BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Manuel Prieto/Norma
E-Book-Produktion:
César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-3398-5
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Cimarron Johnny
1
Irgendwann macht jeder Mann einmal einen Fehler, und selbst ein mit allen Wassern gewaschener Bursche wie Cimarron Johnny ist nicht dagegen gefeit.
Der Tag war heiß und staubig. Und der Fluss, an den er kam, weitete sich zu einem kleinen See. In der Mitte war eine Sandbank, und das Wasser schien so klar und herrlich frisch.
Jetzt ist es erbärmlich kalt. Aber das liegt daran, dass Johnny schon zu lange darin hockt.
Er hätte kein Verlangen nach einem erfrischenden Bad haben dürfen – oder besser gesagt: Er hätte diesem so menschlichen Verlangen nicht nachgeben dürfen. Denn als er sein Pferd, seine Kleidung und sogar seinen Revolver am Ufer ließ, um in dem herrlichen Wasser zu schwimmen, beging er einen großen Fehler.
Es kam ein Reiter. Doch der Reiter war kein Mann, sondern ein Mädchen.
Deshalb hockt Johnny nun schon so lange im Wasser. Die Reiterin hält am Ufer und hat es sich im Sattel bequem gemacht. Sie wartet geduldig, und das seit einer ganzen Weile. Sie lässt Johnny, von dem nur der Kopf zu sehen ist, nicht aus den Augen.
Nach einer Weile sagt Johnny: »Madam, wenn Sie es vielleicht noch nicht wissen sollten: Ich bin ein nackter Mann.«
»Das weiß ich«, sagt sie, und obwohl ihm immer kälter wird, stellt er fest, dass ihre Stimme sehr melodisch ist, etwas dunkel und kehlig, aber melodisch. Die Stimme passt zu ihr. Dieses Mädel ist eine Wucht, das dachte Johnny am Anfang bei ihrem Erscheinen.
Jetzt findet er sie nur noch lästig. Weder ihr erfreulicher Anblick noch ihre melodische Stimme können ihn erwärmen. Er beginnt allmählich, mit den Zähnen zu klappern.
»He«, sagt er, »wenn Sie wissen, dass ich nackt bin, warum halten Sie sich denn dann hier auf? Ich will raus aus dem Wasser! Ich friere! Und wenn Sie jetzt nicht sofort beiseite reiten, dann komme ich raus!«
Sie nickt. »Dann wird Ihnen noch kälter werden«, sagt sie. »Es wird bald Nacht. Bis zur nächsten Stadt sind es mehr als zwanzig Meilen. Vielleicht wird Ihnen warm, wenn Sie ein Stück laufen.«
»Oh«, sagt er, »wenn ich mich angezogen habe, werde ich schon nicht frieren.«
»Das ist es ja«, erwidert sie spöttisch. »Sie werden sich nicht anziehen können, denn ich nehme Ihnen das Pferd und die Kleidung weg. Ich habe mir unterwegs immer überlegt, wie ich Sie bestrafen könnte. Dass Sie es mir so leicht machen würden, hätte ich nicht zu hoffen gewagt. Um einen Irrtum zu vermeiden: Sie sind doch Cimarron Johnny?«
»Ich bibibin Johnny Lane«, sagt er und klappert mit den Zähnen. »Mamaman nennt mich Cimarron Johnny, Madam. Aber was soll das?«
Sie lächelt blitzend, doch es ist ein verächtliches Lächeln. Sie wirkt sehr stolz und unnachgiebig.
»Ich bin Liz Bannon. Sie haben in Deadwood meinen Bruder bis aufs Hemd ausgeplündert«, sagt sie böse. »Man hat mir gesagt, dass Sie meinen Bruder Gil Bannon zuerst betrunken machten, um ihm dann beim Kartenspiel leichter das Geld abnehmen zu können. Zuletzt verlangten Sie sogar noch, dass er seine Hose einsetzte …«
»Ich gab diesem Narren eine Chance«, sagt Johnny eilig. »Aber er verlor sogar seine Hose an mich. Er …«
»Unser Vater hatte ihn nach Deadwood geschickt. Er sollte dort eine kleine Herde verkaufen«, unterbricht sie ihn. »Er hatte diesen ersten selbstständigen Auftrag auch fast durchgeführt und erfüllt – bis er Ihnen in die Hände fiel. Sie haben ihm mit Kartenspielertricks dreitausend Dollar, sein Pferd und sogar seine Hose abgenommen. Leider erfuhr ich zu spät davon. Ja, ich war auch in Deadwood! Ich konnte nur noch Ihre Fährte aufnehmen, Mister. Und jetzt mache ich es mit Ihnen genauso wie Sie mit meinem Bruder.«
Nach diesen Worten wendet sie ihr Pferd, nimmt Johnny Lanes Tier an den Zügeln mit und reitet davon. Am Sattelhorn von Johnnys Pferd hängen seine Kleider, die Stiefel und der Waffengurt mit dem Colt.
»Sie schwarzhaarige Hexe, das können Sie doch nicht tun! Sie können mich doch nicht einfach nackt in der Wildnis zurücklassen!«
Da hält sie noch einmal an und ruft über die Schulter zurück: »Sie wissen ja gar nicht, was Sie angerichtet haben, Sie Kartenhai! Mein Bruder hat bei seinem Vater jetzt die allerletzte Chance ver-«
Sie bricht ab, treibt ihr Pferd an und reitet weiter. Cimarron Johnny aber sitzt noch einige Sekunden still im Wasser.
Er glaubt, dass sie sagen wollte: »Mein Bruder hat bei seinem Vater jetzt die allerletzte Chance vertan oder verspielt«. So ähnlich wollte sie es bestimmt ausdrücken, das ist sicher …
Fluchend steigt er aus dem Wasser. Er ist splitternackt wie damals Adam im Paradies. Im letzten Licht der roten Abendsonne kann man erkennen, dass sein prächtig gewachsener Körper blau gefroren ist. Johnny ist ein Mann von etwa sechs Fuß Größe und neunzig Kilo Gewicht.
Sein Körper ist gebräunt – ein Zeichen, dass er ihn oft unbekleidet der Sonne aussetzt. Schwimmen in Flüssen gehört offenbar zu seinem besonderen Vergnügen.
Man kann aber auch einige Narben entdecken, die Zeichen eines gefahrvollen Lebens.
Er schüttelt sich wie ein Hund und fragt sich, was er jetzt tun soll.
Oh, er erinnert sich gut an den wilden, großspurigen, betrunkenen Burschen, der sich gestern in die Pokerrunde einkaufte, zu der auch er, Johnny Lane, gehörte. Doch zuletzt war es nur noch ein Spiel zwischen Gil Bannon und ihm. Ja, er hatte ihm eine Lektion erteilt – nicht zuletzt deshalb, weil er erfuhr, dass es sich um den Sohn eines reichen Ranchers handelte.
Er nahm ihm auch die Hose ab. Das gehörte zu der Lektion. Doch er hatte ehrlich gespielt, hatte seinen eigenen Einsatz genauso riskiert wie Gil Bannon.
Und dann folgte ihm also Gil Bannons Schwester und holte ihn hier ein.
Ein tüchtiges Mädchen, sehr selbstständig und eine erfahrene Reiterin.
Er weiß plötzlich, dass sich ihr Bruder nach der Ernüchterung etwa genauso fühlte wie er jetzt: nackt, jämmerlich, zurechtgestutzt, ratlos, verbittert und wütend.
Bis zur nächsten Stadt sollen es etwa zwanzig Meilen sein.
Er begreift, dass er sich auf den Weg machen muss. Und was dann?
Was kann ein nackter Fremder in der Stadt bekommen – ein Mann, der kein Pferd, keine Waffe – einfach nichts hat, gar nichts?
»Wenn ich dieses Mädel erwische«, knirscht er, »dann …«
Oh, er wüsste auf Anhieb gar nicht zu sagen, was er mit ihr machen würde.
»Zum Teufel, so was ist mir noch nicht passiert!« Er brüllt es in den Abend hinein, und aus einem nahen Busch bricht kreischend ein großer Vogel, den er erschreckte. Das Kreischen des Vogels klingt wie ein höhnisches Gelächter.
Johnny trabt los, und er trabt Stunde um Stunde und legt Meile um Meile zurück. Er besitzt die Ausdauer und Zähigkeit eines Apachen der Arizonawüste.
Doch der staubige Wagenweg, dem er folgt, wird manchmal auch steinig, und es gibt Dornen am Rande. Seine Füße sind schon bald in einem schlimmen Zustand.
»Ich werde diesem Mädel den Hintern verhauen, dass es eine Woche nicht mehr sitzen kann!«, brüllt er wütend in die Nacht.
Als er zehn Meilen gelaufen ist, sieht er ein Licht, das offenbar zu einer Farm oder Ranch gehört, vielleicht auch zu einer kleinen Siedlerhütte.
Johnny Lanes Füße sind aufgerissen und wund.
Er hinkt vom Wagenweg auf einem schmalen Pfad zum Licht hinüber.
Es ist eine kleine Farm, also ein Anwesen, das schon aus den Anfängen einer Siedlerstätte heraus ist. Die Farm besteht aus einem Wohnhaus, um das sich eine Scheune, ein Stall, irgendwelche Anbauten, Corrals und Weidekoppeln gruppieren.
Natürlich gibt es auch einen eingezäunten Obst- und Gemüsegarten. Johnny Lane schlägt einen Bogen und nähert sich der Scheune. Er möchte wirklich nicht als nackter Adam an die Tür des Wohnhauses klopfen. In solchen Scheunen hängt oft irgendwelche Arbeitskleidung herum.
Er hat sich nicht getäuscht. Zehn Minuten später ist er mit einem geflickten Hemd und einer alten Hose bekleidet. Seine schmerzenden Füße stecken in Stiefeln, die ihm zwei Nummern zu groß sind.
Als er die ersten Schritte macht, wird ihm klar, dass er in diesen Stiefeln mit seinen wunden Füßen nicht laufen kann. Er zieht sie wieder aus und geht zu einem der Tränktröge bei den Weidekoppeln. Dort setzt er sich auf eine Stange der Umzäunung und stellt die Füße in das Wasser.
Das tut gut! Er sitzt lange und kühlt seine Füße. Drüben beim Haus brennt immer noch Licht. In dem dunklen Winkel, den Stallungen und Scheune bilden, sind Pferde. Er hört und sieht sie schwach, und er glaubt, dass es sich um Sattelpferde handelt.
Also ist dort drüben im Haus Besuch.
Johnny Lane traut sich immer noch nicht, hinzugehen und an die Tür zu klopfen. Er hat sich doch die alten Kleidungsstücke aus der Scheune genommen. Er bezweifelt, dass man dafür Verständnis haben wird. Vielleicht hätte er doch lieber nackt an die Tür klopfen sollen. Doch wenn eine Frau geöffnet hätte …
Zum Teufel, denkt er, immer macht man etwas falsch! Immer gibt es jemanden, dem man es nicht recht macht. Er entschließt sich, seinen Weg fortzusetzen, so schwer es ihm auch fällt.
Plötzlich hört er Reiter kommen. Er handelt rein instinktiv. Als die Reiter so nahe sind, dass sie ihn hätten sehen können, kauert er schon hinter dem Tränktrog, der ihm gute Deckung gibt.
Die Reiter halten dicht neben ihm an. Er glaubt schon, dass sie ihn bemerkt hätten, will sich erheben und ihnen sagen, sie sollten sein Versteckspiel nicht missverstehen, als er feststellt, dass sie von seiner Anwesenheit keine Ahnung haben.
Es sind vier Reiter, und einer sagt hart: »Also los, Sturges! Jetzt wollen wir anfangen! Spiel deine Rolle, für die du angeworben wurdest! Los! Und keine Sorge. Wir halten hier unsere Gewehre bereit. Es kann dir nichts passieren. Wir können von hier mit unseren Gewehren durch die Tür und durch alle Fenster ins Haus schießen. Spiel nur deine Rolle richtig!«
»Ha«, macht dieser nur. Er reitet allein weiter über den Hof bis vor die Haustür, hält sein Pferd an und ruft laut: »Hoiii, Wellman! Frank Wellman! Kommen Sie heraus! Ich habe mit Ihnen zu reden, Frank Wellman!«
Es dauert etwa eine halbe Minute, dann geht die Tür auf.
Ein Mann tritt heraus, dem mehrere Männer folgen.
Sie bilden vor dem Haus eine Gruppe. Alle – auch der Reiter, den die anderen »Sturges« nannten – sind im herausfallenden Lichtschein gut zu sehen; der Reiter sogar noch besser als die Männergruppe, weil er dem Licht zugewandt steht. Er ist ein großer, massiger, knorriger Mann mit einem grauen Vollbart. Er trägt einen sehr großen Stetson, dessen Krone oben spitz ist und einen ganz besonderen Kniff aufweist. Sein Pferd ist ein Rappe mit weißen Fesseln.
Dieser Reiter sagt nun mit rauer Stimme in der Sprechweise eines Texaners: »Wellman, ich habe Ihnen gesagt, was ich tun werde, wenn Sie Schafe ins Land bringen. Ich habe es Ihnen gesagt, nicht wahr?«
Es ist still – unheimlich still. Der Rappe ist nervös und beginnt leicht zu tänzeln.
Dann sagt eine andere Männerstimme: »Zur Hölle mit Ihnen, Jim Bannon! Ich lasse mir von Ihnen nicht vorschreiben, ob ich Schafe …«
Weiter kommt er nicht.
Sturges, der von dem Sprecher Jim Bannon genannt wurde, zieht plötzlich einen Revolver. Er zieht ihn schnell und glatt wie ein Revolverheld. Und er schießt auch sofort.
Immer noch schießend, reißt er den Rappen herum und reitet in die Nacht zurück.
Die Männer rannten auseinander, warfen sich zu Boden oder sprangen ins Haus zurück. Zwei von ihnen begannen zu schießen, doch es ist zu spät.
Die Reiter, die dicht neben Johnny Lane halten, reiten langsam an und verschwinden ebenfalls in der Nacht.
Johnny Lane kauert noch eine volle Minute beim Tränktrog und sieht hinüber zum Wohnhaus.
Dort blieb ein Mann am Boden liegen. Es ist offensichtlich der, der zuerst herauskam und von dem bärtigen Reiter mit Wellman angeredet wurde.
Er scheint tot zu sein.
Eine Frau kommt aus dem Haus und kniet bei dem Mann nieder. Die anderen stehen ratlos herum.
Plötzlich ruft einer von ihnen heiser und schrill: »Das war glatter Mord! Ihr habt es alle gesehen! Das war Jim Bannon! Er schoss auf Frank Wellman, obwohl Frank unbewaffnet war! Ihr könnt es alle bezeugen, dass …«
Johnny Lane hörte nicht lange zu.
Er hat begriffen, was hier geschah. Es ist so einfach zu begreifen.
Die Männer dort drüben sind Farmer und Siedler. Und einer von ihnen – Frank Wellman – hat Schafe ins Land gebracht. Doch zuvor war ihm von einem Jim Bannon gedroht worden. Jetzt war Jim Bannon gekommen und hatte ihn erschossen.
Das alles war leicht zu begreifen.
Aber da sind noch zwei andere Dinge.
Jim Bannon war von den drei Reitern, die ihn begleiteten und sich dann im Hintergrund hielten, Sturges genannt worden.
Bannon? Dieser Name ist Johnny Lane bekannt. Er hatte in Deadwood mit einem Gil Bannon gespielt, dessen Schwester ihn dann so bestrafte, dass er jetzt in der Klemme sitzt.
Johnny Lane hält es für besser, nicht länger über diese Dinge nachzudenken. Er macht sich lieber auf die Socken. Aber leider besitzt er keine Socken. Und barfuß in zwei Nummern zu großen Stiefeln zu laufen, ist eine schlechte Sache.
Aber was will er machen?
Er ist überzeugt, dass es notwendig ist, möglichst schnell viele Meilen zwischen sich und diesen Ort zu bringen.
Schließlich wurde er Zeuge, wie ein Mann, der Sturges genannt wurde, als Jim Bannon auftrat und einen Farmer erschoss.
Entweder gibt es einen Sturges und einen Bannon, die sich so ähnlich sehen, dass man sie verwechseln kann – oder Sturges und Bannon sind eine Person.
Johnny Lane will damit nichts zu tun haben.
Er möchte viel lieber sein Pferd, seine Kleidung, seinen Revolver und das Geld, das sich in seinen Taschen befand.
Er war kein armer Bursche, als er Deadwood verließ. Dieses verrückte Mädel hat ihn ausgeplündert. Nachdem er etwas mehr als eine Meile gelaufen ist, hat er großes Glück.
Von links stößt ein Weg auf die Poststraße.
Und auf diesem Weg kommt ein Wagen. Es ist eine Kutsche von jener Art, die von Ärzten oder Familien bevorzugt wird, wenn sie über Land oder zur Stadt fahren wollen. Die Kutsche hat ein Lederverdeck, das hochgeklappt ist. Ein Mann sitzt auf dem Fahrersitz; wahrscheinlich döst er vor sich hin. Das Pferd kennt den Weg sicher von selbst.
Johnny Lane gleitet hinter dem Gebüsch hervor, als die Kutsche an ihm vorbei ist. Er muss etwa zehn Schritte laufen und kann sich dann auf den kleinen Gepäckträger setzen und sich rechts und links an den Ledergehängen festhalten.
Manchmal hört er den Mann vor sich schnarchen. Dann schnaubt das Pferd unwillig. Der Mann erwacht jedes Mal und brummt immer wieder: »Schon gut, Lizzi! Schon gut! Du kennst doch den Weg! Lass den alten, guten Doc ruhig schnarchen! Warum gönnst du mir das Schläfchen eigentlich nicht? Die Daltons haben Zwillinge bekommen, und ich habe der guten May dabei geholfen. Das war keine leichte Arbeit! Warum soll ich nicht schlafen? – Du kennst doch den Weg, Lizzi!«
Johnny Lane grinst. Es handelt sich also um einen alten Doc, der zu einer Geburt geholt worden war. Gewiss hat ihn nachher der glückliche Vater zu ein oder zwei Gläschen überredet.
Aber wenn der Gaul den Weg kennt, warum sollte da ein alter, müder Arzt nicht schlafen?
Johnny Lane hält es acht Meilen auf dem Gepäckträger aus. Dann sieht er, links an der Kutsche vorbeiblickend, die Lichter einer kleinen Stadt vor sich. Es muss nun schon zwei Stunden nach Mitternacht sein. Aber die kleine Stadt schläft immer noch nicht.
Johnny Lane hat Hunger wie ein Wolf nach einem langen Blizzard, als er sich vom Wagen schwingt und das letzte Stück zu Fuß gehen will.
Aber wo kann ein Mann in seiner Situation etwas Essbares bekommen?
2
Vor dem Mietstall hängt eine Laterne und wirft schwaches Licht über den Hof bis zur Einfahrt an der Straße.
Johnny bleibt stehen und überlegt, ob das Mädel sein Pferd und die anderen Sachen vielleicht im Mietstall abgegeben haben könnte. Doch er glaubt es nicht.
Um herauszufinden, ob sein Apaloosa-Wallach doch im Mietstall ist, stößt er einen besonderen Pfiff aus und wiederholt ihn nach einer Viertelminute.
Er weiß, dass sein Apaloosa jetzt wiehern würde, wäre dieser dort im Stall.
Er seufzt und trottet weiter. An der nächsten Ecke stößt er auf einen Mann, der ihn sofort scharf fragt: »He, haben Sie eben gepfiffen?«
Johnny betrachtet den hageren Burschen. Dieser ist noch eine Kleinigkeit größer als er, ist wie ein Cowboy gekleidet und trägt einen Stern. Sein Colt hängt sehr tief, und seine ganze Haltung ist betont lässig, eine Spur zu lässig.
Johnny mochte solche Burschen noch nie. Es sind zumeist eitle Gecken, die sich dauernd einbilden, auf einer großen Bühne zu stehen und dort die Bombenrolle eines Alleskönners zu spielen.
»Ja«, sagt Johnny, »ich habe gepfiffen. Ich suche mein Pferd.«
Der Sheriff betrachtet ihn aufmerksam, soweit das bei der schwachen Beleuchtung möglich ist. »Ich werde dich einsperren, du Tramp«, sagt er plötzlich. »Ein Kerl, der so aussieht wie du, der hat noch nie ein Pferd besessen. Ich habe selten einen so abgerissenen Strolch gesehen. – Wo kommst du her? Wie ist dein Name?«
Er fragt es scharf, und unter der so deutlich zur Schau gestellten Lässigkeit lauert nun seine Wachsamkeit.
»Lane, Johnny Lane, Sir«, sagt dieser gefügig. »Ich habe einen Zeugen, dass mir zwanzig Meilen von hier das Pferd geklaut wurde, als ich gerade im Fluss badete. – Es könnte doch sein, dass jemand mein Pferd hier in der Stadt …«
Weiter kommt er nicht, denn nun fährt ein Wagen in die Stadt, den einige Reiter wie eine Eskorte umgeben. Einer der Reiter kommt herüber bis an den Plankengehsteig und beugt sich aus dem Sattel. Er beachtet Johnny Lane gar nicht, sondern wendet sich an den Sheriff und sagt: »Jetzt werden Sie etwas tun müssen, Deputy! Frank Wellman wurde von Big Jim Bannon aus dem Haus gerufen. Er ging waffenlos hinaus. Wir alle waren bei ihm und folgten ihm auch nach draußen. Dort saß Big Jim Bannon auf seinem schwarzen Pferd. Er schoss Frank Wellman nieder. Wir sind Zeugen. Frank Wellman lebt noch, aber vielleicht nicht mehr lange. Gehen Sie hin, Jesse Lee! Lassen Sie sich von ihm sagen, wer ihn niederschoss! Und dann werden Sie Big Jim Bannon verhaften müssen, oder nicht?«
Die beiden letzten Worte fragt der Reiter lauernd. Er ist kein Rindermann, sondern ein Farmer. Dies erkennt man an seiner Kleidung, an seinem Pferd und an seiner ganzen Art.
»Wir sind auf dem Weg zum Doc. Wir haben den Wagen voll Stroh gefüllt und Frank weich gebettet. Vielleicht kann der Doc ihm helfen. Kommen Sie, Deputy Sheriff!«
Er reitet an, folgt dem Wagen und den anderen Männern, die weiter in den Ort fuhren und vor einem Hause anhielten.
Johnny Lane betrachtet den Hilfssheriff. Dieser hat ihn vergessen, beachtet und sieht ihn gar nicht mehr. Er hat jetzt gewiss größere Sorgen und keine Zeit mehr, seine ganze Macht einem Tramp zur Schau zu stellen.
Er eilt davon, und er flucht dabei laut vor sich hin.
Johnny Lane überlegt, was er tun soll.
Sein Magen knurrt vernehmlich. Er fühlt sich in dem alten, schäbigen Zeug nicht wohl. Sicher zog der Mann, dem diese Lumpen gehörten, sie immer dann an, wenn er die Ställe ausmistete und Dung auf seine Äcker streute.
Dann fällt ihm ein, dass die Sachen wahrscheinlich Frank Wellman gehörten, der niedergeschossen wurde. Ob jemand die Fetzen wiedererkennt?
Er muss etwas unternehmen. Er muss etwas tun.
Schräg gegenüber ist ein Saloon. Vielleicht ist es der einzige Saloon der Stadt. Er ist ziemlich groß.
Auf der Veranda hängt eine Lampe. Sie beleuchtet ein Schild und drei Glocken. Auf dem Schild kann man lesen, dass es der Three Bells Saloon ist.
An den Haltestangen sind Pferde angebunden. Zwei leichte Wagen stehen in der Nähe.
Es sind also noch Gäste im Saloon.
Johnny Lane geht näher heran, betritt die Veranda und späht über die Doppelschwingtür in den großen Raum hinein.
Einige Gäste stehen am Schanktisch. In der Ecke sitzt eine Pokerrunde beisammen. Auf der anderen Seite gibt es ein Podium, auf dem ein Klavier steht – verlassen und vergessen.
Johnny Lane stößt die Tür auf und tritt ein.
Alle beachten ihn. Wahrscheinlich hörten sie schon, dass man einen angeschossenen Mann in die Stadt brachte, und glauben wohl, es käme jemand mit neuen Nachrichten.
Und nun sehen sie diesen Tramp.
Ja, sie müssen ihn für einen Tramp halten.
Der Mann hinter der Bar ist dunkel wie ein Indianer, scharfgesichtig und erfahren. Ein Mann, der gewiss schon hinter vielen Bars stand oder an Spieltischen saß, bevor er sich hier selbstständig machte.
Dass er kein angestellter Barkeeper ist, darauf deutet seine Kleidung hin.
Johnny Lane sieht nur diesen Mann an, als er an den Schanktisch tritt. Doch er fühlt die Blicke alle Anwesenden auf sich. Sogar die Pokerrunde in der Ecke schaut herüber.
»Vielleicht haben Sie eine Arbeit für mich?«, fragt Johnny. »Ich bin abgebrannt. – Wenn ich mir dort vom Freiimbisstisch einige Happen nehmen könnte …«
Er verstummt verlegen. Ihm fällt das Betteln schwer. Dennoch bettelt er lieber, sonst bliebe ihm eigentlich nur ein Diebstahl übrig. Ja, wenn man hier zu Tramps hart ist, bleibt nur ein einziger Weg: Johnny Lane muss dann stehlen.
Der Mann hinter der Bar betrachtet ihn immer noch. Sein Blick richtet sich einen Moment auf einen Flicken an Johnnys Hemd. Es ist ein blaues, verblichenes, verschwitztes und fadenscheiniges Hemd. Doch der Flicken an der Schulter ist von neuem, gutem Stoff, sehr viel dunkler und auffällig.
»Ich brauche keine Arbeitskraft«, sagt der Wirt langsam. Seine Stimme klingt sehr gelassen. »Aber Sie können sich ein paar Happen nehmen.«