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Soundtrack

 

Addicted To You – Avicii

Feeling Good – Nina Simone

For A Better Day – Avicii

Funeral – Siddharta Khosla

In The Wee Small Hours Of The Morning – Frank Sinatra

Open Your Eyes – Snow Patrol

Poison & Wine – The Civil Wars

Salvation – Gabrielle Aplin

Tequila – The Champs

The Words – Christina Perri

 

Maywood Lovestorys

Mia & Wyatt

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Tina Köpke

 

© 2021 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH

8700 Leoben, Austria

 

Covergestaltung: © Sturmmöwen

Titelabbildungen: © Jacob Lund, © ju_see,

© Charles Plant, © Julia Sudnitskaya,

© TTstudio, © pukach2012

 

Lektorat & Korrektorat: Romance Edition

 

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903278-67-7

ISBN-EPUB: 978-3-903278-68-4

 

www.romance-edition.com

 

Prolog

Drei Monate zuvor ...

 

Wyatt schwenkte das Glas mit der goldbraunen Flüssigkeit im Gegenlicht der untergehenden Abendsonne, ehe er es mit einem Schluck leerte. Der cremige Geschmack schmolz in einer süßen Honignote auf seiner Zunge dahin – wie die Kräuterbutter auf den Rindersteaks, die Jake auf dem neuen Smoker zu Tode grillte.

Sein Freund war ein ausgezeichneter Hockeyspieler, aber er hatte keine Ahnung davon, wie man Fleisch so behandelte, dass es am Ende nicht mit einer zähen Schuhsohle verwechselt werden konnte.

Zum Glück für alle Beteiligten wurde er am Grill von Mike abgelöst, der sich nicht nur mit Drinks gut auskannte, sondern auch wusste, wie man Nackensteaks zubereitete. So blieb Wyatt wenigstens ein wenig Hoffnung, dass er bei dem Barbecue etwas Anständiges zu essen bekäme.

Es war zwei Wochen her, dass er nach Maywood gekommen war, um Emma, Jakes Freundin, aus der Patsche zu helfen. Ihr Kredit wurde bewilligt und sein Blogartikel über die Kleinstadt und Emmas Bed & Breakfast war über sich hinausgewachsen. Die örtliche Zeitung, das Maywood Journal, hatte ihn sogar mit seiner Erlaubnis abgedruckt. Das war selbst für Wyatt ein kleiner Erfolg.

Er hatte gern geholfen.

Durch die dunklen Gläser der Sonnenbrille beobachtete er Jake, wie er zu Emma schlenderte, den Arm um ihre Schultern legte und sie auf die Wange küsste. Wyatt glaubte nicht an die große Liebe, doch wenn er die beiden länger betrachtete, dann geriet seine Meinung ein wenig ins Schwanken. So sah ein glücklicher Mann aus, wie er fand. Wenn auch ein lokal sehr gebundener Mann. Wyatt würde aber nicht über die Wünsche und Träume seines Freundes urteilen.

Ein bisschen verstand er es sogar und irgendwo in ihm drin gab es auch eine Stimme, die Jake ein wenig beneidete. Aber dann erinnerte sich Wyatt daran, dass ihm dafür die ganze Welt offenstand. Er konnte von heute auf morgen nach Madagaskar reisen. Oder nach Island. In die Mongolei. Für ihn gab es keine Stadt- oder Landesgrenzen.

Im Vergleich dazu war Maywood lächerlich winzig. Dennoch hatte dieses Kaff ihn irgendwie für sich gewonnen. Die wenigen Tage, die er hier verbracht hatte, hingen ihm selbst zurück in Boston noch nach. Er hatte die Handyfotos gesichtet und sich durch die Notizen gearbeitet, die er sich während des Aufenthaltes gemacht hatte.

Als er die Einladung zur großen Eröffnungsfeier von Falkenstein’s Bed & Breakfast erhielt, sagte er sofort zu. Wyatt folgte immer seinem Bauchgefühl und irrwitzigerweise führte es ihn nach Maywood zurück. Und nun stand er hier – in Emmas Garten, der bald aus allen Nähten platzte, weil Hinz und Kunz dieses Event nicht verpassen wollten. Er war froh, dass er sich gegen eine Nacht in der Pension und für einen Zug nach Boston entschieden hatte. Hier waren für seinen Geschmack definitiv zu viele Menschen.

Jake und Emma gesellten sich zu ihm. Letztere strahlte wie die Sonne höchstpersönlich.

»Schön, dass du da bist«, sagte sie und begrüßte ihn mit einer flüchtigen Umarmung. »Ich sehe, du hast schon was zu trinken?«

Wyatt hob demonstrativ sein geleertes Glas. »Hatte. Aber euer Whiskey ist gut.«

»Das hoffe ich doch. Mikes Rechnung dafür war hoch genug.«

»Jetzt bist du ja eine reiche Frau«, sagte er mit einem schmalen Lächeln.

Emma lachte. »Als ob! Aber dank deiner Hilfe zumindest eine, die wieder Land sieht.«

Wyatt zuckte gleichmütig mit den Schultern. Das musste das sechste oder siebte Mal sein, dass sie sich bei ihm bedankte. An diesem Tag. Wenn das so weiter ging, würde sie noch ihr erstes Kind nach ihm benennen.

Jake beugte sich zu Emma und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das ihr ein Schmunzeln entlockte. Automatisch wandte sich Wyatt von den beiden ab. Öffentliche Intimität war nichts für ihn, daher ließ er den Blick über die Gäste schweifen, die sich zwischen Gartenfackeln, Buffettisch und Musikanlage zu kleinen Gruppen zusammengerottet hatten und sich angeregt unterhielten.

Irgendwie konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wieso ihm diese Stadt nicht aus dem Kopf gegangen war. Gerade erschien sie ihm anspruchslos gestrickt. Als hätte sie ihren Zauber verloren. Dann traf sein Blick auf etwas, das seine Neugierde weckte. Lange, blonde, wellige Haare. Ein weißes Shirt, das locker saß und nachlässig in den Bund einer knappen Jeansshorts gestopft war. Lange, sonnengebräunte Beine endeten in hellen Chucks.

Sie wandte das Gesicht von ihren Gesprächspartnern ab – einer jungen Frau, ähnlich blond, und einem älteren Mann – und sah zu ihm.

Hinter seiner Sonnenbrille fühlte sich Wyatt sicher, daher genierte er sich nicht, ihre hohen Wangenknochen und ihre rosigen Lippen zu verinnerlichen. Sie war hübsch. Wobei hübsch nicht das richtige Wort war, schon gar nicht, als sich ihr Mund zu einem Lächeln verzog. Grüßend hob er sein leeres Glas und nickte ihr zu.

Der Augenblick war vorbei, als sie sich wieder den anderen Leuten widmete.

»Jake?« Wyatt schaute zu seinem Freund, der den Kopf leicht zur Seite neigte. Womit er seiner Meinung nach ein bisschen wie einer dieser komischen Labradoodles wirkte. »Wer ist die Lady dort drüben?«

Jake, aber auch Emma, folgte seinem Blick. »Das ist Mia.«

»Mia«, wiederholte Wyatt leise.

»Wieso fragst du?«

Er brummte kurz. »Gilt dein Angebot für ein Zimmer noch?«, fragte er an Emma gewandt, die ihm bei seinem letzten Besuch versprochen hatte, jederzeit einen Platz für ihn in der Pension zu haben. Wer hätte gedacht, dass er so bald – oder überhaupt – darauf zurückkommen würde.

Sie wirkte ein wenig verdutzt, nickte aber mit einem Lächeln auf den Lippen. »Für dich immer und so lange du willst.«

»Danke. Schick mir einfach eine Mail, wann es in zwei, drei Monaten passt.«

Wyatt wandte sich von den beiden ab und setzte sich in Bewegung, um sich einen neuen Drink zu organisieren.

Ihm war wieder eingefallen, warum Maywood durch seine Gedanken spukte.

Es waren die Geschichten gewesen. Das Potenzial, das in ihnen steckte. Diese Stadt hatte eine Sehnsucht in ihm ausgelöst, die er vor geraumer Zeit beerdigt hatte. Nicht dieselbe wie bei Jake. Wyatt wollte hier nicht sesshaft werden. Er wollte ein Abenteurer sein. Mehr als die halbe Welt hatte er bereist, aber die Storys, die es hier zu entdecken gab, riefen seinen Namen.

Und er würde sie erkunden.

Jede einzelne von ihnen.

1. Kapitel

 

»Okay, Mrs Morgan. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«

»Ms Morgan«, korrigierte ihn die fast fünfzigjährige Besitzerin von The Flower Garden. »Und wenn ich fragen darf – warum wollen Sie überhaupt irgendetwas von mir wissen?«

»Weil ich die Menschen in dieser Stadt besser kennenlernen möchte«, erwiderte Wyatt. Er hatte diese Frage bereits ein halbes Dutzend Mal zu hören bekommen. Mr Culpepper, Besitzer des kleinen Supermarktes hier in Maywood, hatte sie ihm als Erster gestellt. Das war vor knapp zwei Wochen gewesen und es hatte ihn kalt erwischt, was eher selten vorkam. Es war ihm gelungen, dem alten Mann eine halbwegs akkurate Ausrede zu präsentieren, auch wenn sich Wyatt noch nicht ganz sicher war, ob Mr Culpepper ihm diese abgekauft hatte. Seither hatte sich Wyatt aber vorbereitet und seine Antworten kamen ihm aus tiefster Überzeugung über die Lippen.

Er log nicht, allein schon aus Prinzip. Er wollte in der Tat mehr über die Leute hier erfahren. Was er ihnen aber nicht erzählte, war, was er mit ihren Geschichten anstellte. Warum es ihn so faszinierte, hinter die perfekten weißen Gartenzäune zu schauen. Dieser Ort wirkte auf Fremde wie ihn anfänglich perfekt. Traditionen, Nachbarn, die sich grüßten und gegenseitig unterstützten, so gut wie keine Einflüsse durch die verdorbene Welt des Internets. Hier kam man her, wenn man eine Auszeit und sich ein bisschen wie in einem Bilderbuch fühlen wollte.

Aber die Geschichte seiner beiden Freunde Emma und Jake hatte ihn daran erinnert, dass gepflegte Hausfassaden mit Blumenkränzen an den Türen auch nichts anderes waren als eben genau das: Fassaden.

Wyatt würde jede Schicht Farbe herunterkratzen, bis er auf das blanke Mauerwerk traf. Die ungeschönte Wahrheit, die allen bewies, dass es nichts auf der Welt gab, das perfekt war.

Philomena Morgan lachte verwirrt. »Warum sollten Sie das? Wir sind hier in Maywood. Hier gibt es nichts Spannendes. Sie sollten nach Boston oder New York. Oder Las Vegas. Dort könnte man Ihnen Geschichten erzählen ...« Ihr Blick schien in eine Vergangenheit abzuschweifen, die ihm bisher verschlossen geblieben war.

Wyatt wurde hellhörig. Er überging die Skepsis der Frau und öffnete beiläufig ein kleines, schwarzes Notizbuch, das in den letzten Tagen zu seinem treuesten Begleiter geworden war. »Waren Sie schon einmal in Las Vegas, Ms Morgan?«

Damit durchbrach er ihre sorgsam aufgebaute Abwehrhaltung. Las Vegas schien ihr Zauberwort zu sein. Ihr Abrakadabra. Jeder besaß so eines. Alle Interviewpartner, die er ins Monroe’s Diner bisher eingeladen hatte, hatten diesen einen Nerv besessen. Jene sensible Stelle, die er finden und drücken musste, damit sie ihm die eigene Lebensgeschichte nackt und roh auf den babyblauen Esstisch ausbreiteten.

Ms Morgan war keine Ausnahme, auch wenn sie sich bestimmt für weniger schwach einschätzte. Aber sie war nur ein Mensch und Menschen redeten zu gern über sich, wenn man ihnen eine Gelegenheit dafür bot. Deswegen war Social Media so erfolgreich. Zumindest außerhalb der Stadtgrenzen von Maywood.

Wyatt war schon froh, wenn er es schaffte, seine Texte über die schwache Internetleitung in Falkensteins Bed & Breakfast rauszuschicken. Seit dem ersten Oktober lebte er in einem ihrer zahlreichen Pensionszimmer. Es war nicht unbedingt vergleichbar mit seiner Wohnung in Boston, aber nachdem er Emma im Sommer einen Gefallen getan hatte, musste er für seine Übernachtung nichts mehr bezahlen. Außerdem kochte sie gut. Es war ein praktisches Arrangement – vorübergehend.

»Meine Töchter, Emily und Lucy, leben zusammen in New York. Lucy möchte nächstes Jahr studieren, Emily hat als eine der Besten ihres Jahrganges im Bereich Computer oder so was abgeschlossen. Ich bin sehr stolz auf meine Mädchen«, endete Philomena. Das Funkeln in ihren Augen untermalte ihre Aussage.

»Und der Vater?« Er musste etwas nachhaken. Bis auf die Tatsache, dass die beiden Töchter offenbar in Las Vegas geboren worden und mit ihrer Mutter ein paar Jahre später nach Maywood gezogen waren, hatte er nichts gehört, mit dem er richtig arbeiten konnte. Doch es gab mehr. Sein Bauchgefühl, das wie ein Trüffelschwein die dunklen Flecken in den Leben seiner Mitmenschen erschnüffelte, stupste ihn auf nervtötende Weise an.

»Dexter?« Philomena griff nach ihrer Kaffeetasse und führte sie zu ihren Lippen. Erst, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, schien sie die nötige Kraft aufzubringen, um ihm zu erzählen, was sie geheimgehalten hatte. »Dexter lebt in Las Vegas. Er betreibt einige Lokalitäten dort.«

Wyatt zog die Brauen nach oben. »Welche Lokalitäten?«

»Na, Geschäfte eben.«

»Casinos?«

»Auch.«

»Hotels?«

»Weniger.«

»Ms Morgan«, begann Wyatt, um Geduld bemüht. Es war an manchen Tagen schwer, nicht seine innere Ruhe zu verlieren. »Las Vegas lässt viel Spielraum für Fantasie zu. Er könnte genauso gut Bordellbesitzer sein. Oder ein Aussteiger. Ein Hippie.«

»Doch nicht Dexter.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Er betreibt ein paar Spielotheken und zwei Stripteaselokale. Alles legal, und er achtet penibel darauf, dass seine Angestellten gut behandelt und bezahlt werden.«

Wyatt hatte auf vieles gehofft, aber dass sie die Ex-Frau eines Mannes war, der Geschäfte besaß, in denen sich andere Frauen für Geld auszogen und ihre Hinterteile im Gesicht eines Kunden rieben? Das war wie ein Sechser im Lotto.

»Aber bitte erzählen Sie es keinem«, flehte Ms Morgan ihn an. »Wenn es darauf ankommt, stehe ich zu Dexter, aber es macht das Leben meiner Mädchen und mein eigenes leichter, wenn die Sache unter uns bleibt. Die meisten Bewohner in Maywood sind für solche extravaganten Lebensstile ein bisschen zu ... altmodisch.«

Wyatt überging ihre Bitte. Er wollte sie nicht anlügen, aber auch nicht einweihen. Außerdem würde er schon dafür sorgen, dass niemand auf die Idee kam, dass die Familie Morgan eine solche Verbindung in den Westen des Landes besaß.

»Wieso zerbrach Ihre Beziehung?«

Sie räusperte sich auffällig. »Nun ...«, setzte sie an, ehe sie verstummte.

»Hat er Sie betrogen?«

»Um Gottes Willen, nein«, erwiderte sie sofort. »Dexter war mir treu, egal wie hübsch und jung die Mädchen sind, mit denen er arbeitet. Daran scheiterte es nicht.«

»Woran dann?« Es war wie nach Öl zu bohren. Immer ein bisschen tiefer.

Sie runzelte die Stirn. »Wir wollten unterschiedliche Dinge. Dexter ist ein Lebemann, ein Entertainer. Ich dagegen liebe Pflanzen. Als mir meine Eltern anboten, den Blumenladen in Maywood zu übernehmen, fragte ich Dexter, ob er mit mir kommt.«

»Was er nicht wollte?«

»Sonst würden wir jetzt nicht hier sitzen und uns darüber unterhalten, warum ich eine geschiedene Frau bin.«

Wyatt nickte und schrieb, ohne wirklich hinzusehen, in seinem Buch Notizen auf. »Gab es einen Scheidungskrieg?«

»Nein«, sagte Philomena mit fester Stimme. »Dexter und ich entschieden einvernehmlich, dass die Mädchen in Maywood besser aufgehoben sind.«

Kein Scheidungskrieg, immerhin. Das wäre sicherlich aufregender für ihn gewesen, aber er wünschte weder Ms Morgan noch ihren Töchtern, so etwas miterlebt zu haben.

»Mr Finch.« Sie räusperte sich. »Jetzt, da Sie wissen, wie meine Geschichte aussieht ... wie ist es mit Ihnen? Wer sind Sie

Wyatt rang sich ein schmales Lächeln ab. Menschen mochten es, wenn man lächelte. Es gab ihnen das Gefühl, es mit jemandem zu tun zu haben, der dazu in der Lage war, ihnen gegenüber mehr als Gleichgültigkeit zu empfinden. »Ich bin nur ein Reiseblogger, der das Kleinstadtleben besser kennenlernen will.«

»Das klingt aufregend. Waren Sie schon einmal in Las Vegas?«

»Im letzten Jahr.«

» New York?«

»Alleine in diesem Jahr dreimal. Wieso fragen Sie?«

Ihre Gesichtszüge entspannten sich, als sie abermals an ihrem Kaffee nippte, den er bezahlt hatte. »Ich wundere mich nur, warum Sie einen Ort wie diesen sehen möchten. Was gibt es hier zu erleben, wenn man bereits in New York und Las Vegas war? Dort finden Sie die richtig guten Geschichten.«

Wyatt pflichtete ihr in Gedanken bei. Es stimmte schon. In Großstädten gab es Lebensläufe wie Sand am Meer. Viele glichen sich, einige waren so einzigartig wie eine Schneeflocke. Aber Vergangenheiten in einer Kleinstadt zu erfahren, hatte eine ganz eigene Würze. Schließlich würde niemand glauben, dass eine Frau wie Philomena Morgan immer noch an ihrem Ex-Mann hing, der in Las Vegas Striplokale und Casinos besaß. Das hatte durchaus das Potenzial, so manchen kleingeistigen Kopf explodieren zu lassen.

Geschichten wie die von Ms Morgan bekamen in einer solchen Umgebung eine andere Dynamik und das machte die Sache erst interessant. Sicher, er hätte in jede Kleinstadt fahren können, doch in keiner, die er bisher selbst erlebt hatte, bemühte man sich so sehr, dass Image über Jahrzehnte aufrecht zu erhalten wie in Maywood. Außerdem brachte die Stadt ein paar Vorteile mit, die ihm seine Arbeit leichter machten. Dank Emma hatte er eine kostenlose Unterkunft und bekam gute Hausmannskost.

Was er nicht zugab – die meiste Zeit nicht einmal sich selbst gegenüber –, war ein ganz anderer Grund und der hörte auf den klangvollen Namen Mia. Wenn er tief in sich ging, dann war sie ausschlaggebend für seine Rückkehr gewesen. Er hätte sein Glück an jedem beliebigen Ort suchen können, selbst wenn der Kontrast zwischen der Fassade und der rauen Wahrheit nicht so stark ausgeprägt wäre wie hier.

Mia gab es jedoch nur in Maywood, und am Ende hatte das gezählt. Sie war das größte Rätsel von ihnen allen, und er konnte es nicht erwarten, zu erfahren, was sie vor dieser kleinen, scheinbar perfekten Welt versteckte.

 

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Vom Tresen aus sah Mia dabei zu, wie die dritte Verabredung von Wyatt Finch das Diner verließ. Es war kurz vor Ladenschluss und sie hatte gleich Feierabend. Eine Doppelschicht zehrte bereits an ihren Beinen. Irgendwann gewöhne ich mich noch daran. Das redete sie sich seit zwei Jahren ein und gewöhnte sich – natürlich – nicht daran. Aber es spülte Geld in die Kasse. Geld, das sie gut gebrauchen konnte. Das Leben in Maywood war nicht übertrieben teuer und sie konnte günstig in der hübschen Dachwohnung über dem Diner wohnen, aber dennoch gab es Rechnungen, die bezahlt werden wollten. Ivy sollte ihren Studienkredit so wenig wie möglich nutzen müssen, daher war Mia über jede Gelegenheit zur Doppelschicht froh.

In Gedanken hing sie schon den halben Tag an dem blauen Brief von Richard, den sie am Morgen im Briefkasten vorgefunden und kurz darauf zerrissen hatte. Obwohl sie es eigentlich nicht hätte tun sollen, hatte sie die Papierfetzen in ihrer Mittagspause hoch in die Wohnung gebracht, um sie später wieder zusammenzukleben. Ob sie ihn lesen würde, wusste sie nicht. Es könnte etwas Wichtiges drinstehen. Das war möglich. Trotzdem flüsterte ihr eine Stimme zu, dass sie es nicht tun sollte.

Aber sollte war kein allzu verbindliches Wort.

Mia stellte Wyatt, ihrem letzten Gast im Diner, einen Teller und ein volles Glas auf den Tisch. »Truthahnsandwich und kalte Cola.«

Sein Gesichtsausdruck, den sie stets zwischen ein bisschen schlechtgelaunt und gelangweilt einordnete, wirkte erschöpft. Da sie tagtäglich mit vielen Leuten plauderte, verstand sie, wie anstrengend das für ihn sein musste. Wenigstens daran hatte sie sich gewöhnt.

»Klingt gut.«

»Dürfte auch so schmecken«, ergänzte sie mit einem Lächeln, ehe sie sich von ihm abwandte, damit er in Ruhe essen konnte.

»Willst du mir Gesellschaft leisten?«

Mia verharrte kurz, überlegte, ob das okay wäre, und erinnerte sich daran, dass sowieso niemand mehr da war, der sich über sie beschweren könnte. Selbst Nate, der zweite Koch des Monroe’s, hatte längst Feierabend.

»Sicher«, stimmte Mia zu und setzte sich auf die Bank gegenüber von Wyatt. Das weiche Lederpolster empfing ihren schmerzenden Rücken mit einem leisen Seufzen. »Ich hoffe, es schmeckt. Die Truthahnsandwiches sind um Thanksgiving herum besser.«

Wyatt nahm eine Hälfte des belegten Brotes zwischen die Hände und musterte es eingehend. »Thanksgiving ist hier bestimmt ein großes Ding, oder?«

Sie fand seine beiläufige Frage merkwürdig, schließlich war Thanksgiving im gesamten Land ein wichtiger Tag. »Du meinst speziell in Maywood?« Er beantwortete ihre Nachfrage mit einem stummen Nicken. »Jeder offizielle Anlass wird hier gefeiert. An Thanksgiving stellen die Leute auf der Main Road Tische, Stühle, Tassen und Teller auf. Die ganze Stadt bringt etwas zu essen mit und am Ende sitzen wir alle gemeinsam draußen und genießen die Zeit. Kennst du das nicht?«

»In meiner Familie war das nie so ein Thema, aber das trifft auf die meisten amerikanischen Traditionen zu.«

»Bist du etwa kein Amerikaner?« Das überraschte sie. Wobei sie in den wenigen Gesprächen, die sie mit ihm geführt hatte, manchmal einen leichten britischen Akzent herausgehört hatte.

»Nicht komplett. Meine Mutter ist Britin und meine ersten Jahre haben wir in der Nähe von London gelebt. Da mein alter Herr für solche Traditionen nicht viel übrighatte, haben wir sie ignoriert. Die letzten Jahre war ich in der ganzen Welt unterwegs, also ...« Er zuckte gleichmütig mit den Schultern.

Mia nickte. Sie kannte keine Menschenseele, die Thanksgiving nicht zelebrierte und irgendwie tat es ihr leid, dass Wyatt nie in den Genuss dieser herzlichen Rituale gekommen war. Sie hatte keine Ahnung, wie lang er in Maywood bleiben wollte, aber wenn er es ein paar Wochen aushielt, könnte er mit ihnen feiern. Vielleicht taute er dann auch etwas auf.

»Wie eine große Familie«, sinnierte Wyatt nach einer kurzen Pause, ehe er von seinem Sandwich abbiss.

»Genau.« Sie lächelte. »Niemand soll an so einem Tag allein sein.«

Ihr Gegenüber gab ein Brummen von sich, das Mia als Laut der gedanklichen Verarbeitung deutete. Sie konnte nicht sagen, ob ihm das Essen schmeckte. Er kaute darauf herum und wirkte ein wenig gedankenverloren, während er durch sie hindurchstarrte, als wäre sie ein Geist.

Mia nutzte den Moment, um ihn eingehend zu betrachten. Das erste Mal war er ihr beim Einweihungsfest von Emmas Pension aufgefallen. Er hatte ihr mit einem leeren Glas zugeprostet. Mit seiner Lederjacke und der schwarzgetönten Sonnenbrille hatte er wie jemand gewirkt, der mit Bikerboots und einer alten Maschine quer durchs Land fuhr. Mit dem Wechsel der Jahreszeit wandelte sich auch Wyatts Stil. Er rasierte sich nicht mehr, was dazu führte, dass ihm unterhalb seines Kinns ein gut getrimmter, rotbrauner Bart wuchs.

Gleichzeitig war sein Haar länger als im Sommer. Hin und wieder fielen ihm ein paar dunkle Strähnen in die Stirn, die er mit der Hand nach hinten wischte, wo sie für eine Weile Ruhe gaben. Außerdem hatte er seine Lederjacke gegen einen gefütterten, dunkelgrünen Parka getauscht, den er bei dem kühlen Herbstwetter an der Küste gut gebrauchen konnte.

Alles andere hatte sich an Wyatt Finch kaum verändert. Es lag immer derselbe ernste Ausdruck in seinen blauen Augen, die einen nicht wissen ließen, ob er sein Gegenüber mochte oder sterbenslangweilig fand. Möglicherweise faszinierte sie genau das an ihm. In Maywood kannte jeder jeden und man wusste, dass trotz einiger Unstimmigkeiten alle einander gut leiden konnten. Wyatt durchbrach diese Berechenbarkeit und brachte eine Prise Nervenkitzel hinein. Mia konnte höchstens raten, wer zu seinem inneren Kreis Zutritt hatte und die Liste blieb erstaunlich kurz.

Jake und vielleicht Emma.

»Du starrst mich an«, sagte er und holte Mia damit zurück in die Gegenwart.

Das peinliche Gefühl, das in ihr aufstieg, versuchte sie zu ignorieren. »Ich bin nur neugierig.«

Nachdem er in der Zwischenzeit eine Hälfte des Sandwiches regelrecht inhaliert hatte, griff er nach der Cola und trank einen Schluck. »Was möchtest du wissen?«

Mia zuckte die Schultern. Am liebsten alles, denn es musste für seine Art, mit den Menschen umzugehen, eine Erklärung geben. Niemand wurde miesgelaunt geboren. Aber sie ahnte schon, dass seine Auskunftsfreudigkeit Grenzen hatte. »Ich frage mich, was du mit den Leuten machst. Du kommst beinahe täglich ins Monroe’s und führst Gespräche.«

»Das ist, was ich tue.«

»Aber warum?«

»Warum nicht?« Er sah sie ausdruckslos an. Seine Maske, hinter der er sich versteckte, schien undurchdringlich zu sein. »Heutzutage unterhalten sich die Leute kaum noch miteinander. Sie starren nur auf ihre Bildschirme und interessieren sich nicht mehr für ihre Mitmenschen.«

Mia stieß ein Lachen aus. »Moment. Lebst du nicht ziemlich gut davon? Als Blogger?«

»Ich sage nicht, dass es mir beruflich nicht zugutekommt«, gab er mit einem zuckenden Mundwinkel zu. Das war ein halber Punkt für Mia, die sich geschworen hatte, ihn eines Tages zum Lächeln zu bringen. Oder zum Grinsen. Jedenfalls irgendetwas anderes als diese stetig grimmige Ausstrahlung. »Aber als Mensch unterhalte ich mich lieber von Angesicht zu Angesicht.«

»So wie mit mir gerade.«

»Mit dir sogar noch lieber«, erwiderte er und griff zur zweiten Hälfte des belegten Brotes. Mia spürte Wärme in ihren Wangen und war dankbar dafür, dass er das Thema wechselte. »Das schmeckt gut.«

»Das freut mich. Aber Sandwiches sind nicht gerade gehobene Küche.«

»Trotzdem können sie schlecht gemacht sein.«

»Ernsthaft?« Sie lehnte sich schmunzelnd zurück. »Wie kann man denn so was versauen?«

»Das Brot könnte zu trocken sein. Oder es wurde zu viel Butter verwendet. Das Truthahnfleisch ist oft überwürzt. Es gibt einige Möglichkeiten. Aber dieses hier«, er hob es demonstrativ hoch, ehe er davon abbiss, kurz kaute und schluckte, »schmeckt wirklich gut.«

Mia vermied es, ihm in die Augen zu schauen, weil es kein Handbuch dafür gab, wie man mit einem Kompliment von Wyatt Finch umging. Er schien keiner jener Männer zu sein, die mit Anerkennung um sich warfen, weswegen sie sich schon etwas besonders fühlte.

»Willst du noch irgendetwas mit zur Pension nehmen?«, erkundigte sie sich nach einem weiteren Moment der Stille. Die Frage war im Grunde ziemlich dämlich. Wyatt wohnte während seines Aufenthaltes bei ihrer besten Freundin Emma und ihr ging niemand hungrig zu Bett. Aber sie wollte nicht, dass das Gespräch schon endete. Oder dass er ging. Sie redete gerne mit ihm, auch wenn sie zumeist mehr sprach als er.

Wyatt schüttelte den Kopf. »Ich gehe gleich noch ins Robin

»Alleine?«

»Mit Jake.«

»Klingt nach einem netten Abend.«

Er betrachtete sie schweigend, scheinbar vergessend, dass die zweite Hälfte seines Essens drohte, sich in der Bratensoße aufzulösen. »Möchtest du mitkommen?«

Mia wollte im Erdboden versinken. »Nein«, sagte sie entschieden und lachte. »Klang das eben so verzweifelt nach einem Bitte frag mich, ob ich mitkomme-Hilfeschrei?«

»Nein, kein bisschen.« In seiner Stimme klang ein süffisanter Unterton mit. Neckte er sie etwa? War das ein weiterer halber Punkt für sie?

»Das war es nicht. Wirklich.« Sie straffte die Schultern. »Ich meinte das ernst. Es klingt einfach nach einem netten Abend. Mehr nicht. Kein verzweifelter Hilfeschrei.«

Sein Blick haftete weiterhin an ihr. »Sicher?«

»Ja. Und sollte ich jemals in eine Lebenslage kommen, in der ich solche unterschwelligen Botschaften versenden muss, erschieß mich bitte.«

Und da schaffte sie es. Sein Mundwinkel zuckte erneut. Nur sehr kurz und knapp, denn er biss gleich darauf wieder in sein Brot, aber es zählte trotzdem.

Mia befand sich auf dem richtigen Weg, Wyatt Finch ein Lächeln zu entlocken, und alles, was sie dafür offenbar tun musste, war sich ein bisschen zu blamieren. Wenn es nur das war, dann würde es unter Umständen doch leichter werden, als sie gedacht hatte.

 

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Vier Jahre zuvor ...

 

Wenn es etwas gab, worauf Mia gut verzichten konnte, dann war es ein Abendessen mit ihren Eltern.

Es lag nicht an dem Esszimmer, dessen Wände mit dunklem Holz vertäfelt waren und in dem die Verwandten der letzten hundert Jahre aus schweren Ölgemälden auf ihre Erben herabblickten, während sie überteuerte, französische Gerichte aßen. Es lag auch nicht an dem riesigen Tisch, der ihr das Gefühl gab, als würde ihre Familie eine halbe Meile von ihr entfernt sitzen. Wenn es nach Mia ging, könnten ihre Eltern, beide jeweils an den Stirnseiten der langen Tafel platziert, durchaus noch weiter wegsitzen. Ivy hingegen hätte sie am liebsten direkt auf ihren Schoß gezogen, aber ihre Schwester war sechzehn Jahre alt und mitten in der Pubertät. Wenn sie auf einem Schoß saß, dann auf dem eines heißen Jungen aus der Sportmannschaft, nicht auf Mias.

Nein. Der Grund, wieso sie das Abendessen so hasste, waren ihre Eltern selbst und die Themen, die diese in Anwesenheit ihrer Töchter besprachen. Wenn es ein guter Tag war, ging es um die Arbeit oder den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Freundeskreis ihrer Mutter. Bisweilen konnte das sogar unterhaltsam sein. An einem miesen Tag jedoch – und die gab es leider häufiger – war eines ihrer Kinder der Gesprächsstoff.

Zu ihrem Leidwesen erwischte es an diesem Abend Mia.

»Hast du dich schon für ein Praktikum beworben?«, fragte ihr Vater, während er sich ein Stück Entenbrust mit Orangenmarinade in den Mund schob.

Mia verging schlagartig der Appetit. Sie schaute von ihrem Teller mit Salat hoch – eine Empfehlung ihrer Mutter, um ihre Figur zu halten – und zu Ivy, die ihr direkt gegenübersaß. Ihre Blicke trafen sich.

»Ich habe mich schlau gemacht, aber noch nichts gefunden.« Mia griff hastig nach dem Weinglas. Endlich einundzwanzig Jahre alt zu sein, hatte das Leben in diesem Haushalt erträglicher gemacht. Nicht, dass sie nicht vorher schon getrunken hätte, aber nun konnte sie das legal in Anwesenheit ihrer Eltern tun, ohne dafür gemaßregelt zu werden. Und gegen Wein sagte hier sowieso niemand etwas. Wein war für die Hydes schließlich das eierlegende Wollmilchschwein.

Mias Vater zerlegte ein weiteres Stück seiner Entenbrust und badete es in Soße. Nachdem er eine Weile nachdenklich darauf herumgekaut hatte, griff auch er nach seinem Weinglas. »Du studierst Betriebswirtschaftslehre. Such dir irgendein großes Unternehmen und sag ihnen, wer du bist, dann musst du nur noch den Vertrag unterzeichnen.«

»Ich möchte aber nicht in irgendein Unternehmen, Dad«, erwiderte Mia leise und spülte die anderen, deutlich rebellischeren Gedanken mit einem Schluck runter. Ihre Eltern waren von Wiederworten nicht allzu angetan, also musste sie diese wohl dosiert einsetzen. Andernfalls würden sie dichtmachen und Mia hätte gar keine Chance mehr, die Situation zu ihren Gunsten zu kippen.

»Wo möchte Eure Hoheit denn das Pflichtpraktikum absolvieren?«

Mia presste die Lippen aufeinander, überlegte, was sie sagen konnte, damit die Situation am Tisch nicht eskalierte, und musste sich eingestehen, dass es keine richtige Antwort gab. »Keine Ahnung. Vielleicht etwas mit Mode. Oder Tieren.«

»Mode oder Tiere«, wiederholte ihr Vater und lachte. Mia beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er zu ihrer Mutter sah, die nicht mehr als ein abschätziges Schmunzeln für ihre Idee übrighatte. Wie immer. Wenn man die meiste Zeit auf Beruhigungsmitteln war, dann wurde man wie sie. »Du weißt aber schon, dass sich Modehäuser oder Tierschutzorganisationen nicht darum reißen, eine mittelmäßige Betriebswirtschaftsstudentin der NYU zu bekommen?«

Mia seufzte genervt. »Nein, Dad. Ich hatte gehofft, sie hören meinen Namen und denken sich: Wow, eine Hyde will zu uns. Wir sollten sie einstellen, dann ist die nächste feuchtfröhliche Weihnachtsfeier bestimmt gesichert.«

Ivy kicherte leise, und da wusste Mia, dass sie übers Ziel hinausgeschossen war.

»Das ist ...«, stieß Mr Hyde aus. Er schaute sprachlos zu seiner Frau und rang nun seinerseits nach den richtigen Worten.

»Ich verbitte mir diese Respektlosigkeit gegenüber eurem Vater und unserer Familie«, mischte sich Mias Mutter ein. Das geschah selten. Für sie schien es ein guter Tag zu sein. »Wäre unser exzellenter Ruf nicht, würdet ihr irgendwo in der Bronx aufwachsen. Dann gäbe es keine Perlenohrringe«, sie sah demonstrativ zu Ivy, die sich wie fremdgesteuert an einen der beiden Ohrstecker griff und sich in ihrem Stuhl etwas kleiner machte, »oder Studienplätze.«

Diese Spitze galt Mia, aber im Gegensatz zu ihrer Schwester hielt sie dem Blick ihrer Mutter stand.

Sie wusste, worauf diese anspielte. Eigentlich hätte sie es auf keine gute Universität geschafft. Auf der Privatschule war es ihr wichtiger gewesen, zu feiern und Blau zu machen anstatt sich um ihre Examen zu kümmern. Einer Intervention ihrer Eltern verdankte sie es, trotzdem hervorragende Ergebnisse erzielt zu haben – was daran lag, dass sie keine einzige dieser Prüfungen selbst ablegen musste. Ein anderes Mädchen hatte das für Mia getan und dafür eine ganze Stange Geld kassiert.

Mia war es leid, sich das immer wieder anhören zu müssen, als wäre es ihre Idee gewesen. »Und es wäre unvorstellbar, dass eine Hyde keinen langweiligen Studienplatz belegt. Man denke nur an den Familienruf.«

Sie hatte ihre Eltern nicht darum gebeten. Nicht um die Fälschung ihrer Zeugnisse, nicht um die für sie gefällte Entscheidung, studieren zu gehen. Also würde sie sich jene Unterstützung auch nicht vorhalten lassen.

Ihr Vater hatte offenbar wieder zu sich gefunden. Er legte das Besteck beiseite, nahm die weiße Stoffserviette zur Hand, tupfte sich den Mund ab und musterte Mia eindringlich. »Verrate uns, wie deine Zukunftsplanung ausgesehen hätte?«

Sein Plauderton war eine Falle und Mia wusste das wie jede andere Hyde an diesem Tisch. Es war wieder einer dieser Momente. Sie müsste lügen, um ihm nicht das zu geben, was er verlangte – recht. Er wollte recht haben. Immer. Einerseits widerstrebte es ihr, ihm diesen Gefallen zu tun, andererseits hielt sie aber auch nichts von Lügen, die nicht lebensnotwendig waren.

»Ich fände reisen vielleicht ganz schön«, gab sie daher ehrlich zu. »Eine Weltreise womöglich.«

Mr und Mrs Hyde fingen gleichzeitig an zu lachen.

»Und mit welchem Geld hast du vor, das zu bezahlen?«, fragte ihr Vater, sichtlich über die vermeintliche Naivität seiner Tochter amüsiert.

Mia schwankte zwischen Einschüchterung und Wut. »Ich hätte unterwegs gearbeitet. Mir hier und dort über ein paar Wochen etwas dazuverdient.«

»Weil die Welt auf jemanden wie dich gewartet hat«, kommentierte ihre Mutter und brach damit endgültig Mias selbstbewusstes Auftreten. »Liebes, du bist hübsch, aber weder organisiert noch klug genug für so ein Abenteuer. Ich finde, du solltest reich heiraten. Dann kannst du dir deine Zeit mit Mode und Tieren vertreiben.«

»Heiraten kommt erst einmal nicht in Frage«, wandte Mr Hyde alarmiert ein. »Sie beendet ihr Studium, dann wird sie in unserem Unternehmen anfangen. Es wird schon etwas geben, das sie nicht überfordert. Bis dahin werde ich Richard anrufen und herausfinden, ob er noch eine Praktikantin sucht.«

Mia wurde flau im Magen.

Heiraten. Studium. Im Hyde-Unternehmen arbeiten.

Ihre Eltern waren sich nicht immer einig darin, wie sie ihr Leben aufbauen sollte, aber sie waren sicher, dass Mia es nicht ohne ihre Hilfe schaffen würde, ihre Hirngespinste von Wünschen und Zielen umzusetzen.

In den Augen ihrer Mitmenschen war sie hübsch, aber niemals klug genug.

 

2. Kapitel

 

Nachdem das Sandwich aufgegessen und die Cola ausgetrunken waren, hatte sich Wyatt von Mia verabschiedet. Das American Robin, kurz Robin, war Maywoods einzige Bar und lag nur wenige Meter von dem Diner entfernt. Er hätte sich also Zeit lassen und noch ein bisschen mit Mia plaudern können, aber in der Kürze liegt die Würze, wie seine Mutter zu sagen pflegte. Dabei mochte Wyatt die Treffen mit Mia. Die meisten Leute, mit denen er sich umgab, nervten ihn. Selbst Jake, einer seiner besten Freunde, ging ihm hin und wieder auf den Keks. Und Jakes Freundin Emma? Sie war herzensgut, aber am Ende des Tages war er froh, dass er eine abschließbare Tür zu seinem Zimmer bei ihr besaß.

Mia war da anders. Nicht seltsam anders oder aufdringlich anders. In ihrer Gegenwart fiel es ihm leicht, sich zu entspannen. Durchzuatmen. In einer Umgebung, in der alles aussah wie die Bühnendekoration einer Schulaufführung, wirkte sie echt. Das führte dazu, dass er sich wirklich für sie interessierte, und zwar nicht nur aus beruflicher Sicht. Doch genau wie er hielt sich Mia bedeckt. Er wusste praktisch nichts über sie, außer, dass sie eine der hübschesten Frauen war, die er in seinem Leben getroffen hatte. Und er hatte schon sehr viele auf seinen Reisen kennengelernt.

Doch ihr Aussehen war nicht der ausschlaggebende Punkt. Zugegeben, es war der Grund dafür gewesen, wieso er das erste Mal auf sie aufmerksam geworden war. Aber er ging nicht regelmäßig ins Monroe’s, um sie wie irgendein Gemälde in einer dieser spießigen Ausstellungen zu betrachten. Mia war mehr als nur ihre langen, blonden Haare oder die sportliche Figur. Sie war witzig und auf ihre eigene Art charmant. Bei den meisten Anwohnern von Maywood fiel es ihm leicht, sie zum Reden zu bringen. Mia dagegen gab nicht viel von sich preis und das schätzte er an ihr.

Wobei er das nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen konnte. Wie oft hatten sie sich miteinander unterhalten? Dreimal? Wyatt war nicht genug Romantiker, um zu glauben, sie nach den kurzen Gesprächen bereits zu durchschauen. Er hätte es auch langweilig gefunden, wenn es nicht mehr Zeit brauchen würde, um ihr Wesen zu erkunden.

»Wyatt? Hörst du uns überhaupt zu?«

Er schaute von seiner Bierflasche auf, deren Etikett er geistesabwesend mit dem Zeigefinger abgepult hatte. »Immer doch. Mein ganzes Dasein dreht sich nur darum, zuzuhören, wie ihr über Stadtpolitik oder Frauen plaudert.«

Mike lachte. Wie so oft, wenn Wyatt auf ihn traf – was meistens in der Bar geschah, die eine wilde Mischung aus Irish Pub und Stadtmuseum darstellte – war er dabei, ein Glas zu Tode zu polieren. Hin und wieder wunderte sich Wyatt, ob dieser Kerl noch etwas anderes konnte, außer den Barkeeper in der Kneipe seines alten Herren zu spielen. Mit der Optik eines kalifornischen Surfers müsste ihm doch die Welt zu Füßen liegen. Aber womöglich machte er seine Arbeit auch gerne. Für ihn selbst wäre das nichts, doch Mike erweckte nicht den Anschein, als wäre er allzu unglücklich.

Jake stieß Wyatt mit der Schuhspitze gegen das Schienbein. Es tat nicht weh, sorgte aber dafür, dass er zu ihm schaute. »Ich wollte wissen, ob du morgen Zeit hast, um mir bei den Renovierungsarbeiten im Laden zu helfen. Außer du bist damit beschäftigt, Löcher in die Luft zu starren, was offensichtlich deine neue große Leidenschaft ist.«

»Mann, Emma hat dich echt angesteckt«, raunte Wyatt.

Jake seufzte resigniert. Er wirkte immer wie ein Labradoodel, wenn der Name seiner Freundin fiel. Treudoof verliebt.

»Was meinst du?«, fragte er.

»Du redest und redest und redest.«

»Nur solange, bis du ja sagst.«

Wyatt verdrehte die Augen und setzte die Flasche an die Lippen, um einen Schluck zu trinken. Das Bier im Robin war amerikanischer Durchschnitt. Nicht besonders lecker, nicht besonders stark, aber es war langsam zur Gewohnheit geworden, sich alle paar Tage mit den Jungs in der Bar zu treffen. Meist hörte Wyatt nicht sehr aufmerksam zu. Er hing in Gedanken den Gesprächen nach, die er über den Tag verteilt geführt hatte, aber wenigstens war er dabei nicht allein. Den ganzen Abend auf diesen wenigen Quadratmetern in Emmas Pension festzuhängen, war nicht unbedingt berauschend.

»Also?«, hakte Jake nach, der ebenfalls seine Flasche am Hals packte, um daraus zu trinken. »Hast du Zeit oder muss ich erst einen Termin bei deiner Sekretärin machen?«

»Leck mich«, brummte Wyatt und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Und ich helfe dir. Aber du schuldest mir etwas.«

»Schreibst du eigentlich immer Schuldscheine aus?«, wollte Mike wissen, der als Glaspolierer hingeschmissen hatte und sich mit verschränkten Armen auf dem Tresen abstützte.

Wyatt verzog das Gesicht und formte in Richtung des Barkeepers einen übertriebenen Kussmund. »Nur bei meinen besonders guten Freunden.«

Jake sowie Mike lachten, was Wyatt mit einem guten Gefühl zurückließ. Es kam vielleicht nicht immer so rüber, aber als Freunde fand er die beiden ganz gut. Mike war nach wie vor ein wenig fremd für ihn, wies allerdings das Potenzial auf, ein passabler Kumpel zu werden. Jake kannte er aus dessen glorreichen Zeiten als Eishockeyprofi. Damals, als er noch verheiratet und deutlich blasierter war. Wenn Wyatt ihn in dieser Phase hatte ertragen können, dann war es jetzt umso leichter mit ihm auszuhalten.

»Wir treffen uns morgen Mittag im Laden. Zieh am besten etwas an, worum du nicht trauerst, wenn es schmutzig wird oder kaputt geht«, sagte Jake, nachdem er irgendeinen Witz gerissen hatte, der Wyatt entgangen war.

»Hat Emma dir aufgetragen, das so weiterzugeben?«, fragte er stattdessen mit einem schmalen Grinsen.

Wyatt erkannte, wie Jake unter seinem Dreitagebart rot wurde. Er würde wohl lieber sterben, als zuzugeben, dass er unter Emmas Pantoffel stand. »Tu es einfach, okay?«

»Mann, sie hat dich echt im Griff«, stellte Mike feixend fest.

»Hat sie nicht«, knurrte Jake. »Aber sie hat recht und ich keinen Bock, mir am Ende vorhalten zu lassen, dass irgendein scheißteurer Pullover Farbflecken abbekommen hat.«

»Vor allem hast du keine Lust, dich mit Emma anzulegen, weil sie dir ein fettes Ich habe es dir gesagt vor die Füße werfen würde«, gab Mike zurück.

Jake lehnte seinen Mund gegen die Öffnung der Flasche und hielt einen Moment inne. »Vielleicht«, gab er kleinlaut zu, bevor er den Rest der Gedanken in seinem Bier ertränkte.

Wyatt legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. Mitleid überkam ihn. »Genau deswegen bleibt man Single.«

»Ich nehme das gern in Kauf, solange dafür eine umwerfende Frau wie Emma morgens in meinen Armen aufwacht.« Jake schob Wyatts Hand mit einem Schulterzucken von sich runter. »Irgendwann wirst du es verstehen.«

Wyatt schnaubte, sagte aber nichts weiter dazu. Zu mühselig wäre es, ihm zu erklären, dass er ganz genau wusste, wovon Jake da sprach. Dass er dieses Gefühl kannte und vor einiger Zeit alles getan hätte, um es auf ewig zu bewahren. Doch dann war das Leben passiert und er hatte einsehen müssen, dass Gefühle nicht immer nur rosa Zuckerwattewolken bedeuteten.

Seither maß er ihnen nicht mehr so viel Bedeutung bei und lebte deutlich ruhiger. Er musste nicht darauf achten, ob er einen Streit riskierte oder drohte, seine Freundin auf emotionaler Ebene zu verletzen. Wyatt konnte so sein, wie er war, und seine Umwelt schien sich bedingungslos an ihn anzupassen.

Wenn es etwas Gutes daran gab, die große Liebe verloren und folgerichtig aufgegeben zu haben, dann die Tatsache, dass er endlich das miesgelaunte Arschloch sein durfte, zu dem er sich immer schon berufen gefühlt hatte.

 

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Sechzehn Jahre zuvor ...

 

Mit dem Rücken an die geschlossene Zimmertür gelehnt, saß Wyatt da und beobachtete, wie Jasper, sein dreijähriger Bruder, mit einer Actionfigur spielte. Im Voraus hatte Wyatt all die verschluckbaren Kleinteile abgemacht und ihm das Spielzeug erst danach in die Hände gedrückt, damit er nicht mitbekam, wie sich seine Eltern nebenan bis aufs Blut stritten.

Worum es inzwischen ging, wusste Wyatt nicht mehr. Bis vor zwanzig Minuten hätte er nicht einmal die Ursache erahnen können, aber sein alter Herr machte es ihm leicht. Zwischen Tür und Angel erklärte er ihm, dass er sich von seiner Mutter scheiden ließe.

Das überraschte Wyatt nicht. Er war fünfzehn Jahre alt und bekam im Gegensatz zu Jasper mit, wie schlecht es um die Ehe seiner Eltern stand. Sein Bruder kam ihm mittlerweile wie ein letzter kläglicher Versuch vor, die Beziehung zu retten, aber selbst mit seinen jungen Jahren wusste er, dass mit Babys nichts zu retten war.

Seine Mutter war nicht sehr begeistert gewesen, dass Wyatts Dad ihnen die Nachricht im Alleingang und so taktlos überbracht hatte. Seitdem brüllten sie einander an, und für Wyatt war es nur eine Frage der Zeit, bis Porzellan gegen die Wände flog. Er hielt es für sicherer, hier in seinem Zimmer auszuharren und darüber nachzudenken, was als Nächstes passierte. Viele Eltern seiner Freunde waren geschieden. Sie kümmerten sich gleichrangig um ihre Kinder, manche friedlicher als andere. Aber wenn er so in den Krach seines Zuhauses hineinlauschte, war Wyatt sicher, dass nichts ruhig ablaufen würde. Nicht, solange seine Mutter seinem Dad vorwarf, ein abgefuckter Idiot zu sein, während er sie ein billiges Flittchen nannte.

An dieser Scheidung würde definitiv nichts friedlich verlaufen.

Weitere zwanzig Minuten vergingen, bis es ruhiger wurde und Wyatt endlich die Stille fand, die er brauchte, um einzusehen, dass es für alle Beteiligten das Beste war, wenn sich seine Eltern trennten. Niemand in dieser Familie war zuletzt glücklich gewesen. Nicht seine Mutter, die zu viel Wein trank. Nicht sein Vater, der abstrus viele Überstunden schob, sodass es nur eine Lüge sein konnte. Auch für Wyatt waren die Tage, an denen er mit seinen Eltern in vertrauter Runde zusammengesessen und Filme geschaut oder Spiele gespielt hatte, längst vorbei. Sein kleiner Bruder kannte diese schönen Erinnerungen der Familie Finch nicht einmal. Seit seiner Geburt erlebte er nur die Streitereien.

Wyatts Tür öffnete sich und drückte sich in seinen Rücken. Nichtsahnend, was auf ihn zukam, stand er auf und ging zu seinem Bett, um sich auf die Kante zu setzen und dabei zuzusehen, wie seine Mutter hereinkam. Sie hatte einen der großen Wanderrucksäcke geschultert. Wandern und campen war etwas, was sie früher, als er noch kleiner war, öfter getan hatten. Über die letzten Jahre war dieses Hobby jedoch unter den Tisch gefallen.

»Mommy«, jauchzte Jasper und ließ prompt von seiner Spielfigur ab.

»Spätzchen«, erwiderte sie sichtlich erschöpft. Sie beugte sich zu Jasper hinunter und küsste ihn auf das dunkelblonde, dünne Haar. »Ist alles okay bei euch?«, fragte sie an Wyatt gewandt.

Er nickte, konnte den Blick aber nicht von dem prallgefüllten Rucksack abwenden. »Ich habe ihn abgelenkt. Jas hat G.I. Joe vollgesabbert.«

»Tut mir leid, dass ihr das mit anhören musstet. Euer Vater ist ein echtes Arsch...« Sie hielt abrupt inne, als würde sie sich wieder daran erinnern, dass Jasper in einem Alter war, in dem er alles nachplapperte.

»Mom?« Wyatt verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Magen verkrampfte sich, nun, da ihn die Anspannung aus dem Nichts heraus wie eine Welle überrollte. »Was passiert jetzt?«

Sie sah ihn aus diesen vertrauten, blauen Augen an, die er von ihr geerbt hatte. Es gab kein Lächeln. Nur diesen traurigen Blick. »Ich gehe, Wyatt.«

»Wohin?«, wollte er sofort wissen.

»In ein Hotel, bis ich etwas Neues gefunden habe.«

»Warum?« In seinem Schoß faltete er ungeduldig die Hände ineinander, um so die Anspannung zu verbergen. »Warum zieht er nicht aus?«

»Dein Vater braucht das Haus für seine Arbeit. Außerdem ... Ich muss hier mal weg«, gestand sie leise, als wäre ihr dieses Bedürfnis zutiefst unangenehm.

»Können wir mitkommen?« Erst jetzt wurde Wyatt klar, dass er lieber mit seiner Mutter und Jasper auf engstem Raum leben würde, als ein paar Tage mit seinem Vater zu verbringen. Er hatte stets beide Elternteile respektiert, wie man das als Kind und Teenager lernte. Geliebt hatte er aber nur seine Mom.

»Das wäre schön«, sagte sie. Er konnte am Klang ihrer Stimme hören, dass ein Aber folgen würde. »Aber das geht nicht. Ich kann leider nur Jasper mitnehmen. Er ist noch so klein und braucht mich.«

Ich brauche dich auch.

»Ich bleibe bei Dad?« Er bemühte sich, nicht wie ein Baby zu klingen, das jeden Moment drohte, loszuheulen.

Es half nichts. Die Instinkte seiner Mutter durchleuchteten sein Schauspiel. Sie hob die Hand und strich ihm sanft über den Kopf. »Du bist ein großer Junge, Wyatt. Bald ein Mann. Und du bist so stark. Viel stärker als dein Vater. Jasper hingegen ist noch jung und beeinflussbar.« Sie seufzte schwer. »Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, damit du bei mir bleiben kannst. Das ihr beide das könnt. Bis dahin besuchst du uns, so oft es geht.«

Wyatt nickte. Das war etwas, mit dem er vorerst leben konnte. Er verstand, wenngleich nicht ohne einen bitteren Beigeschmack, dass sie Jasper mitnehmen musste. Sein Vater konnte sich nicht um einen Dreijährigen kümmern. Er konnte sich nicht einmal um Wyatt kümmern, aber er war alt genug, um sich selbst zu versorgen. Für eine Weile würde er das schaffen.

Alleine zu sein, war nicht schlimm.

 

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Es gab Dinge, die mochte Wyatt schlichtweg nicht. Dazu gehörte körperlich anstrengende Arbeit. Seinen Sport erledigte er für gewöhnlich zweimal die Woche in einem Bostoner Studio und wenn er auf Reisen war, nutzte er freie Kurse vor Ort. Hier in Maywood gab es weder das eine noch das andere, aber für die paar Wochen reichte es ihm, morgens oder am späten Abend durch die Nachbarschaft von Emmas Pension zu joggen. Es machte seinen Kopf frei und sorgte dafür, dass er sich nicht direkt in eine Kartoffel verwandelte.

Tapeten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu entfernen, war dagegen etwas, was nicht nur verdammt anstrengend, sondern auch nervenaufreibend war. Jake hatte sich vor Monaten dazu entschieden, in einem alten Geschäft einen Plattenladen zu eröffnen. Anhand der blau-weiß gestreiften Wandverkleidung ging Wyatt davon aus, dass hier vorher entweder ein Fachgeschäft für Babyzubehör oder ein Süßigkeitenladen beheimatet war. Anfangs hatten sie sich darüber gefreut, dass sich die Tapete mit ein paar einfachen Tricks aus dem Internet hatte ablösen lassen – dann war allerdings das grauenhafte ockerfarbene Blümchenmuster zum Vorschein gekommen.

Wyatt hatte noch nie etwas derart Hässliches gesehen. Babykotze war dagegen ästhetisch.

Nun versuchten sie seit drei Stunden in Kleinstarbeit die Fetzen der alten Tapete von der Wand zu kratzen. Es war mühselig. Einerseits schwitzte er, andererseits war ihm schweinekalt, weil der Raum, in dem er mit Jake arbeitete, noch nicht beheizt werden konnte.