»Die Prophezeiung erfüllt sich. In einer nahen Zukunft ist all dies bereits geschehen«, raunt sie heiser. »Ich sehe es, als passierte es in diesem Moment.«
Seit Minuten starrt die Hexe in die Feuerschale. Scharlachrot und königsblau lodern die Flammen empor und lassen ihr Licht auf dem runzligen, fleckigen Gesicht und dem schlohweißen Haar der Meisterin tanzen.
Niemand kann auch nur erahnen, wie alt die Frau ist und was sie über die Zeit gesehen hat. Jahrhunderte schreibt man ihr zu, wenn man sie ansieht. Denn winzig ist sie, verstärkt noch durch den krummen Rücken und dürr und verschrumpelt wie eine Schwarzwurzel. Nur ihre Augen verraten, dass sie eben erst erwachte. Sie leuchten grün wie das Tal am Fuße des Em und wirken klar wie ein Bergsee. Sobald die Hexe einem in die Augen sieht, wird derjenige von dem Gefühl befallen, sie blicke bis tief in die Seele hinab.
Tarok tritt hinter die Alte und schaut über sie hinweg in die Schale. Das Feuer hat die Knochen und Pflanzen, die die Hexe hineinwarf, nicht verbrannt. Sie sind eindeutig auszumachen. Selbst das violettfarbene, getrocknete Kraut, von dessen Art Tarok nie zuvor welches sah und das dem Feuer dieses königlich blaue Leuchten verleiht. Er schließt die Augen, spürt die drängende Hitze der Flammen an seinen Wangen und hört das Knistern, das beinahe unter dem Getöse des Sturms untergeht, der draußen wütet und heftig am Stoff des Zeltes zerrt. Als er die Lider hebt und erneut in die Feuerschale schaut, sieht er noch immer nur Flammen, Knochen und Pflanzen.
Tarok blickt über die Schulter. Zorje sitzt wie der Herrscher, zu dem er geboren wurde, aufrecht in seinem Sessel und stiert genau wie die Hexe Ida ins Feuer. Er scheint ebenfalls etwas im Spiel der Flammen zu erkennen. Und das leise Lächeln, das seine Mundwinkel umgibt, verrät, dass ihn der Anblick erfreut.
Der Krieger sieht ein, dass er nicht würdig ist die Zukunft zu sehen – dies ist der heiligen Frau und dem Herrscher vorbehalten –, und er vertraut den beiden, wenn sie sagen, dass schon bald eine neue Zeit anbricht. Es ist längst überfällig, dass Zorje seinen rechtmäßigen Platz einnimmt. Wenn es nach Tarok ginge, hätte er bereits vor Jahren begonnen für seinen Herrscher zu kämpfen.
Seit Zorje den verkrüppelten Schwächling, der er damals war, aus der Gosse gezogen und wie ein Tierjunges aufgepäppelt hat, seit er für ihn gesorgt, ihn alles gelehrt und ihm den Glauben geschenkt hat, seitdem ist er diesem großen Mann zu Dank verpflichtet. Und nicht nur das: Tarok verehrt seinen Herrscher wie einen Vater. Und wie es einem Vater gebührt, wird er ihm zu ewigem Ruhm verhelfen.
Zorjes Herrschaft soll die Zeiten überdauern. Noch in Jahrtausenden sollen die Menschen Lieder über ihn singen und ihn und die Hexe Ida als Heilige verehren. Dafür werden Tarok und seine Krieger sorgen. Nicht umsonst brachte er die letzten Jahre damit zu, Vorbereitungen für die große Schlacht und ihren Sieg zu treffen. Er ist sicher, einer der Gestohlenen ist der Krieger aus der Prophezeiung. Er hat sogar eine leise Ahnung, welcher es ist, und kann es kaum erwarten, dessen Macht erwachen zu sehen.
Doch zunächst bangt er. Wie immer, wenn die Hexe in die Feuerschale blickt. Er fürchtet, dass sie auch dieses Mal wieder sagt, dass die rechte Zeit noch nicht gekommen sei.
Tarok tritt neben die Alte und beobachtet ihr Mienenspiel aufmerksam. Langsam hebt sie den Kopf, erforscht den Krieger mit ihrem durchdringenden Blick, lässt ihn schmoren. Dann endlich teilen sich ihre Lippen. Sie grinst und obwohl sie dabei eine Reihe spitzer, halb verfaulter Zähne enthüllt, hat sie nie schöner ausgesehen als in diesem Moment.
»Die Zeit ist gekommen.«
Ich bin anders. Aber nicht freiwillig.
Ich wäre gern wie sie. Das Leben wäre viel einfacher, wenn ich mich für die Dinge interessierte, für die ich mich interessieren sollte. Einen Mann nehmen, Kinder gebären, das Familienhandwerk fortführen – das erwarten sie von mir. Doch dies ist nicht meine Bestimmung, das spüre ich tief in mir. Mein Herz zieht es woandershin und ich will ihm unbedingt folgen.
Aus diesem Grund halten sie mich für schwierig und eigenbrötlerisch, dabei bin ich nur anders als sie.
Sie verstehen es nicht, weil sie nicht empfinden, was ich empfinde, sobald ich am Webstuhl sitze. Es dürfte sich nicht so falsch anfühlen, wenn ich eine Weberin sein sollte. Ich würde mich nicht derart ungeschickt anstellen und meinen Vater jedes Mal aufs Neue enttäuschen. Er sagt, es seien nur Ausreden, dass ich faul sei und mich nicht genug anstrenge – aber ich kann es schlichtweg nicht. Ich enttäusche ihn nicht absichtlich.
Manchmal glaube ich ihnen. Manchmal denke ich, sie haben recht, wenn sie sagen, dass ich zu nichts nütze sei. In diesen Momenten komme ich hierher an den Waldrand, setze mich ins weiche Gras und schaue zur Kaserne hinüber. Wenn mich das Gerede ausgehöhlt hat, erfüllt dieser Anblick mein Herz aufs Neue. Dann weiß ich wieder, dass es etwas gibt, in dem ich wirklich gut bin. Auch wenn diese Kunst leider den Männern vorbehalten ist.
Tief seufzend falte ich meine Beine in einen Schneidersitz, lasse die trainierenden Krieger auf dem Kasernenhof jedoch nicht aus den Augen. Kriegeroberhaupt Fenk demonstriert seinen Schülern heute den Umgang mit dem Dolch. Die altertümliche Waffe, die er dazu in den Händen hält, ist teilweise matt angelaufen und die Klinge wirkt abgenutzt und rau, dennoch blitzt sie in der Sonne, als zwinkerte sie ihrem Meister bereitwillig zu. Mit einer geschmeidigen Bewegung führt Fenk den Dolch vor seinem Körper abwärts. Der erfahrene Krieger lässt keinen Zweifel daran, dass auch die älteste und stumpfste Klinge in seinen Händen todbringend ist.
Fenk erklärt seinen Schülern irgendetwas. Ich verstehe die Worte nicht, aber seine tiefe Stimme vibriert in meinem Brustkorb. Am liebsten würde ich näher herangehen, damit ich ihm zuhören kann. Nun ja, noch lieber würde ich auf diesem Hof stehen und mich von dem besten Krieger Emeks ausbilden lassen. Aber ich muss mich wohl damit begnügen, ihn aus der Ferne zu bewundern.
Ich erinnere mich an das letzte Mal, als Fenk mich beim Zuschauen erwischt hat. Er hat meinen Arm gepackt und mich den gesamten Weg zurück zur Pfahlbausiedlung gezerrt, ohne ein Wort zu sagen. Ich habe ihn angefleht, er solle mir eine Chance geben, mich ihm zu beweisen, jedoch wollte er nichts davon hören. Er schob mich in die Hütte meines Vaters, legte seine riesenhaften Hände auf meine Schultern und blickte mit seinen waldgrünen Augen eindringlich auf mich herab.
»Hör gut zu, Mädchen«, brummte er, nachdem er mich eine gruselige Weile lang angestiert hatte. »Frauen haben nichts in der Nähe der Kaserne zu suchen. Und schon gar nicht im Krieg.«
Daraufhin ließ er mich einfach stehen. Ich schimpfte ihm von der Hütte aus hinterher, traute mich aber nicht ihm nachzugehen. Dabei weiß ich, dass ich eine hervorragende Kriegerin wäre. Eine der besten, die er je ausgebildet hat.
Ich muss es wissen, schließlich beobachte ich ihn seit meiner Kindheit. Damals, vor zehn Jahren, wurde Fenk zum Hauptmann der Emeker Krieger erklärt und war mit achtzehn Jahren das jüngste Kriegeroberhaupt aller Zeiten. Verdientermaßen. Denn er war bereits damals der talentierteste Kämpfer Emeks und bisher ist keiner nachgefolgt, der es mit ihm aufnehmen kann. Bis auf mich.
Sicherlich könnte ich niemals mit seiner Muskelkraft mithalten, Fenk ist stark wie ein ausgewachsener Braunbär. Doch ich bin flink. Außerdem habe ich den Krieger so oft beobachtet, dass ich seine Bewegungen im Schlaf nachahmen kann.
Der alte Wilk aus der Schmiede nebenan hat oft genug Mitleid mit mir, dass er mich mit ausgedienten Messern und Äxten trainieren lässt. Dadurch weiß ich, dass ich diese Waffen beherrsche. Wenn Fenk es mich nur demonstrieren ließe …
Er würde sehen, wie begabt ich bin, und mich das Kriegerritual vollziehen lassen, um eine vollwertige Kriegerin aus mir zu machen. Daraufhin zögen wir gemeinsam durch Temien und den Rest der Welt, würden Erkundungstouren machen und die Oberhäupter auf Reisen schützen. Vielleicht käme ich in die Hauptstadt, nach Rodvuori, und die königliche Garde würde auf mich aufmerksam. Eines Tages wäre ich dann eine Leibwächterin König Garols. Unserem guten Herrscher zu dienen, ist die größte Ehre für einen Krieger.
Seufzend schüttle ich den Kopf. Ich rupfe ein Büschel Gras aus dem Boden und schleudere ihn trotzig davon, während ich Fenk mit einem feindseligen Blick bedenke. Es ist ein schöner Traum, der sich immer wieder in meinem Kopf abspielt, Fenk wird ihn mir allerdings niemals erfüllen. Den letzten Rest Hoffnung hat er mir genommen, als er meinem Vater kürzlich vorgeschlagen hat mich seinem Vetter Ulf aus der Waldsiedlung Anai vorzustellen.
Wie alle anderen sieht eben auch Fenk nur eine Frau in mir. Eine Frau, die sich allmählich einen Mann nehmen, Kinder gebären und das Familienhandwerk fortführen muss. Soll er doch. Ich brauche weder ihn noch sein albernes Ritual, um eine vollwertige Kriegerin zu sein. Ich bin eine Kriegerin im Herzen und ich werde Emek als solche verlassen.
Die Entscheidung fiel bereits vor zwei Jahren, nachdem Vigo verschwunden war. Ich habe gewartet und gehofft, dass ich bei der Suche nach ihm Hilfe haben würde, denn ich weiß, dass mein bester – mein einziger – Freund irgendwo da draußen ist. Und auch wenn mir keiner glaubt, ich habe mir geschworen ihn zu finden. Und das werde ich. Auch alleine.
Ich sehe Vigos Gesicht in meiner Erinnerung: die kindlichen Züge eines sechzehnjährigen Jungen, die bereits die Kanten des Mannes dahinter erkennen lassen, ein breites Lächeln auf den Lippen, ein amüsiertes Blitzen in den goldenen Augen. Ich sehe ihn an unserem Ufer sitzen, die Füße im Wasser, die Hemdsärmel bis zum Ellbogen aufgekrempelt und die Angel in der Hand. Sein blondes Haar leuchtet in der Mittagssonne und ich höre den wohlvertrauten Klang seines warmen Lachens.
Ich habe sein Lachen immer geliebt, tue es noch heute. Aber ich fange an seinen Klang zu vergessen. Die Erinnerung verblasst Tag für Tag. Das Gefühl bleibt jedoch. Ich bin mir sicher, dass mein bester Freund nach wie vor ein Teil dieser Welt ist, denn wäre er es nicht, wäre mein Herz längst in tausend Stücke zersprungen. Ich hätte es gespürt.
Die Ungewissheit darüber, was damals mit ihm geschehen ist, bringt mich manchmal beinahe um den Verstand. Für gewöhnlich vermisse ich ihn still, doch mitunter fühlt es sich an, als hätte mir jemand den Arm abgehackt. An solchen Tagen kann ich kaum atmen und mein Herz klopft rasend schnell gegen meine Rippen. In solchen Nächten liege ich schweißgebadet wach und spüre einen Schmerz, der gar nicht meiner zu sein scheint. Würde ich so empfinden, wenn Vigo tot wäre? Nein, die Verbindung zwischen uns besteht nach wie vor. Auch wenn kein anderer mich verstehen will.
Selbst Vigos Mutter hielt mich für verrückt, als ich ihr von meinen Gefühlen erzählt habe.
»Er ist tot«, hat sie mich mit wutverzerrter Miene angebrüllt und mir die erste Ohrfeige meines Lebens verpasst. »Ich bin seine Mutter. Wenn ihn jemand spüren müsste, dann ja wohl ich. Meinst du nicht?«
Nein, das meinte ich nicht. Und das meine ich heute auch nicht. Vigo und ich hatten schon als Kinder ein besonderes Band, nur will seine Mutter das aus eifersüchtigen Gründen nicht einsehen.
Nun, ich bin es gewohnt, dass mich die Leute für verrückt halten. Deshalb glaube ich, wenn sie morgen aufwachen, werden sie alle erleichtert sein. Denn die eigenartige Kira hat ihre Taschen gepackt und wird der Pfahlbausiedlung Emek heute Nacht für immer den Rücken kehren. Ich finde Vigo und werde mit ihm irgendwo weit weg, wo die Menschen nicht derart engstirnig sind, ein neues, friedliches Leben beginnen.
Ich nicke mir im Geiste feierlich zu, strecke meine Beine aus und stütze mich auf die Unterarme.
Fenk schreitet herrschaftlich durch die Reihen seiner Schüler, die den perfekten Dolchstoß üben. Er feuert an, korrigiert Haltungen, gibt Hilfestellung und einmal mehr wünsche ich mir dort unten zu sein. All mein Stolz kann nicht verbergen, dass ich nur von ihnen akzeptiert werden will.
Ich höre ein Rascheln hinter mir und bin sofort auf den Beinen. Als ich das Beil aus dem Gürtel ziehe und den Wald mit Blicken absuche, bemerke ich grelle Lichtstreifen, die auf mein Gesicht fallen. Die Sonne hat die hohen Bäume inzwischen umrundet und wird bald untergehen. Habe ich wirklich so lange hier gesessen? Manchmal lasten meine Gedanken derart schwer auf mir, dass mir nicht auffällt, wie die Stunden vergehen.
Ich suche das Dickicht ab und wie so oft habe ich das Gefühl, von einigen Augenpaaren angestarrt zu werden, aber ich sehe nichts in den Büschen. Es raschelt erneut und nun höre ich Schritte, weiche Ledersohlen auf moosigem Waldboden. Ich erkenne den Rhythmus. Und rolle mit den Augen.
»Ich komme ja schon«, raune ich und stecke das Beil zurück in den Gürtel.
Arvi trabt auf mich zu und baut sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor mir auf. »Das wird auch Zeit. Wie lange kann man brauchen, um Pilze zu sammeln?« Er wirft einen Blick zur Kaserne hinüber. »Wusste ich doch, dass du wieder hier rumhockst und vor dich hin träumst.«
Ich schnappe mir den Beutel, den ich achtlos ins Gras habe fallen lassen, als ich hergekommen bin, und werfe ihn Arvi zu. »Beim nächsten Mal sammle ich schneller. Dann kann ich aber nicht versprechen, dass dir alle Pilze bekommen werden.«
Schnaubend dreht er sich um und marschiert los. Eine Strähne seiner hellen Lockenmähne verfängt sich im Geäst und ich muss kichern, weil er es nicht gleich schafft, sie zu befreien.
Er schaut mich so vorwurfsvoll an, als hätte ich ihn an den Haaren gezogen. »Komm endlich. Wenn du schon den ganzen Tag faulenzt, kannst du wenigstens beim Abendessen helfen.« Grummelnd stapft er weiter. »Sonst bist du sowieso zu nichts nütze …«
Ich rolle erneut mit den Augen. Ob es wohl normal ist, seinen kleinen Bruder kopfüber an einem Baum aufhängen zu wollen?
***
»Du bist allmählich zu alt für heimliche Schwärmereien, Kira.« Arvi grinst mich über unsere Schüsseln mit dampfendem Eintopf hinweg überheblich an. »Fenk ist noch ungebunden. Wieso gehst du nicht einfach zu ihm und fragst ihn, ob er dich haben will? Es wird sowieso langsam Zeit, dass du einen Mann findest und deinen Platz einnimmst, bevor dich gar keiner mehr will.« Sein Grinsen wird noch eine Spur breiter. »Ach, hatte ich ganz vergessen. Fenk will dich ja am liebsten auch loshaben, abschieben zu seinem Vetter nach Anai.«
Ich schnaube und funkle ihn wütend an. »Es ist mir völlig egal, was Fenk will und was nicht. Ich brauche keinen Mann, um zu wissen, wo mein Platz ist.«
»Hast wohl immer noch nicht kapiert, dass du eine Frau bist.« Arvi schüttelt den Kopf, greift nach seinem Löffel und zielt damit auf mich. »Also von mir aus dürftest du das Kriegerritual gerne vollziehen, Schwester. Du würdest sowieso nie wieder aus dem Waldlabyrinth herausfinden.«
Als er den Löffel in die Schale taucht, breche ich einen Krumen vom Brot und werfe ihn nach ihm. Volltreffer! Direkt an die Stirn.
»Wir warten auf unseren Vater, so wie jeden Abend«, sage ich barsch und ignoriere alle weiteren Sticheleien.
Mein kleiner Bruder ist gerade sechzehn, zwei Jahre jünger als ich, aber er ist bereits ein ausgewachsenes Scheusal. Arvi ist arrogant, überheblich und selbstverliebt. Das wirklich Schlimme daran ist jedoch, dass er nichts dafürkann.
Seit seiner Geburt wird er verhätschelt. Er ist das goldene Vorzeigekind und egal was er anfasst, es gelingt ihm. Ich hasse es, das zuzugeben, aber Arvi ist nicht grundlos unbescheiden. Wie er mit seinen Mitmenschen umgeht, ist zwar oft nicht in Ordnung, seine Art haben sie ihm allerdings angezüchtet. So wird man nun einmal, wenn man ständig mit Lob, Anerkennung und bedingungsloser Liebe überhäuft wird. Glaube ich zumindest. Ich habe in dieser Hinsicht wenig Erfahrung.
Ich habe immer versucht ihn zu verstehen und auf seiner Seite zu stehen. Auch nach den vielen Malen, die er schwieg, nachdem unser Vater mich für einen seiner Streiche bestraft hatte. Selbst als er dabei zusah, wie die anderen Kinder mich mit Äpfeln bewarfen. Und sogar dann noch, als er der gesamten Siedlung weismachte, dass seine verrückte Schwester eine Kreuzung zwischen Mensch und Wolf sei, die seine Eltern im Wald gefunden hätten. Er erklärte meine wilde schwarzbraune Mähne und meine ungewöhnlichen bernsteinfarbenen Augen mit dieser tierischen Verwandtschaft. Als er jedoch vor wenigen Wochen beschloss kein Handwerk zu erlernen, sondern Krieger zu werden, war es endgültig vorbei mit der Geschwisterliebe. Ich weiß genau, dass er sich nur deshalb von Fenk ausbilden lässt, weil er mich damit verletzen will.
Mein Bruder hat viele Talente, aber er ist kein Krieger. Er besitzt zwar das Mundwerk eines solchen, aber in der Not ist er feige wie eine Ratte. Ihm ist gleichgültig, welcher Arbeit er nachgeht, denn da wir in den friedlichsten Zeiten des menschlichen Daseins leben, ist es ohnehin unwahrscheinlich, dass Arvi in die Schlacht ziehen und kämpfen muss. Er wird die Hälfte seiner Zeit zu Hause verbringen und meinem Vater auf der Tasche liegen und in der anderen Hälfte die Welt erkunden und sich freuen, dass er mir seine Erlebnisse auf die Nase binden kann. Und zu allem Überfluss bekommt er auch noch die Anerkennung, die unseren tapferen und viel gereisten Kriegern vorbehalten ist. Aber das ist nicht sein Antrieb, da bin ich sicher, für Arvi ist es das Wichtigste, einen einfachen Weg zu gehen und mich dabei zu übertrumpfen. Es reizt ihn, meinen Traum zu leben. Mir ist wirklich schleierhaft, warum er mich so sehr hasst.
Seufzend lasse ich den Blick durch unsere Hütte schweifen – Fäden und unterschiedliches Gewebe hängen ordentlich an den Wänden, an der Kochstelle lodert ein kleines Feuer und im hinteren Bereich direkt neben meinen Schlaffellen steht der Webstuhl. Als könnte mir seine bloße Nähe das Talent im Schlaf in die Fingerspitzen zaubern.
Ich bin die einzige Tochter. Es ist Tradition, dass ich Haus und Handwerk der Familie übernehme – bestenfalls mit Mann und Kindern – und mich um meinen Vater kümmere, sobald dieser ins Alter kommt. Aber wenn ich mich in unserer schmalen Holzhütte umsehe, überkommt mich Beklemmung. Das hier ist nicht mein Leben. Ich muss hier weg. Es ist für uns alle das Beste. Ich bin sicher, dass selbst mein Vater froh sein wird, wenn er mich ab morgen nicht mehr am Hals hat.
Ich höre Arvis Magen knurren und runzle die Stirn. Wo bleibt er denn nur? Die Sonne ist längst untergegangen und für gewöhnlich besteht mein Vater darauf, dass wir uns immer zur selben Zeit zum Essen zusammensetzen. Da stimmt doch etwas nicht.
Ich erhebe mich und gehe zum Eingang. Als ich die Tür öffne, höre ich aufgeregte Stimmen. Sie schallen aus allen Richtungen, verstehen kann ich sie jedoch nicht. Es ist, als trüge der Wind die Worte davon. Ich strecke den Kopf nach draußen, schaue nach links und rechts, sehe, wie die Menschen über die Stege unserer Pfahlbausiedlung rennen, sodass das Holz unter der Last bebt. Die Leute strömen auf den Anlegeplatz zu, der um diese Zeit mit Fackeln beleuchtet ist. Ich erkenne eine dunkle Menschentraube, die sich eng auf dem Platz zusammendrängt.
»Irgendwas ist da los«, murmle ich über die Schulter.
Ich höre, wie Arvi hinter mich tritt. Gemeinsam verlassen wir die Hütte und folgen unseren Nachbarn die Stege entlang in Richtung Anlegeplatz. In der Ferne sehe ich ein Boot. Es ist ein Erkundungsboot. Darauf steht ein Krieger, er fuchtelt mit den Armen und ruft etwas. Seine Worte schaffen es nicht über das schwarze Wasser, als er jedoch sein Horn an die Lippen legt und einen tiefen Ton bläst, vibriert alles in mir. Ich zucke zusammen und mein Herz klopft wie wild.
Etwas ist geschehen. Eine Veränderung, eine Katastrophe, die so weitreichend, so elementar ist, dass ich sie mit dem gesamten Körper spüren kann, obwohl ich nicht weiß, worum es sich handelt. Eine Gänsehaut überzieht meine Arme und ich fühle, wie meine Wangen eiskalt werden.
Ich will zum Anlegeplatz eilen, aber jemand hält mich am Arm fest. Ich drehe mich um und sehe in das aschfahle Gesicht meines Vaters. Ich habe ihn nicht kommen sehen. Er sieht müde aus und seine sonst wachen Augen wirken so trüb, dass ich geradezu bei seinem Anblick erschrecke.
»Was ist geschehen?«, frage ich ihn, erhalte jedoch keine Antwort.
Das Boot hat das Ufer erreicht und der Krieger bläst noch einmal in sein Horn, wohl um sicherzugehen, dass er unser aller Aufmerksamkeit hat.
Ich schaue zwischen dem Boot und meinem Vater hin und her. Er hat eine Hand auf Arvis Schulter gelegt und ihm, diesem großen, schweigsamen Mann, dem die wenigsten Leute eine liebevolle Emotion zutrauen würden, beben die Lippen, als er seinem Sohn in die Augen schaut.
»Der König!«, höre ich den Krieger atemlos rufen, dann bläst er erneut in sein Horn. »König Garol wurde ermordet! Er ist tot.«
Die Zeit scheint einen Wimpernschlag lang stehen zu bleiben. Kurz darauf wackelt der Steg bedrohlich unter mir. Oder sind es meine Knie? Ich klammere mich am Geländer fest und keuche. Menschen rennen über die Stege, Stimmengewirr überall – Schock und Panik liegen beinahe greifbar in der Luft.
Sie haben Angst. Ich nicht. Ich spüre vielmehr, wie eine unbändige Wut siedend heiß durch meinen Körper fließt, unaufhaltsam wie Lava. Sie macht mich schwindlig. Mein Leben, unser aller Leben wird sich grundsätzlich verändern, das erkenne ich in diesem Moment glasklar.
Mit einem Mal ist es, als hörte ich eine helle Stimme in mein Ohr flüstern: »Du wirst kämpfen. Du wirst deine Familie und deine Siedlung verteidigen. Und du wirst deinen König rächen!«
Ich atme durch. Ich kenne meinen Platz, besser als je zuvor, und ich werde ihn einnehmen, gleichgültig wer damit einverstanden ist und wer nicht.
Ich schaue zu meinem Vater auf. Er beachtet mich nicht, sondern mustert Arvi, der die Stirn in tiefe Falten legt. Ganz langsam weiten sich seine Augen, sein Mund öffnet sich und die Farbe entweicht aus seinen Wangen.
Endlich hat auch er seinen Platz erkannt. Ich sehe den exakten Augenblick, in dem meinem kleinen Bruder klar wird, dass er zu einem echten Krieger werden muss.
Ich beobachte, wie sich die Furcht einem schwebenden Schatten gleich über Arvis Augen legt und die sonst so klare saphirblaue Farbe seiner Iris in ein trübes, mattes Nachtblau verwandelt, da höre ich die Stimme des Kriegers. Seine Worte klingen dumpf und scheinen nur schleppend die Ohren derer, die noch zuhören, zu erreichen.
»Bewahrt Ruhe, ihr Leute!« Er bläst erneut in sein Horn und einmal mehr vibriert mein gesamtes Inneres bei dem unheilvollen Klang. »Geht ihr nur zurück in eure Hütten – die Krieger folgen mir zur Versammlungshalle.«
Arvis Brauen zucken. Unsicher blickt er zwischen den Stegen hin und her. Er überlegt offenbar, welchen Weg er gehen soll: zurück zur Hütte oder nach vorne zur Halle. Er scheint sich zu fragen, ob er ein Dorfbewohner ist oder ein Krieger. Der Junge ist völlig überfordert. Als mein Vater die Hand nach ihm ausstreckt, wohl um ihn nach Hause zu bringen, greife ich zuerst nach Arvis Arm und ziehe ihn hinter mir her über den Steg. Dies ist der Platz, den er sich selbst auserwählt hat, und nur weil er ihm nun nicht mehr gefällt, kann er ihn nicht einfach wieder abgeben.
Fenk wird jetzt jeden Krieger benötigen. Jeden Krieger – und jeden, der es noch werden könnte.
Ich eile mit Arvi im Schlepptau in Richtung Festland, vorbei an entsetzten Gesichtern und weinenden Kindern und durch stinkende Schwaden aus Trauer und Panik.
Wenn ein Volk seinen Herrscher verliert, den es so sehr geliebt und geschätzt hat, braucht es einige Zeit, bis es den schmerzlichen Verlust ertragen kann. Es ist, als verliere man den eigenen Vater, war doch König Garol der Vater Temiens. Aber die Emeker sind stark. Sie werden den Schmerz, der sich im Augenblick noch qualvoll in ihre Herzen frisst, bald schon in Willensstärke wandeln. Sie werden zu ihrem rechtmäßigen König stehen, seinen Tod rächen und gegen den gemeinen Thronräuber vorgehen. Denn ein Emeker unterwirft sich niemals kampflos.
Auch Arvi wird das lernen, hoffe ich, als ich einen Blick über die Schulter in sein blasses Gesicht werfe. Sein Leben war bisher so unkompliziert und vollkommen – das ist vorbei.
Ich verlangsame meine Schritte, als wir das schmatzende Gras am Ufer betreten und die Versammlungshalle vor uns aufragt. Das schiefe Holzhaus, das fast zehnmal so groß ist wie unsere Hütte, wird von jeher von den Emekern als Treffpunkt genutzt und für gewöhnlich ist es derart überfüllt, dass man im Inneren nicht umfallen könnte, selbst wenn man wollte. Heute, nachdem sich die größten und breitesten aller Emeker, die Krieger, hier versammelt haben, biegen sich die Wände geradezu nach außen. Die Männer stehen im Türrahmen und drängen von draußen an die Fenster, um keines von Fenks Worten zu verpassen.
Ich schiebe Arvi zu seinen Kameraden in den Türrahmen und versuche mich durch den Pulk zu quetschen, komme allerdings nicht weit. Ich bleibe irgendwo zwischen den Kriegern stecken und ein fahler Gestank nach abgestandenem Bier, Schweiß und Anspannung frisst sich in meine Nase. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, meine Augen sind damit jedoch gerade mal auf Kinnhöhe der meisten Männer hier. Aber auch wenn ich ihn nicht sehen kann, weiß ich, dass Fenk aufrecht und erhaben wie der Hauptmann, der er ist, vor dem Schanktisch steht. Trotz des Lärmpegels, des aufgeregten Gemurmels und des Klapperns der mit Bier gefüllten Becher ist Fenks tiefe Stimme deutlich zu hören. Wie ein lebendiges Wesen wabert sie durch den Raum und fordert unbeirrt die Aufmerksamkeit aller Anwesenden.
»Es heißt, der Thronräuber Zorje habe eine Hexe unter seinem Gefolge«, erzählt er. »Nur durch Schwarzmagie soll er es geschafft haben, König Garol zu überrumpeln und die Königsburg zu Rodvuori einzunehmen.«
Ungläubiges Raunen geht durch den Kriegerpulk.
»Die Schwarzmagie ist nichts weiter als eine alte Legende«, ruft einer der Krieger.
»Die Magie ist in Temien längst ausgestorben«, meint ein anderer zu wissen, aber ein Dritter wendet ein: »Das wäre jedoch die einzig logische Erklärung, wie König Garol den Tod finden konnte.«
Das Gemurmel schwillt zu einer ausgewachsenen Diskussion an, bis Fenk erneut die Stimme erhebt. »Ob es Magie ist oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen. Und es geht mich davon abgesehen nichts an. Unser Gesandter aus dem Norden hat mir berichtet, dass Zorje seinen Feldherrn Tarok gen Süden schickt. Überall dort, wo die Leute seinen Herrscher nicht anerkennen, hinterlässt er nur Tod und Verwüstung. Das ist es, was mich angeht – was uns angeht.«
»Der Gesandte hat ebenfalls erzählt, dass Taroks Heer übermenschlich stark ist«, meint der Krieger, der direkt neben mir steht, und ich sehe, wie ihn ein Schauder schüttelt. »Tarok soll dermaßen grausam sein, dass sein bloßer Anblick die Menschen in Stein verwandelt.«
»Wahrscheinlich hat ihm die Hexe solcherlei Kräfte verliehen«, fügt ein anderer hinzu.
Fenks tiefes Lachen schallt durch den Raum. »Ich habe gehört, dass man tot umfällt, wenn man nur seinen Namen ausspricht.« Er holt Luft und ruft daraufhin laut: »Tarok!«, dann lacht er erneut auf. »Na, stehe ich noch? Ihr seid erwachsene Männer, die sich von albernen Ammenmärchen einschüchtern lassen wie kleine Mädchen. Seid ihr denn keine Emeker? Seid ihr zu feige zum Kämpfen?«
Ein schwacher Laut entringt sich manchen Mündern.
»Ich kann euch nicht hören!«, brüllt Fenk. »Wollt ihr nicht kämpfen für eure Familien? Für euer Volk? Für euren König? Werdet ihr euch einfach so unterwerfen? Oder tretet ihr ein für eure Freiheit?«
Kampfeslaute brauen sich in den Kehlen der Krieger zusammen und entladen sich gleichzeitig wie aus einem Mund, so gewaltig, dass der Boden unter uns bebt. Als wieder Stille einkehrt, bemerke ich, wie rau mein Hals ist. Ich habe instinktiv mitgebrüllt.
»Wir werden diesen verräterischen Bastard vernichten«, raunt Fenk. »Ich arbeite bereits an einer Strategie und gleich morgen früh werden wir mit den Vorbereitungen beginnen. Wir werden nicht abwarten, bis Tarok mit seinem Heer vor unserer Siedlung steht und uns angreift, nein, wir werden ihn mit einem gezielten Manöver überraschen, selbst einen Angriff planen.«
Zustimmende Rufe erklingen im Raum. Die Stimmung hat sich nach dem gemeinsamen Schlachtruf schlagartig verändert, der Kampfgeist ist erwacht. Ich kann es an der Haltung der Krieger, an ihren Stimmen und den leuchtenden Augen erkennen.
»Trommelt eure Brüder und Nachbarn zusammen«, fährt Fenk fort. »Jeder, der eine Waffe führen kann, ist willkommen und soll sich uns anschließen. Es wird eine harte Schlacht werden und wir benötigen jeden fähigen Mann.«
»Was ist mit den fähigen Frauen?«
Keiner hört mich. Ich ducke mich an einigen Kriegern vorbei und stehe nun so nah am Schanktisch, dass ich Fenks muskulöse linke Schulter in seinem geschnürten Leinenhemd und einen Teil seines markanten Kiefers sehen kann.
»Ich kämpfe mit euch!«, brülle ich und werde erneut überhört.
»Heute Nacht seid ihr aber noch Männer.« Fenk grinst vielsagend. »Trinkt die Fässer leer, schlaft mit euren Weibern und macht ein paar Kinder, bevor ihr morgen früh zu Kriegern werdet!«
Er erhebt den Becher, prostet seinen Männern zu und erntet anerkennendes Gegröle und Gelächter für diese Vorschläge.
Noch nie habe ich mich derart über meine dünne Stimme geärgert wie in diesem Moment. Die tiefen Männerstimmen werde ich niemals übertönen, aber wenn ich jetzt nicht spreche, die aufgeladene Stimmung nicht nutze, bleibe ich für immer ungehört. Dann wird meine einzige Gelegenheit, mich offiziell Fenks Heer anzuschließen, verstrichen sein.
Wie aus Reflex ziehe ich mein Beil aus dem Gürtel. Zwischen den Schultern und Köpfen der Krieger hindurch peile ich den Balken neben Fenk an und schleudere meine Waffe zielgenau. Knapp einen Daumen breit neben seinem Ohr gräbt sich das Beil dumpf knackend ins Holz.
Fenk fixiert mich bereits eisern, als die übrigen Krieger langsam reagieren.
»Bist du des Wahnsinns, Weib?«, bellt einer, der auf der Rückseite des Balkens steht.
Ich ignoriere ihn und alle anderen, die sich in diesem Moment zu mir umdrehen, und konzentriere mich einzig darauf, Fenks durchdringendem Blick standzuhalten. Auch wenn meine Finger dabei zittern und mir die Knie weich werden.
»Ich melde mich freiwillig«, sage ich mit weitaus festerer Stimme, als mir zumute ist. »Du musst mich kämpfen lassen.«
Fenk legt den Kopf schief und mustert mich abwägend. »Ich muss? Dich kämpfen lassen?«
»Du sagst, du brauchst jeden fähigen Krieger. Ich bin eine fähige Kriegerin.«
Ich stocke, als er auf mich zukommt. Obwohl er so massig ist wie ein Bär, bewegt er sich mit der geschmeidigen Eleganz eines Panthers. Fenk scheint aus purer Energie und Kraft zu bestehen und seine Präsenz ist derart mächtig, dass man davon geradezu zurückgeschoben wird. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen den Drang an zu weichen und schaue ihm entschlossen in die Augen. Das scheint ihn zu überraschen.
»Ich werde kämpfen – für Emek, für König Garol und für Temien«, verspreche ich feierlich.
Gelächter ist die Antwort auf meinen Schwur.
Wortlos greift Fenk nach meinem Ellbogen, damit habe ich jedoch gerechnet. Ich mache einen Schritt zur Seite, schlage seinen Arm weg und funkle ihn zornig an.
Er seufzt. »Ich habe heute weder die Zeit noch den Nerv, mich mit deinen Albernheiten zu beschäftigen, Mädchen.« Vielsagend blickt er zwischen mir und dem Beil hin und her. »Wir befinden uns im Krieg, ist dir das denn nicht klar? Geh nach Hause und lass uns Männer unsere Arbeit tun. Das ist ein Befehl.«
»Du kannst mich nicht wegschicken – dieses Mal nicht. Ich gehe erst, wenn ich dein Wort habe, dass ich mich dir beweisen darf. Ich bin eine Kriegerin, du wirst sehen.« Seine Mundwinkel zucken und seine Lippen teilen sich, doch bevor er sprechen kann, zische ich ihn an. »Ich werde kämpfen, ob du es mir erlaubst oder nicht. Es liegt an dir, ob ich mich einfüge oder euch im Weg stehe, weil du dich geweigert hast mir einen Platz zuzuweisen.«
»Mut hast du, das muss ich dir lassen.« Fenk hebt die Brauen und mustert mich von oben bis unten. »Stehst hier vor mir, zitternd wie Espenlaub und einer Ohnmacht nahe, schaust mir aber dennoch trotzig mitten ins Gesicht.«
»Ich habe keine Angst vor dir«, lüge ich – überzeugend, wie ich finde. »Was hast du zu verlieren? Prüfe meine Fähigkeiten und wenn du dann nicht von meinem Talent überzeugt bist, werde ich dich nie mehr belästigen. Alles, was ich will, ist eine Chance, mich zu beweisen.«
Er mustert mich abfällig. »Ich gebe zu, die Aussicht, nie mehr von dir belästigt zu werden, klingt verlockend.«
»Lass sie das Ritual vollziehen«, mischt sich einer seiner Männer ein. »Soll das Weib doch im Waldlabyrinth verrotten, wenn es unbedingt will.«
»Ja«, stimmt ihm ein anderer zu. »Da kommt die sowieso nie wieder raus.«
Fenk seufzt erneut, verschränkt die Arme vor der massigen Brust und schaut auf mich herab. Ich glaube fast einen winzigen Hauch Sorge in seinen waldgrünen Augen aufblitzen zu sehen. »Das willst du also? Das Kriegerritual vollziehen?«
Ich straffe die Schultern, erwidere entschlossen seinen Blick und nicke.
»Noch nie hat eine Frau das Ritual durchgeführt. Das weißt du?«
Ich nicke erneut und er schnalzt mit der Zunge.
»Einige der vielversprechendsten Männer haben nicht mehr aus dem Labyrinth herausgefunden. Ich meine, du hast es erlebt. Wenn auch nur in zweiter Reihe. Und dennoch willst du dich vor der Göttin Rua und allen Kriegern beweisen?«
»Ich weiß, dass ich es schaffe.«
Fenk zuckt mit den Schultern. »Meinetwegen. Dann soll sich das Schicksal mit dir herumschlagen.«
Sprachlos starre ich ihn an. War das ein Ja? Erlaubt er mir tatsächlich mich offiziell zu beweisen? Ist ihm denn bewusst, dass ich, eine Frau, nach dem Ritual eine vollwertige Kriegerin sein werde, mit denselben Rechten und Pflichten wie alle anderen Krieger?
Am liebsten würde ich nachhaken, fürchte mich allerdings davor, dass der schöne Traum damit zerplatzen könnte. So lange wünsche ich mir diese Möglichkeit. Es musste erst ein Krieg ausbrechen, damit sie mir gegeben wird. Das schmälert meine Freude – aber nicht meinen Willen.
»Danke.« Endlich habe ich die Sprache wiedergefunden. »Ich werde dich nicht enttäuschen.«
»Hör gut zu, Wolfsmädchen.« Er packt mich am Arm, beugt sich zu mir herab und raunt so heiser in mein Ohr, dass mir ein eisiger Schauer über den Rücken zieht. »Es geht hier nicht um mich. Es ist mir einerlei, ob du zurückkommst oder nicht. Ich habe momentan bedeutsamere Aufgaben, als mich mit einer kleinen Verrückten herumzuschlagen. Deshalb sorge ich dafür, dass du mir nicht weiterhin im Weg umgehst. Wenn du das Schicksal also unbedingt herausfordern willst, tu das, Kira. Aber damit stehst du allein.«
»Das bin ich gewohnt.« Ich entreiße ihm meinen Arm und spüre, wie die Stellen, an denen sich seine Finger in meine Haut gebohrt haben, pulsieren. »Du solltest dich darauf gefasst machen, überrascht zu werden.«
»Nichts brauche ich weniger als noch mehr Überraschungen …« Brummend erhebt er sich, strafft die Schultern und spricht mit einer Stimme weiter, die nur einem Hauptmann gehören kann. »Morgen bei Anbruch der Dunkelheit führe ich dich zum Labyrinth. Bis dahin will ich nichts mehr von dir sehen oder hören.« Er wirft mir einen verächtlichen Seitenblick zu. »Und jetzt verschwinde, bevor ich es mir anders überlege.«
Ich nicke, dann gehe ich mit großen Schritten an ihm vorbei zum Schanktisch, ziehe mein Beil aus dem Balken, drehe mich um und marschiere auf den Ausgang zu. Ich brauche mich nicht umzusehen, die Belustigung und Missachtung der Krieger prickelt förmlich auf meiner Haut. Sie glauben nicht daran, dass eine Frau das Labyrinth bezwingen kann.
Als ich an der Tür ankomme, streift mein Blick Arvis Gesicht. Seine Lippen sind verkniffen, die Stirn ist gerunzelt und er schaut demonstrativ zu Boden. Ich bin meinem kleinen Bruder mal wieder peinlich, denn auch er glaubt nicht an mich. Es überrascht mich nicht, merkwürdigerweise versetzt es mir aber dennoch einen gehörigen Stich. Immerhin ist es mein Bruder, der davon überzeugt ist, dass ich morgen Nacht in den Tod gehe. Und der sich offenbar kein bisschen darum schert.
Noch bevor ich die Versammlungshalle verlassen habe, setzen die Gespräche und das Becherklappern ein. Es ist, als wäre ich nie hier gewesen.
Ich stapfe über den matschigen Boden zum Ufer. Als ich den Steg betrete, befällt mich ein Gedanke, springt mich an wie ein räuberisches Insekt, bringt mich ins Schwanken und lässt mir den Atem stocken. Grausam, wie es ist, schlägt es immer dann zu, wenn wir am verletzlichsten sind, dieses hinterhältige Biest namens Zweifel.
Was, wenn sie nun doch im Recht sind? Was, wenn ich es nicht schaffe? Was, wenn ich mein Schicksal falsch interpretiert habe?
Ich weiß noch nicht einmal, ob ich tatsächlich an Schicksal glaube. Irgendetwas tief in mir drängt mich, will mir einen Weg weisen, aber im Grunde habe ich keine Ahnung, was dieses Etwas ist. Vielleicht ist es am Ende nur der sehnliche Wunsch, Vigo wiederzusehen.
Noch nie habe ich mir diese Fragen gestellt, weil ich sie mir nie stellen musste. Ich bin mir immer so sicher gewesen … Allerdings ist es leicht, sich seiner Fähigkeiten sicher zu sein, wenn man sie nicht zum Überleben braucht.
Vorsichtig schaue ich zum Himmel auf: Eine dicke Wolkendecke verbirgt die meisten Sterne hinter sich und der Mond, der blasser wirkt als jemals zuvor, wird von schwarzen Wolkenfetzen durchzogen. Selbst die Nacht scheint in Trauer über König Garols Tod.
Ich schicke ein Stoßgebet zur Kriegsgöttin Rua, zu deren Ehren unser Kriegerritual ausgerichtet wird.
»Hältst du mich für würdig eine Kriegerin zu sein? Wirst du mir helfen einen Weg durch das Labyrinth zu finden?«, flüstere ich ins Dunkel.
Ich erhalte keine Antwort.
Doch eines ist gewiss: Wenn es schon kein anderer tut, so muss wenigstens ich an mich glauben.
***
Ich liege ausgestreckt auf den weichen Fellen meiner Schlafstätte, starre an die Decke und höre dem Knacken und Knistern der langsam erlöschenden Glut in der Kochstelle zu. Arvi ist noch nicht nach Hause gekommen und mein Vater liegt wie betäubt im hinteren Teil der Hütte. Nachdem ich zurückgekommen bin, ist er fortwährend durch den Raum gestreift, sodass ich ihm letztendlich einen Aufguss mit Wolfsfuß eingeflößt habe, um uns beiden etwas Ruhe zu verschaffen. Bei ihm hat es gewirkt. Bei mir nicht.
Ich bin hellwach und das scheint sich in nächster Zeit nicht ändern zu wollen. Denn meine Gedanken kreisen unaufhörlich um König Garol, um den Mörder Zorje und seine Hexe und vorrangig natürlich um das Waldlabyrinth. Allein um für Letzteres gewappnet zu sein, sollte ich ausreichend ruhen, aber jedes Mal, wenn ich meinem Verstand befehle das Denken einzustellen, geht es wieder von vorne los. Dann sehe ich König Garols Gesicht vor meinem inneren Auge, seine aristokratische Nase, die gütigen braunen Augen und das freundliche Lächeln.
Ich war ungefähr sechs Jahre alt, als ich unseren König zum ersten und leider auch zum letzten Mal sah, aber ich erinnere mich noch genau an diese Begegnung. Er ist damals auf der Durchreise gewesen und hat nur kurz in Emek Rast gemacht. Ich weiß noch, dass er in einer riesenhaften Kutsche vorgefahren ist. Sie war mit wunderschönen bunten Malereien verziert und wurde von zwei edlen pechschwarzen Pferden gezogen, denen aufgrund der Kälte kleine Wölkchen aus den Nüstern stoben. König Garol stieg aus der Kutsche, ein Lächeln auf den schmalen Lippen, und winkte uns Kindern, die wir uns in respektvoller Entfernung um die Kutsche versammelt hatten, sogar zu. Das Schwert, das er am Gürtel trug, sehe ich noch heute vor mir: Es war ein Langschwert mit goldenem Griff und dem Familienwappen Garols, einem majestätischen Adlerkopf, als Knauf. Sie war formvollendet, die schönste Waffe, die ich je gesehen habe … Ob sich das Schwert nun in Zorjes bösartigen Klauen befindet?
Sobald ich an den Thronräuber denke, erhitzt sich das Blut in meinen Adern und mein Körper bebt vor Zorn. Da taucht dieser elende Mörder, dieser Dieb und Scharlatan wie aus dem Nichts auf, reißt gewaltsam den Thron an sich und behauptet, die dunklen Mächte hätten ihn auserkoren – wer’s glaubt! Zorje macht sich alte Mythen und Legenden zunutze, um das Volk zu erschrecken. Und diese Dummköpfe lassen es zu. Dabei ist Magie nichts weiter als eine ausgestorbene Religion, an deren lächerliche Thesen sich niemand mehr erinnert. Kein Mensch glaubt in diesen Zeiten noch ernsthaft an Zaubertränke und Hexensprüche, mögen sie nun der Schwarzmagie oder der Lichtmagie entspringen. Ich könnte mir vorstellen, dass nicht einmal Zorje und seine Hexe daran glauben.
Ich habe diesen Wahnsinnigen durchschaut. Er verunsichert die Leute mit Gerüchten und banalen Taschenspielertricks, erweckt damit den Glauben an die Magie aufs Neue und nutzt die Furcht des Volkes vor einer unbekannten Macht, um uns kleinzuhalten. Zorje will uns weismachen, dass seine Armee durch Schwarzmagie gestärkt ist und wir sie deshalb niemals besiegen können. Auf diese Weise schüchtert er vielleicht andere Krieger Temiens ein, aber nicht die Emeker. Wir werden kämpfen. Und ich werde an vorderster Front stehen. Sofern ich den Ausgang aus dem Waldlabyrinth finde.
Die Zweifel, die mich nach meinem Gespräch mit Fenk befallen haben, sind bisher nicht wieder verschwunden und ich habe das leise Gefühl, dass diese ungebetenen Gäste über Nacht bleiben.
Inzwischen hatte ich genügend Zeit, um über all die jungen Männer nachzudenken, die sich an ihrem sechzehnten Geburtstag zum Ritual gemeldet haben und nie mehr zurückgekommen sind. Obwohl sie darauf vorbereitet wurden, ohne Waffen und Vorräte, völlig auf sich allein gestellt den richtigen Weg zu finden, haben sie das Labyrinth nicht bewältigt.
Ich weiß nicht, was im Wald passieren wird – ob ich kämpfen oder meinen Willen beweisen muss, ob meine Fähigkeiten geprüft oder meine Grenzen ausgelotet werden. Keiner der Krieger redet je darüber. Ich habe keine Ahnung, weshalb die, die nicht mehr wiederkehrten, versagt haben könnten. Ich erinnere mich an die Verschwundenen. Immerhin waren sie meine Nachbarn, Freunde meines Bruders oder Jungen, die ich von Festen und Versammlungen kannte. Sie zeichneten sich durch Mut, Kraft und Entschlossenheit aus – dennoch kamen sie nicht zurück und ihre sterblichen Überreste wurden niemals gefunden.
So oft ich darüber nachdenke, komme ich schlussendlich stets zu demselben Ergebnis: Die Kriegsgöttin Rua entscheidet, wer eines Kriegers würdig ist und wer nicht. Wahrscheinlich sollte ich mein Schicksal vertrauensvoll in ihre Hände legen und anstandslos annehmen, was sie mir beschert, aber dieser Gedanke fühlt sich schlicht falsch an.
Mein gesamtes Leben lang habe ich gelernt, dass ich kämpfen muss für das, was ich will. Ich kann jetzt nicht einfach damit aufhören und darauf vertrauen, dass es ein Schicksal gibt, das es gut mit mir meint.
Aber was, wenn mein Kämpfen nicht ausreicht? Was, wenn mein Wille nicht stark genug ist? Was, wenn ich es nicht schaffe?
Ich seufze, schließe die Augen und massiere meine Schläfen. Allmählich bekomme ich Kopfschmerzen von den schweren Gedanken, die wie fette Libellen brummend durch meinen Schädel schwirren.
»Du kannst alles schaffen. Lass dir niemals von jemandem einreden, dass es nicht so ist.«
Die Worte stammen aus meiner Erinnerung und doch höre ich die Stimme überdeutlich, als läge der Sprechende direkt neben mir. Es sind Vigos Worte und es ist sein herausfordernder Tonfall. Der, den er immer angeschlagen hat, wenn ich mich mal wieder am liebsten in mir selbst verkrochen hätte.
Sofort entspannen sich meine verkrampften Schultern und ich spüre, wie sich meine Atmung beruhigt. Ich erinnere mich deutlich an den Tag, an dem er die Worte sprach. Zwei Jahre ist es erst her, aber es fühlt sich an, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.
Ich saß im Schneidersitz auf der Erde und schaute auf das scheinbar endlose Wasser vor mir. Die Sonnenstrahlen spielten mit den sanften Wellen und ließen ihre winzigen Kronen funkeln wie Edelsteine. Ich fragte mich unwillkürlich, ob mein nasses Gesicht ebenfalls so schön glitzerte, und spürte die heißen Tränen, die unaufhörlich über meine Wangen rollten.
Das war der Tag, an dem ich meinen neuen Spitznamen bekam: Kira das Wolfsmädchen. Das Gerücht, ich sei eine Kreuzung zwischen Mensch und Wolf, das mein Bruder in die Welt gesetzt hat, verbreitete sich wie ein Lauffeuer und Kinder jedes Alters zeigten mit dem Finger auf mich, beschimpften mich als Monster oder lachten mich aus. Endlich sei klar, weshalb ich keine menschlichen Talente besitze, meinten sie. Ich solle mich in die Wälder verziehen, den Mond anheulen und den einen oder anderen Hasen reißen, scherzten sie.
Weinend abzuhauen hielt ich daraufhin für eine großartige Idee und so flüchtete ich zu unserem Ufer – Vigos und meinem Ufer, an dem wir uns täglich trafen und das derart versteckt am Waldrand lag, dass uns dort nie jemand finden konnte. Dieser Ort war unser Kleinod, unsere Stätte der Ruhe und des Friedens.
Es dauerte nicht lang, da hörte ich das Rascheln und Knacken, das stets Vigos Ankunft ankündigte. Obwohl ich nicht aufhören konnte zu weinen, musste ich schmunzeln. Dieser Kerl würde es nie schaffen, sich leise zu bewegen.
Er setzte sich neben mich, legte einen Arm um meine Schultern und drückte mich an sich. Ich schloss die Augen, genoss die Wärme, die sein Körper spendete, und sog seinen herben Duft in meine Lungen. Er roch immerzu nach Leder – kein Wunder, da seine Mutter Ledermacherin ist – und nach etwas Eigenem, Süßlich-Frischem, das mich selbst im dunkelsten Winter an Sonnenschein erinnerte und das ich nie wieder gerochen habe, seit er fort ist.
»Sie sehen dich nicht«, sagte er und seine samtige Stimme strich geradezu über meine Haut. »Nicht wie ich.«
Ich schielte ihn von der Seite an, musterte seine friedliche Miene, den liebevollen Blick. Er hatte beinahe die gleiche Augenfarbe wie ich, nur dass der bernsteinfarbene Ton bei mir sehr viel schmutziger wirkte, nicht so rein und glänzend. Bei Vigo war es fast, als durchzögen Goldfäden seine Augen.
Ich schniefte. »Was siehst du denn?«
Er ließ mich los, lehnte sich zurück und lächelte. »Ich sehe Stärke und Entschlossenheit. Ich sehe einen Mut, der manch großem Krieger nicht beschert ist. Ich sehe einen eisernen Willen. Und zwischen alldem sehe ich Güte und Reinheit.« Er schob seine Hand in den Hemdsärmel und wischte damit die Tränenspuren von meinem Gesicht. »Ich sehe meine Kira.«
»Vielleicht trügen dich deine Augen, wenn nur du allein das alles sehen kannst«, erwiderte ich trotzig.
»Um die bedeutenden Dinge zu sehen, brauche ich meine Augen nicht.« Vigo klemmte einige Haarsträhnen, die der Wind in mein Gesicht blies, hinter mein Ohr. Als seine Finger dabei sanft meine Wange streiften, kribbelte mein gesamter Körper – so fühlten sich seine Berührungen neuerdings immer an, nicht mehr unschuldig wie damals, als wir noch Kinder gewesen waren.
Ich schluckte und blickte vorsichtig in seine goldenen Augen.
»Sie wissen nicht das Geringste. Du kannst alles schaffen. Lass dir niemals von jemandem einreden, dass es nicht so ist.« Sein aufrichtiges Lächeln brannte sich in meine Seele und ließ mir den Atem stocken. »Du könntest die gesamte Welt regieren, da bin ich sicher.«
Ich umklammerte meine Beine, schaute verlegen zu Boden und stupste ihn mit der Schulter an. »Unsinn …«
»Doch, das glaube ich. Ich glaube an dich, Kira, vergiss das nie.« Seine Miene war todernst. »Du bist besonders, das sehen alle – sie deuten es bloß falsch. Also sei eben das gefährliche Raubtier, das sie aus dir machen wollen, und zeig ihnen, dass sich keiner mit dir anlegen darf, mein tapferes Wolfsmädchen.«
Die Tränen waren endgültig versiegt und wie von selbst formte sich ein kleines Lächeln auf meinen Lippen. Plötzlich fand ich den Spitznamen nicht mehr so schlimm, er gefiel mir sogar, seit er eine neue Bedeutung bekommen hatte. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wie Vigo es jedes Mal schaffte, etwas Grauenvolles in einen anderen Blickwinkel zu rücken und so einen ganz neuen, besseren Eindruck davon zu erzeugen.
Er sagte immer, dass ich etwas Besonderes sei, dabei war er es. Mein loyaler, kluger und humorvoller Freund, der immer für mich da war, hatte meine Welt stets friedlicher, freundlicher und heller gemacht. Er brachte Licht in mein Leben. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass dies die Lichtmagie ist, von der die alte Religion erzählt. Die reine Liebe zu jemandem, der einen vervollständigt und zu einem besseren Menschen macht.
»Irgendwann werden wir Schulter an Schulter zusammen kämpfen, sie werden schon sehen. Zeig’s ihnen, Wolfsmädchen.«