Impressum

Herbert Friedrich

In des Teufels Küche und andere Erzählungen

 

ISBN 978-3-96521-548-1 (E-Book)

 

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

Das Buch erschien 1978 im Kinderbuchverlag Berlin.

 

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

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BLASMUSIK

I

Große Kältewelle. Wölfe überfallen einen Personenzug in Rumänien. Hitler zum Reichskanzler ernannt!

Vondra las in der Zeitung, kaum dass er nach Hause gekommen war. Er musste kräftig blinzeln, um noch etwas von dem spärlichen Licht zu erhaschen, das zum Fenster hereinfiel. Die Frau sparte mit Elektrizität. Aber eine Suppe hatte sie ihm hingestellt, die nun kalt wurde, als Vondra in der Zeitung las. Dabei kam er aus der Kälte, von dem zugefrorenen Auenteich nämlich. Leicht war es da für ihn, sich den Personenzug vorzustellen, der in den Schneemassen steckengeblieben war, weit entfernt von jeglicher menschlicher Siedlung. Ein paar hundert Leute hocken darin. Und die Wölfe heulen. Er konnte sich hineinversetzen in die, die da vor Angst und Kälte bibberten, abgeschnitten von der Außenwelt, von Hunger und Frost und Raubzeug bedrängt.

Dann fing er doch an, seine Suppe zu löffeln hier in seiner kleinen Armeleuteküche, unter den fragenden Blicken der Frau, die so rasch die Zeitung vom Nachbar herzugeholt hatte, als sollte Vondra recht bald das von den Wölfen lesen. So aß er langsam, schluckte die Bohnensuppe und kam sich in dieser kleinen, abgewohnten Küche vor, als säße auch er in dem rumänischen Zug, hier in seinem Dorf Z. nahe der schönen Stadt D. im großen Deutschland. Und es war, als füttere er mit dieser Suppe seine Beklemmung. Die müden Augen hingen an dem Löffel, das Atmen war ihm schwer. Er regte sich nicht auf die Fragen seines Jungen, der ihm gegenüber in ein Heft zeichnete. Das Mädchen, in der Ecke, spielte mit der Puppe und wartete auf den Rest aus dem Topf. Und die Frau wusch Geschirr. Vondra saß mit in dem Zug, den die Wölfe umheulten. Denn Hitler war Reichskanzler geworden.

Er hatte es schon am Vormittag von Fischer gehört, als sie auf dem Auenteich das Eis herauswuchteten. Fischer hatte ein Radio, aber was ist ein ausgesprochenes Wort, doch nichts anderes als ein Hauch in den Wind. Erst jetzt, da Vondra es selber las, begann er es auch zu glauben. Das Schlimmste ist immer am schwersten zu begreifen.

„Wie war’s auf dem Teich?“, fragte die Frau. Er gab karg Antwort. Die Brechstangen waren kalt, und einen Finger hatte er sich gequetscht, der sich nun schwer beugen ließ, und er brauchte ihn doch für die Trompete. Er hörte alles nur halb, den kleinen Tratsch aus dem Haus, starrte auf den Fleck über dem Tisch, wo der Putz immer wieder aus der Wand fiel. Dreimal hatte er das Loch schon vergipst. Auf dem einzigen Fensterbrett standen die Zahnputzgläser, gegen die die Frau stieß, als sie die Gardine zuzog. Nun brannte über dem Tisch die Lampe.

Vondra bewegte trommelnd die Finger auf der Tischplatte, den gequetschten dazu, was nahezu unmöglich war. Das Mädchen mit den dünnen Zöpfen aß nun den Rest der Suppe. Der Junge hatte gezeichnet, was Vater im Winter macht, einen zugefrorenen Teich, aus dem man das Eis reißt, damit es in großen Felsenkellern den Sommer erlebt und dann Bier, Fleisch, Obst kühlen kann. Der Winter kann für einen Eisarbeiter nie kalt genug sein. Meist stand Vondra freilich vor der Stempelstelle. Da hätte der Junge eine Menschenschlange zeichnen müssen, die sich ein paar Groschen abholen will. 5 966 000 Leute hätte da der Junge zeichnen müssen, hätte er alle darstellen wollen. Denn so viel Arbeitslose gab es.

Vondra gab es auf, den gequetschten Finger zu trainieren. Er konnte nicht mehr Trompete spielen. Hitler war Reichskanzler geworden. Er griff einen Augenblick die Frau bei den Schultern, raffte dann die Gardine beiseite und sah in den dunklen Januarabend. „Bring die Zeitung zurück zu Lehmanns“, sagte er zu dem Mädchen und schaute sich die Zeichnung des Jungen an. Er fröstelte. Rumänien war weit, aber die Wölfe heulten.

Er ging in das Schlafzimmer, setzte sich auf ein Bett und öffnete den Schrank. Da stand die Trompete. Er nahm sie heraus, nahm sie auch aus dem Futteral; das Messing glänzte. Er setzte sie an, als wolle er blasen, die Finger lagen auf den Ventilen. Er saß ganz still. Er bewegte die Finger nicht.

„Geißler ist da“, sagte die Frau plötzlich hinter ihm. „Hast du es nicht klingeln hören?“ Er steckte die Trompete in das Futteral, ein wenig unangenehm berührt, dass ihn die Frau, die müde in der Tür stand, so hatte sitzen sehen.

„Ist gut, Gertrud“, murmelte er und ging in die Küche.

Geißler scherzte mit den Kindern. Dem Jungen zeichnete er Gesichter ins Heft, die alle so aussahen wie Geißler selbst: breite, viereckige Gesichter mit langen, schrägen Augenbrauen, über der mächtigen Stirn schwarzes, dicht gewelltes Haar. Vondra gab Geißler die Hand, und die Frau mit ihren unruhigen, geröteten Augen führte die Kinder hinaus, damit sich diese für die Nacht zurechtmachten.

Als die Kinder weg waren, lachte Geißler nicht mehr. „Du wirst es wohl gelesen haben“, sagte er voll verstecktem Grimm. Vondra nickte.

„Was wird nun mit dem Blasorchester?“, wollte Geißler wissen. Geißler war der Klarinettist. Bald würden der Beckenschläger kommen und die Paukenhauer und die Hörnerbläser und ihm die gleiche Frage stellen. „Du bist der Geschäftliche Leiter, Karl, du musst es wissen“, drängte Geißler.

Vondra faltete die Hände auf dem Tisch, wobei sein gequetschter Finger schmerzte. Red nur, Geißler. Was sollte werden … Freilich war er der Geschäftliche Leiter der elf Mann starken Truppe. Aber da war er noch viel. Zweiter Vereinsvorsitzender der „Freien Turner“ im Arbeiter-Turn-und-Sport-Bund war er, und Arbeitsloser und Ehemann und Vater, und Tscheche war er, hier mitten in Deutschland in der kleinen Gemeinde Z. am Rande der Stadt D. Und sein Geld stimmte nicht, und seine Frau hatte nichts von ihm, und den Kindern schaute der Hunger aus den Augen. Und sein Pass müsste verlängert werden, und dazu brauchte er einen Ausweis von den Behörden in Münchengrätz, was Mnichovo Hradiste hieß, weil es in der Tschechoslowakei lag. Und wenn es morgen taute, war es vorbei mit dem Eis auf dem Auenteich.

Vondra rieb sich die Nasenwurzel, jene Stelle, an der eine blaue Narbe anzeigte, wo ihn ein Stuhlbein getroffen hatte. Das hatte ein SA-Mann geschwungen, im Gasthof Brückner, als sich zum ersten Mal Nazis im Ort zeigten. Und an seinem Hinterkopf wusste er eine Stelle so groß wie ein Dreimarkstück, auf der kein Haar mehr wuchs. Dort hatte ihn vor drei Jahren im Eiskeller eine Eisplatte erwischt.

Auch da war er schon arbeitslos gewesen. Für vieles hatte er schon den Schädel hingehalten. Wie lange hielt sich Hitler?

Die Frau schob die Kinder herein, die lächelten verschämt in ihren langen Hemden und wünschten gute Nacht.

Dann setzte sich die Frau hinzu und wusste nicht, was sie reden sollte. Sie hatte oft schweigen und allein bleiben müssen, wenn das Blasorchester der Turner unterwegs gewesen war. Vondra beobachtete, wie sie sorgsam die Strümpfe des Jungen stopfte, und er liebte sie sehr und hätte ihr gern ein besseres Leben gegönnt. Und er sagte: „Die Instrumente müssen weg.“

Vielleicht freute das die Frau, dass ihr die Instrumente endlich aus den Augen kämen. Geißler stimmte lebhaft zu. Sie müssten wahrhaftig weg. Am liebsten hätte Geißler sie noch in dieser Nacht in Vondras Gartenlaube versteckt, was die Frau ängstigte und was kein Versteck war. Vondra hatte Mühe, ihm das auszureden. In dieser Nacht heulten die Wölfe. Wie wollte da einer von Genosse zu Genosse traben und die Instrumente einsammeln …

Tief in der Nacht erst ging Geißler, und Vondra spähte die Straße hinunter, ob sie frei sei. Da hörte er das Tauwasser von den Dächern tropfen.

II

Das Eis des Auenteiches war mürbe geworden. Der Mann vom Eiskeller schickte die Arbeiter nach Hause. Nie war das Vondra so gelegen gekommen wie an diesem Tage. Er ging durch die Aue, an der Mühle vorbei, den kleinen Berg hinauf in den Ort. Der Apotheker zog den Rollladen hoch, der Friseur stand in der Tür, der Malermeister, der Schneider hieß, trat aus dem Tabakwarenladen und nickte ihm zu. Und vielleicht gab es einen Schneider, der Maler hieß, und jeder kannte alle, und alle kannten Vondra mit dem Tenorhorn. Zu oft war er durch diesen Ort marschiert, mit Tschingtarabumbum. Es war sinnlos, die Instrumente zu verstecken.

Vondra ging dennoch bis zum Gasthof Brückner, wo wirklich einer mit Hakenkreuzarmbinde stand, und bog dann rechts in die Straße ein, die zur Stadt führte. Wenige Schritte hin, gegenüber dem Kino, lag das Kaufhaus. Es gab keinen Schnee mehr, es gab ein wenig Matsch und Pfützen. Vondra stapfte hindurch, auf das Kaufhaus zu, in seinen geflickten Arbeiterhosen. In der dicken Joppe wirkte er stärker, als er in Wirklichkeit war.

Er zog die Glastür auf, die auf Streusand schliff, und ging durch das Kaufhaus, unter den Käufern, schaute über das Glaszeug und die Bilderrahmen und Schrubber und Besen, die Heftstöße und Bleistiftkästen. Eine Treppe höher gab es Kleinmöbel und Taschen und Spielzeug. Und noch weiter oben Kinderwagen. Und irgendwie, als er so ging, war Vondra froh, dass das Kaufhaus keine Textilien führte. Da hätte jetzt Erich Winter auch Hakenkreuzfahnen verkaufen müssen.

Er fand den Winter-Erich im Hof, und der zog ihn mit in die Werkstatt, in der es Stäbe und Leisten gab und die Bilderrahmen genagelt wurden.

„Mach rasch, ich hab keine Zeit“, murrte Erich und begann Leisten abzuzählen, hörte dann aber auf, als Vondra mit der Sprache herausrückte: „Du musst uns helfen.“

Erich Winter runzelte die Stirn und nahm die Mütze ab, wobei man sah, dass sich sein Haar schon lichtete. Die von Fältchen umsponnenen Augen machten sein Gesicht heiterer, als er jetzt war. Vondra spürte, dass Winter tief in der Arbeit steckte. Das hätte er gern einmal auch von sich sagen wollen … Ein wenig Neid ergriff ihn.

Gerechterweise musste er zugeben, dass Erich Winter ihnen oft genug unter die Arme gegriffen hatte. Winter war der Sohn vom Chef des Kaufhauses, ein begabter Fußballer und als solcher bei den „Freien Turnern“, weil jene die beste Mannschaft in der Umgebung hatten.

„Ich kann euch jetzt nicht fahren“, erklärte Winter, „heute nicht und morgen nicht …“ Und in alle Ewigkeit nicht, amen.

Vondra setzte sich auf den blank geriebenen Werkstisch. „Du brauchst uns nicht zu fahren.“ Wie oft hatte Winter sie im Lieferauto des Kaufhauses transportiert, nach Lohmen und Quohren, in das Erzgebirge und an die Moritzburger Teiche. Tschingtara im Umkreis von fünfzig Kilometern. Manchmal, wenn Winter verhindert war, hatten sie auch die Räder genommen. Jedoch schleppe mal einer so die Pauke. Jetzt brauchten sie allerdings überhaupt nicht mehr auf Reisen zu gehen. Es ist aus mit der Kapelle, Winter.

„Du verkaufst so viel in deinem Laden“, sagte Vondra heiser und rutschte vom Tisch, „hast du nicht auch Posaunen und Trommeln auf Lager?“

„Wollt ihr euch eindecken?“, fragte Winter erstaunt.

„Du solltest sie auf Lager nehmen.“

Winter verstand ihn nicht.

„Unsere Instrumente“, erklärte Vondra.

„Ich soll eure Instrumente auf Lager nehmen?“

Die Kisten und Kasten, die Hölzer und Bretter, Verpackungen für Kinderwagen und Puppenstuben, tausend Dinge und Geramsch in den Schuppen und Lagern des Kaufhauses. Da verkrümeln sich doch so ein paar Instrumente.

Winter setzte sich die Mütze wieder auf, als er es endlich begriff. Leise sagte er: „Ihr seid alles gute Kerle. Und die Zeiten sind wirklich übel. Aber auch wir müssen durchkommen.“ Den jüdischen Geschäftsinhabern hatte die Zeit schon zerschlagene Schaufensterscheiben beschert und Sudeleien: „Kauft nicht bei Juden“; und Wachtposten in Uniform davor, Braunhemd und Schlips; Schlägertypen, die darauf achteten, dass wirklich niemand bei Juden kaufe. Das Kaufhaus Winter war nicht jüdisch, aber Vondra wusste, für Winter stand etwas auf dem Spiel, wenn er die Instrumente übernahm.

„Wenn sie’s entdecken“, redete Vondra dem Winter zu, „kannst du immer noch sagen, du hättest uns die Instrumente abgenommen, um sie zu verkaufen.“ Er hatte selber nicht viel Hoffnung, dass das einer von den Braunen glauben würde.

Winter ging wieder zu seinen Leisten, zählte und bündelte einen Stoß. Draht suchte er sich, wickelte den um das Bündel und drehte endlich mit der Kneifzange sorgfältig die Drahtenden zusammen. Als er fertig war, blickte er Vondra an. „Heute, eine Stunde vor Ladenschluss, da bring mir den Kram her.“

III

Vondra ging nach Hause. Aus dem einzigen Bauerngut im Ort, das seine Felder in der Aue hatte, drang das Muhen von Kühen. An dem Haus daneben war ein Laden vorgebaut. Hier gab es Porzellan. „Sei immer froh und wohlgemut, dann schmeckt dir auch der Kaffee gut“, stand auf einer Riesentasse. Vondra ging um den Laden herum, in das Haus hinein, die Treppe hinauf. Er klingelte an seiner Wohnungstür, aber die Frau machte nicht auf. Da suchte er den Schlüssel in der Tasche. Die Kinder waren in der Schule, die Frau wohl Brot holen. Vondra hätte jetzt gern Brot gehabt. Und Kaffee. Dann wäre er vielleicht wohlgemut gewesen. Er holte sich den Wäschekorb aus dem Abstellraum und ein paar Decken und war froh, dass die Frau nicht da war, weil es so keine Fragen gab. Aus dem Keller schleppte er den Handwagen herauf. Er zog sich auch eine leichtere Joppe an. Schließlich fuhr er mit dem Handwagen durch die Straßen.

Neben der Sparkasse, in einem Häuschen, was zurückgesetzt von der Straße zwischen Obstbäumen lag, wohnte Schmiedel. Schmiedels Frau schob ihm einen Stuhl zu, aber Schmiedel selbst ließ seine Laubsäge sein und ging mit ihm in den kalten, frostigen Garten und zeigte ihm, was an den Obstbäumen zu machen wäre, wenn nur der Frühling käme. „Ich hab schon auf dich gewartet“, flüsterte Schmiedel. Eine Viertelstunde später ging Vondra und hatte Schmiedels Tenorhorn im Wäschekorb auf dem Handwagen.

Er bog in die Lindenstraße ein und stellte den Wagen vor die Dachdeckerei. Bei Jähne, im zweiten Stockwerk des Mietshauses daneben, musste er zweimal klingeln und lange warten. Es roch nach Suppe im Treppenhaus. Er wäre gegangen, hätte er nicht ein Geräusch hinter der Tür gehört, als lauere da einer und wolle sich nicht verraten. Er klingelte noch mal, und es war fast Mittag, und dann öffnete Jähne doch, und dann hatte Vondra das zweite Tenorhorn.

Dann kam er bei seinem Garten vorbei, rollte den Handwagen den Gartenweg hinter und stellte ihn in der Laube ab. Die Kaninchen rumorten, als sei es schon Zeit für die Fütterung. Er steckte den Finger durch den Maschendraht und tippte der Häsin auf die Nase.

Ohne Wagen ging er bis zur Siedlung, aber bei Kubitz war keiner da, und drei Straßen weiter bei Jordan öffnete nur dessen Frau, und die wollte ihm die Posaune nicht herausgeben. Er verlegte sich aufs Bitten. Im Hause befand sich eine Bäckerei, der Duft von Gebackenem machte ihn fast betrunken, er musste dauernd den Speichel hinunterschlucken.

Unverrichteterdinge zog er ab, nunmehr zu Geißler, wo er gleichzeitig die Instrumente von Preußer und Böhme fand, Becken und Klarinetten. Das freute ihn sehr. Hier bekam er denn auch zu essen. Geißler spielte nicht auf das abendliche Gespräch an, während sie Hering und Brot aßen. Aber er war sichtlich froh, dass die Instrumente aus dem Haus kamen, als wären sie Sprengstoff gewesen. Geißler wusste von einem, bei dem sie schon Haussuchung gemacht hatten. Drei Autos fahren vor, da hast du’s. Und dann nehmen sie dich mit.

Vondra sagte sich, dass er dringend seine Wohnung säubern müsse, dringender, als hier mit den Instrumenten herumzuziehen. Er hatte noch ein paar Flugblätter in der Schublade liegen: „Macht Schluss mit der Naziseuche.“ Er war tschechischer Staatsbürger. Wenn sie die Blätter fanden, schoben sie ihn bestenfalls ab über die Grenze. Und schlimmstenfalls? Er wagte nicht, darüber nachzudenken.

Später, weit am Nachmittag, ging er noch einmal zu Kubitz, mit mehr Glück, und zu noch ein paar anderen, während ihm schon die Füße schmerzten und er müde war des Gerennes und froh über einen Stuhl, der ihm hingeschoben wurde. Der Hering stieß ihm auf.

Die meisten waren arme Teufel, ohne Arbeit. Zwei, drei nur standen in Lohn und Brot. Ihre Frauen händigten ihm gottlob die Instrumente aus, so dass er sich doppelte Wege sparte. Ganz am Ende, als es schon dunkelte, ging er noch einmal zu Jordan in die Siedlung, wo es so schön nach Bäcker gerochen hatte.

Er traf Jordan an, und Jordan holte die Posaune.

Jordan war einer der Jüngsten in der Kapelle, Anfang Zwanzig, ein kleiner, gedrungener Mann mit kurz geschorenem Haar und rundem Kopf, von einer gesunden Gesichtsfarbe, als sei er gerade aus dem sonnigen Süden, aus den Ferien gekommen. Ein guter Handballer war Jordan und ein gelernter Dreher, der nichts zu drehen hatte.

Jordans Frau lehnte am Fenster, die Hände über der Schürze gefaltet, solange Vondra in Jordans schiefer Küche stand. Jordan zog sich den Mantel über, als er mit der Posaune kam, und ging mit auf den Hof, als könne er sich noch nicht von der Posaune trennen. Wind blies, die Erde um die Aschengrube war aufgeweicht. Dann kamen sie auf die Straße. Jordan sagte: „Ich lauf ein Stück mit.“ Und Vondra dachte, dass es besser wäre, Jordan bliebe in seiner schiefen Küche. Aber er war schon zu müde. Plötzlich fiel ihm wieder der eingeschneite, von Wölfen bedrohte Zug in Rumänien ein; da hätte er gern gewusst, wie lange die Leute darin zugebracht hatten.

Jordan meinte: „Nimm’s meiner Frau nicht übel, dass sie dir heute Mittag das Instrument nicht gegeben hat.“ Also ging Jordan nur mit, um sich zu entschuldigen. „Wir bekommen ein Kind …“, verriet Jordan leise, da horchte Vondra auf, und er hatte nun fast Mitleid mit Jordan. Auch sagte Jordan: „Heute hätte ich bald eine Stelle bei Müller und Hanke gekriegt, Metallbearbeitung, vielleicht kennst du den Laden. Aber der Hanke, dieser krumme Hund, hat mich nicht genommen, weil ich nicht in der SA bin.“ So ist das, Heinz Jordan. SA zählt heutzutage, brauner Schlips und braunes Hemd und die Binde mit dem Hakenkreuz. Dann brauchte man sich nicht zu verstecken.

Die Kaninchen stießen gegen den Maschendraht, als Vondra den Wagen aus der Laube rollte. Da sagte er zu Jordan, der immer noch da war: „Dort liegt Heu.“ Und Jordan fütterte die Tiere.

„Du wirst doch nicht allein fahren“, meinte Jordan und packte mit die Deichsel. So liefen sie los, es war schon finster, und der Wind blies rau. Möglicherweise festigte er das Eis auf dem Auenteich. Der Handwagen ratterte. Wenn da einer den Spuren dieses klapprigen Handwagens gefolgt wäre, den lieben langen Tag, dachte Vondra, dann käme er von einem Mitglied der Kapelle zum anderen. Sollten sie. Wo sie wohnten, war ohnehin jedem bekannt. Wenn die Nazis nur nicht die versteckten Instrumente fanden …

An Brückners Gasthof versuchte Vondra, den Jordan-Heinz loszukriegen. Denn er wusste nicht, was Winter sagen würde, wenn er noch einen Mann mitbrächte. Jordan blieb auch am Kino zurück, mit guten Wünschen für die Fuhre, stellte sich hin und las die Reklame eines Weltkriegsfilms. Vondra hätte nun noch einen Umweg gehen können, war aber zu müde dazu. Dennoch fuhr er nicht direkt auf das Kaufhaus los, sondern erreichte es über den Hof des danebenliegenden Fahrradladens.

Er schlug den Kragen im Wind hoch und presste sich gegen die Tür der Leistenwerkstatt. Zäh überlegte er, was er seiner Frau erzählen könne von dem, was er heute gemacht hätte. Da kam Erich Winter schon an, ziemlich gehetzt. „Die Pauke und die Tuba sind noch im Sportheim“, seufzte Vondra, das schmeckte dem Winter-Erich wenig.

Sie versteckten die Instrumente im hinteren Lagerschuppen. Dann machte Winter den Lieferwagen klar, um den Rest aus dem Sportheim zu holen.

IV

Die Wochen gingen hin; Vondra blieb ohne Arbeit. Da hatte er Muße, Zeitungen zu lesen. Der rumänische Zug war längst aus dem Schneeland herausgefahren. Hier aber heulten die Wölfe. SA marschierte in Hamburg und Köln, schoss in Düsseldorf und Duisburg, brüllte „Fenster zu!“ in Hannover, ging gegen eine kommunistische Druckerei in Westfalen vor, drang in die „Rheinische Zeitung“ in Deutz ein, stürmte ein Barackenlager in Rheidt. Mit Stich- und Schlagverletzungen lagen ihre Opfer in den Krankenhäusern, hatten Kugeln in den Eingeweiden. Fünfzehn Nazis überfielen das kommunistische Lokal „Pappschachtel“ und töteten die Inhaberin. Vondra vernichtete die letzten Flugblätter, die er von der Reichstagswahl her noch daliegen hatte. Heilfroh war er, dass er die Instrumente in Sicherheit wusste. Natürlich war der Arbeiter-Turn-und-Sport-Bund mit seiner Abteilung „Freie Turner“ aufgelöst. Vondra mied die Freunde.

Manchmal, in seiner vielen freien Zeit, saß er auf dem Bett und öffnete den Schrank und schaute dorthin, wo die Trompete gestanden hatte. Dann tat er auch, als setze er sie an die Lippen, und blies die Backen auf und bewegte die Finger, wie wenn sie die Ventile niederzudrücken hätten. Er sah sich sitzen unter den Bäumen des Parks, beim großen Konzert. Die Fußspitze klopfte den Takt, und die Lippen vibrierten am Mundstück. Und leicht ließen sich die Ventile bewegen. Und rings saßen seine Freunde und hauten auf die Pauke, zogen die Posaune und ließen die Lyra klingeln. Und die Menge vor den Stühlen der Kapelle lauschte dem „Münchner Kindl“ und war im „Kahlenberger Dörfel“ und „In froher Gesellschaft“. Er sah sich auch marschieren, mit seiner Trompete, die Noten auf das Instrument geklemmt. Hinterher kamen die Turner, in prachtvollem Weiß, oder die Kinder zum Lampionumzug oder die Arbeiter am 1. Mai. Damit war sein Leben ausgefüllt gewesen in der langen Arbeitslosenzeit, Aufmärsche und Übungsabende und Fahrten mit dem Rad zwischen Erzgebirge und Lausitz, um mit hundert Institutionen das Auftreten des Orchesters zu vereinbaren. Seine Idee war es gewesen, aus dem einfachen Spielmannszug der Turner dieses Orchester aufzubauen. Geneckt hatten sie ihn, dass seine Liebe zur Blasmusik wohl mit seiner Heimat Böhmen zusammenhänge. Staroceska Musika, Walzer, Polkas und Märsche. Er konnte es nicht verleugnen, dass er böhmische Blasmusik liebte. Seine Eltern waren um die Jahrhundertwende aus Böhmen eingewandert, auf der Suche nach Arbeit. Vondra war schon hier geboren. Aber auch er war noch auf der Suche nach Arbeit. Er hatte als Kind Deutsch gelernt und als Erwachsener das Tschechische fast vergessen. Seine Kinder, sieben- und achtjährig, sprachen überhaupt nicht Tschechisch, und seine alte Mutter, die eine winzige Wohnung am Dorfplatz von M. hatte, konnte kein Wort Deutsch schreiben.

Schwierig, Vondra … Er summte einen Marsch, vor dem leeren Schrank, versuchte sich in Tschechisch, Tichou dedinou, Pozdrav z hvodzu, summte Marsch und Walzer und hatte keine Trompete.

V

Es ging schon in den Mai, als Vondra im Garten herumhackte, da kam Geißler zu ihm, der ehemalige Klarinettist, und sagte, die SA wüsste das von den Instrumenten. Vondra erschrak, doch war nicht mehr von Geißler zu erfahren. Da schaffte Vondra Hacke und Spaten in die Laube und schüttete noch das Unkraut aus dem Eimer auf den Komposthaufen. Geißler versicherte, der SA wäre bekannt, wo Vondra die Instrumente versteckt habe.

Als Vondra nach Hause kam, öffnete ihm überraschenderweise die Frau. Ihr Gesicht verhieß nichts Gutes. Sie musste ihn vom Fenster aus gesehen haben. „Da ist jemand für dich“, wisperte sie. Er spürte ihren warmen Atem.

In der kleinen Küche an dem Tisch, der gegen die Wand gerückt war, saß ein Mann, breitbeinig, die Hände auf den Knien. Mit einem Blick war es auszumachen: Braunhemd und Schulterriemen, Stiefel und Koppel. SA.

Der Kerl stand nicht auf, sondern drehte Vondra nur sein rotes, fleischiges Gesicht zu, schnaufte etwas und versuchte zu lächeln, was völlig misslang. „Der Herr des Hauses“, lärmte er. Vondra nickte, und der andere stellte sich vor: „Hauptsturmführer Funke.“ Höflich war das immerhin, und ein hoher Dienstgrad, ein sehr hoher sogar, vielleicht der höchste im Ort überhaupt. Vondra kannte sich da nicht aus, fühlte aber die hohe, zweifelhafte Ehre, die ihm da angetan wurde. Seine Frau war nicht mit in die Küche gekommen, und wo die Kinder waren, das wusste er nicht.

„Ich will es kurz machen“, sagte der Hauptsturmführer, „ich bin noch keine drei Monate im Ort, aber dass Sie ein feines Orchester hatten, das ist mir bekannt.“ Er redete gemächlich, als habe er Zeit, und Vondra starrte auf den vergipsten Fleck an der Wand und auf die Zahnputzgläser auf dem Fensterbrett. „Wir haben nichts gegen Sie“, äußerte der Braune am Tisch, „wenn Sie auch zweiter Vereinsvorsitzender einer nun verbotenen Organisation waren.“ Mit leisem Tadel sprach er über die „Freien Turner“, wie ein Lehrer, der seinen Schüler bei einer Ungezogenheit ertappt hatte. Er hatte viel übrig für den Sport. Wenn man turnt, macht man ja noch keine Politik, und wenn man Trompete schmettert, dann ist das noch kein Staatsverbrechen.

Der Hauptsturmführer legte seine kurzen Arme auf den Tisch und schaute Vondra aus wasserblauen Augen an. „Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten. Wir wissen, wo Ihre Instrumente liegen: im Schuppen vom Kaufhaus Winter.“

Vondra musste schlucken. Er hatte zu tun, sein Erschrecken zu verbergen, obwohl Geißler ihn doch auf diese Nachricht vorbereitet hatte.

„Wir könnten euer Blechzeug beschlagnahmen, wer wollte uns das verübeln. Die SA aber achtet Eigentum. Dabei könnte sie das halbe Kaufhaus Winter mitgehen lassen, weil dieser feine Herr euch gedeckt hat.“ Der Hauptsturmführer Funke redete lange, was die SA alles vermochte.

Vondra glaubte es unbesehen. Darüber hatte er genug erfahren. Während er innerlich bebte, fragte er sich aber, woher die SA Wind vom Versteck der Instrumente bekommen hatte. Das Hemd um den Hals wurde ihm eng. Er hätte es gern gesehen, wenn jetzt die Kinder hereingekommen wären, weil dann vielleicht der SA-Mann mit seinen versteckten Drohungen aufgehört hätte.

„Folgendes“, sagte Herr Funke. „Wir gestatten Ihnen, wieder zu spielen.“ Er weidete sich an Vondra, der so überrascht war, dass er sich mit an den Tisch setzte. Wieder spielen können …! Das hätte Vondra am wenigsten erwartet.

„Unter einer Bedingung“, machte Funke geltend. „Sie spielen für die SA.“

Da war es gut, dass Vondra saß. Er merkte, wie seine Knie weich wurden, und sah vielleicht erschrocken aus, denn der SA-Mann lächelte. Platzkonzert und Kinderfest und Sportleraufmärsche. Wer marschierte denn heute? SA marschiert mit ruhig festem Schritt. Da wurde zündende Musik gebraucht, damit Tritt gefasst werden konnte, Märsche, die in die Beine gingen, dass sie wie von selbst liefen und die Strapazen nicht spürten. Trompetengeschmetter, das die Leute an die Fenster rief. Da, seht die braunen Bataillone, die Sturmabteilungsmänner, die Kämpfer für das Dritte Reich!

Vondra fühlte das Blut am Hals klopfen; sagen konnte er nichts.

„Wir mieten das Orchester“, lärmte Funke, „wir bezahlen euch, so wie ihr von anderen Vereinen bezahlt worden seid. Denken Sie nach. Ihre Antwort erbitte ich bis Mittwoch in meine Geschäftsstelle.“ Der Hauptsturmführer schritt hinaus, bevor Vondra vom Stuhl hochgekommen war.

VI

Sie trafen sich in Schmiedels Garten; die Tage waren lang, und Schmiedels Apfelbäume standen in voller Blüte. Wäre Vondra ein Maler gewesen, dann hätte er nun blühende Apfelbäume gemalt. Diese Bäume erinnerten ihn daran, dass sie hier immer die wichtigsten Einsätze besprochen hatten, das Gartenkonzert auf der Elbterrasse, wo ebensolche Bäume standen, das Frühkonzert auf dem Lugturm, von dem man weit das Elbtal überschauen konnte, das zu dieser Jahreszeit ein einziger blühender Garten war.

Und nun hatte er ihnen zu sagen, dass sie für die SA zu marschieren hätten. Jähne blickte böse und Preußer nachdenklich, und Böhme kochte vor Zorn, und Geißler fragte bissig, wieso sie über einen solchen Vorschlag überhaupt erst diskutieren müssten, und Jordan blieb still wie immer, und Kubitz versuchte einzulenken.

Allen war aber klar, wie raffiniert das die SA eingefädelt hätte. Wenn sie sich weigerten, hatte das Kaufhaus Winter Scherereien zu erwarten. Hauptsturmführer Funke aber war klug. Was nützten der SA die Instrumente? Hatte sie die Spieler dazu, verfügte sie sofort über ein einsatzfähiges Orchester. Sonst jedoch hätte sie erst Leute ausbilden müssen.

Sie berieten erregt, unter dieser Pracht von Bäumen, die Schmiedels ganzer Stolz waren. War es wirklich so schlimm, wenn sie für die Nazis auf die Pauke hauten, ins Horn stießen, ihre Märsche bliesen? Sie könnten wieder öffentlich spielen; das vor allem erschien Preußer verlockend. Und Kubitz zählte die Regierungen auf, die es nach dem Weltkrieg in Deutschland schon gegeben hätte, also in vierzehn Jahren, da kam er auf zwanzig. Hitler – die zwanzigste deutsche Nachkriegsregierung! Na, Leute, wie lange wird er sich denn halten? Ihr wacht eines Morgens auf, und der braune Spuk ist vorbei. Die Regierung Schleicher, vor Hitler, hat sich keine acht Wochen gehalten! Durchzustehen galt es nur, Zeit zu überbrücken, eine kleine Weile Geduld. Man musste ein wenig mitheulen mit den Wölfen, damit sie einen nicht gerade auffräßen, solange sie noch ihre Reißzähne hatten.

Vondra nahm verwundert wahr, wie sich der und jener schon anfreundete mit dem Gedanken, wieder einmal mächtig zu blasen. Und sei es für die! Gut bezahlen müsste man sich freilich lassen. Und man könnte doch dann auch dem alten Jähne zur Silberhochzeit ein Ständchen bringen. Na, Jähne, wäre das was? Wie viel Jährchen hockst du schon bei deiner Alten? Hitler hält sich nicht einmal ebensoviel Monate. Und Kubitz wusste vom Flaschengroßhandel Börner, dass der ein Bierzelt auf der Vogelwiese, dem großen Rummel, aufstellen wollte und eine Kapelle für Unterhaltungsmusik brauchte.

„Ohne mich“, fluchte Geißler, „all dies ohne mich.“ Und am Ende ging Geißler, und Vondra ließ abstimmen, da stimmten alle dafür, für die Nazis zu spielen.

VII

Zehn Tage später, an einem warmen Junisonntag, standen sie in ihren weißen Jacken und Hosen auf dem Hof von Gasthof Brückner, Vondra war sich im Klaren, dass jeder sein Instrument besonders geflimmert hatte; ein wunderschöner Tag, als sei es ihnen zum ersten Mal anvertraut. Ein kleiner Trupp waren sie nur, zehn Mann. Geißler fehlte, aber eine Klarinette weniger fiel nicht ins Gewicht. Und es war gut, so zu stehen und den anderen neben sich zu spüren, auch wenn sie nur zehn waren; für Geißler fände sich gewiss ein anderer.

Vondra blickte Jordan an und lächelte. Scheußlich war es gewesen, so allein durch die Straßen zu gehen, weiß gekleidet und damit unterschieden von den gewöhnlichen Passanten. Die Schirmmütze hatte Vondra in die Stirn gezogen, und sein Junge hatte gefragt, ob er mitkönne, nebenherlaufen neben der schönen Musik. Aber nun hier am Gasthof, da die anderen da waren, im Trupp, fühlte man sich stärker.

Da kamen die von der SA schon anders an, gestiefelt, mit herausgedrückter Brust, mit Gelächter und kräftigen Ausdrücken. Das lärmte immer mehr hinter dem kleinen Trupp herum, von dem jeder tat, als sei er mit seinem Instrument beschäftigt.

Kommandos hallten, die SA trat an, formierte sich zu einem Marschblock. Sechzig Mann waren es ungefähr. Jener, der die Befehle schrie, hatte vor nicht langer Zeit in Vondras Küche gesessen.