Stefan Maiwald
Die Toten von Rialto
Davide Veniers drittes Abenteuer
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Stefan Maiwald, 1971 in Braunschweig geboren, lebt mit seiner italienischen Familie in Grado. Er ist Journalist, Kolumnist, Hobbykoch, passionierter Golfer und erfolgreicher Autor mit einem eigenen Blog: postausitalien.com.
Nach ›Der Spion des Dogen‹, der auf die Shortlist des HOMER 2017 in der Kategorie »Historischer Abenteuer- und Spannungsroman« kam, und ›Der Knochenraub von San Marco‹ ist dies der dritte Teil seiner Serie um Davide Venier.
»Der wie immer missgelaunte Schatzkanzler Grattardi lauerte hinter dem Schreibtisch auf seinen Gast. Venier, Ihr seid noch der Ruin der Republik! Wie viele Dukaten für welche unsinnige, nichts einbringende Reise wollt Ihr dieses Mal?‹«
Venedig, 1571. Drei angesehene Venezianer werden in rascher Folge ermordet. An einem grausigen Detail erkennt der jüdische Arzt Eppstein, der die Leichen untersucht, dass die Morde zusammenhängen. Ein Fall für Davide Venier, den Spion des Dogen, der sich im Auftrag von Kanzler Calaspin auf Spurensuche begibt.
Doch damit nicht genug: Portugiesische Kaufleute versuchen, unterstützt von venezianischen Spekulanten, Venedig den für die Lagunenstadt so lebenswichtigen Gewürzhandel streitig zu machen. Als Händler verkleidet, soll Davide die Verschwörung aufdecken. Bald stellt sich heraus: Ein Kronzeuge befindet sich auf einem Schiff der Flotte, die gegen die Osmanen ausrückt. Davide muss diesen Mann lebend heimbringen – und gerät mitten in die Seeschlacht von Lepanto. Kaum zurück, wartet bereits der nächste Albtraum: Davides Geliebte Veronica wurde entführt, und die Entführer fordern im Tausch gegen ihr Leben nichts Geringeres als den Tod des Dogen.
Originalausgabe 2019
© 2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
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eBook ISBN 978-3-423-43546-8 (epub)
ISBNder gedruckten Ausgabe 978-3-423-26224-8
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ISBN (epub) 9783423435468
Für Cice, Lilly und Laura
Ihm blieb nur ein Fetzen Stoff in der Hand. Eine Möwe, welche die Szene vom Dach eines verfallenen Palazzos aus beobachtete, krächzte höhnisch. Pasquale Innocenti hatte sich mit einer artistischen Verrenkung der Gliedmaßen aus Davides Griff befreit, sprintete die Gasse entlang und sprang dann über eine Gondel ans andere Ufer. Er war flink und glitschig wie eine Sardine. Selbst wer ihn zu fassen bekam, konnte sich seiner Sache nie sicher sein.
Davide Venier warf das Stück des Mantels zu Boden und stürzte dem Dieb hinterher. Er nahm ebenfalls die Abkürzung über die Gondel, und die Ruderer auf ihrem schwankenden, schmalen Boot wussten gar nicht, wen sie lauter verfluchen sollten. Mit viel Mühe verhinderten sie ein Kentern.
Pasquale Innocenti war Phantom und Volksheld zugleich. Die Venezianer rechneten es ihm hoch an, dass er nur die Allerreichsten bestahl – und dabei so geschickt vorging, dass der Diebstahl erst Tage, Wochen oder Monate später entdeckt wurde. Und in mehr als einem Fall machte erst die Testamentseröffnung den Hinterbliebenen klar, dass das wertvollste Stück aus der Schatulle offensichtlich fehlte.
Davide sah Pasquale nicht mehr, aber hörte die schnellen Schritte in den engen, wasserfernen calli der Stadt, und er folgte ihnen ebenso schnell. Er kannte die Stadt und all ihre Gassen gut, aber der verschlagene Pasquale war ein ebenbürtiger Gegner. Menschen stieben zur Seite, Wäsche wurde von den niedrigen Leinen gerissen, Tauben flatterten aufgeregt empor.
Mit seinem letzten Coup hatte Pasquale es zu weit getrieben. Er hatte der Frau des flämischen Gesandten einen Diamantring gestohlen, einen Ring von solcher Größe, dass er nicht nur auf die Frau, sondern vor allem auf den Ehemann abstrahlte, was dieser sehr genoss. Was die Sache allerdings pikant machte: Zuvor hatte es ein amouröses Abenteuer zwischen der Dame und dem Meisterdieb gegeben, welches dem flämischen Gesandten mindestens genauso sauer aufstieß wie der Verlust des Schmuckstücks. Auch amouröse Strategien gehörten zum Repertoire des Neapolitaners, der mit seinen dunklen Augen über einer recht breiten Nase und den kurzen schwarzen Haaren eher interessant als gut aussah, die Frauen aber mit seiner charmanten, tiefen Stimme verzauberte.
Der flämische Gesandte jedenfalls verlangte erregt die Ergreifung des Täters und mindestens dessen mehrfache Hinrichtung, und weil seine Kontakte zum Großen Rat gut waren und die betuchten Venezianer allgemein der Ansicht waren, dass es nun aber Zeit wäre, diesem Burschen das Handwerk zu legen, hatte Calaspin Davide Venier beauftragt, seinen besten Mann. Der nun hinter dem Flüchtenden herjagte.
In Venedig war es schwierig, sich zu verstecken, doch es war leicht, zu entkommen. Pasquale bog über eine schmale schmiedeeiserne Brücke in Richtung des Canal Grande ab, doch Davide kannte eine Abkürzung durch den cortile eines Palazzos, in welchem er einige Male um viele Dukaten gewürfelt hatte. Als er auf der anderen Seite herausstürzte, prallten die beiden aufeinander.
Plötzlich hatte Pasquale ein Stilett in der Hand. Davide lächelte und griff ebenfalls nach seinem Stilett, denn an dieser Waffe machte ihm niemand etwas vor. Doch der Griff unter den Tabarro führte ins Leere. Entgeistert blickte Davide den Meisterdieb an, der wie zur Entschuldigung mit den Schultern zuckte. Die Klinge vor Davides Nase war seine eigene.
Der Bursche, musste der Spion des Dogen anerkennen, war gut.
Aber Davide war ebenso flink. Pasquale hatte noch nie jemanden angegriffen oder verletzt. Also riskierte es Davide, sprang nach vorn und packte mit beiden Händen die Faust, die das Stilett umfasste. Mit einem Griff, den ihm Hasan seinerzeit im Gefängnis beigebracht hatte, verdrehte er Pasquales Hand nach außen. Der schrie vor Schmerz auf und ließ das Stilett fallen. Dann stellte ihm Davide ein Bein und stieß ihn zu Boden, doch Pasquale bekam im Sturz Davide zu fassen.
Sie stürzten gemeinsam ins trübe, bitterkalte Wasser eines kleinen Zubringerkanals zum großen Canal Grande. Die neue Situation bevorteilte Davide. Wie so viele Italiener aus dem Süden konnte Pasquale nicht schwimmen, geriet in Panik und klammerte sich an Davide fest.
Beide fanden Halt an einer niedrigen Uferstufe, von der aus die Gondeln beladen werden konnten. Davide stemmte sich schnell hoch und zog den hustenden Innocenti empor. Dann zog er eine neue Erfindung deutscher Schmiedemeister hervor, die ihm Eppstein, der jüdische Arzt, überlassen hatte: Es waren zwei Eisenringe, die die Ziffer Acht formten. Diese sogenannten »Handschellen« arretierten die Arme des Diebes endgültig hinter dessen Rücken und konnten nur mit einem Schlüssel gelöst werden.
»Alea iacta est«, seufzte Pasquale. Sein Latein war besser als seine Fertigkeiten als Schwimmer.
»Stell deine Kunst endlich in den Dienst Venedigs!«
Das Wasser tropfte von seinen schwarzen Locken herab, und der Dieb kam wieder ganz zu Sinnen. »Aber ich bitte Euch, mein lieber Venier, wo bliebe denn dann der Spaß?«
»Ich weiß nicht, ob die Bleikammern ein angemessener Wohnsitz für Euch sind und ob Euch Eure zweifellos bemerkenswerten Fertigkeiten dort von Nutzen wären.«
Innocenti schüttelte sich, so gut es ihm mit den gefesselten Händen möglich war. »Ihr seid doch von dort herausgekommen. Dann werde ich es auch irgendwie schaffen.«
»Große Worte. Du wirst es unter Beweis stellen müssen. Allerdings nur, wenn du dem Halsgericht entgehst.«
Nebel. Was denn sonst. Es war praktisch unmöglich, in Venedig ohne Nebel zu sterben, ganz so, als wäre es eine Anordnung des Großen Rats, an welche sich das Wetter unerbittlich hielt. Ein tristes, nach Schlick riechendes und auf den Lippen nach Salz schmeckendes Grau waberte durch die Lagune. Die Sichtweite betrug keine zwanzig Fuß, und die Gondolieri, die gerade am nordöstlichen Ufer Cannaregios ablegten, hatten Mühe, ihren Vordermann im Blick zu behalten und eine Kollision zu vermeiden. Die Schlieren malten die Stadt und das Wasser nicht nur in einer bleiernen, undurchdringlichen Farbe an, sie verhinderten auch, dass die Geräusche der Umgebung zu den Reisenden an Bord drangen. Die Ruderblätter im Wasser waren zu hören und ab und zu ein leises Schluchzen, mehr nicht. Selbst die Möwen hatten ihr beständiges Kreischen eingestellt und blieben lieber auf irgendwelchen Dächern, außerhalb der Hör- und Sichtweite menschlicher Wesen.
Veronica Bellini betrachtete die feinen Nebeltröpfchen auf ihren schwarzen Handschuhen, dabei saß sie in der geschützten Felze in der Mitte der Gondel. Doch vor den kalten Nebeltentakeln gab es kein Entkommen. Es war April und eigentlich keine Zeit für solch Trübsinn. Doch die Natur stimmte sich mit den Trauernden ab, die den Sarg begleiteten, dessen Gondel als Erste abgelegt hatte, so wie es das Ritual vorsah – der Tote sollte den Lebenden jenen Weg aufzeigen, den sie alle einmal zu gehen hatten.
Neben Veronica saß die Mutter des Toten, eine sehr alte Frau, die schon ein wenig wirr im Kopf war, nun aber schmerzlich genau wusste, was sich hier zutrug. »Riccardo, Riccardo«, flüsterte sie weinend vor sich hin. Tränen flossen ihre faltigen Wangen herab wie Wasser, das von Schiffstauen perlt, und sie sammelten sich auf ihrem Schoß, auf dem teuren schwarzen Seidenstoff.
Der Tod war so unerwartet gekommen wie ein Dieb in der Nacht. Veronicas Mann Riccardo Bellini, der stadtbekannte Rotschopf, hatte sich unwohl gefühlt, war früh zu Bett gegangen. Veronica legte sich neben ihn, keusch wie seit ihrer Heirat, und sie hörte noch sein leises, gleichmäßiges Schnarchen. Morgen ist wieder alles gut, dachte sie.
Doch am nächsten Morgen war ihr Mann kalt und stumm. Die alarmierte Dienerschaft ließ sofort einen Arzt rufen und schickte auch nach Eppstein, dem berühmten Gelehrten aus dem jüdischen Ghetto. Aber Riccardo war tot. Schlagfluss, beschied der Arzt, von der besonders heftigen Art. Eppstein war sich da weniger sicher, doch am Tod von Veronicas Gatten bestand leider kein Zweifel.
Veronica weinte, denn sie hatte ihren Mann gemocht. Niemals geliebt, aber doch immer gemocht. Wer konnte das über seinen Ehepartner schon sagen?
Nun ergriff sie die Hand von Riccardos Mutter. Es war immer herzzerreißend, wenn eine Generation außerhalb der Reihenfolge verschied. Bei Riccardos Mutter war es umso bitterer, da sie acht Kinder zur Welt gebracht hatte, von denen nur zwei älter als sechs wurden und nur eines die Volljährigkeit erreichte.
Urplötzlich tauchte ein schwarzer Schatten aus dem Nebel auf. Eine Transportgondel, die Stoffballen, mehrere mannshohe Kisten und auch Hühner in Käfigen geladen hatte, schrammte zwischen der Gondel mit dem Sarg und Veronicas Gondel entlang. Die Gondolieri aller Boote hatten nicht einmal Zeit zum Fluchen und lehnten sich schnaufend in die Ruder, um eine Kollision zu vermeiden. Für wütende Blicke war der Nebel zu dicht, und das eine oder andere Schimpfwort wurde von den braunen Backenzähnen der Beteiligten zermahlen.
Der Trauerzug nahm Kurs auf Murano, woher die Familie Bellini stammte. Riccardos Vater war einer der Magistrate der Stadt gewesen, die zwar einem Podestà Venedigs unterstellt waren, aber eigenständig genug handeln konnten, um große Vermögen anzuhäufen. Während die meisten Kollegen mit der Glasherstellung reich wurden, verwaltete der alte Bellini zwei fondamenti zur Salzgewinnung.
Der Sohn aber sah voraus, dass der Salzhandel, der Venedig so unermesslich viel Wohlstand eingebracht hatte, allmählich zum Erliegen kommen würde; die Konkurrenz war weltweit viel zu groß geworden, die Preise verfielen von Jahr zu Jahr. Also handelte Riccardo mit edlem Tuch, und für die Kleidung der nobili durfte es nur die beste Ware sein. Denn schließlich schmückte man sich in Venedig nicht mit Prunk, Schmuck und Buntheit. Die Unterschiede zwischen Kaufleuten und Edelleuten waren nicht riesig, sondern subtil. Der Tabarro eines Wollhändlers und der eines Aristokraten unterschieden sich auf den ersten Blick kaum und waren aus einer gewissen Entfernung sogar völlig gleich, und doch wusste jeder um die feinen Unterschiede: die Qualität der Wolle, die Verarbeitung der Nähte, den eleganten, schmeichelnden Fall des Stoffs über den Schultern statt des plumpen, groben Herabfallens in tiefen Furchen. Venezianer hatten für so etwas einen Blick.
Und Riccardo hatte diesen Blick erst recht gehabt. Schon als Achtjähriger schneiderte er seine Kleidung selbst, statt das beliebte venezianische Spiel des clanco mit der Holzplanke und dem Stoffball zu spielen, das die Jungs seiner Gasse bevorzugten. Er hüllte sich in die Stoffe seiner Mutter, erfreute sich an den Farben, stolzierte vor den kostbaren, aber nahezu blinden Spiegeln auf und ab. Er musste nicht erst zu einem Mann der Mode werden, er war als ein solcher auf die Welt gekommen. Und er hatte Glück: Seine Extravaganz drückte sich schon in seiner Haarpracht aus, diesem roten, vollen Feuer, das auch außerhalb des Karnevals jedes Mal für Aufsehen sorgte. Und das zu seinem Markenzeichen wurde.
Doch nun war er nicht mehr. Eine bleiche Hülle. Er verstarb viel zu früh und ohne ein Testament gemacht zu haben. Daher bestand die Mutter darauf, ihn zurück nach Murano zu bringen und dort zu beerdigen, nicht in einer dieser neureichen Kirchen in Venedig, wo man ein Vermögen für die Unterbringung und Pflege des Grabes aufbringen und das Relief auch noch bei einem bedeutenden Künstler in Auftrag geben musste.
Denn der Mutter war nur eines wichtig: ihr letztes Kind, das aus ihrem Schoß gekommen war, bei sich zu behalten. In Murano, nicht in Venedig. Es jeden Tag besuchen zu dürfen, solange es die müden Knochen noch mitmachten.
Und daher ruderten die zehn Boote – deren Anmietung allein schon das kleine Vermögen von hundertsiebzig Dukaten gekostet hatte – mit ihren Gondolieri nach Murano, wo sie nach einer halben Stunde ankamen und wo sich der Nebel noch einmal ein klein wenig undurchdringlicher zeigte. Von dort führte der Trauerzug durch den Canale San Giovanni und den Canale di San Donato. Dann fand ein kurzer Gottesdienst in der Basilica di Santa Maria e Donato statt, und schließlich wurde der Sarg des Riccardo Bellini, des Rotschopfs, des Kaufmanns, des Ehemanns von Veronica, des bekennenden Männerfreundes, zum Friedhof gebracht, um dort im Familiengrab bestattet zu werden.
Die dicke Bertha grinste und wedelte mit den Armen, ihre speckigen Muskeln am Trizeps wackelten fröhlich. Die graublauen Schlieren in der Luft teilten sich ziemlich unwillig und schwerfällig, wie draußen der zähe Lagunennebel. Aus dem Dunst kam Quattrodenti mit einem Krug Wein.
»Mehr, mehr!«, rief die dicke Bertha.
»Mehr, mehr!«, jubelte die Menge.
Die dicke Bertha hatte ihren fünften Grappa vor sich, dieses grässliche Getränk aus Stielen, Strünken und Schimmel, aus Geflügelschnäbeln, Eselshufen und Entengrütze. Schon nach einem Grappa, hieß es, konnte man blind werden. Die dicke Bertha blinzelte nicht mal. Und stürzte das Getränk in einem Zug hinunter.
Die Anwesenden gerieten aus dem Häuschen.
Die Frage war allerdings, ob ihr zuerst der Grappa ausging oder die Gegnerinnen. Denn wer konnte die dicke Bertha schon schlagen?
Es war in den letzten Wochen zu einer Berühmtheit in der Stadt geworden, das Mädchen aus Tirol, angeblich noch keine sechzehn Jahre alt und als Magd über Innsbruck und Padua nach Venedig gekommen. Und solche Dinge sprachen sich in den übervollen Kanälen der Serenissima ganz schnell herum, rasten durch die Gassen wie ein Feuer, loderten auf wie Pechfackeln und erleuchteten die Zimmer der Dienstmädchen, der Kurtisanen und der nobili. Jeder wollte sie sehen, jeder ihr einmal die Hand schütteln oder übers Haar streicheln. Und dafür eine Backpfeife kassieren, die die Wange anschwellen ließ.
Quattrodenti brachte den guten Wein, und die nächste Frau versuchte sich beim Armdrücken gegen die dicke Bertha. Sie war eine ältliche Hure mit schon reichlich verschmiertem Lippenstift, die sich allerdings eine gewisse Kraft durch fortgesetztes Auspeitschen ihrer noblen Klientel angeeignet hatte. Denn mochte auch die Chance auf einen Sieg gering sein, lohnend war der Wettkampf allemal, inzwischen stand die Quote bei zehn zu eins, und die Wetten wurden immer toller. Doch auch für die Auspeitscherin war es schnell vorbei, und der dicken Bertha wurde von irgendwoher ein sechster Grappa kredenzt.
Die Einzigen, die in Quattrodentis schmutziger Spelunke in der düstersten Gasse der dunkelsten Ecke Cannaregios keinen Blick für die dicke Bertha und ihre ebenso speckigen wie kräftigen Arme hatten, waren die Gäste an jenem Tisch, auf dem Quattrodenti, der Wirt ohne vier Vorderzähne, gerade den Weinkrug abgestellt hatte.
Davide Venier, Miguel de Cervantes und Tintoretto hatten etwas zu feiern – jedenfalls fand Miguel das, denn sehr bald würde die Flotte endlich in See stechen. Es war schon der dritte Weinkrug, was zum großen Teil Tintorettos Verdienst war. Der Maler war wie immer so betrunken, dass er schon fast wieder nüchtern war.
»Wir trinken doch sicher auch auf den Tod Riccardos, der viele Unannehmlichkeiten lösen wird?«, brachte Tintoretto halbwegs textsicher hervor.
»Nein, das tun wir nicht«, erwiderte Davide. »Riccardo war ein ehrenvoller Mann, mit dem ich nie Händel hatte. Was man von vielen anderen noblen Familien nicht sagen kann.«
Tatsächlich hatte sich Riccardo Bellini hartnäckig geweigert, bei der Verschwörung gegen Davide mitzuwirken, die diesem alles genommen hatte und den Sohn eines reichen Kaufmanns zu einem mittellosen Paria machte, der sich als Preis für seine Freiheit als Agent des Dogen verdingen musste.
»In der Tat, euer ›Arrangement‹, wie der Franzose sagen würde, war signorile. Und zum Wohle aller«, nickte Miguel.
»So lasst uns auf das Arrangement anstoßen«, beschied Tintoretto. Das war ein Satz, den er in jedem Zustand flüssig über die Lippen brachte.
Alle tranken auf das Arrangement. Und auf den tapferen, bedauernswerten Riccardo Bellini, der nun einige Fuß tief im feuchten Lagunenboden auf das Jüngste Gericht wartete.
Dann erschien unvermittelt der merkwürdige Francesco Collauto am Tisch. Ein dünnes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht, das stromlinienförmig wirkte und wie ein Schiffsbug spitz zulief. Dahinter verborgen lauerte die Bitte, sich setzen zu dürfen. Die dünnen Haare trug Collauto kurz und kämmte sie mit der Hilfe von Olivenöl streng zurück, was für noch weniger Luftwiderstand sorgte.
»Mein lieber Furetto, was macht Ihr denn in dieser Trattoria?«, begrüßte Miguel ihn leutselig.
»Oh, ich bin gewissermaßen zufällig hier.« Collauto wartete mit zwei überaus großen oberen Schneidezähnen auf, die seiner ganzen Erscheinung etwas Nagerhaftes verliehen. Alle Welt nannte ihn, auch in seinem Beisein, »Furetto«, Frettchen. Ein Spitzname, der trefflicher die äußere Erscheinung mit den charakterlichen Eigenschaften vereinte, war in ganz Venedig kaum denkbar.
»Trinkt doch etwas mit uns«, forderte Davide ihn auf, obwohl er wusste, dass das Frettchen weder wegen des Alkohols noch wegen des Glücksspiels oder der vagen Aussicht auf Sex hierhergekommen war, denn es hatte keine der üblichen Schwächen. Das Einzige, was es wollte, war Wissen. Und so schnüffelte es Tag und Nacht durch Venedig, schlich sich in Paläste und auf Feste ein, aber auch in die verruchten Ecken der Stadt, in die casini und Bordelle. Die Leute duldeten das. Es war unmöglich, das Frettchen auszusperren, es war so hartnäckig und ungreifbar wie eine Ratte auf dem Dachboden.
Das Frettchen setzte sich also auf einen von Davide herangezogenen Stuhl. »So ist es denn wahr, dass der Krieg bevorsteht und die Spanier dabei sind?«, fragte es mit seiner hohen, heiseren Stimme.
Davide und Miguel lachten beide auf. Ein bevorstehender Krieg war so sicher wie der Sonnenaufgang am Morgen. Das konnte kaum der Hauptgrund für das Erscheinen des Frettchens sein.
Das Frettchen lächelte entschuldigend. »Nein, Ihr habt recht, ich bin einfach nur hier, weil es mir, nun ja, interessant erscheint. Und weil dies, wie ich glaube, ein neuer Treffpunkt vieler interessanter Leute zu werden pflegt?«
»So? Wer treibt sich denn hier so herum?«
»Nicht zuletzt Ihr, mein lieber Venier. Ihr seid immer noch derjenige, über den überall in Venedig am meisten gesprochen wird.«
»Ist dem so?«
»Wie könnte es anders sein? Vom erfolgreichen Geschäftsmann zum Verräter in den Bleikammern zum engen Freund des Dogen, all das innerhalb weniger Monate. Ihr seid wie ein Theaterstück zum Anfassen.«
»So hoffen wir, dass es eine Komödie und keine Tragödie ist«, lachte Miguel, der, wie man merkte, seinen Aristoteles sorgsam studiert hatte.
»Aus irgendeinem Grund bin ich mir sicher, dass alles ein gutes Ende nehmen wird, doch es wird noch viele Widerstände zu überwinden geben«, orakelte das Frettchen.
»Nun erzählt schon, was Ihr hier macht. Der Krieg kann es nicht sein. Was ist es wirklich?«
»Oh, so einiges. Zum einen hört man von Edelleuten, die in wachsender Zahl hierherkommen, da gehört es ja zu meiner Pflicht, mich auf dem Laufenden zu halten.« Das Frettchen blickte sich um. Davide folgte seinen Augenbewegungen und erkannte, dass sich einige nobili regelrecht vor den Blicken des Chronisten wegduckten. Man konnte es nicht anders sagen: Francesco hatte eine gewisse Macht. Und: Er genoss es sichtlich, mehr zu wissen als alle anderen.
Seit vielen Jahren kümmerte er sich um die quaderni manoscritti, die der Große Rat damals eingeführt hatte. In diesen Schriften wurden einmal pro Vierteljahr alle Neuigkeiten zusammengefasst, die für Venedig wichtig waren; sie wurden an alle politisch Interessierten kostenlos verteilt sowie in Aushängen bekannt gemacht.
»Für einen Mann Eurer Klugheit bleibt Ihr erstaunlich vage«, meinte Davide.
»Nein, natürlich geht es um die Auswirkungen all jener Geschehnisse auf den Handel, der nun einmal das Rückgrat unserer fragilen Republik bildet.«
»Ja, man hört, dass die Gewürzpreise anziehen, dass das aber kein gutes Omen sei«, nickte Davide. Denn er war überzeugt: Bei jemandem, der alles wusste, war es die beste Taktik, ebenfalls ganz offen zu sein – oder wenigstens so zu tun –, um gar nicht erst Misstrauen zu erregen.
»Ja, davon erfuhr auch ich. Es sind die Genuesen, nicht wahr?«, fragte Miguel, während der schweigsame Tintoretto eine weitere Karaffe Wein orderte, denn der zuvor gebrachte Krug schien ein Loch im Boden gehabt zu haben.
»Wenn wir das wüssten …«, flüsterte das Frettchen.
Derweil zerquetschte die dicke Bertha ihre nächste Konkurrentin. Die Gäste der Taverne jubelten auf, und auch das Frettchen blickte nun auf, sichtlich interessiert an dem, was hier passierte.
»Also sagt: Was genau wollt Ihr hier?«, insistierte Davide.
»Es ist immer wieder dienlich, in diesen Etablissements nach Neuigkeiten zu hören, denn vieles, was noch geheim bleiben soll, wird hier geflüstert und nicht auf dem Markusplatz herausposaunt«, stellte das Frettchen beinahe feierlich fest.
»Und der Alkohol lockert die Zunge«, lächelte Davide.
»Und du, der nüchtern bleibt, hörst so manches, nicht wahr?«, dröhnte Miguel.
Das Frettchen nickte ernst und rieb sich das Kinn, welches praktisch nicht vorhanden war, denn die Unterlippe ging nahtlos in den Halsbereich über.
»Aber nun, wollt Ihr zu meinem Abschied nicht doch einmal ein Glas nehmen?«, fragte der Spanier.
Das Frettchen schüttelte den Kopf.
»Nun erweist mir doch die Ehre, denn schließlich verteidige ich zuallererst die Serenissima und damit nicht zuletzt unseren Wohlstand.«
Das Frettchen schüttelte noch einmal abschlägig den Kopf, aber dieses Mal etwas zögerlicher. Denn Miguel konnte man nur schwerlich eine Bitte abschlagen. Und was sollte ein Glas Wein schon schaden, schien seine Miene zu besagen.
Also brachte man dem Frettchen ein Glas, und Tintoretto sorgte für das Einschenken nach seinem Maßstab, der nur randvoll kannte.
Denn Miguel, in dieser überschwänglichen Laune, wie sie ablegenden Seeleuten und Soldaten zu eigen ist, hatte noch Großes mit dem Frettchen vor. Heute, so hatte der Spanier beschlossen, war es fällig.
»Frauen, die gegeneinander antreten, das ist doch furchtbar!«, befand das Frettchen. Der Satz war ein großer Fehler. Denn er brachte Miguel auf eine Idee.
»Nun, dann tretet Ihr doch gegen sie an und macht dem Spuk ein Ende!«, forderte er den venezianischen Chronisten auf.
»Selbstverständlich werde ich das nicht tun. Und selbstverständlich würde ich niemals gegen eine Frau verlieren«, röchelte er, und seine Stimme klang ein wenig heiserer als sonst.
Den letzten Satz hörten einige der Umstehenden, und so entstand eine eigenartige Dynamik, von der am Ende des Abends keiner mehr wusste, wie sie sich eigentlich entwickelt hatte, außer vielleicht Miguel. Denn irgendjemand hatte den neugierigen Blick des Frettchens aufgefangen, irgendjemand hatte auf Francesco gezeigt, und irgendwann war es schlicht zu spät gewesen, sich dagegen zu wehren.
Jedenfalls wurde das Frettchen gegen die dicke Bertha aufgehetzt und unter allgemeinem Gejohle nach vorn gezerrt. Einen gröberen Streich konnte man ihm kaum spielen, denn Francesco Collauto nahm nur als Beobachter am gesellschaftlichen Leben teil, niemals als Akteur. Er legte allerhöchsten Wert auf Diskretion; nie war jemand bei ihm daheim gewesen, er gab keine Feste, nicht einmal ein Abendessen. Ihn auf eine solche Art ins Rampenlicht zu ziehen, war ein unerhörter Affront und daher umso komischer.
Das Frettchen schlich dahin wie zu seiner Kreuzigung. Es machte rein körperlich wenig her, was auf der Empore umso deutlicher wurde: Es war von durchschnittlichem Wuchs und trug einen ungeschickt fallenden, schief geschnittenen Tabarro, der ihm trotz seines Alters – es war gerade vierzig geworden – etwas Buckliges, Zerbrechliches verlieh. Neben der dicken Bertha sah Francesco Collauto aus wie ein wurmstichiger Sack Mehl.
Die dicke Bertha dagegen freute sich über ihren neuen mutmaßlichen Herausforderer und feuerte die Menge mit rudernden Armen an. Ein Vergleich Mann gegen Frau, das war etwas Unglaubliches, ja geradezu Gotteslästerliches, und gerade deswegen so erregend.
Davide, Miguel und Tintoretto waren das Frettchen zwar losgeworden, beobachteten nun aber gebannt, was geschehen würde.
Der Chronist streifte seinen Tabarro ab, und von irgendwoher tauchte ein Schiedsrichter auf, den bei den Kämpfen zuvor niemand wahrgenommen hatte. Er instruierte die Kombattanten, rückte ihre Arme zurecht, und schon bei dem bloßen Anblick dieser beiden Extremitäten war allen klar, dass dieses Ende kein gutes werden würde. Der zahnstocherhafte Oberarm des Frettchens gegen das üppige Fleisch- und Fettkonzentrat der Tirolerin: Sollte hier das Unvorstellbare passieren, nämlich der Sieg einer Frau – eines Mädchens! – gegen einen Mann?
Die ersten Momente hielt sich der Chronist tapfer. Der Schweiß auf der Stirn vermischte sich mit dem Olivenöl in seinem Haar. Aber er hatte keine Chance. Der erbärmlich dünne Arm leistete bald nur wenig Widerstand und wurde dann mit einem bitteren Klatschen auf den Eichentisch niedergedrückt.
Was für eine Schmach! Welch Demütigung! Das Frettchen war nicht nur körperlich, sondern auch moralisch demoliert; im Jubeln der Menge dachte es an Suizid. Alles, was es hatte vermeiden wollen, war eingetreten – nicht nur eine Bloßstellung in der Öffentlichkeit, sondern auch noch die Niederlage gegen eine Frau, was einer Kastration gleichkam. Wie konnte es sich nun am schnellsten umbringen? In einen Kanal stürzen? Aus einem Fenster hinaus? Sich ein Stilett durch die Rippen bohren? Ach, ach.
In Wirklichkeit aber nahm niemand etwas wahr. Die Unscheinbarkeit, hinter der sich das Frettchen verbarg, kam ihm nun zugute. Seine Niederlage war eine so flüchtige Sache wie die Alkoholschwaden in der Luft; am morgigen Tag würde sich keiner mehr daran erinnern. Doch das war dem Frettchen noch nicht klar. Wie ein schwer verwundeter Söldner sank es an Davides Tisch zurück in seinen Schemel und sah hundeelend aus. Es war der einzige Tisch, an dem es einigermaßen willkommen war.
Miguel grinste Francesco an, doch selbst in diesem Mikrokosmos war das Thema längst ein anderes.
»Wo mag das entscheidende Zusammentreffen mit den Osmanen stattfinden?«, fragte Tintoretto.
»Man hört, türkische Galeerenverbände stünden vor Ancona, und wir können sie in wenigen Tagen erreichen und zerschmettern«, gab Miguel zurück.
»Unwahrscheinlich, dass sie sich so weit vorgewagt haben«, meinte Davide. »In fremden Gewässern wären sie zu sehr benachteiligt, dazu noch in der tückischen Adria mit ihren unberechenbaren Winden, die doch eindeutig den venezianischen Seeleuten zupasskommen.«
Das Frettchen, das in seinem Selbstmitleid Zuspruch gesucht hatte, blickte verwirrt von einem zum anderen. Warum kümmerte sich keiner um ihn? Nur Miguel blickte ihn mit einem irritierend befriedigenden Gesichtsausdruck an.
»Sic transit gloria mundi«, seufzte der Chronist zu sich selbst. Tintoretto schenkte ihm ein Glas nach, und alle stießen an. Heute sollte das Frettchen wohl nicht mehr auf zwei Beinen nach Hause kommen.
Hasan stürzte atemlos in die Kneipe. Er vermied normalerweise diese zechenden Zusammenkünfte, obwohl Davide es ihm ausdrücklich gestattet hatte. Doch er hatte sich stets geweigert, an den Bacchanalien von Davides Freunden teilzunehmen. Dieses Mal aber drängte er sich in ganz untypischer, hektischer Art an Davides Tisch vor. Seine ungewöhnlich nüchternen Bewegungen zerteilten die Schwaden aus Schweiß und Alkohol, und nachdem er endlich bei Davide und seinen Freunden angelangt war, rang er nach Luft.
»Ich glaube, das solltet Ihr lesen!«
Davide nahm den Brief entgegen und entfaltete ihn.
Seine Tischgenossen sahen ihn neugierig an.
Davide ließ die Nachricht zu Boden gleiten und seufzte mit einer großen Erleichterung. »Ist der Tag schon angebrochen?«, fragte er Hasan.
»Ja, das erste Licht zeigt sich bereits.«
»Wem von euch steht der Sinn nach einem kleinen Einbruch?«, fragte Davide.
»Was meinst du?«, fragte Miguel.
Auch das niedergeschlagene und ziemlich betrunkene Frettchen wurde hellhörig.
Doch Tintoretto verstand. Und bestellte noch einen Krug Wein, denn er wusste: Jetzt gab es wirklich etwas zu feiern.
Davide setzte das Stemmeisen an, Hasan und Miguel benutzten einen groben Hammer mit langer Finne, während Tintoretto und das Frettchen vorsichtshalber etwas abseits blieben und der Szene nur ornamentale Bedeutung verliehen. Es krachte und splitterte, als die drei gemeinsam die vernagelten Bretter aus dem Portal rissen. Eine Gondel fuhr vorbei, und die beiden Gondolieri verlangsamten voller Neugier ihre Fahrt. Als sie Miguels finsteren Blick sahen, ruderten sie schnell davon.
Tapp, tapp, tapp. Die ersten Schritte über die Schwelle fühlten sich eigenartig an, wie das Betreten eines fremden Kontinents. Vor allem aber stürzten die Erinnerungen auf Davide ein wie eine plötzliche Flutwelle, als er mit seinem Diener im Empfangsraum des völlig verstaubten Palazzos stand.
»Respekt, mein Herr«, keuchte Hasan, der nach oben blickte.
»Schön hattet ihr’s. Und jetzt ja wieder«, befand Miguel.
Davide beleuchtete den Raum mit einer Öllampe. Es blieb dunkel, denn auch alle Fenster hatte man vernagelt.
Hasan blickte Davide fragend an, der nickte. »Es gibt viel zu tun!« Der Orientale klatschte in die Hände. Er machte sich sofort an die Arbeit und befreite die Fenster nach und nach von ihrem hölzernen Gefängnis.
Davide stand immer noch an der Schwelle, staunend und verwirrt, und ließ die Gedanken und Erinnerungen, die Freude und den Schmerz auf sich einströmen.
Davide war noch längst kein freier Mann, denn die Vereinbarung mit Kanzler Calaspin – oder sollte man es lieber Erpressung nennen? – sah seine Spionagedienste für zehn Jahre vor, die gesamte Dauer seiner Verurteilung. Aber den Palazzo seiner Familie durfte er nun wieder bewohnen. Dieser blieb zwar im Besitz der Serenissima, so wie Davide selbst, dennoch war es ein weiterer Schritt, nach seiner Entlassung aus den Bleikammern wieder ein halbwegs geregeltes, fast normales Leben zu führen.
Der Palazzo – da waren die Buchhalter der Serenissima genau gewesen – lag noch beinahe so da, wie Davide ihn in jener Nacht, als seine Inhaftierung über ihn kam wie ein Albtraum, verlassen hatte. Die Vasen aus teurem Muranoglas, die seine Mutter so geliebt hatte, standen ebenso an ihrem Platz wie die zwei Reisetruhen seines Vaters, in dem er Mitbringsel aufbewahrt hatte. Die Stühle und Kommoden waren mit einer dicken Staubschicht überzogen, so wie die Vergangenheit des Besitzers.
Davides Vaters hatte den Palazzo zunächst zur Miete bewohnt, doch später erworben, mit dem Profit jener einen gewagten Reise, die Davide mitgemacht hatte und an die er sich jetzt wieder in beinahe allen Einzelheiten erinnerte. Mit jedem Brett, das Hasan entfernte, sickerte mehr Tageslicht in die Räume und mehr Vergangenheit in Davides Gedächtnis.
An seine Mutter, die Carlotta hieß, hatte er nur ganz vage Erinnerungen. Er sah einen breiten, lachenden Mund, er spürte ihre Hände auf seinen Wangen. Ihr milchig-warmer Duft war ihm noch heute vertraut, auch der Duft ihres dunklen Haars. Sie war am Kindbettfieber gestorben, als sie Davides jüngere Schwester zur Welt gebracht hatte. Davide war sechs Jahre alt gewesen. Auch die Schwester, die hastig in einer Nottaufe den Namen Amalia bekam, sollte nur zehn Tage überleben.
Davide konnte sich mit dumpfem Schrecken an die letzten Tage von Mutter und Schwester erinnern, an die Aufregung im Haus, die hastigen Schritte der Ärzte, die treppauf und treppab liefen, das leise Weinen der Verwandten, die wächserne Miene des sonst so fröhlichen Vaters.
»Die Küche ist ja eine wahre Pracht!«, hallte Hasans Stimme aus einem Raum rechts vom Haupteingang. »Sogar Feuerholz ist noch da! Dann werde ich uns gleich am heutigen Abend etwas Feines kochen!«
Doch Davide hatte die Augen geschlossen und hörte nichts. Er hörte nicht, wie Hasan und Miguel Brett um Brett wegrissen, wie Tintoretto den Staub von einigen Wandfresken wischte, über die nachlässige Arbeit der Kunsthandwerker lästerte und Davide neue, bessere Werke aus seiner Hand versprach. Er hörte nicht das Knarzen der Schubladen, die das Frettchen heimlich zu öffnen versuchte, bis Miguel ihm die Hand auf die Schultern legte und den Kopf schüttelte.
Wie sanft die Wellen gegen die bröckelnden Fundamente des Brückchens schlugen und, wie um Vergebung bittend, sich zurückzogen, einen Hauch von weißem Schaum zurücklassend, eine ferne Erinnerung! Und dann, drei, vier Augenblicke später, kam die nächste Welle, kassierte die Überreste des Vorläufers und hinterließ ihrerseits ein kleines, feuchtes Andenken. Was für ein bezaubernder Rhythmus der Natur! Eine übers Wasser schießende Möwe kreuzte Antonios Blick, flog dann – wie grotesk! – senkrecht nach oben, und auch das Wasser schien gen Himmel zu stürzen. Schade, dass er es erst jetzt bemerkte und genoss, diese Schönheit des Alltäglichen, jetzt, da ihm ein Stilett durch die Lungen getrieben war, jeder Atemzug einen Schwall Blut nach oben in die Kehle trug und er schon längst auf dem feuchten Boden lag, sterbend, aber nicht leidend.
Was ihm vorher nie aufgefallen war, wurde jetzt, als er, von einem Stich durchbohrt, der ihn von hinten getroffen hatte, zu Boden sank, zu seinem letzten Gedanken. Pure Schönheit. Rhythmik. Harmonie. Das Sonnenlicht blitzte noch einmal in seinen Augen, bis der Blick rot wurde und erlosch, so wie sein Atem.
Das Fest war berauschend gewesen, unvergesslich, verrückt. Die Bottegons zweifellos gute Gastgeber: sie ein kleines Miststück mit ihren wollüstigen roten Lippen und den weiß gefärbten Haaren, er vom vielen Geld so dumm geworden, dass er nicht merkte, wie sehr sie es darauf anlegte, die Gäste zu verführen.
Im Foyer hatte Carlo getanzt und den silbernen Kandelaber umgestoßen, halb unabsichtlich. So verwegen hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. Er hatte rumgeknutscht mit einer Kurtisane vom Festland, die berühmt für ihre unglaublich lange Zunge war. Und er hatte sie gehabt. Sie und ihre Zunge. Fast eine halbe Stunde lang.
Er schwankte nur noch. »Wer wankt, hat mehr vom Weg«, hatte ihm der Gastgeber hinterhergerufen, dieser dumme Wallach. Stufen hoch, Stufen runter. Festhalten am Geländer, das im Nebel glitschig war, kaum einen Halt bot.
Und da ging es auch schon dahin. Seine Füße verloren das Gleichgewicht, die zweite Hand, die das Mauerwerk zu halten versuchte, glitt ins Leere. Unten angekommen, lag er in etwas Zähem, Warmem. Und er atmete schwer.
Es war sein eigenes Blut, das vor seinen Augen über die Brüstung in den Kanal von Cannaregio sickerte, dort auf das schwarze Wasser tropfte und fortgetragen wurde. Er blickte seinem Ausfluss hinterher, der ihm auch seine Seele entzog, Tropfen für Tropfen, und merkte, wie der Blick schwächer wurde. Ein bizarrer letzter Gedanke beschäftigte ihn: Mit wie viel Alkohol wohl dieses sein Blut angereichert war, und würden die Möwen und die Ratten, die sich zweifellos bald über die Lache hermachen würden, genauso viel Vergnügen daran haben wie er?
Es war ein gewaltiger Strauß. Rote, weiße und gelbe Tulpen, frisch aus den Niederlanden eingetroffen, rheinabwärts geschifft und in einer Kutsche über die Alpenpässe gezerrt, in mit Flusswasser feucht gehaltener Erde den gesamten Transportweg hinweg, ein äußerst aufwändiges Verfahren. Sie hatten ein Vermögen gekostet, wie all dieses neumodische Blumenzeug, das den edlen Damen so außerordentlich gut gefiel und das auf jede Tafel gehörte. Manche der Damen stellten sich die Sträuße sogar ins Schlafzimmer, auf ihren Nachttisch, schnupperten daran, berauschten sich am Duft.
Er konnte Blumen nicht leiden. Es war ja doch nur aufgehübschtes Gemüse, nicht einmal essbar, und auch der Geruch behagte ihm nicht, dieser süßlich-verwesende Dunst. Manche der Blumenhändler sollten ja, wie er gehört hatte, sogar mit Parfüm nachhelfen.
Die Passanten, die ihm auf dem Weg zu seiner Gondel entgegenkamen, schauten ihn merkwürdig an, manche lächelten anzüglich. Doch einen Spruch verkniff man sich lieber, man wusste ja nie, wen man vor sich hatte, und wer sich Blumen leisten konnte, musste ein reicher Mann sein.
Marino war seiner Frau das Geschenk schuldig. Hatte er sie doch gestern etwas zu hart angefasst, als das Essen kalt und das Besteck verschmutzt gewesen waren. Aber gegen das blaue Auge half ja eine frische halbe Zwiebel, wie er noch aus seiner Jugend wusste, als er selbst öfter mal in Raufereien geriet. Ja, diese verflixten Wetten und die vielen Schulden. Gut, dass er vermögend geheiratet hatte und der Schwiegervater bislang brav zahlte. Dieser willenlose Kretin, der alles für seine Tochter tat.
Und bei all seiner Abneigung gegen das bunte Gemüse hatte es doch eine gewisse finale Komik, dass er auf ebendiesen Blumen zu Boden sank, das Gesicht unaufhaltsam voraus. Doch den Schmerz, den der Bruch seiner Nase verursachte, und den Hauch von Jasmin, der durch seine lädierten Nebenhöhlen zu ihm drang, nahm er schon nicht mehr wahr.
Während seine Kameraden um ihn herum voller Enthusiasmus den Palazzo wieder herrichteten, wurde Davide in dieser vertrauten Umgebung, die er so lange hatte missen müssen, von einer Welle der Erinnerungen erfasst, die ihn mit der Macht eines Strudels fortriss.