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Soziale Arbeit studieren

Herausgegeben von Prof. Dr. Ulrike Urban-Stahl

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Prof. Dr. Barbara Bräutigam lehrt Psychologie, Beratung und Psychotherapie an der Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung.

In der Reihe Soziale Arbeit studieren bereits erschienen:

Walter, Uta M.: Grundkurs methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit (2017, ISBN: 978-3-8252-4846-8)

Sandermann, Philipp, Neumann, Sascha: Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit (2018, ISBN: 978-3-8252-4948-9)

Mund, Petra: Grundkurs Organisation(en) in der Sozialen Arbeit (2019, 978-3-8252-5256-4)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 4947

ISBN 978-3-8252-5789-7

2., aktualisierte Auflage

© 2021 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Cover unter Verwendung eines Fotos von © bloomicon / Fotolia

Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Einleitung: „Alles steht Kopf“ – Psychologie trifft auf Soziale Arbeit

1Kleine Geschichte(n) der Psychologie

1.1 Frühe Vorstellungen

1.2 Unterschiedliche Wege zum Erkenntnisgewinn

1.3 Wilhelm Wundt und die Anfänge der akademischen Psychologie

1.4 Zwischen Skinner, Freud und Piaget: Psychologie differenziert sich

1.5 Die Rolle der Psychologie in der NS-Zeit und ihre Nachwirkungen

1.6 Psychologie heute

2Entwicklungspsychologie

2.1 Entwicklungspsychologie in der Sozialen Arbeit

2.2 Der Entwicklungsbegriff und Entwicklungsmodelle

2.3 Bindung

2.3.1 Der Bindungsbegriff

2.3.2 Bindungsstile

2.3.3 Das Konzept der elterlichen Feinfühligkeit

2.3.4 Bindungsstile im Erwachsenenalter

2.3.5 Die Relevanz des Bindungssystems

2.4 Entwicklungsfaktoren und -risiken in der Schwangerschaft

2.5 Entwicklung in der Säuglings- und Kleinkindzeit

2.5.1 Die Entwicklung des Selbst

2.5.2 Kognitionen, Emotionen und die Fähigkeit zur Selbstregulation

2.6 Entwicklung der Kindheit

2.6.1 Theory of mind und die Entwicklung von Mentalisierung

2.6.2 Die Entwicklung von Empathie

2.7 Entwicklung der Jugend

2.8 Entwicklung des mittleren und höheren Erwachsenenalters

3Allgemeinpsychologische Grundlagen

3.1 Wahrnehmung

3.2 Beobachtung

3.3 Aufmerksamkeit

3.4 Gedächtnis

3.5 Intelligenz

3.6 Lernen

3.6.1 Klassische Konditionierung

3.6.2 Operante Konditionierung

3.6.3 Das Prinzip der Verstärkung

3.6.4 Sozial-kognitive Lerntheorien

3.6.5 Lernstörungen

4Sozialpsychologie

4.1 Gegenstand der Sozialpsychologie

4.2 Methoden der Sozialpsychologie

4.3 Attribution

4.4 Einstellung

4.4.1 Einstellungskomponenten

4.4.2 Einstellungsänderung

4.5 Aggression

4.5.1 Entstehung von Aggression

4.5.2 Soziale Einflussfaktoren

4.5.3 Reduktionsmöglichkeiten

4.6 Prosoziales Verhalten

4.6.1 Entstehung von prosozialem Verhalten

4.6.2 Förderung prosozialen Verhaltens

4.6.3 Der Bystander-Effekt

4.7 Gruppenphänomene

4.7.1 Gruppenentscheidungen und soziale Rollen

4.7.2 Intergruppenverhalten

4.8 Konformität und Vorurteile

4.8.1 Vorurteile

4.8.2 Stereotypisierung und Diskriminierung

4.8.3 Reduktionsmöglichkeiten

5Familien- und Erziehungspsychologie

5.1 Erziehungsvorstellungen und Ziele

5.2 Elternschaft und elterliche Erziehung

5.3 Erziehungsstile

5.4 Transgenerationale Konzepte

5.5 Kinder psychisch / körperlich erkrankter Eltern

5.6 Erziehungsberatung – Elterntraining – Elterncoaching

6Klinisch-psychologische Grundlagen

6.1 Klassifikationsmodelle und Diagnostik psychischer Störungen

6.2 Ausgewählte Störungsbilder

6.2.1 Depression und Suizidalität

6.2.2 Angststörungen

6.2.3 Abhängigkeitserkrankungen

6.2.4 Traumafolgestörungen

6.3 Psychotherapeutische Grundorientierungen

6.4 Psychodynamische Konzepte

6.5 Verhaltenstherapeutische Konzepte

6.6 Humanistische Konzepte

6.7 Systemische Ansätze

7Methodische Kompetenzen und Interventionsformen

7.1 Selbstreflexion

7.2 Gesprächsführung

7.2.1 Das Vier-Ohren-Modell nach Friedemann Schulz v. Thun

7.2.2 Paul Watzlawicks Auffassung menschlicher Kommunikation

7.2.3 Gewaltfreie Kommunikation

7.3 Beratung

7.3.1 Psychologische Beratung

7.3.2 Beratung und Psychotherapie – Übergänge und Abgrenzung

8Schulpsychologie, Psychotherapie, Sozialpädagogische Familienhilfe – Hilfebedarf in verschiedenen Lebenslagen

8.1 Kontext Bildung

8.2 Kontext Gesundheit

8.3 Kontext Hilfen

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Folgende Icons werden im Buch verwendet:

images Zusammenfassung
images Definition
images Übungsaufgabe
images Beispiel
images Literatur- und Websiteempfehlungen

In den einzelnen Kapiteln gibt es Übungsaufgaben und Reflexionsfragen. Beispiellösungen finden Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages und der UTB GmbH bei der Darstellung dieses Titels: www.reinhardt-verlag.de, www.utb.de

Einleitung: „Alles steht Kopf“ – Psychologie trifft auf Soziale Arbeit

Der US-amerikanische Computeranimationsfilm „Alles steht Kopf“ von Pixar stellt auf höchst kunstvolle und sehr eingängige Art und Weise den Einfluss von Gefühlen auf das menschliche Verhalten und Erleben von Geburt an dar. Nun beschäftigt sich Psychologie nicht nur mit Gefühlen, sondern sehr viel allgemeiner mit der Beschreibung und Erklärung von menschlichem Verhalten und Erleben. Dennoch sind insbesondere die Erkenntnisse, die die Psychologie über das soziale und emotionale Erleben und Verhalten von Menschen herausgefunden hat, besonders spannend für die Soziale Arbeit:

„Die menschliche Gattung, unsere Gewohnheiten und Sitten und die Beschaffenheit unserer Seele haben sich im Laufe der Zeit in einem unendlichen Prozess herausgebildet, der nicht mit fünf oder fünfzehn oder fünfzig oder fünfundneunzig Jahren endet […] In diesem Prozess arbeiten und konkurrieren viele Kräfte miteinander und es wäre nicht korrekt, eine davon für überlegen zu erklären. Und die Alchimie, mit der diese Wirkkräfte interagieren, ist größtenteils unbekannt, und aus diesem Grunde tut der Psychologe, der durch einen tiefen dunklen Wald tappt, gut daran, ein gerütteltes Maß an Demut und Ehrfurcht mitzubringen“ (Shpancer 2011, 217).

Das gerüttelte Maß an Demut und Ehrfurcht, von dem in dem obigen Zitat die Rede ist, ist eine Haltung, die PsychologInnen und SozialarbeiterInnen gut zu Gesicht steht. Beide Professionen beschäftigen sich mit Menschen, die Psychologie wie gesagt mit der Beschreibung und Erklärung des Erlebens und Verhaltens von Menschen und die Soziale Arbeit mit Überlegungen zu Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen für Menschen in benachteiligten Lebenslagen. Im Unterschied zu der wissenschaftlichen Beschäftigung mit unbelebter Materie oder auch mit Objekten, wie z. B. Pflanzen oder Tieren, die uns fremder sind als Menschen, verführen Professionen, die sich mit dem Menschen beschäftigen, dazu, vorschnell davon auszugehen, dass man den anderen „verstehe“. Ein eiliges und alltägliches „Ich verstehe Dich / Sie“ kann nicht nur Jugendliche in den Wahnsinn treiben, sondern es führt auch dazu, dass sich z. B. KlientInnen nicht ernst und in ihrer Einzigartigkeit nicht wahrgenommen fühlen. Insofern haben Psychologie und Soziale Arbeit gemeinsam, dass sie bewusst hinter ihr Alltagswissen zurücktreten und sich einen neuen und quasi frischen Blick auf die vielfältigen und staunenswerten menschlichen Phänomene aneignen müssen, um Neues und Unerwartetes entdecken zu können und so ein tiefergehendes Verständnis ihres jeweiligen Gegenübers aufzubauen.

Die Soziale Arbeit gehört zu den Sozialwissenschaften, während Psychologie manchmal den Geisteswissenschaften und manchmal auch den Naturwissenschaften zugerechnet wird. Walach (2020) spricht sich für ein komplementäres Verständnis zwischen diesen beiden Orientierungen der Psychologie aus:

„Psychologie muss sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaft sein, wenn sie den Menschen in seiner Doppelnatur entsprechend verstehen und begreifen will. Denn der Mensch stellt selbst eine solche komplementäre Verbindung zweier anscheinend nicht miteinander kompatiblen Seiten dar. Er ist durch und durch Teil der materiellen Realität, Naturwesen und Produkt der Evolution und insofern auch legitimer Gegenstand der Naturwissenschaft. Auf der anderen Seite ist er der Quell- und Kernpunkt dessen, was wir unter Geist und Bewusstsein verstehen. Er produziert als Kulturwesen auch geistige, kulturelle Äußerungen, die nur mit Mitteln der Geisteswissenschaft zu verstehen und zu handhaben sind“ (Walach 2020, 73).

Soziale Arbeit sieht Psychologie – neben Soziologie und Jura – seit jeher als eine ihrer zentralen Bezugswissenschaften an. Es ist nicht immer eine Liebesbeziehung gewesen; der Vorwurf soziales Leid zu individualisieren, ging in der Regel auf ein übermäßig psychologisiertes Verständnis Sozialer Arbeit zurück. Die Wichtigkeit psychologischer Erkenntnisse für die Soziale Arbeit ist allerdings nie angezweifelt worden. Die Psychologie als akademische Disziplin orientiert sich an der Medizin oder den Gesundheitswissenschaften und ignoriert die Soziale Arbeit weitgehend. In der psychologischen Praxis hingegen ist die Bedeutsamkeit Sozialer Arbeit unumstritten und auch unübersehbar; deutlich wurde dies jüngst wieder bei der psychosozialen Unterstützung von geflüchteten Menschen, die für ihre seelische Balance zwingend die Klärung äußerer Rahmenbedingungen benötigen.

Dieses Buch richtet sich an Studierende und Lehrende der Sozialen Arbeit und bietet eine Einführung in psychologische Perspektiven und Erkenntnisse. Dabei sind sämtliche Themen unter der Fragestellung aufbereitet, inwiefern die psychologische Perspektive für die Soziale Arbeit nützlich und hilfreich ist. Dieses Buch ist in der tiefen Überzeugung verfasst, dass dieser Nutzen nicht ein-, sondern wechselseitig besteht, sodass eine Einführung in die Soziale Arbeit für Studierende der Psychologie ein ebenso lohnenswertes Unterfangen wäre.

Begonnen wird mit einem kurzen historischen Überblick über die Entstehung der Psychologie als Wissenschaft, daran schließen sich drei Kapitel über entwicklungs-, allgemein- und sozialpsychologische Grundlagen an. Kapitel 5 und 6 befassen sich mit Schwerpunkten der angewandten Psychologie und vermittelt familien-, erziehungs- und klinisch-psychologische Erkenntnisse. Kapitel 7 fokussiert sich auf Methoden und persönliche Kompetenzen, in die relevante psychologische Kenntnisse einfließen und die für die Soziale Arbeit zentral sind. Im abschließenden Kapitel 8 wird beschrieben, welche Angebote in den Kontexten Bildung, Gesundheit und psychosoziale Hilfen zu welchem Zeitpunkt für wen hilfreich sein könnten und in welchen Handlungsfeldern die VertreterInnen der Psychologie und der Sozialen Arbeit sich begegnen. Zu Beginn jedes Kapitels gibt es eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten beschriebenen Themen. Am Ende jeden Kapitels finden sich Lernfragen und Anregungen zur Diskussion sowie weiterführende Literaturhinweise.

Der mittlerweile sehr bekannte französische Soziologe Didier Eribon beschrieb eine für sich zentrale Erkenntnis seines Lebens folgendermaßen:

„Der folgende Satz aus Sartres Saint Genet war entscheidend für mich: ‚Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.‘ Er wurde zum Prinzip meines Lebens“ (Eribon 2016, 219).

Dieses Prinzip verdeutlicht, dass Psychologie und Soziale Arbeit mit ihren unterschiedlichen Denk- und Herangehensweisen sehr eng miteinander verknüpft und in gewisser Weise auch aufeinander angewiesen sind.

1 Kleine Geschichte(n) der Psychologie

Psychologie beschäftigt sich im Wesentlichen mit den Eigenheiten des menschlichen Geistes – sie ist die Wissenschaft vom menschlichen Verhalten und Erleben. Im Rahmen dieses Kapitels soll ein Einblick in die historischen Wurzeln und einige ideengeschichtlichen Aspekte des Fachs Psychologie gegeben werden. In der Antike widmeten sich die Medizin der Körperheilkunde und die Philosophie der Seelenheilkunde. Eine wesentliche Frage, die die Psychologie geprägt hat, ist die, wie Menschen zu Erkenntnissen gelangen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen empirischer, rationalistischer und hermeneutischer Strömungen weisen auf die Zwitterstellung der Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft hin. Im 19. Jahrhundert beginnt sich die Psychologie in verschiedene Teildisziplinen zu differenzieren. Insgesamt kann zwischen der empirischen, der verstehenden und der experimentellen Psychologie unterschieden werden. Zunehmend profilierte sich die Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Wissenschaft vom individuellen Bewusstsein, es entwickelten sich nun drei theoretische Richtungen – der Behaviourismus, die Psychoanalyse und der Kognitivismus. Heute zählen neben dem Gesundheitsbereich Wirtschaftspsychologie, Werbepsychologie, Schulpsychologie, Rechtspsychologie, Verkehrspsychologie und Sportpsychologie zu relevanten Praxisfeldern von heute tätigen Psychologen. In der psychologischen Wissenschaft sind Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts insbesondere Erkenntnisse aus der Traumaforschung, den Neurowissenschaften, sowie der Psychoimmunologie von großer Bedeutung.

Die Überschrift des Kapitels deutet bereits daraufhin, dass es mehr als gewagt wäre, die Geschichte der Psychologie erzählen zu wollen. Es werden jedoch einige ideengeschichtlichen Aspekte des Fachs skizziert, die für die Soziale Arbeit relevant erscheinen.

1.1 Frühe Vorstellungen

Psychologie ist ein griechischer Begriff und bedeutet wörtlich übersetzt die „Lehre von der Seele“. Erste wesentliche Überlegungen zur Beschaffenheit der Seele stammen aus der Antike und aus der griechischen Philosophie. In der Antike beschäftigte sich die Medizin mit der Körperheilkunde und die Philosophie mit der Seelenheilkunde. Bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. entwarf die Bewegung der Orphiker eine Lehre der Seele, die auf einem Dualismus von Körper und Seele basierte, bei dem der Körper im Diesseits verhaftet und das Gefängnis der Seele darstelle (Schönpflug 2013). Sie stützten sich dabei auf den – mittlerweile vielfach variierten – Mythos von Orpheus und Eurydike. Dem Mythos zufolge versucht Orpheus seine geliebte verstorbene Frau Eurydike aus der Totenwelt und dem Jenseits zurückzuholen und scheitert, weil er die Bedingung der Götter, sich nach seiner Frau nicht umzusehen, nicht erfüllen kann. Bis heute symbolisiert dieser Mythos die Sehnsucht nach Unsterblichkeit.

Platon (428–348 v. Chr.) vertrat ebenfalls die Auffassung, dass Körper erst dann leben, wenn sie beseelt seien. Er verglich die Seele mit einem Gespann, das von einem Rappen und einem Schimmel gezogen würde; der Rappe verkörpere die Begierde und ziehe den Wagen in Richtung der materiellen Welt, während der Schimmel nach etwas Höherem strebe. Der Wagenlenker habe Kraft seiner Vernunft die Aufgabe, dieses Gespann durch die Welt zu steuern. Die Parallelen zu Sigmund Freuds Strukturmodell, bei dem das Ich zwischen dem Es, das für die Triebe und Begierden steht und dem Über-Ich, das die Moral verkörpert, vermitteln muss, sind mehr als deutlich. Bereits in Platons Seeelenmodell sind die Wurzeln für moderne psychologische Theorien verankert (Walach 2020, 102 f.).

Andere aus der Zeit der Antike übermittelte Überlegungen über die Beschaffenheit der Seele trugen eher den Charakter von Typologien:

„Eine rein äußerliche Typologie hat etwa Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) vorgestellt. Er unterteilte die Menschen in schlanke, asthenische auf der einen Seite und in dicke, pyknische Typen auf der anderen Seite. Seine Anhänger, die Hippokraten, haben dem eine innere Typologie hinzugefügt, die nichts anderes war als eine Safttheorie. Safttheorien gehen davon aus, dass im Körper vier verschiedene Säfte (Blut, schwarze und gelbe Galle, sowie Phlegma) zirkulieren und immer dann, wenn das Verhältnis der Säfte nicht perfekt ausbalanciert ist, etwas schiefgehen kann. Derjenige der Säfte, der überwiegt, kann den Charakter des Menschen dominieren“ (Hecht / Desnizza 2012, 104).

Laut diesen Theorien stehen die vier Säfte für jeweils ein Element und für ein Temperament. Die schwarze Galle (Wasser) deute, so die Annahme, auf ein überwiegend melancholisches und schwermütiges, die gelbe Galle (Luft) auf ein cholerisches, aufbrausendes, das Blut (Feuer) auf ein wechsel- und launenhaftes und das Phlegma (Erde) auf ein träges Temperament hin. Die Lehre von den Säften kann zwar getrost als überholt betrachtet werden. Die Existenz unterschiedlicher und von Geburt an bestehender Temperamente hingegen ist bis heute unbestritten (s. Kapitel 2.3.3).

Zwei weitere philosophische Strömungen der Antike, die sich mit dem Wesen der Seele auseinandersetzten, sind die Stoiker und die Epikureer. Die Stoiker stellten die Selbstkontrolle in den Mittelpunkt. Gefühle und Begierden sind ihnen zufolge schädlich, die Seele müsse vor emotionaler und triebhafter Erregung bewahrt werden. Epikur (341–271 v. Chr.) hingegen propagierte, dass Lust und Sinnesempfindungen in Maßen durchaus wichtig für das seelische Wohlbefinden seien (Schönpflug 2013).

Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwickelte eine monistische Seelenlehre, d. h., er ging nicht mehr von einer grundsätzlichen Zweiteilung zwischen Körper und Seele aus. Er differenzierte vielmehr zwischen der vegetativen Seele, die alle Organismen besäßen, der animalischen Seele, die Tiere und Menschen hätten und für die Begierden, Empfindungen und die Fortbewegung zuständig sei, und zum dritten zwischen der dem Menschen eigenen Geistesseele, die die Fähigkeit zur Logik bedeute. Im späteren Mittelalter griff Thomas von Aquin (1225–1274) die aristotelische Seelenlehre wieder auf und verband sie mit dem frühmittelalterlichen Seelenbegriff von Augustinus (354–430 n. Chr.). Augustinus betrachtete die Seele unter einem metaphysischen und nach dem Himmlischen strebenden Aspekt und

„… unter einem empirischen Aspekt des Selbst, weil es sich in seiner eigenen Erfahrung widerspiegelt. Jene in der Selbsterfahrung sich spiegelnde Seele ordnete Augustinus […] dem Diesseits zu“ (Schönpflug 2013, 77).

Insofern kann man also Augustinus als einen der ersten Denker bezeichnen, der die Bedeutung von Selbsterfahrung und Nachdenken über sich selbst erkannte. Im Mittelalter hat sich die Seelenkunde zwar ansonsten nur wenig entwickelt (Hecht / Desnizza 2012, 109); mit Beginn der Reformation und dem zunehmenden Interesse am Verstehen des Menschen avancierte die Seelenkunde aber schließlich zu einem eigenen Forschungsgebiet.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit der menschlichen Seele zunächst den Philosophen vorbehalten blieb und sich vieles um die Frage rankte, aus welchen Teilen die Seele denn bestehe und ob sie getrennt vom Körper existiere.

1.2 Unterschiedliche Wege zum Erkenntnisgewinn

Mit dem Interesse für den Menschen geht auch die Neugier einher, wie dieser eigentlich wahrnehmen bzw. überhaupt Erfahrungen machen und diese einordnen könne. Theorien hierüber werden als „Erkenntnistheorienbezeichnet. Bis heute existieren in der Psychologie, aber auch in der Sozialen Arbeit, sehr unterschiedliche forscherische Zugänge und Annahmen, wie und vor allem wie voraussetzungsfrei neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden können. Daher werden im Folgenden drei zentrale Strömungen, die für das Verständnis der psychologischen Perspektive wichtig sind, erläutert.

Nach der empiristischen Erkenntnistheorie von John Locke (1632–1704)basiert die menschliche Erkenntnis ausschließlich auf sinnlichen Erfahrungen. Locke zufolge gibt es keine angeborenen Ideen; der Zuwachs an Erkenntnis ergibt sich aus der Reflexion der Erfahrungen, aus der dann wiederum neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Der Empirismus geht also davon aus, dass es keine allgemeingültigen Gesetze gibt und dass der Mensch rein auf Grund seiner Erfahrungen so geworden ist, wie er ist.

Im Gegensatz dazu geht der Rationalismus davon aus, dass Vernunft für den Erkenntnisprozess eine wesentliche Voraussetzung ist. Als Begründer der rationalistischen Erkenntnistheorie gilt René Descartes (1596–1649).

„Rationalisten setzen auf die Vernunft als Erkenntnisquelle. Dementsprechend fordert Descartes (1972), die Erkenntniskraft sei darauf auszurichten, „dass sie über alles, was vorkommt, unerschütterliche und wahre Urteile herausbringt“ (S. 3). Die Regel verlangt, dass wir an allem zweifeln, was uns für gewöhnlich verlässlich scheint, nämlich unsere Sinne, unser Körper, unser Gedächtnis, unsere Sprache etc. Der Zweifel findet ein Ende, wenn uns dank der Vernunft bewusst wird, dass wir zwar alles bezweifeln können, nicht aber die Tatsache, dass wir zweifeln. Im Vollzug des Zweifels gibt es eine Evidenz, die uns als unbezweifelbar wahr erscheint“ (Herzog 2012, 49).

Zentrale Punkte an Descartes Theorie sind also sein genereller Zweifel an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis und seine strikte Trennung zwischen Geist und Materie. Immanuel Kant (1724–1804) wies in seinem Werk „Kritik der reinen Vernunft“ daraufhin, dass Erkenntnisse zwar sehr wohl empirisch gewonnen werden, es aber „apriorische Vorbedingungen“ von Erfahrungen gäbe. Vor aller Erfahrung müssen also bereits geistige Strukturen vorhanden sein, um Erfahrungen überhaupt machen bzw. verarbeiten zu können (Walach 2020, 180 f.).

Diese beiden erkenntnistheoretischen Strömungen sind für das Verständnis unterschiedlicher „Schulen“ in der Psychologie zentral (Schönpflug 2013). Es zeigt sich darin auch die in der Einleitung beschriebene Zwitterstellung der Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft.

Ein dritter wesentlicher Zugang, um zu Erkenntnis zu gelangen, besteht in der Hermeneutik, die auf Wilhelm Dilthey (1833–1911) zurückgeht. Hermeneutik ist die Lehre der Auslegung und des ganzheitlichen Verständnisses von sprachlichem Material. Die Besonderheit an einem hermeneutischen Zugang liegt in der Betonung der Subjektivität des Erkennenden und Verstehenden; demzufolge gibt es keine objektive Erkenntnis unabhängig vom Wahrnehmenden selbst.

Wilhelm Dilthey war es, der diese Lehre dann philosophisch vertieft hat und darauf hinwies, dass im Grunde die gesamte Geisteswissenschaft verstehender Natur sei, da sie es mit kulturellen Äußerungen der Menschen zu tun habe und also hermeneutische Verfahren anwenden müsse, während die Naturwissenschaften quantifizierend-erklärender Art sind“ (Walach 2020, 354).

1.3 Wilhelm Wundt und die Anfänge der akademischen Psychologie

Im 19. Jahrhundert beginnt sich die Psychologie in verschiedene Teildisziplinen zu differenzieren, so z. B. in die Tierpsychologie, die Völker- und Sozialpsychologie und die Psychopathologie. Man unterscheidet weiterhin zwischen einer allgemeinen und einer differentiellen Psychologie. Die allgemeine Psychologie nimmt die Gemeinsamkeiten von Menschen und die differentielle Psychologie individuelle Unterschiede zwischen Menschen in den Blick; darum wird letztere auch als Persönlichkeitspsychologie bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen allgemeiner und differentieller Psychologie gilt bis heute:

„Die allgemeine Psychologie beschäftigt sich mit den psychischen Erscheinungsweisen des normalen Menschen und sucht die allgemeingültigen Gesetze ausfindig zu machen, welcher ihr zugrunde liegen“ (Schermer 2017, 45).

Die allgemeine Psychologie befasst sich also mit der Beschaffenheit allgemeingültiger psychologischer Mechanismen, wie z. B. Wahrnehmungs-, Gedächtnis-, Motivations- und Lernprozesse (Kapitel 3). Die Persönlichkeitspsychologie, die aus der bereits in der Antike bestehenden Charakterologie hervorgegangen ist, beschäftigt sich hingegen mit der Lehre von den Persönlichkeitseigenschaften, der Bestimmung von Individualität und der Integration individueller Eigenschaften in die Einheit der Person:

„Innerhalb der Charakterkunde hat sich ein Schwerpunkt gebildet, welches das Prinzip der ganzheitlichen Ordnung psychischer Fähigkeiten und Motive sowie das Prinzip der Einzigartigkeit von Personen in den Mittelpunkt gestellt hat. Dieser Schwerpunkt hat erst später einen eigenen Namen enthalten: Persönlichkeitspsychologie“ (Schönpflug 2013, 225).

Wilhelm Wundt (1832–1920) gründete 1879 in Leipzig das erste psychologische Laboratorium und gilt als der Vater der modernen und akademischen Psychologie. Auf Wundt geht der Begriff der Introspektion zurück, der Selbstbeobachtung bedeutet. Wundt verstand darunter die bewusste und systematische Beobachtung des eigenen Verhaltens und Erlebens. Um die Bedingungen dieses Beobachtungsvorganges kontrollieren zu können, setzte Wundt das Experiment ein, das es ermöglichte, psychische Vorgänge gezielt hervorzurufen, zu erzeugen und dann zu beobachten. Für Wilhelm Wundt stand die Erforschung der unmittelbaren Erfahrung im Zentrum der akademischen Disziplin der Psychologie:

„Ihre Aufgabe ‚besteht in der Erforschung dessen, was wir im Gegensatze zu den Gegenständen der äußeren Erfahrung […] die innere Erfahrung nennen: in unserem eigenen Empfinden und Fühlen, Denken und Wollen. Der Mensch selbst, nicht wie er von außen erscheint, sondern wie er unmittelbar sich selber gegeben ist – er ist das eigentliche Problem der Psychologie“ (Wundt 1919, 1).

Ebenfalls im 19. Jahrhundert beginnt die gezielte Beobachtung von Kindern. Wissenschaftlich, erzieherisch und literarisch interessierte Väter wie Jean Piaget und Charles Darwin veröffentlichen Beobachtungen über ihre Kinder. Hierbei wird bereits ein Grundstein für entwicklungspsychologische Forschung gelegt.

Insgesamt kann im 19. Jahrhundert – grob verallgemeinert – zwischen drei großen Strömungen der Psychologie unterschieden werden: 1. die empirische Psychologie, die Psychologie als Erfahrungswissenschaft begreift; 2. die verstehende Psychologie, die davon ausgeht, dass das Verständnis eines anderen Menschen aus der unmittelbaren Begegnung zwischen zwei Subjekten hervorgeht; und 3. die experimentelle Psychologie, die versucht, Aspekte der Wahrnehmung, der Motivation und des Gedächtnisses mittels erster psychophysiologischer Messungen zu untersuchen.

1.4 Zwischen Skinner, Freud und Piaget: Psychologie differenziert sich

Im 19. Jahrhundert hatte sich die akademische Psychologie zunächst als Wissenschaft vom individuellen Bewusstsein profiliert. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich nun drei theoretische Richtungen, die bis heute in der Psychologie und auch für die unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen eine wesentliche Rolle spielen: der Behaviourismus nach Skinner, die Psychoanalyse nach Freud und der Kognitivismus nach Piaget.

Als wichtigste Vertreter des Behaviourismus gelten die US-Amerikaner John Watson (1878–1958) und B. F. Skinner (1904–1990). Dem Behaviourismus zufolge muss sich die Psychologie auf die Beobachtung und die Veränderung von Verhalten beschränken. Innere Prozesse werden als nicht greifbare und wissenschaftlich erfassbare Vorgänge verstanden. Eine Grundidee des Behaviourismus besteht darin, dass sämtliches Können und alle Eigenschaften von Menschen auf Lernerfahrungen beruhen. Im Fokus steht also die Frage: Wie wird gelernt? Unterstützt wurde dieser Ansatz durch die unabhängig entwickelten Arbeiten des russischen Physiologen Iwan Pawlow (1849–1936), der durch seine Experimente mit Hunden entdeckte, wie Verhalten durch die Kopplung an Außenreize gesteuert werden konnte (s. Kapitel 3.6.1).

Sigmund Freud (1856–1938) als der Vater der Psychoanalyse legte mit seiner Idee, dass seelische Störungen ihren Ursprung in einer unbewussten Dynamik haben und auf ungelösten frühkindlichen, vornehmlich sexuellen Konflikten basieren, den Grundstein für psychodynamische Theorien und für die Behandlungsidee einer Art Sprechkur. Interessanterweise wird die Psychoanalyse an vielen deutschen psychologischen Fakultäten heute fast gar nicht mehr gelehrt, weil sie als unwissenschaftlich und nicht ausreichend empirisch belegt gilt; sie ist hingegen an religions- oder literaturwissenschaftlichen Lehrstühlen relativ präsent. Die Psychoanalyse stellt nach wie vor eine der bedeutsamsten Theorien über die menschliche Seele und deren Eigenarten dar und ist auch für die psychosoziale Handlungspraxis (s. Kapitel 6.4) relevant.

Als dritte große Richtung ist der Kognitivismus zu benennen, in dessen Zentrum die Theorie der Erkenntnis und das Bewusstsein im Sinne von Einsicht und Vernunft stehen. Einer der berühmtesten Vertreter des Kognitivismus ist der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980), der sich intensiv mit der Entwicklung geistiger Strukturen (s. Kapitel 2.6) befasste.

1.5 Die Rolle der Psychologie in der NS-Zeit und ihre Nachwirkungen

Die bedeutenden Entwicklungspsychologen Charlotte und Karl Bühler, der Wahrnehmungspsychologe Kurt Goldstein, der wichtige neuropsychologische Grundlagen schuf, Paul Lazarsfeld als der Ideengeber der Marienthalstudie, Max Wertheimer als Vater der Gestaltpsychologie, William Stern als Begründer der Persönlichkeitspsychologie und Erfinder des Intelligenzquotienten, Kurt Lewin als Schöpfer der Feldtheorie: Sie sind nur einige wenige Beispiele für eine Vielzahl von wegweisenden Psychologen, die während der NS-Zeit auf Grund ihrer jüdischen Herkunft oder abweichender politischer Überzeugungen ihre Stellung in Deutschland verloren oder emigrieren mussten.

Gleichwohl – die Geschichte der Psychologie in der NS-Zeit ist nicht nur die Geschichte der Verfolgung und Vertreibung ihrer Mitglieder. Sie ist ebenso eine Geschichte der Mittäterschaft, denn die Psychologie konnte sich in der Zeit des Nationalsozialismus als Beruf weiter etablieren (Lück & Guski-Leinwand 2014). Darüber hinaus hat sich die Psychologie als eigenständige akademische Disziplin in dieser Zeit etabliert:

„Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die Psychologie in Deutschland der NS-Herrschaft ihre Etablierung als eine eigenständige akademische Disziplin verdankt, losgelöst von Philosophie und Medizin. Mit der Einführung der Diplomstudienordnung für das Fach Psychologie im Jahre 1941 wurde ein Curriculum entwickelt, das der Psychologie nach dem 2. Weltkrieg die Einrichtung von Lehrstühlen für Psychologen erst ermöglichte (vgl. Geuter 1984a). Hierbei spielte die individuelle Anpassung aufgrund opportunistischer Erwägungen an die herrschende NS Ideologie ebenso eine Rolle wie der Versuch, die psychologischen Erkenntnisse der Diagnostik vor allem in der Wehrpsychologie und Berufsberatung nutzbar zu machen“ (Wolfradt 2017, 1 f.).

Während der NS-Zeit arbeiteten nicht wenige Psychologen als Wehrpsychologen und profitierten von der damit verbundenen Verbeamtung. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP konnte dazu beitragen, eine gesicherte Anstellung an Universitäten oder anderen staatlichen Stellen zu erhalten. Auch bei der Entwicklung einer Rassenpsychologie wirkten Psychologen mit. Besonders populär waren in dieser Zeit psychologische Lehren, die biologisch-organische Charakterologien propagierten und einen völkischen Gemeinschaftsgedanken betonten. Insgesamt war die Psychologie, die häufig mit der stark jüdisch geprägten Psychoanalyse gleichgesetzt wurde, den NS-Machthabern zwar suspekt, dennoch wurden z. B. völkische Rassegedanken von Psychologen in bestehende Persönlichkeitskonzepte integriert (Geuter 1985, Wolfradt 2017).

Es gibt einige Beispiele dafür, dass psychologische Wissenschaftler, die offensiv nationalsozialistisches Gedankengut vertraten, auch nach dem zweiten Weltkrieg wichtige akademische Positionen bekleideten. Hierzu gehört der bekannte Ausdruckspsychologe Philipp Lersch, der sich 1941 offen für das Euthanasieprogramm der Nazis ausgesprochen hatte, von 1942–1968 in München lehrte und von 1953–1955 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie war. Ein anderes Beispiel ist die Entwicklungspsychologin Hildegard Hetzer, die sich zwar zeitweise mit der NS-Führung überwarf, aber dennoch 1942 Charaktergutachten über polnische Kinder erstellte, die über deren mögliche Umerziehung oder auch potenzielle Vernichtung entschieden. Sie wurde 1961 zur Psychologieprofessorin in Gießen berufen und erhielt zahlreiche Ehrungen und Preise.

Nur wenige PsychologieprofessorInnen wurden im Zuge der Entnazifizierung ihrer Hochschulämter enthoben. Insofern konnte gerade in den damaligen Westzonen von einer gewissen personellen und inhaltlichen Kontinuität von Lehre und Forschung seit der Zeit des Nationalsozialismus ausgegangen werden. Die 1941 etablierte und bis 1973 in der Bundesrepublik bestehende Diplomprüfungsordnung ist dafür ein weiterer Beleg (Michaelis 1986, Lück & Rothe 2018).

Während sich ansonsten in der Bundesrepublik Deutschland bis Ende der 1980er Jahre im psychotherapeutischen Bereich tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische, humanistische und familientherapeutische Verfahren nebeneinander entwickelten, dominierten in der ehemaligen DDR angelehnt an die sowjetische Ideologie zunächst Entspannungs- und Hypnoseverfahren. Psychoanalytische Verfahren waren verpönt, erst Anfang der 1970er Jahre lockerte sich dieses. Das Ausmaß an Bespitzelung durch PsychologInnen ist bis heute nicht bekannt, es ist aber gesichert, dass das Ministerium für Staatssicherheit Psychotherapeuten angeworben hat, um deren Patienten auszuspionieren (Sonnenmoser 2009).

1.6 Psychologie heute

Der Kanon der universitär gelehrten Psychologie besteht heute im Allgemeinen in der Lehre der Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Persönlichkeitspsychologie, der allgemeinen Psychologie, der pädagogischen Psychologie, der klinischen Psychologie, der biologischen Psychologie und der Arbeits- und Organisationspsychologie (Röhner / Schütz 2020). In der Bundesrepublik entwickelte sich in den 1970er Jahren maßgeblich um Klaus Holzkamp (2003) an der FU Berlin zusätzlich die kritische Psychologie, die sich programmatisch die Reflexion gesellschaftlicher Zwänge zum Ziel gesetzt hatte und insofern eine besondere Nähe zu Ansätzen der Sozialen Arbeit aufweist. Einen guten Überblick über das Berufsbild und psychologische Tätigkeitsfelder findet man auf den Seiten des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) e.V. (2018).

Heute beschäftigt sich die psychologische Forschung mit einer Vielzahl von Themen. Aus Perspektive der Sozialen Arbeit sind z. B. Erkenntnisse aus der Traumaforschung, die u. a. die Entdeckung von Körpergedächtnissymptomen und innerfamiliärem Missbrauch als Verursacher komplexer posttraumatischer Stress-Syndrome (Cole / Putnam 1992, van der Kolk 2000, Fegert 2015) hervorbrachte, sehr interessant. Seit ein paar Jahren verändern Erkenntnisse über die Bedeutung epigenetischer Kontrollmechanismen (Roth / Strüber 2014) – d. h., dass auch erworbene Eigenschaften an nächste Generationen vererbt werden können – den Blick auf individuelle Entwicklungsbedingungen. Aber auch die Neurowissenschaften und die Psychoimmunologie - also wie psychische Mechanismen das Immunsystem stärken oder auch schwächen können - und insbesondere die jüngstens beschriebenen psychosozialen Folgen der COVID-19-Pandemie (Strauß & Spitzer 2021) geben einen Ausblick auf die Verwobenheit körperlicher, seelischer und kontextueller Faktoren.

imagesSchönpflug, W. (2013):Geschichte und Systematik der Psychologie. 3. vollst. überarb. Aufl. Beltz, Weinheim

Walach, H. (2020): Psychologie. Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch. 4. überarb. und erw. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Was verstanden die Orphiker unter der Seele?

Wie werden die unterschiedlichen Temperamente laut den Safttheorien beschrieben?

Differenzieren Sie empiristische, rationalistische und hermeneutische Zugänge zu Erkenntnis.

Worin unterscheidet sich die allgemeine von der differentiellen Psychologie?

Skizzieren Sie die unterschiedlichen grundsätzlichen Fragen, die den Behaviourismus, die Psychoanalyse und den Kognitivismus beschäftigen.

2 Entwicklungspsychologie

Das Fachgebiet der Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit den Veränderungen und stabilen Faktoren menschlichen Erlebens und Verhaltens. Die Vorstellungen davon, wie Entwicklung sich zeigt und durch was sie verursacht wird, haben sich im 20. Jahrhundert stark verändert. Die moderne Entwicklungspsychologie betrachtet Entwicklung über die gesamte Lebensspanne, betont die Variabilität in Entwicklungsverläufen und versteht Entwicklung als kontextabhängig. Im Fokus dieses Kapitels steht zum einen die Betrachtung der unterschiedlichen Lebensalter. Hierzu zählen Entwicklungsfaktoren und Risiken in der Schwangerschaft, die frühe Entwicklung kognitiver, emotionaler und selbstregulatorischer Prozesse. Weiterhin werden die vielfältigen Transformationsprozesse im Jugendalter sowie die entwicklungsbezogenen Herausforderungen im mittleren und höheren Erwachsenenalter beschrieben. Zum anderen wird der Blick auf verschiedene Aspekte der sozioemotionalen Entwicklung gelenkt sowie auf die unterschiedlichen Kontexte und Rahmenbedingungen, die sich förderlich – oder eben auch nicht – auf die individuelle Entwicklung auswirken. Dazu zählt die Bindungsentwicklung, die die angeborene soziale Motivation beschreibt, nahe Beziehungen einzugehen sowie die Entwicklung von Mentalisierung und Empathie.

„Entwicklungspsychologen versuchen herauszufinden, wie Menschen sich unter verschiedenen Rahmenbedingungen entwickeln. Sie beachten dabei verschiedene Dimensionen, z. B. die kognitive, emotionale oder soziale Entwicklung. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei, möglichst allgemeine Entwicklungsgesetze zu entdecken und die unterschiedlichen Bedingungen für gelingende Entwicklungsverläufe zu erfassen“ (Wälte et al. 2019, 13).

Ganz allgemein kann man sagen, dass sich Entwicklungspsychologie mit Veränderungen und Stabilitäten des menschlichen Erlebens und Verhaltens beschäftigt. Dabei betrachtet sie die innerhalb eines Individuums ablaufende Entwicklung (intraindividuell) und die Entwicklung mehrerer Menschen im Vergleich (interindividuell). Anhand des folgenden Fallbeispiels sollen die Nützlichkeit und Notwendigkeit entwicklungspsychologischer Kenntnisse in der Praxis der Sozialen Arbeit dargestellt werden:

Im Rahmen einer Supervision stellt eine Sozialarbeiterin den Fall der 4-jährigen Lisa dar, die sich in ihrer Kindergartengruppe auffällig verhält, indem sie sich sehr zurückgezogen zeigt, sich kaum verbal äußert und sich von der Erzieherin nur schwer in das Gruppengeschehen integrieren lässt. Die Sozialarbeiterin hat nun die Aufgabe, Lisa in ihren sozialen Kompetenzen zu fördern. Aus der Vorgeschichte des Mädchens wird deutlich, dass es in der 25. Schwangerschaftswoche als sehr frühe Frühgeburt zur Welt kam und beide Eltern drogenabhängig waren. Die leibliche Mutter, die zum Zeitpunkt der Geburt noch minderjährig war, brachte den drei Monate alten Säugling zu ihrer Mutter, die sich seitdem um das Kind kümmert. Lisa erhielt Physio-, Ergo- und Logopädie und wird von beiden Großeltern liebevoll und innig betreut, wobei beide selbst sozial sehr zurückgezogen leben und andere Menschen so gut wie nie zu Besuch kommen. In der Videoaufnahme einer Spielsituation eines Regelspiels, die die Sozialarbeiterin mit in die Supervision bringt, wird deutlich, dass Lisa ihrer Spielkameradin im Zählen und auch im Begreifen des Spielverlaufs kognitiv weit überlegen ist, das andere Mädchen aber hohe soziale und verbale Kompetenzen zeigt, in dem es z. B. laut überlegt, wie es jetzt wohl weiterspielen könne, und Lisa auch um Hilfe bittet.

Um Lisa unterstützen zu können, muss die Sozialarbeiterin u. a. die besonderen Entwicklungsbedingungen, die Lisa geprägt haben, verstehen und einordnen können. Auf welchem Entwicklungsstand ist Lisa, und wie stellt sich dieser im Vergleich zu anderen Kindern dar?

Im Falle von Lisa sind relevante Rahmenbedingungen z. B. ihre frühe Geburt in der 25. Schwangerschaftswoche und der Drogenkonsum ihrer leiblichen Mutter einerseits und die sehr gute und stabile Bindung an die Großmutter sowie die diversen Förderungen durch Physio-, Ergo- und Logopädie andererseits. Lisa entwickelt sich in den einzelnen Funktionsbereichen (sozial, kognitiv, emotional, motorisch) unterschiedlich; so ist sie kognitiv ihrer Spielkameradin überlegen, im sozialen Bereich hingegen hat sie noch Nachholbedarf. Warum diese Aspekte aus entwicklungspsychologischer Perspektive relevant sind und warum die Fachkraft aus der Sozialen Arbeit sie benötigt, um Lisa und ihre Familie adäquat in ihrem Umfeld unterstützen zu können, wird in den folgenden Kapiteln deutlich.

2.1 Entwicklungspsychologie in der Sozialen Arbeit

Entwicklungspsychologische Kenntnisse sind im Feld der Sozialen Arbeit vor allem aus zwei Gründen hoch relevant. Der erste Grund bezieht sich auf die lebensalterbezogenen Bedürfnisse und auf anstehende Entwicklungsaufgaben. Der Psychoanalytiker Erik Erikson (1902–1994) entwarf ein Stufenmodell psychosozialer Entwicklung (Erikson 1988), bei dem er jedem Lebensalter bestimmte Themen zuordnete, die im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und den umweltbedingten Anforderungen entstehen. Im ersten Lebensjahr manifestiert sich dieses Spannungsfeld beispielsweise zwischen Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen, d. h., in dieser Phase entscheidet sich, ob das Kind von seiner Umwelt so getragen und versorgt wird, dass es ein grundsätzliches Vertrauen in menschliche Beziehungen entwickeln kann. Auch wenn die von Erikson beschriebenen Stadien auf Grund der heutigen Diversität von Biographien mittlerweile sehr normativ erscheinen, sind viele der genannten Spannungsfelder nach wie vor aktuell und werden von aktuellen bindungstheoretischen Befunden (s. Kapitel 2.3) gestützt.

Das Konzept der Entwicklungsaufgaben wurde erstmals von Robert J. Havighurst (1948/1982) beschrieben und betrachtet das Leben unter dem Fokus einer Abfolge von zu bewältigenden Anforderungen. Anstehende Entwicklungsaufgaben werden im Wechselspiel zwischen äußeren bzw. inneren Anforderungen von Kindern und Jugendlichen je nach der physischen Reife, des kulturellen Drucks und individueller Zielsetzungen und Werte gelöst (Petermann et al. 2004, Resch 1999). Das erfordert die Fähigkeit zur Selbstregulation, d. h., Kinder und Jugendliche müssen sich angesichts der Konfrontation mit den unterschiedlichen Anforderungen immer wieder mit bestimmten Gefühlen – z. B. Überforderungsgefühle, Ängste – auseinandersetzen und dennoch handlungsfähig bleiben.

Bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aber auch bei der Arbeit mit älteren Menschen sind also bestimmte von den Klienten zu leistende Entwicklungsaufgaben zu berücksichtigen. Bei kleineren Kindern, wie bei Lisa, zählt die Integration in die Kindergartengruppe dazu, bei Schulkindern der regelmäßige Schulbesuch und eine Konzentrationsleistung über 45 Minuten und bei Jugendlichen eine zunehmende Verselbständigung. In der Phase der Adoleszenz vollziehen sich komplexe körperliche, geistige und seelische Veränderungen, die einen Übergang zum Erwachsenwerden markieren (Fend 2013). Dazu zählen neben Ablösung und dem Eingehen neuer Bindungsbeziehungen u. a. auch die Aufgaben von Bildungsnotwendigkeit und Qualifikation, die Entwicklung einer Zukunftsperspektive, von Verantwortlichkeit, von Partizipation, sprich der Ausbildung eines ethischen und politischen Bewusstseins (Albert et al. 2010, Resch / Lehmkuhl 2015). Bei älteren Menschen zählt die Auseinandersetzung mit dem drohenden oder bereits erfolgten Verlust bestimmter Fähigkeiten zu den zentralen Herausforderungen (Lindenberger 2018); darüber hinaus kann aber auch die Ausbildung von Generativität eine wichtige Entwicklungsaufgabe in diesem Lebensabschnitt darstellen:

„Gemeint ist die aktive Sorge um die nachfolgende Generation mit der angestrebten Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und Chancen. Dies beinhaltet die Fähigkeit, von sich selbst absehen zu können, für andere da zu sein und das erworbene Wissen und die Erfahrungen in eine Art ‚Weltverbesserung‘ einzubringen“ (Rass 2011, 156)

Diverse biologisch, psychologisch oder sozial bedingte Gründe können dazu führen, dass Menschen Schwierigkeiten haben, Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Diese Schwierigkeiten bestimmen zu einem nicht geringen Anteil den Unterstützungsbedarf durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Störungen in der Entwicklung oder auch manifeste psychische Störungen können insbesondere bei Kindern und Jugendlichen oftmals als Ausdruck von Überforderung verstanden werden, wenn die erforderliche Selbstregulation unter komplizierten und vielschichtigen inneren und äußeren Umständen nicht mehr symptomfrei geleistet werden kann (Resch 1999, Metzmacher 2004).

„Aus dem Blickwinkel der Entwicklungspsychopathologie liegt der Schlüssel für das Verständnis einer gegebenen Störung darin, sie vor dem Hintergrund der wesentlichen Themen derjenigen Entwicklungsperiode, in der sie auftritt, zu betrachten, und nach misslungenen Anpassungsversuchen die wesentlichen Themen dieser und / oder früherer Entwicklungsperioden zu suchen“(Marvin 2003, 111 f.).

Störungen können somit auch als „kompetente Lösungsversuche“ (Marvin 2003) angesehen werden, um sehr ungünstige Umweltbedingungen individuell zu kompensieren. Bei Lisa kann ihre soziale Zurückgezogenheit z. B. als Versuch angesehen werden, sich selbst am besten zu schützen; auch diese Komponente sollte bei der Auswahl möglicher Hilfen berücksichtigt werden.

Der zweite Grund, warum entwicklungspsychologische Kenntnisse für Fachkräfte der Sozialen Arbeit wichtig sind, besteht in der Fähigkeit zur Differenzierung