Systemisch?

Mein Praktikum bei BILD-Berlin

1. bis 30. September 1993


Sonja K. Görnitz



BILD-Berlin, Vorwort

Markus Lanz sprach in seiner Sendung im ZDF am Donnerstag, 21. Oktober 2021 über den Fall des BILD-Chefs Julian Reichelt mit seinen Gästen:

Sie fragten sich, ob Sexismus und Machtmissbrauch bei BILD-Berlin systemisch seien und ermutigten Frauen (auch Männer?), offen über ihre Erfahrung bei BILD-Berlin — oder überhaupt in den Medien — zu berichten.

Dafür habe ich nun Textstellen aus meinem Tagebuch über mein Praktikum bei BILD-Berlin herausgesucht. Das dann bei Markus LANZ diskutierte Thema war schon 1993 brisant.

Ich stamme aus Hamburg, war derzeit 21 Jahre alt, machte drittes Praktikum in den Medien und war zum ersten Mal allein in einer anderen Stadt.

Über die Mitwohnzentrale mietete ich ein Zimmer und hatte dann glücklicherweise die ganze Wohnung für mich (bei U-Blissestraße).

Privat beschäftigte mich die Trennung von meinem ersten Partner nach drei Jahren Beziehung. Meine Eltern waren längst geschieden. Meine Mutter (Leserin vom Hamburger Abendblatt) arbeitete Vollzeit in einer großen, internationalen Firma in Hamburg. Mein Vater (Leser von BILD und Cuxhavener Nachrichten) kam für drei Wochen ins Krankenhaus.

In der Zeit vom 1. bis zum 30. September 1993 gab es insgesamt sechs Praktikant*innen bei BILD-Berlin. Ich war die Einzige, die am Ende des Monats von ihnen übrig geblieben ist.


Ich sah diese Hierarchie:

  1. ein oberster Chef (lieb)
  2. drei mittlere Chefs (chaotisch)
  3. zwei oder drei Redakteur*innen; zudem Reporter*innen, Fotografen und freie Journalist*innen (die meisten nett)
  4. sechs Praktikant*innen (neu dabei)


Die Namen sind geändert. Den obersten Chef nenne ich hier „den großen Chef“ (40+ Jahre alt), die drei mittleren Chefs die „Drei Herren“ bzw. Herrn Anton, Herr Berta und Herr Cäsar. Da war noch ein zweiter oberster Chef, aber von ihm bekam ich zwischenmenschlich nur wenig mit. Der Text ist zur besseren Lesbarkeit leicht redigiert.

Die BILD-Berlin-Redaktion („Neue Bundesländer“ stand mit ihm Briefkopf) war in der Charlottenstraße 13 im derzeitigen W-100 Berlin 61 (Nähe U-Kochstraße), auf mindestens zwei Stockwerke verteilt. Die Zentrale von BILD-Bund (mit den Seiten für ganz Deutschland) lag am Axel-Springer-Platz 1 in 20355 Hamburg.

Sechs Tage die Woche (samstags frei), von 9 Uhr bis oft Open End. Täglich fanden morgens Themenkonferenzen statt, in denen wir Praktikant*innen Ideen einbringen konnten. Vom ersten Tag an gingen wir jeweils mit einem Fotografen los, recherchierten und schrieben Texte zur Deadline ins System. Ich lernte schnell, meinen ursprünglichen Beitrag von rund 120 Zeilen auf genau 30 zu kürzen.

Die Schlagzeilen wurden vor allem von den Männern am „Balken“ im dritten Stock geschrieben. Die Beiträge, die ich geschrieben bzw. an denen ich mitgearbeitet habe, erwähne ich in diesem E-Book.

Jedes Praktikum ist anders. Diese Tagebuchauszüge zeigen möglichst authentisch die erlebten Dynamiken aus meiner derzeitigen Perspektive. Ich verzichte weitgehend auf Kommentare. Der Text spricht für sich.

Ich entschied mich, auch einige private Informationen im Text zu zeigen, weil sie mein Verhalten im Verlag vermutlich erklären.

Idealerweise nützt dieser Text zur besseren Verständigung zwischen den Geschlechtern in unserer Gesellschaft, insbesondere bei der Arbeit (in den Medien). Dies ist mein Beitrag zur Debatte zum Thema Sexismus und Machtmissbrauch.

Falls das Problem nicht systemisch ist, dann jedenfalls hartnäckig.


Sonja Görnitz

25. Oktober 2021


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P.S. Heute kontaktierte ich das Markus LANZ-Team und die Gäste der Runde, habe mir die Sendung noch einmal angesehen. Nun denke ich:

Bei meinem BILD-Berlin-Praktikum war ich eine 21-jährige Berufseinsteigerin in einem der mächtigsten Medienhäuser Europas mit einem krassen Machtgefälle (wie an einem mittelalterlichen Königshof) in einem toxischen Arbeitsverhältnis, in dem ich mich von der Gunst des Chefs abhängig fühlte. Zum Beispiel war mir ein gutes Zeugnis wichtig. Das bekam ich. Jedes Zeugnis gehörte zu den Bausteinen meiner weiteren beruflichen Laufbahn.

Wenn Herr Lanz mehrfach fragt: "Wie muss man sich das vorstellen?", dann gibt mein Text eventuell erkenntnisreiche Einblicke. 

Die letzten Tage schrieb ich diesen Text nicht in Wut oder aus Rache, da ist auch keine Häme und, ich glaube, kein Bashing. Im Nachhinein liest es sich für mich auch wie Klamauk, aber dafür dieses große strukturelle Problem "Sexismus und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz" zu ernst.

Viele Menschen wussten viel über die Machtstruktur und den Machtmissbrauch (Boys‘ Club) über einen langen Zeitraum. Frau Rosalis erlebte die Missstände bei BILD vor zehn Jahren, ich im Jahr 1993. Ängste erzeugten Schweigen. Eine Kultur soll entstehen, in der Personen sich trauen, auch über derartige Probleme zu sprechen. Ich lege meinen Text nun auf den Tisch und möchte damit einen Teil zur gesunden Modernisierung der Medien beitragen.

Wie Herrn Döpfner (Videobotschaft, 20.10.2021, YouTube) ist auch mir die Trennung zwischen Privatem und Öffentlich-Gemachtem sehr wichtig, dass ich frei darüber entscheide, was aus meinem Leben veröffentlicht wird und was nicht. Ich bemühe mich, das Privatleben von anderen Menschen zu achten.

Hätte die Führung von Axel Springer schon viel früher Konsequenzen ziehen müssen, fürs gute und erfolgreiche berufliche, überhaupt menschliche Miteinander? Wie wären bei BILD zum Beispiel 1. die tatsächlich wahre Wiedergabe von Geschehnissen und 2. eine Frauenquote von 50 : 50 (wie in der Schule)? Damit stünden deutsche Medien international ganz gut da. — Now is the time.


26. Oktober 2021

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Dies soll zwar keine übliche Urlaubsreportage werden, aber dennoch möchte ich nicht darauf verzichten, über die Geschehnisse bzw. über meine bisherigen Taten hier in Berlin zu berichten.

Tagebuch, 30.8.1993


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1993-08-30, Montag, Grußkarte an meinen Vater

Lieber Papa!

Nun laufen alle Vorbereitungen dem Ende zu. Zwei Wochen war volles Programm. Jetzt ist fast alles geschafft; nur noch die letzten Kleinigkeiten müssen zusammengetragen werden. Dann fahre ich heute um 20 vor 17 Uhr mit dem Bus nach Berlin. Am Mittwoch beginnt mein Praktikum bei der BILD-Zeitung.

Anfang Oktober bin ich wieder in Hamburg, und beziehe dann gleich meine neue Wohnung, das heißt mein Zimmer in Altona. Auch dafür habe ich schon das Wichtigste zusammengeräumt.

Mit Mario ist alles sehr harmonisch, gerade jetzt in der letzten Zeit, und wir meinen, dass wir beide über alle Neuigkeiten hinweg zusammenbleiben werden.

Alles Liebe

Sonja

P.S.: Marios Familie habe ich zum Dankeschön hübsche Geschenke gemacht, u.a. einen Baum.

{Erhalten: 1993-09-01, Mittwoch, zu Hause}

1993-08-30, Montag

Am Montagabend war ich mit fast einer halben Stunde Verspätung am ZOB Berlin angekommen. Bis dahin hatte alles bombig gut geklappt. Alles auf die letzte Minute und unter so einem Stress, dass schon ich als 21-jährige an einen Herzinfarkt dachte.

Kaje (Kumpel) hatte mir beim Weg zum Poppenbütteler Bahnhof mit dem großen Koffer sehr geholfen. Ohne ihn wäre alles viel schwerer gewesen. Ich war sehr dankbar für das, was er für mich getan hatte. Ich denke, dass dieser kleine Abschied unsere Freundschaft wieder gefestigt hat.

Alles war also sehr stressig, aber es hat geklappt.