Blutige Enthaltung
Deutschlands Rolle im Syrienkrieg
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Umschlagmotiv: © Konstantinos Tsakalidis / Alamy / Mauritius Images
Karten: © Peter Palm, Berlin
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara
ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-82247-6
ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82272-8
ISBN Print: 978-3-451-07343-4
Vorwort
1. Einleitung
2. Der Arabische Frühling und die Intervention in Libyen 2011
Der Arabische Frühling
Deutschland und der Nahe Osten
Die Intervention in Libyen (März 2011)
Der Verlauf und die Folgen der Intervention in Libyen
3. Deutschland und der Beginn des Syrienkonflikts
Der Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges 2011 bis Sommer 2013
Das Eingreifen der anderen
Die Versuche der Vereinten Nationen
Die deutsche Haltung 2012
Waffenlieferungen an die Rebellen: Eine verpasste Chance?
Giftgas als „rote Linie“? Die Nichtintervention im August und September 2013
Die deutsche Haltung: Ein weiteres Libyen?
Die Debatte über eine Flugverbotszone über Syrien
4. Die nahende Flüchtlingskrise
5. Das deutsche Eingreifen als Teil der Anti-IS-Koalition
Neue Regierung – neue Krisen
Waffenlieferungen in den Nordirak
Krisenjahr 2015: Terror in Paris und russisches Eingreifen in Syrien
Deutschland als Teil der Operation „Inherent Resolve“
6. Das Ende des IS und der Kampf um die Nachkriegsordnung in Syrien 2016–2020
Trumps rote Linie: Der April 2017
Die Luftschläge im April 2018
Der Sieg Assads und die Konfliktzone Nordsyrien
Wiederaufbau: Der neue geostrategische Konflikt
Die Krise im östlichen Mittelmeer 2020 – ?
7. Fazit: Blutige Enthaltung und gute Absichten
Weiterführende Lektüre
Abkürzungsverzeichnis
Anmerkungen
Über die Autoren
Die Coronapandemie hat viele internationale Krisen in den Hintergrund treten lassen. Eine Dauerkrise jährt sich im Frühjahr 2021 zum zehnten Mal: der damals hoffnungsvoll aufgenommene Arabische Frühling. Von dem demokratischen Aufbruch in der arabischen Welt ist heute wenig übriggeblieben. In den meisten Staaten, in denen die autokratischen Präsidenten aus den Palästen gejagt wurden, kamen Ableger der Muslimbruderschaft an die Macht, die – wie etwa in Ägypten – alsbald von den traditionellen Eliten wieder gestürzt wurden.
Die größte menschliche Katastrophe des Arabischen Frühlings spielte und spielt sich weiterhin in Syrien ab. Das Buch untersucht in einem ersten Schritt die Entwicklung der im Westen so hoffnungsvoll aufgenommenen Veränderungen im arabischen Raum und den Rahmen für die kommende Haltung des Westens: den Streit um die Intervention in Libyen 2011. Sodann analysiert es die Frühphase des Bürgerkrieges in Syrien bis zur Debatte um eine Intervention 2013. Hiernach blickt es auf die Flüchtlingskrise und die deutschen Krisenreaktions- und Früherkennungsmechanismen. Schließlich beleuchtet es das Eingreifen der Bundesrepublik in den Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) ab 2014. Zuletzt werden der Niedergang des IS nachgezeichnet, die westlichen Luftschläge 2017 und 2018 sowie das Ringen um die Nachkriegsordnung in Syrien geschildert.
Der Schwerpunkt dieser Darstellung liegt auf der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Deutschland stand nicht zu jedem Zeitpunkt des Konflikts abseits, aber vor allem dann, wenn innerhalb der westlichen Allianz ein verstärktes Eingreifen diskutiert oder praktiziert wurde. Die Konsequenzen trug die syrische Bevölkerung, deren Leid durch die Enthaltung Deutschlands – und der westlichen Welt – nicht beendet werden konnte. Das Nichthandeln hatte auch Konsequenzen. Es war gewissermaßen eine „blutige Enthaltung“.
Eine detaillierte Nachzeichnung des Konfliktes um Syrien ist nicht das Ziel dieser Arbeit. Vielmehr ist sie ein Beitrag zu der häufig geforderten kritischen Debatte über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik. Uns ging es darum, fern von schablonenhaften Lösungen und inhaltsleeren Floskeln, offen über die außen- und sicherheitspolitische Verortung der Berliner Republik nachzudenken.
Dieses Buch basiert auf einer überarbeiteten Version einer unveröffentlichten Studie, die wir 2018 für die Bertelsmann-Stiftung erstellt haben. Wir danken der Stiftung für die Genehmigung, diese als Grundlage für unser Buch verwenden zu können. Vor allem möchten wir uns bei den zahlreichen Gesprächspartnern für ihre Informationen und kritischen Anmerkungen bedanken. Ein besonderer Dank gilt Peter Schuld für seine wichtige Zuarbeit.
Zudem danken wir Miriam Eisleb und Patrick Oelze für die gute Zusammenarbeit und das sorgfältige Lektorat.
Berlin, im Januar 2021
„Die Welt ist aus den Fugen geraten. Wir erleben eine Krisendichte wie seit 20 Jahren nicht mehr.“[1] Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier beschwor 2014 Chaos und Unsicherheit. Diese Weltsicht wird in Deutschland häufig mantraartig vorgetragen. Wo der Wille zum Handeln fehlt, scheint eine Überhöhung der Krisen das eigene Zögern zu kaschieren.
Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges fand sich die wirtschaftlich und politisch erstarkte Bundesrepublik plötzlich auf der Bühne der großen Politik wieder. Wie würde das Land nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts mit der neuen Souveränität umgehen? Die gängigen Interpretationsmuster reichten von der „Zivilmacht“[2], „Vormacht wider Willen“,[3] über „dienende Führungsmacht“[4] oder Großmacht[5] bis zum „reluctant hegemon“,[6] der einer „Kultur der strategischen Zurückhaltung“ folge.[7] Oft sagen diese Bezeichnungen mehr über die Erwartungshaltung der Autoren oder die aktuelle Tagespolitik aus als über die deutschen Außenbeziehungen. Offenkundig gibt es jedoch eine Diskrepanz zwischen der deutschen wirtschaftlichen Macht und der Bereitschaft, dieser gewachsenen politischen Verantwortung im internationalen Krisenmanagement gerecht zu werden – zumal in Fällen, in denen ein militärisches Engagement gefragt wäre. Deutschland, der schüchterne Träumer im Haifischbecken der Weltpolitik? Oder erleben wir in den letzten Jahren einen neuen außenpolitischen Pragmatismus und ein „Ende der Selbstfesselung“?[8]
Seit 2011 hat der Krieg in Syrien 400 000 bis 500 000 Menschen das Leben gekostet. Von 23 Millionen Syrern sind mehr als die Hälfte geflohen oder vertrieben worden. Ihre Aussichten auf eine Rückkehr sind schlecht und wenig attraktiv. Vor dem Hintergrund dieser humanitären Tragödie und der Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland überrascht es, dass wissenschaftliche Publikationen zur deutschen Syrienpolitik an einer Hand abzuzählen sind. Auf dem deutschen Buchmarkt stechen zwei Publikationen hervor: Michael Lüders’ Die den Sturm ernten zeichnet ein Bild einer omnipotenten CIA, die auch in Syrien seit langer Zeit das Projekt „Regime change“ verfolgt habe. Assad sei daher vom Westen als Bösewicht und Mitglied der „Achse des Bösen“ dargestellt worden, was wiederum zeige, dass der Westen an allen Problemen des Nahen Ostens schuld sei.[9] Eine Fundamentalkritik an Lüders’ Interpretationen findet sich unter anderem in Kristin Helbergs Der Syrien-Krieg, der zweiten sichtbaren Studie auf dem deutschen Buchmarkt. Helberg konstatierte, der Westen sei keineswegs unschuldig an den Konflikten im Nahen Osten, aber sie widersprach Fantasien eines bewusst inszenierten Regimewechsels oder einer westlichen Alleinschuld an der Katastrophe. Diese Annahme stelle vielmehr die Syrer – Assad ebenso wie die Oppositionsbewegung – als passive Objekte dar. Sie hob zudem einen wichtigen Punkt hervor: „[D]er Ursprung dieses Konfliktes liegt nicht im Westen, sondern in Syrien selbst.“[10]
Die bisher detaillierteste Analyse der deutschen Syrienpolitik, mit einem Schwerpunkt auch auf dem Engagement im Irak, legten Sebastian Maier und Bruno Schmidt-Feuerheerd vor.[11] Selbst Überblickswerke zur deutschen Außenpolitik der letzten Jahre behandeln Syrien eher stiefmütterlich. Die politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften zeigen ein ähnliches Bild. In den letzten zehn Jahren erschienen in den vier führenden Fachzeitschriften insgesamt rund 1000 Artikel, doch nur eine Handvoll behandelten den Komplex des Syrienkonflikts.[12] Die führenden außenpolitischen Denkfabriken – die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und die Deutsche Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP) – haben sich stärker mit dem Krieg in Syrien befasst; die Zeitschrift Internationale Politik regelmäßig und intensiv. Ebenso haben die politischen Stiftungen das Thema aufgegriffen. Doch ausführlichere Analysen der deutschen Haltung im Syrienkrieg finden sich hier ebenfalls nicht.
Der Mangel an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit überrascht umso mehr, als sich der Syrienkonflikt als Fallstudie für eine vorausschauende Sicherheitspolitik und die deutsche Rolle in der Welt geradezu aufdrängt. Wie verhielt sich die Bundesregierung im Spannungsfeld zwischen internationalen und innenpolitischen Erwartungen?[13] Wie beeinflussten deutsche Entscheidungen und Nichtentscheidungen den Krisenverlauf? Welchen Zwängen und Logiken folgte die deutsche Außenpolitik? Ließ die Bundesregierung Handlungsspielraum ungenutzt und betrieb „politische Bekenntnisse ohne Folgen“?[14]
In außenpolitischen Entscheidungsprozessen sind viele Akteure involviert.[15] Die Medien, das Parlament[16], der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung[17] oder der Bundesminister der Verteidigung spielen dabei ebenso eine Rolle wie gesellschaftliche Gruppen. Alle diese Akteure sind an der Formulierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik beteiligt. Debatten und Anträge im Bundestag dürfen in ihrer Bedeutung sicher nicht unterschätzt, aber auch nicht überschätzt werden – gerade in Fragen von Krieg und Frieden.
Die interne Entscheidungsfindung in den Ministerien und im Bundeskanzleramt bleibt bis zur Öffnung der Archive in frühestens 20 Jahren nicht genau rekonstruierbar. Die folgende Analyse beruht daher auf öffentlich verfügbarem Material, vorhandener Sekundärliteratur und zahlreichen Hintergrundgesprächen. Sie kann daher nur eine erste Annäherung an die Geschehnisse sein.
Dieser Essay stellt keine detaillierte Ausführung zur jüngsten Geschichte Syriens oder eine umfassende Analyse des Bürgerkrieges und allen lokalen, regionalen und internationalen Akteuren dar.[18] Das Ziel ist vielmehr, die deutsche Politik im Kontext des Syrienkonflikts zu untersuchen und in den Gesamtkontext der außen- und sicherheitspolitischen Krisen des Arabischen Frühlings einzuordnen. Hierbei dient der Syrienkonflikt als ein konkretes Beispiel, um die Haltung Deutschlands in internationalen Krisen kritisch zu beleuchten.
Bei einer Analyse der Außen- und Sicherheitspolitik muss nach den verschiedenen Einflussfaktoren gefragt werden, die die Formulierung dieser Politiken bedingen. Zuallererst geht es hierbei um den Einfluss der Innenpolitik auf außenpolitische Entscheidungen. Viele Autoren sehen die Außenpolitik der schwarz-gelben Regierung unter Angela Merkel in besonderem Maße innenpolitischen Zwängen unterworfen.[19] Der Politikwissenschaftler Christopher Daase hat die These vertreten, dass sich der Einfluss der Innenpolitik auf die Außenpolitik erhöht, wenn Führung und Strategiefähigkeit fehlen – was er für den Zeitraum von 2009 bis 2013 weitgehend als gegeben ansah.[20] Freilich wies er darauf hin, dass das richtige Maß an innenpolitischem Einfluss auf außenpolitische Entscheidungen in der Debatte austariert werden müsse. So mag beispielsweise der Abzug aus einem in der Bevölkerung unpopulären, kriegsähnlichen Einsatz aus bündnispolitischer Sicht verwerflich sein, sei aber im Sinne einer „demokratischen Sicherheitspolitik“ angebracht.[21] Dies umso mehr, da die Kriege des Westens der vergangenen Jahre mehrheitlich als bewusste militärische Interventionen charakterisiert werden können, bei denen das Überleben der eigenen Nation nicht unmittelbar auf dem Spiel stand, also sogenannte „wars of choice“ waren.[22]
Betrachtet man den Zeitraum ab 2011, so springt vorrangig die Kontinuität der Entscheidungsträger ins Auge: Angela Merkel war ununterbrochen Kanzlerin einer Koalitionsregierung, und sie musste mit wechselnden politischen Partnern versuchen, die innen- wie außenpolitischen Herausforderungen zu meistern.[23] Merkels Rolle war geprägt von der wachsenden Machtfülle des Bundeskanzleramts in traditionellen politischen Entscheidungsfeldern und einer „zunehmenden Kanzlerfixierung des Willensbildungsprozesses“.[24] Frühere Regierungschefs hatten außenpolitische Kernfragen ebenfalls zur Chefsache erklärt, doch wies erst der Lissabonner Vertrag dem Kanzleramt weitreichende Zuständigkeiten in puncto Europa zu. Kein Vorhaben des Kabinetts, schon gar nicht heikle sicherheitspolitische Entscheidungen, ist ohne Zustimmung des Kanzleramts möglich. Angela Merkel kommt daher auch in der Syrienkrise eine entscheidende Rolle zu. Stefan Kornelius hat sie als pragmatische Außenpolitikerin beschrieben, wenngleich sie von drei Fixpunkten geleitet sei: der engen Bindung an die USA (NATO), an die europäischen Partner und an Israel.[25] Die „Methode Merkel“ folgt dem Grundsatz „vom Ende her denken“. Dieses Handlungsschema zerteilt die Probleme in verdau- und bearbeitbare Häppchen,[26] was durchaus kritisch wahrgenommen und als „präsidentielles Zaudern“[27] beschrieben wurde. Wo Außenstehende einen Strategiemangel feststellen, kann dies auch auf ein Politikverständnis hindeuten, das zum einen auf die öffentliche Meinung schielt und zum anderen komplexe Probleme nicht öffentlich diskutieren möchte.[28] Eine weitreichende, gar öffentlich verkündete Strategie würde Merkels Politikstil daher zuwiderlaufen. In allen militärischen Fragen hielt sich die Kanzlerin zurück und folgte einem „gedämpften Pragmatismus“,[29] der sich nicht zuletzt in einem „starken Desinteresse“ an der ungeliebten Verteidigungspolitik als potenziellem „vote loser“ bemerkbar machte.[30]
Aufgrund der dominanten Rolle der Kanzlerin suchten sich die deutschen Außenminister eigene Themenfelder, in denen sie unabhängig Politik betreiben konnten. Guido Westerwelle zog nach einem starken Wahlergebnis der FDP 2009 am Werderschen Markt ein. Doch während seiner Amtszeit geriet seine Partei in eine schwere Krise, die nicht nur in den verpassten Einzug in den Bundestag bei der Wahl 2013 mündete, sondern auch Westerwelles und damit Deutschlands außenpolitischen Kurs beeinflusste. Seine mangelnde Expertise in der internationalen Politik rief außerdem Besorgnis bei den Verbündeten hervor: Zur Profilierung gedachte Reden wurden als fachlich schwach und wenig überzeugend abgetan.[31] Der langjährige Außenminister Hans-Dietrich Genscher blieb ein wichtiger Mentor, was nicht zuletzt bei der starken Fokussierung auf Friedenspolitik und Abrüstung deutlich wurde.[32] Westerwelles Forderung nach einem Abzug der amerikanischen taktischen Nuklearraketen stieß auf viel Widerstand. Allerdings schätzten die Amerikaner Westerwelle als interessierter am Nahen Osten ein[33] als Frank-Walter Steinmeier – seinen Vorgänger und Nachfolger. Der FDP-Chef unterstützte einen harten Kurs gegenüber dem Iran, war allerdings gegen eine Anhebung der Truppenstärke in Afghanistan, obschon er den Einsatz als wichtig für die deutschen Sicherheitsinteressen betrachtete. Westerwelle reiste sehr häufig in den Nahen Osten und versuchte den direkten Kontakt zu seinem russischen Amtskollegen zu halten.[34] Vor dem Ausbruch der Aufstände 2011 besuchte er Syrien und führte Gespräche mit Präsident Bashar al-Assad. Das Jahr 2011 wurde zu seinem schwersten Amtsjahr: Nicht nur ramponierte die Enthaltung in der Libyenkrise sein Image, sondern auch innerparteilich sank sein Stern. Im Mai musste er den Bundesvorsitz der FDP sowie die Vizekanzlerschaft an Philipp Rösler abtreten.
Nach der Bundestagswahl im September 2013 stieg Frank-Walter Steinmeier zum wichtigsten außenpolitischen Entscheidungsträger neben Angela Merkel auf. In seiner ersten Amtszeit als Bundesminister des Auswärtigen (2005-2009) suchte er sich Nischenthemen, in denen er eigene Akzente setzen konnte, zum Beispiel in der Energiepolitik oder in Zentralasien. Im Nahen Osten hatte er prägende Erfahrungen gemacht: Die deutsche Vermittlerrolle im Libanonkrieg 2006 verhalf Steinmeier zu mehr internationalem Gewicht, das er nutzen wollte, um Assads Syrien in eine Lösung des Nahostkonflikts einzubinden. Dadurch, so die Idee, könne man das Regime in Damaskus von seinem strategischen Partner in Teheran loseisen und somit zugleich die Rolle der Hisbollah im Libanon schwächen – was ebenso (implizit) das Ziel der UNIFIL-Mission war.[35] Diese Initiative startete Steinmeier gegen den Willen Washingtons,[36] aber mit Unterstützung der Kanzlerin. Wenngleich Steinmeiers Besuch in Damaskus im Dezember 2006 zu keinem Durchbruch führte, verbesserten sich die Beziehungen der USA und Europas mit Syrien – gipfelnd in der Friedenskonferenz von Annapolis 2008 – merklich. Die EU avancierte im Sinne dieser „constructive engagement“-Politik zum größten Handelspartner Syriens.[37]
Während seiner Zeit als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion äußerte sich Steinmeier skeptisch gegenüber der Theorie der Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“, R2P). Daher warnte er vor einer Intervention in Syrien, da er die innenpolitischen Ziele und politischen Einstellungen der Oppositionsgruppen als zu unübersichtlich einstufte.[38] Dennoch schien ihm die „schwarz-gelbe Außenpolitik zum Beispiel in der Syrienfrage ein Graus zu sein“.[39] Dies betraf weniger die sicherheitspolitische Zurückhaltung und das Beharren auf politischen Lösungen, sondern die mangelnde Gestaltung einer solchen Lösung mit den Verbündeten sowie die Planungen für die Zeit nach dem Bürgerkrieg.[40] Auf die Rolle Steinmeiers – und seiner Nachfolger Sigmar Gabriel (27. Januar 2017 bis 15. März 2018) und Heiko Maas (seit 15. März 2018) – wird weiter unten noch näher eingegangen.
Die führenden Gestalter der deutschen Außenpolitik operierten nicht im luftleeren Raum. Wer die Entscheidungen in Berlin einordnen möchte, muss daher auf den zeithistorischen Kontext achten: Neben den innenpolitischen Entwicklungen war dies vor allem der Arabische Frühling, der die Gesamtarchitektur des Nahen Ostens infrage stellte.
Im Frühjahr 2011 kam es in einer Vielzahl von Staaten im Nahen und Mittleren Osten zu einer Welle von Protesten gegen die eigenen Regierungen. Die Ursachen hierfür waren eine jahrzehntelange wirtschaftliche Misere, politische Willkür und Korruption. Nach dem Sturz der Diktatur von Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien im Januar 2011 gingen die Menschen in Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrain und Syrien auf die Straße und forderten, zunächst friedlich, weitreichende politische Veränderungen. Die Erfahrungen in diesen Ländern zeigten, dass die Protestbewegungen am erfolgreichsten waren, wenn sich eine spezielle Konstellation einstellte: Es bedurfte einer Initialzündung, um die Ängste vor den üblichen Repressionen der Regime zu überwinden, ebenso friedlicher Aktionen weiter Teile der Bevölkerung, eines engen Zusammenhalts der Bürger über konfessionelle und ethnische Grenzen hinweg und, ganz entscheidend, einer unterstützenden oder wenigstens neutralen Haltung der Streitkräfte.[1] In einigen Ländern gelang ein Machtwechsel aufgrund der Zurückhaltung des Militärs, beispielsweise in Ägypten und Tunesien, wohingegen sich die Regime in Libyen und Syrien für einen Kampf rüsteten. Die meisten Monarchien der Region konnten mit Zugeständnissen Ruhe und Ordnung wahren. Andere Herrscher vermochten sich nur durch ein Eingreifen externer Mächte an der Macht zu halten, wie das Beispiel Bahrain zeigt.
Die unterschiedlich gelagerte Dynamik in den einzelnen arabischen Staaten erschwerte es den westlichen Mächten, angemessen zu reagieren. Nach den Erfahrungen aus Afghanistan und dem Irak bestand kein großes Interesse an neuen sicherheitspolitischen Abenteuern. Zudem war der Arabische Frühling eine große strategische und politische Überraschung – sowohl in den betroffenen Staaten selbst als auch international. Weder Nachrichtendienste noch Journalisten oder wissenschaftliche Experten – niemand hatte die Ereignisse wirklich vorhergesehen, da die Stabilität der autokratischen Regime als unverrückbar galt.[2]
Die jeweiligen Aufstände und Revolutionen wurden daher von westlichen Staaten oft sehr unterschiedlich bewertet und behandelt. Dadurch setzten sich diese nicht selten dem Vorwurf einer außenpolitischen Doppelmoral aus – ein Tadel, der im Übrigen auf viele arabische Staaten ebenfalls zutraf: Die brutale Repression im Jemen führte weder zu starken Protesten des Kooperationsrats der arabischen Golfstaaten (auch Golfkooperationsrat, GCC) noch der westlichen Regierungen. Ebenso wortkarg gab man sich zu den Vorkommnissen in Bahrain.[3] Als Saudi-Arabien und andere Golfstaaten nach einem Beschluss des GCC am 14. März 2011 in Bahrain intervenierten und die friedliche Protestbewegung niederschlugen, folgten halbherzige Protestnoten der USA und der Europäer.[4] Aus strategischen und innenpolitischen Gründen fürchtete Riad die Folgen eines schiitischen Volksaufstandes, und auch die Amerikaner, deren 5. Flotte in Bahrain ankert, hätten ungern diesen strategischen Stützpunkt geräumt. Außerdem benötigten die Vereinigten Staaten die Zustimmung der Golfstaaten für die Luftschläge gegen Libyen.[5] Wirtschaftliche Beweggründe spielten eine ebenso gewichtige Rolle.[6]
Die westliche Reaktion auf den Arabischen Frühling kann dennoch nicht nur vor dem Hintergrund der traditionellen Interessen in dieser Region (Öl, Terrorismusbekämpfung, Eindämmung des Iran und Unterstützung strategischer Partner wie Israel oder Saudi-Arabien) oder der heimischen öffentlichen Meinung gesehen werden. Der Politikwissenschaftler Daniel Byman hat gezeigt, wie sehr die Entscheidungsträger in Europa und den USA an einen demokratisierenden „wind of change“ in der arabischen Welt glaubten, der alle Regime, auch enge Verbündete wie den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak, wegfegen würde. Die Protestbewegungen wurden häufig mit einer „westlichen Brille“ betrachtet. Die wahren innenpolitischen Entwicklungen verkannte man und vertraute allzu sehr auf die Durchsetzungskraft westlicher Werte. Dabei gab es kaum Anhaltspunkte dafür, dass diese Werte in der Mehrheit der dortigen Gesellschaften verankert gewesen wären.
Der Arabische Frühling entwickelte sich schnell und sehr dynamisch, was zu einem oft sehr unübersichtlichen Lagebild führte. Die USA und die Staaten Europas besaßen keine Strategie oder langfristigen Pläne für die Region, sondern behandelten die Krisen wie unzusammenhängende, einmalige Angelegenheiten.[7] US-Präsident Barack Obama wollte eine breite Koalition mit den arabischen Staaten schmieden, um eine allenfalls notwendige militärische Rolle der USA so klein wie möglich zu halten.[8] Auch die Bundesregierung wurde von den Ereignissen überrascht und rang zusätzlich 2011 und 2012 um eine Lösung der Europa- und Finanzkrise. Berlin reagierte zurückhaltend, zumal Deutschland im Nahen Osten als wirkliche Gestaltungsmacht eine geringe Bedeutung zukommt.
Deutschlands historische Rolle im Nahen und Mittleren Osten unterscheidet sich stark von der Großbritanniens, Frankreichs und der USA. Deutschland hat keine koloniale Vergangenheit in der Region, sondern kämpfte im Ersten Weltkrieg an der Seite des Osmanischen Reichs. An den Grenzziehungen und Mandatsregelungen nach 1918 war Deutschland nicht beteiligt. Das erleichterte die Etablierung guter Beziehungen zu den sich im Konflikt mit den Mandatsmächten herausbildenden arabischen Staaten und Regimen.[9] Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich teilweise ein Spannungsverhältnis zu den arabischen Ländern aufgrund der speziellen Bindung Deutschlands an Israel.[10] Auch die Beziehungen zu den USA und die Angst vor einer Anerkennung der DDR durch die arabischen Staaten prägten die deutsche Außenpolitik in der Region. Seit dem Ende des Kalten Krieges agierte Deutschland im Spannungsfeld zwischen historischer Verantwortung gegenüber Israel, Rücksichtnahme auf die Interessen der USA und europäischer Partner sowie der (wirtschaftlichen) Bindung an die arabischen Staaten.[11]
Obwohl der Gestaltungsspielraum, etwa im Vergleich zu den USA, begrenzt ist, trat Berlin häufig als Vermittler auf. Das Nein des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zum Irakkrieg 2003 stärkte diese Rolle: Berlin konnte Gesprächsbereitschaft in alle Richtungen signalisieren und sich als verlässlicher Partner präsentieren.[12] Die amerikanische Intervention spaltete die Europäer und vergiftete das deutsche Verhältnis zu den USA.[13] Für die folgende Analyse ist dies von zentraler Bedeutung, denn die Oppositionsführerin musste außenpolitische Farbe bekennen. Sie stellte sich gegen den Kanzler, und „die Wochen im Herbst 2002 und im Frühjahr 2003 gehören zur außenpolitischen Prägephase Merkels“.[14] In einem Gastbeitrag in der Washington Post empörte sie sich über „ihren“ Bundeskanzler, der Europa entzweie und die ost- und mitteleuropäischen Länder ob ihrer Treue zur transatlantischen Partnerschaft kritisiere. Sie beschwor „den Albtraum deutscher Außenpolitik: wieder einmal alleine und isoliert zu stehen“.[15]
Der Irakkrieg blieb nicht der einzige Konflikt im Nahen Osten. Nach dem Libanonkrieg 2006 beteiligte sich Deutschland an der Seeraumüberwachungsmission der UN vor der Küste des Landes. Zusätzlich nahm Berlin eine wichtige Mittlerrolle ein. Steinmeier streckte seine Hand – gegen Widerstände aus Washington – auch nach Damaskus aus.[16] Die deutsche Diplomatie versuchte, Syrien in eine dauerhafte Lösung des Libanonkonflikts einzubinden. Die Vereinigten Staaten warnten allerdings wiederholt vor der Rolle Syriens als Einfallstor für Dschihadisten in den Irak. Das Vertrauen der Israelis in die deutsche Politik ermöglichte diese Mittlerrolle Berlins. Die engen Beziehungen zu Israel verschlechterten sich jedoch mit dem Amtsantritt Benjamin Netanjahus im März 2009.[17] Dies war nicht zuletzt auf Dissonanzen durch die Palästinenserpolitik und die Atomverhandlungen mit dem Iran zurückzuführen, in denen die Bundesrepublik und die EU andere Positionen als Israel vertraten.
Der Arabische Frühling stellte Deutschland vor neue Probleme. Man musste einerseits mit den neuen, oft radikalen Kräften in den „armen Republiken“ und andererseits mit den alten Herrschern in den „reichen Monarchien“ umgehen.[18] In den politischen Diskussionen wurden die regionalen Veränderungen begrüßt und eine gemeinsame europäische Rolle gefordert, eine militärische Intervention aber strikt abgelehnt. Im Hinblick auf die Lage in Afghanistan, die sich seit 2009 zusehends verschlechterte, war eine „not again“-Stimmung bemerkbar.[19] Dies zeigte sich deutlich an der Debatte und der Entscheidung über eine mögliche Intervention in der Libyenkrise im März 2011. Sie fungierte als Lackmustest und prägte die gesamte deutsche Reaktion auf den Arabischen Frühling.
Die Androhungen Muammar Ghaddafis, seine Feinde wie „Ratten abzuschlachten“, erregten internationale Aufmerksamkeit. Vom Beginn der Proteste Mitte Februar 2011 bis zur Resolution 1973 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen am 17. März 2011, welche die Errichtung einer Flugverbotszone autorisierte, herrschte diplomatischer Hochbetrieb. Der Sicherheitsrat war gespalten. Sollte und konnte man eine humanitäre Intervention gegen den Willen eines (noch) funktionierenden Staates beschließen? Erst die Unterstützung durch den GCC am 7. März, die Arabische Liga am 12. März und durch Ghaddafi angedrohte Massaker gaben den Ausschlag für eine Intervention. Dennoch herrschte im UN-Sicherheitsrat keine Einigkeit. Zehn Staaten stimmten dafür, wohingegen sich fünf enthielten: China, Russland, Brasilien, Indien und Deutschland. Berlin brüskierte damit seine Bündnispartner.[20] Die Enthaltung war, wie der Politologe Christian Hacke es treffend formuliert hat, ein Konflikt zwischen zwei Maximen: „Zivilmacht versus Bündnismacht“.[21] Merkel verwirklichte den von ihr 2003 beschworenen Albtraum. Deutschland stand nicht nur ohne Bündnispartner da, verletzte somit eine außenpolitische Grundmaxime, sondern befand sich zudem in fragwürdiger Gesellschaft unter den sich Enthaltenden. Beobachter sprachen von der größten außenpolitischen Fehlentscheidung ihrer Kanzlerschaft.[22] Berlin musste sich im Laufe der folgenden Jahre, zumindest hinter vorgehaltener Hand, wiederholt mangelnde außenpolitische Zuverlässigkeit vorwerfen lassen und wurde gar als „Nein-Nation“ bezeichnet.[23]
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