeit haben werden als ihre Eltern. Vielleicht bleiben sie in unbezahlten Praktika oder auf befristeten Stellen stecken, wo sie wenig verdienen und kaum Aufstiegsmöglichkeiten haben. In Großbritannien ist deshalb bereits von einer neuen arbeitenden Klasse die Rede. Gemeint ist damit, dass es auch dort immer weniger möglich ist, die working class durch sozialen Aufstieg hinter sich zu lassen (Ainsley 2019, Savage 2015).
Der US-amerikanische Klassentheoretiker Erik Olin Wright (2015) unterscheidet drei Mechanismen, welche die Position eines Menschen in der Klassengesellschaft prägen: Der erste umfasst individuelle Eigenschaften wie Qualifikation, Beruf, Geschlecht, Alter oder Ethnie und den Einfluss von Herkunft und eigenen Anstrengungen auf Einkommen, Vermögen und Lebensqualität, kurz: auf die individuelle Position in der Klassenhierarchie. Der zweite Mechanismus betrifft die Chancenstruktur einer Gesellschaft: Hier geht es um die Frage, warum überhaupt einige Jobs besser als andere sind. Ob Aufstiege institutionell erleichtert oder erschwert werden, ist von Bedeutung dafür, wer Prestige und Privilegien erhalten kann. Immer gilt jedoch: Wer in der gesellschaftlichen Hierarchie weiter oben steht, tut dies, weil andere unten stehen. Sie werden von diesen Jobs ausgeschlossen. Der dritte Mechanismus ist die Stellung im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und insbesondere in der Arbeitswelt, in der Macht und Ausbeutung eine große Rolle spielen.
Die Beschäftigten, die in diesem Buch porträtiert werden, sind in Bezug auf alle drei Mechanismen benachteiligt. Ihre Einkommen sind in der Regel gering, genauso wie ihr Sozialprestige. Sie haben nur wenig Chancen, ihre gesellschaftliche Position zu verbessern, egal wie sehr sie sich anstrengen. Und sie erfahren in ihrem Arbeitsalltag ein hohes Maß an Disziplinierung, Arbeitsverdichtung und Kontrolle. Für sie geht das Versprechen der Autonomie und Humanisierung der Arbeit zumeist nicht auf. Flexibilität bedeutet für sie noch öfter als bei vielen höherqualifizierten Jobs keinen Freiheitsgewinn, sondern eine Anforderung, der sie nachkommen müssen. Gerade die Unternehmen im Dienstleistungssektor regieren ihre Beschäftigten in erheblichem Ausmaß.2 Nicht nur Abläufe und Arbeitszeiten werden rigide kontrolliert, sondern auch, wie man sich auf der Arbeit kleidet, wie man sich verhält, mit wem man sich austauscht. Durch digitale Technologien können immer mehr Handlungen überwacht werden, bei Amazon oder DHL geschieht das mittlerweile für jede Bewegung der Beschäftigten in den Lagerhallen.
Viele der Porträtierten hätten möglicherweise selbst in den Nachkriegsjahrzehnten eher keinen großen sozialen Aufstieg erlebt. Unter den aktuellen Bedingungen jedoch sitzen sie am unteren Rand der Arbeitsgesellschaft fest. Sie verfügen nicht über besonders viel Geld, und weil sie oft in schlecht bezahlten Jobs tätig sind, in denen allenfalls der Mindestlohn gezahlt wird, können sie selbst durch härteste Erwerbsarbeit kaum etwas daran ändern. Auch ihre Partner:innen, ihre Eltern, Geschwister oder Freund:innen sind meist keine reichen Leute. Sie erben in der Regel wenig, kennen niemanden, der oder die im Notfall einen Kredit gewähren könnte – kurz: Sie haben (in Bourdieus Begriffen) wenig ökonomisches Kapital. Das geht oft einher mit einem relativ geringen sozialen Kapital. Man kennt nicht die richtigen Leute, gehört nicht zu den richtigen Netzwerken, um leicht an Jobs, an Geld, an gesellschaftlichen Einfluss zu kommen. Und man verfügt oft nicht über das notwendige kulturelle Kapital für den sozialen Aufstieg. Wer etwa als Kind einer nichtakademischen Familie studiert, muss nicht Bourdieu lesen, um zu wissen, was mit »feinen Unterschieden« gemeint ist. Didier Eribon (2016) hat das Gefühl sozialer Fremdheit in seinem Buch Rückkehr nach Reims beschrieben: Man bewegt sich in Kreisen, in denen alle anderen dieselben Bücher gelesen haben, dieselbe Musik hören und genießen können, über dieselben Andeutungen lachen, ihren Mitmenschen mit demselben Selbstbewusstsein und Überlegenheitsgefühl begegnen usw., während man selbst sich den Zugang zu alldem hart erarbeiten muss, und immer, wenn man einen kleinen Sieg errungen hat, mit der nächsten Unzulänglichkeit konfrontiert wird.
Die arbeitende Klasse ist alles andere als einheitlich. Sie war es auch nie. Entgegen der romantischen Engführung auf ein Industrieproletariat, das man sich vor allem als Männer im Blaumann mit ölverschmierten Händen vorstellt, umfasst die arbeitende Klasse seit den Anfängen des Kapitalismus sehr unterschiedliche Personen. Gerade weil sie auf den Verkauf der eigenen Arbeitskraft existenziell angewiesen sind, konkurrieren sie auf dem Arbeitsmarkt miteinander um Jobs und damit um Lebenschancen. Wer Friedrich Engels’ Studie Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1972 [1845]) liest, die Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurde, trifft auf Männer und Frauen, jüngere und ältere Erwachsene und sogar auf Kinder, die von Unternehmen systematisch gegeneinander ausgespielt werden. Kann man Männer durch Frauen oder Kinder ersetzen, die weniger Lohn verlangen und schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptieren müssen? Sind Leute, die erst kürzlich vom Land in die Stadt oder aus dem Ausland zugezogen sind, bereit, zu noch ungünstigeren Bedingungen zu arbeiten? Die Chance zur Standardsenkung wird von vielen Unternehmen unmittelbar genutzt. Die objektiv bestehenden Unterschiede zwischen Gruppen von Beschäftigten werden zur Grundlage einer Personalpolitik, die diese Gräben noch weiter vertieft. Eine in sich einheitliche und politisch einige »Arbeiterklasse« gab es auch in der Vergangenheit nie. Zwar ist es immer wieder gelungen, Solidarität zwischen unterschiedlichen Gruppen von abhängig Beschäftigten herzustellen, obwohl sie objektiv miteinander in Konkurrenz stehen, doch solche Erfolge waren stets Ergebnis harter politischer Arbeit (etwa von Gewerkschaften) und oft nicht von Dauer. Darum schreibt E.P. Thompson zu Recht: »Die Arbeiterklasse trat nicht wie die Sonne zu einem vorhersehbaren Zeitpunkt in Erscheinung; sie war an ihrer eigenen Entstehung beteiligt.« (Thompson 1987 [1963], S. 7)
Die tiefen Spaltungslinien zwischen Arbeitenden, die uns in diesem Band begegnen, sind daher unter kapitalistischen Bedingungen die Regel und nicht die Ausnahme. Besonders groß sind dabei bis heute die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Beschäftigten mit und ohne »Migrationshintergrund«. Viele Soziolog:innen mögen die Klassengesellschaft abgeschrieben haben. Ein Bewusstsein von ihrer Existenz kehrt eher zaghaft zurück.3 Aus der Perspektive derer, die – wie die Männer und Frauen in diesem Band – Klassendiskriminierung alltäglich erleben, ist dies allerdings eine sehr reale, prägende Erfahrung. Klasse erkennt man am besten von unten.
Die Klassengesellschaft hat in dem Maße ihr Gesicht verändert, wie sich die Art und Weise des Wirtschaftens gewandelt hat. Die industrielle Beschäftigung brach im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in Westeuropa ein. Die großen Industriebetriebe der Stahl- und Kohleindustrie verschwanden nicht, verloren jedoch ihre ökonomische und gesellschaftliche Prägekraft (Raphael 2019). Nur noch etwa ein Viertel aller Beschäftigten arbeiten in der Industrie; in der Schweiz und in Deutschland sind mehr als drei Viertel von ihnen im Dienstleistungssektor angestellt. Dies hat viel mit dem Wandel der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion zu tun. Die Landwirtschaft kann immer mehr mit immer weniger Menschen herstellen, in der Bundesrepublik hat die letzte Kohlenzeche ihre Pforten geschlossen, während viele Unternehmen ihr Geld mit dem Verkauf von Informationen verdienen. Zudem hat die Auslagerung von Tätigkeiten an Subunternehmen dazu geführt, dass zum Beispiel Reinigungskräfte oder Sicherheitspersonal oft nicht mehr bei einem Industrieunternehmen beschäftigt sind, sondern im Gebäudereinigerhandwerk oder im Sicherheitsgewerbe. Ohne dass sich die Arbeit selbst geändert hätte, sind damit aus Industriearbeitsplätzen statistisch betrachtet Dienstleistungsjobs geworden.
Im Dienstleistungssektor arbeiten viele Hochqualifizierte, höhere Angestellte, die teilweise ein sehr gutes Einkommen erzielen und die in ihrer Biografie durchaus Aufstiege erfahren. Aber hier findet zugleich die größte Polarisierung statt, denn der Sektor umfasst auch die meisten Jobs mit Niedrig- bzw. Tieflöhnen, wie es in der Schweiz heißt (Bahl/Staab 2010). Die Gewerkschaften sind deutlich schwächer als in der Industrie, es gibt mehr befristete und schlecht bezahlte, das heißt prekäre Jobs. Diese werden überdurchschnittlich häufig von Frauen und Personen mit Migrationshintergrund ausgeübt.
Es ist kein Zufall, dass viele Beiträge dieses Bandes sich mit der Erwerbsarbeit von Frauen im Dienstleistungssektor beschäftigen. Im Laufe des 20. und frühen 21. Jahrhunderts wurden immer mehr Tätigkeiten, die zuvor (meist von Frauen) unentgeltlich in der Familie erledigt worden waren, in Lohnarbeit umgewandelt. Speziell der Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen wuchs dadurch stark an. Die Frauenerwerbstätigkeit hat immer neue Höchststände erreicht. In der Schweiz sind mittlerweile mehr als 80 Prozent der Frauen zwischen 15 und 64 Jahren erwerbstätig, in Deutschland sind es knapp 73 Prozent. Allerdings ist Frauenerwerbstätigkeit im Dienstleistungssektor oft prekär. Tätigkeiten in der Pflege, im Einzelhandel, in der Gastronomie, in der Gebäudereinigung usw., die traditionell vor allem von weiblichen Beschäftigten verrichtet werden, gehen häufig mit geringen Vergütungen einher, sind oft rechtlich besonders schlecht abgesichert, durch notorisch ungute Arbeitsbedingungen geprägt und genießen wenig gesellschaftliches Ansehen. Ein Grund dafür ist, dass etwa bei der Alten- und Krankenpflege oder der Kindererziehung traditionell davon ausgegangen wird, dass man dafür eigentlich keine berufliche Qualifikation benötigt, sondern etwas »weibliches« Einfühlungsvermögen und Organisationstalent ausreiche. Zudem führt die traditionelle Rollenverteilung im privaten Haushalt häufig dazu, dass Frauen eher Minijobs oder Teilzeitbeschäftigungen annehmen. Das Ehegattensplitting macht die Kombination aus hohem (meist männlichem) und geringem (meist weiblichem) Einkommen in Deutschland – in der Schweiz ist der Effekt weniger stark – auch steuerlich besonders attraktiv. Dies trifft sich mit Unternehmensstrategien, die verstärkt auf prekäre Beschäftigte setzen, die weniger soziale Rechte haben, in niedrigere Gehaltsgruppen eingruppiert und flexibler eingesetzt werden können (Brinkmann/Nachtwey 2017). Viele prekäre Stellen wurden ausdrücklich unter Verweis auf Ehefrauen und vor allem Mütter eingerichtet, die angeblich kein Interesse an dauerhafter Vollzeitbeschäftigung und der damit verbundenen sozialen Absicherung hatten. Man kann daher durchaus sagen, dass Frauen in den vergangenen Jahrzehnten als Wegbereiterinnen von prekärer Arbeit eingesetzt wurden (vgl. Mayer-Ahuja 2003, S. 89-92). Einmal etabliert, wurden diese Stellen zunehmend mit Menschen besetzt, für die es auf dem Arbeitsmarkt schlicht keine besseren Alternativen gab. In vielen Bereichen waren das zunächst weiterhin Frauen, mit und ohne Familienpflichten, aber zunehmend auch Männer. Ulrich Beck hat das als »prekäre Feminisierung der Arbeitswelt« (1999) bezeichnet. Gerade unter den Männern, die als Erste gezwungen waren, sich auf prekäre »Frauenarbeitsplätze« einzulassen, indem sie etwa in Putzkolonnen oder an den Kassen des Einzelhandels tätig wurden, sind viele Migrant:innen. Genau wie die Wanderarbeiter:innen aus Irland, die Engels (1972 [1845]) beschreibt, werden auch Kinder türkischer Gastarbeiter:innen, Migrant:innen aus Ost- und Südosteuropa oder diejenigen, die vor Krieg und Elend nach Westeuropa geflohen sind, überdurchschnittlich häufig auf schlecht bezahlten, rechtlich ungesicherten Jobs mit wenig Perspektive eingesetzt. In diesem Band treffen wir sie etwa in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit, als Rider:innen bei Lieferdiensten, in den ausgelagerten Bereichen von Krankenhäusern (Kantine, Bettenschieben usw.), in Schlachthöfen oder in der Gebäudereinigung. Und weil sich soziale Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und Migrationsstatus gegenseitig verstärkt, spielen migrantische Frauen in vielen Beiträgen eine besonders große Rolle.
Defizite in der sozialen Anerkennung drücken sich auch ökonomisch aus: im Lohn. Gerade weil viele der in diesem Band behandelten Tätigkeiten weitgehend unsichtbar sind und wenig gesellschaftliche Aufmerksamkeit erregen, haben diejenigen, die sie ausüben, eine schlechte Verhandlungsposition und werden auch deshalb häufig gering vergütet. Aber es geht eben nicht nur um die Entlohnung, sondern auch um die verborgenen Verletzungen in der Klassengesellschaft (»hidden injuries of class«), wie Richard Sennett sie genannt hat (1972). Die Realität der Ungleichheit führt zu einer Vielzahl von Erschütterungen: in Bezug darauf, wie man sich selbst sieht, was man in seinem Leben erreichen und wie man tagtäglich die eigene Würde bewahren kann, wenn man beständig Leistung auf hohem Niveau erbringt, ohne die entsprechende Wertschätzung zu erfahren. Für die verkannten Leistungsträger:innen hat sich eine große normative Spannung aufgebaut. Zwar werden sie seit Neuestem öfter als »Held:innen des Alltags« adressiert, ihnen wird auch symbolische Anerkennung zuteil, doch dies übersetzt sich nicht in bessere Gehälter oder mehr soziale Rechte. Die »Tyrannei der Leistung« (Sandel 2020, S. 42) bedeutet (nach der oben skizzierten Umdeutung des Leistungsbegriffs) für sie eine Missachtung ihrer eigenen Anstrengungen.