Dieses Buch ist Daniel Kyburz gewidmet, einem
Jungen, dessen Durchhaltevermögen mich beeindruckt
hat und der allen Umständen zum Trotz nie aufgehört
hat, an seine Träume zu glauben.

Die Ereignisse wurden von Damaris Kofmehl an Ort
und Stelle in Pakistan recherchiert. Das Buch entstand
unter anderem auch dank der aktiven Beteiligung
verschiedener Hauptprotagonisten dieser dramatischen
Story. Den größten Beitrag leisteten dabei Deborah und
Paul-Gerhard, die nicht nur viel erzählten, sondern auch
das Manuskript am Schluss nochmals lasen und letzte
Korrekturen und Präzisierungen vornahmen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die Bibelstellen wurden der revidierten «Hoffnung für alle» (2002)
und der Lutherbibel (1999) entnommen.

© 2019
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.
ISBN: 9783746070865

Inhalt

Teil I

Der Auftakt

Taxila, Pakistan – Freitag, 9. August 2002

07:00 – Nichts deutete an diesem Freitag darauf hin, dass Gefahr drohte. Es hatte die ganze Nacht in Strömen geregnet, und die Erleichterung war sowohl Ärzten, Krankenschwestern als auch Patienten ins Gesicht geschrieben. Endlich hatte die Wasserknappheit, mit der sie sich fast den ganzen Sommer über gequält hatten, ein Ende. Nach 46 Grad im Schatten und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent war ein Temperatursturz von 11 Grad ein wahrer Segen für Leib und Seele. Viele Kinder – und sogar ein paar ältere Männer und Frauen – waren fröhlich in ihren luftigen Baumwollkleidern zwischen den Gebäuden der Klinik in Taxila hin und her getanzt und hatten das prickelnde Gefühl des warmen Regens auf ihrer Haut genossen.

Auch der Augenarzt Joseph Lall, der mit seiner ganzen Familie auf dem weitläufigen Klinikgelände wohnte, freute sich über den lang ersehnten Niederschlag. In der Nacht war er mehrmals aufgewacht und hatte einfach dem gleichmäßigen Klang des niederprasselnden Regens auf dem Dach gelauscht, ein Geräusch, das er seit Monaten nicht mehr gehört hatte. Morgen würde es erfreulich kühl sein und wenig Patienten geben, war sein letzter Gedanke gewesen, bevor er wieder eingeschlafen war.

Am nächsten Morgen regnete es noch immer. Die Luft roch angenehm frisch, die Palmen und Sträucher erstrahlten in besonders intensiven Farben, als wären sie über Nacht neu gestrichen worden, und ein paar kleine Vögel flatterten über Josephs Kopf hinweg, als er sein Haus verließ. Es versprach, ein guter Tag zu werden.

Das Krankenhaus war vor genau achtzig Jahren von einem amerikanischen Ehepaar gegründet worden und hatte sich mit der Zeit einen sehr guten Ruf bei der muslimischen Bevölkerung erworben. 115 000 Patienten wurden jährlich behandelt und versorgt. Die Klinik war vor allem berühmt für ihre Augenoperationen, und ärmere Pakistanis unternahmen tagelange Reisen, um hier untersucht und gepflegt zu werden. An normalen Tagen behandelten Joseph Lall und seine Kollegen über 300 Patienten und führten um die 140 Operationen zur Behandlung des grauen Stars durch. Joseph liebte seinen Job, ja, er sah ihn als eine Art Berufung.

Wie jeden Morgen begab sich der Arzt auch heute zuerst zur kleinen Krankenhauskapelle, die sich an der Frontseite des Geländes, nur wenige Meter hinter dem Eingangstor, befand und auch von der öffentlichen Straße her für Außenstehende einfach zugänglich war. Ein paar Krankenschwestern gesellten sich zu ihm und machten ihn höflich darauf aufmerksam, dass er seinen Schirm vergessen hatte.

«Möchten Sie unter meinen Schirm kommen, Doc», rief ihm Parveen, eine zwanzigjährige Assistentin, schon aus einiger Entfernung zu. Joseph winkte ab.

«Nein, danke. Ich kann nicht genug bekommen von dieser himmlischen Nässe. Ist es nicht ein herrlicher Morgen»

07:25 – Als sie das eiserne Tor erreichten, das das Grundstück der Kapelle vom übrigen Klinikgelände abtrennte, wurde der Regen heftiger und die Krankenschwestern begannen vergnügt zu lachen, während sie rasch über den schmalen Pfad zur Kapelle tänzelten, wo sie unter dem geschützten Vordach ihre Schirme zuklappten. Es war seit vielen Jahren Tradition, dass das Personal der Klinik die Hektik des Tages mit einem gemeinsamen besinnlichen Moment in der Kapelle begann, und wer immer sich früh morgens einige Minuten Zeit nehmen konnte, tat sein Möglichstes, um dabei zu sein.

Joseph belegte wie immer seinen Stammplatz in der dritthintersten Bankreihe auf der rechten Seite, wo sich traditionsgemäß die Männer hinsetzten, während die Kirchenbänke auf der linken Seite für die Frauen reserviert waren. Auch an diesem Morgen war die Kapelle gerammelt voll, und pünktlich um 7 Uhr 30 stimmten rund hundert Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern und anderes Personal mit ihren Familien in den ersten Chorus ein. Dann wurden einige kurze Gebete gesprochen, und weil es Freitag war, formulierte jemand ein paar Gedanken zur Woche.

Die Feier dauerte normalerweise fünfzehn Minuten, und freitags dreißig Minuten wegen der wöchentlichen Ansprache. Aber aus unerfindlichen Gründen fiel heute die Rede kürzer aus als sonst, und das Abschlusslied wurde spontan um vier Strophen gekürzt, so dass die morgendliche Feier früher als üblich zu Ende war.

Die Damen erhoben sich zuerst und spazierten in Zweierreihen zum Ausgang. Da der Mittelgang nur sehr schmal war, mussten die Männer immer warten, bis alle Frauen die Kapelle verlassen hatten, bevor auch sie aufstehen konnten. Normalerweise ließ sich Joseph eher Zeit und war sowohl einer der Letzten, die kamen, als auch einer der Letzten, die gingen. Aber irgendetwas in ihm drängte ihn heute zur Eile, und er schloss sich unmittelbar an die hinterste Reihe der Frauen an. Alle plauderten fröhlich durcheinander, während sie begannen, ihre Schirme aufzuspannen und in den Regen hinauszutreten. Der Augenarzt warf einen Blick auf die Uhr, die über dem Eingang hing.

07:48 – Und dann geschah es. Ein Blitz erleuchtete die Kapelle, gefolgt von einer gewaltigen Explosion, die sämtliche Fenster zerschmetterte und die Menschen zu Boden warf. Joseph spürte, wie seine linke Gesichtshälfte auf den Steinboden prallte, während er aus dem Augenwinkel die Reflexion eines weißen Lichts an der Decke erkennen konnte. Mehrere Leute fielen direkt auf ihn.

«Ein Blitz hat eingeschlagen!», war sein erster Gedanke, und obwohl ihn das Gewicht der anderen schier erstickte, dachte er erleichtert: «Mein Gott, ich bin am Leben!»

Für einen Moment war es still. Erdrückend still. Das einzige Geräusch, das Joseph wahrnahm, war der rasende Pulsschlag seines eigenen Herzens. Sonst war nichts zu hören. Die Stille jagte ihm fast den größeren Schrecken ein als der ohrenbetäubende Knall der vorangehenden Explosion. Was hatte das alles zu bedeuten Was war geschehen

Draußen waren jetzt Schreie zu hören. Der Arzt war zwischen die Kirchenbänke gefallen, und als er versuchte, sich aufzurichten, trampelten mehrere Leute auf seine Beine, weil die in Panik geratene Menschentraube rückwärts in die Kapelle zurückstürmte.

«Das war kein Blitz!», schoss es Joseph durch den Kopf. «Wir werden angegriffen!» Er hatte keine Ahnung, was als Nächstes käme. Wie viele Angreifer waren an dem Anschlag beteiligt Wo waren sie positioniert Wann würden sie beginnen, durch die zerborstenen Fenster wahllos auf die Menge zu schießen oder Handgranaten in die Kapelle zu werfen Wie standen die Chancen, hier lebend rauszukommen

Zitternd rappelte der Arzt sich auf und spähte vorsichtig über die Kante der Kirchenbank, um sich einen ersten Eindruck vom Ausmaß der Explosion zu verschaffen. Der Anblick war erschütternd. Der Boden war übersät mit Glas- und Stahlsplittern, Fetzen von Kleidungsstücken und wimmernden und stöhnenden Menschen, die sich ihre offenen Wunden hielten. Verwirrung herrschte, und eine beklemmende Angst hing in der Luft. Das bunte Fensterbild über dem Altar am andern Ende der Kapelle wies ein kleines rundes Loch auf, genau über dem betenden Jesus im Garten Gethsemane. Das Glas der Wanduhr über dem Eingang der Kapelle war ebenfalls zersprungen, die Uhr war stehen geblieben, und zwar exakt zum Zeitpunkt der Explosion, um 7 Uhr 48.

Joseph gab sich Mühe, einen klaren Kopf zu behalten. Es fielen keine Schüsse, also ging der Arzt davon aus, dass er sich hinter der Bank hervorwagen konnte. Draußen waren noch immer einzelne Schreie zu hören, dazu verzweifeltes Weinen. Hätten die Angreifer ihre Opfer über den Haufen schießen wollen, wäre dies bereits geschehen, überlegte Joseph, während er sich hastig den Weg zum Ausgang freirempelte.

Die Explosion hatte auch hier alle umgeworfen, und der Platz vor der kleinen Kirche glich einem einzigen Schlachtfeld. Auf der linken Seite, unmittelbar neben dem Eingang, befanden sich zwei metergroße und etwa fünfzig Zentimeter tiefe Krater. Überall auf dem Rasen lagen blutverschmierte Körper, zerfetzte Schirme, zerrissene Kleider, Schuhe, weiße Häubchen von Krankenschwestern und kleine Metallstücke von explodierten Granaten. Es regnete in Strömen, und die Wasserpfützen auf dem Vorplatz hatten sich in Blutlachen verwandelt.

«Oh Gott», murmelte Joseph zu sich selbst, «oh mein Gott.» Er ließ seinen Blick über die zahllosen Verletzten gleiten und merkte, dass sie sich alle unmittelbar vor der Kapelle befanden, während der Pfad zum eisernen Tor völlig frei und unverwüstet war. Offensichtlich hatten die Angreifer die Bomben aus dieser Richtung in die Menge geworfen und waren vermutlich auch auf diesem Wege wieder geflohen.

Kurz entschlossen rannte Joseph zum Tor, wo er einen bestürzten Sicherheitsbeamten, einen völlig perplexen Torhüter und eine Hand voll anderer Leute vorfand, die einfach wie versteinert zur Kapelle blickten, ohne irgendetwas zu unternehmen.

«Wo sind sie hingerannt!», schrie der Augenarzt und fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum. «Ihr müsst sie doch gesehen haben! Wieso steht ihr hier rum! Lauft ihnen nach, lasst sie nicht entkommen! Verständigt die Polizei, so tut doch etwas, um Himmels willen!» Es dauerte mehrere Sekunden, bis der Torhüter fähig war, etwas zu sagen.

«Er hat mir seine Waffe an den Kopf gehalten», stammelte er. «Ich ... ich glaubte, ich würde sterben.»

«Wie viele waren es», fragte Joseph.

«Sie waren zu dritt», berichtete der Wächter. «Sie sagten, sie würden einen Patienten besuchen, deshalb hab ich sie reingelassen. Aber dann schlugen sie sehr zielstrebig den Weg zur Kapelle ein. Ich hab sie zurückgerufen, aber da zückte der eine seine Waffe und zwang mich ins Wächterhäuschen. Und dann hab ich die erste Explosion gehört.»

«Es ging alles so schnell», erklärte der Sicherheitsbeamte. «Ich war etwas weiter unten, als es passierte. Als ich dazukam, war es schon zu spät. Zwei von ihnen hatten bereits begonnen, Handgranaten zu werfen.»

«Und dann», wollte Joseph wissen. «Habt ihr gesehen, wo sie hingerannt sind»

«Zwei sind in die Richtung gelaufen», berichtete der Sicherheitsbeamte mit einer flüchtigen Handbewegung. «Ich hab gesehen, wie jemand sie verfolgt hat, aber ich glaube kaum, dass er sie erwischen wird.»

«Und der Dritte»

«Kann ich nicht sagen. Keine Ahnung. Als die erste Granate hochging und alles durch die Luft wirbelte, hab ich ihn aus den Augen verloren. Und dann war hier die Hölle los.»

Joseph nickte.

«Habt ihr die Polizei schon verständigt»

«Die externe Telefonleitung ist tot», sagte der Torhüter. «Die Explosion hat die Leitungskabel zerstört.»

«Dann versucht es hinten in der Kantine oder sonst wo. Aber bringt sie her, sagt ihnen, wir wären von Terroristen überfallen worden.» Er winkte die andern mit einer Kopfbewegung zu sich. «Und wer zwei Hände hat, um anzupacken, der soll sich bitte nützlich machen. Wir brauchen keine Gaffer, wir brauchen Helfer! Los!»

Mit diesen Worten eilte er zurück zur Kapelle, wo soeben ein paar Krankenschwestern heraustorkelten. Joseph schrie ihnen durch den Regen zu, sie sollten Tragbahren vom Krankenhaus herüberholen. Die Schwestern nickten und machten sich unverzüglich auf den Weg. Der Augenarzt erteilte jedem, der einigermaßen aufrecht stehen konnte, Befehle, sich um die andern zu kümmern, und versuchte zwischen den vielen Menschen diejenigen zu finden, die am ernsthaftesten verletzt waren und sofortige Hilfe brauchten.

Ein Mädchen war durch die Explosion in einen nahe gelegenen Maschendrahtzaun geschleudert worden. Eine Krankenschwester hatte ernsthafte Verletzungen am Bein abgekriegt und versuchte vergeblich, die Blutungen mit ihrem Kleid zu stoppen. Die meisten liefen wie benommen über den matschigen Rasen und hielten sich ihre blutenden Wunden. Sie sahen aus wie Schlafwandler und wirkten ziemlich verstört. Einige saßen einfach mitten im Regen und schluchzten stoßweise. Andere lagen mit verrenkten Gliedern auf dem Boden und rührten sich nicht.

Es war ein Anblick wie aus einem Horrorstreifen, und Joseph hätte sich gewünscht, dass es nichts weiter als ein schrecklicher Alptraum war, aus dem sie alle so bald wie möglich erwachen würden. Aber das war es nicht. Nein, jemand hatte sie tatsächlich in die Luft jagen wollen, und das Resultat war verheerend.

08:03 – Dr. Ernest hatte sich ihm unauffällig von hinten genähert und ihm die Hand auf die Schulter gelegt.

«Hey, Joseph, alles in Ordnung mit dir»

Joseph drehte sich ihm zu.

«Ich denke schon», murmelte er. «Es ist ein Wunder, dass ich nichts abgekriegt habe.»

«Aber du blutest doch.»

«Ich blute Wo»

«Am Ohr», sagte der Arzt, «ziemlich heftig, würde ich sagen. Spürst du nichts»

Joseph fasste sich erstaunt mit der linken Hand an sein Ohr, und als er sie zurückzog, war sie voller Blut.

«Ich hab überhaupt nichts davon gemerkt», wunderte sich der Augenarzt. Dr. Ernest reichte ihm ein Taschentuch, damit er es gegen die Wunde halten konnte.

«Schmerzen»

«Die verschiebe ich auf später», meinte Joseph flüchtig. «Jetzt haben wir erst mal alle Hände voll zu tun. Ich hab ein paar Schwestern auf die Station geschickt, um Tragbahren zu organisieren.»

«Gut», nickte Dr. Ernest. «Die Leute in der Kapelle haben hauptsächlich Schnittverletzungen durch die zerbrochenen Scheiben und die herumfliegenden Glassplitter abgekriegt. Doch soweit ich es beurteilen kann, wurden keine lebenswichtigen Organe verletzt. Die Granaten sind zu weit von ihnen entfernt explodiert.»

«Gott sei Dank. Und hier draußen»

Dr. Ernest seufzte.

«Hier sieht es nicht gut aus, Joseph. Zwei Granaten explodierten mitten in der Menge. Die Krater hast du bestimmt gesehen. Einige Schwestern wurden von Splittern in den Rücken getroffen, andere von vorne.»

«Ist ... ist jemand dabei getötet worden»

«Wir wissen es noch nicht.» Dr. Ernest deutete in Richtung der Krater, wo sich ein paar Krankenschwestern um eine am Boden liegende Person geschart hatten. «Parveen hat es ziemlich böse erwischt.»

Joseph horchte auf.

«Parveen» Erschrocken blickte er zu ihr hinüber. Außer einer Menge Blut war nicht viel zu sehen.

«Der vordere Teil der Granate hat ihren Bauch zerfetzt und blieb in ihrem Unterleib stecken.»

«Oh Gott.»

«Ihre Überlebenschancen sind äußerst gering.»

Joseph schüttelte betroffen den Kopf.

«Sie bot mir heute Morgen an, unter ihren Schirm zu kommen», murmelte er wie zu sich selbst. «Sie ist eine der liebenswürdigsten Schwestern, die ich kenne.»

«Ich weiß», bestätigte Dr. Ernest. «Es tut mir leid.»

Sie verharrten eine Weile, ohne etwas zu sagen, und beobachteten, wie die vielen Menschen sich gegenseitig vom Boden aufhalfen und sich in Richtung Krankenhaus entfernten. In der Zwischenzeit kamen die Ersten mit den Tragbahren zurück, und die Ärzte und Schwestern, die selbst nicht ernsthaft verletzt waren, legten die Verwundeten auf die Matten und brachten sie rüber in die Klinik.

Der erste Moment der Panik war einer unglaublichen Besonnenheit gewichen. Jeder tat das, worin er bestens ausgebildet und trainiert war, und zwar so professionell und ruhig, als hätte er es schon tausendmal vorher gemacht. Ja, wer von außen zusah, musste glauben, es handle sich hier um ein extra eingeflogenes Ärzteteam, das jahrelang auf einen solchen Notfall vorbereitet worden war.

Die sieben anwesenden Ärzte eilten in den Operationssaal, der keine zweihundert Meter von der Kapelle entfernt lag, und machten sich unverzüglich an die Arbeit. Innerhalb kürzester Zeit waren sämtliche Binden, Tücher und Bettlaken blutdurchtränkt, und der sonst klinisch saubere Operationssaal glich einem Schlachthof.

Sämtliche Räume wurden in Notfallstationen umfunktioniert. Freiwillige Helfer schoben die Verwundeten auf fahrbaren Betten durch die Gänge und hinterließen überall Spuren von Schmutz und Blut. Die Schwestern sorgten laufend für Nachschub an Schmerz- und Betäubungsmitteln. Zwei Arbeiter entfernten in Rekordzeit die Sitze einiger Minibusse, um damit die Schwerverletzten in ein größeres und besser ausgestattetes Krankenhaus zu transportieren. Hunderte von Gebeten wurden an diesem Morgen gen Himmel geschickt.

In der Zwischenzeit war auch die Polizei eingetroffen und blockierte die Klinikeinfahrt, um die vielen Schaulustigen von dem Gelände fern zu halten. Es begann nur so zu wimmeln von Polizeioffizieren, Behördenvertretern und Politikern, die aus der rund 35 Kilometer entfernten Hauptstadt Islamabad angereist waren. Alles, was Rang und Namen hatte, tauchte auf, sogar BBC, CNN und etliche andere internationale Fernsehstationen.

11:00 – Als jemand Joseph Lall drei Stunden später in den Operationssaal schob, damit er endlich die Wunde an seinem Ohr behandeln ließ, erfuhr er, dass Parveen ihren Verletzungen erlegen war. Sie hatte erst ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert, ein junges Mädchen voller Tatendrang. Und jetzt war sie tot.

Ihr Tod war so grausam und unbarmherzig gewesen, dass Tränen der Wut in Josephs Augen schossen. Wer konnte bloß so etwas Furchtbares tun Und warum Die Fragen hämmerten unaufhörlich in seinem Kopf, während Dr. Ernest den Glassplitter aus seinem Ohr entfernte und die Wunde ohne Betäubung zunähte. Doch Joseph spürte keinen Schmerz.

Nicht weit von Taxila entfernt ...

Murree – ein Jahr früher,

Samstag, 15. September 2001

14:00 – Deborah schleppte ihren zweiten Koffer zum kleinen Steinmäuerchen vor dem Internat und stellte ihn neben die Gepäckstücke der anderen Schüler. Sie warf sich ihr langes dunkelblondes Haar in den Nacken und hielt Ausschau nach ihren vier jüngeren Geschwistern, um sich zu vergewissern, dass alle in Sichtweite waren. Sie hatte keine Lust, jeden Einzelnen zu suchen, wenn ihre Eltern den Tee ausgetrunken hatten. Der Flug nach Deutschland war gebucht, und in wenigen Tagen würden sie bereits in ihrem Heimatland sein – eine seltsame Vorstellung. Deborah wäre viel lieber hier geblieben, hier in der Internatsschule in Pakistan. Hier war sie zu Hause, hier hatte sie in den vergangenen zweieinhalb Jahren Wurzeln geschlagen und viele Freunde gefunden. Die ganze Schule war zu ihrer Familie geworden, und von einem Tag auf den andern einfach so auseinander gerissen zu werden, war unerträglich für die Fünfzehnjährige.

«Die Schule wird bis auf weiteres geschlossen werden», so hatte man ihnen gestern Abend eröffnet, «morgen kommen eure Eltern und werden euch abholen.» Schon seltsam. Wenn in Deutschland ein Schuldirektor verkündet hätte, der Unterricht würde eingestellt und die Schule auf unbestimmte Zeit geschlossen, wäre wohl jeder Schüler vor Freude an die Decke gesprungen. Ist es nicht der Traum eines jeden Kindes, dass die Schule Feuer fängt, alle Lehrer erkranken oder sonst irgendetwas passiert, damit man plötzlich nicht mehr zum Unterricht muss Doch für die rund 150 Schüler der «Murree Christian School», der MCS, war das Schließen der Schule das Schlimmste, was ihnen passieren konnte. Es bedeutete, Abschied zu nehmen von Freunden, die sie vielleicht nie mehr wiedersehen würden. Viele Missionsgesellschaften zogen ihre Mitarbeiter aus Pakistan zurück, vor allem diejenigen, deren Kinder an der Schule in Murree unterrichtet wurden. Niemand wusste, wie lange dieser Zustand andauern würde.

«Die Lage ist zu gefährlich», hatte man ihnen erklärt, «wir können es nicht verantworten, dass ihr hier bleibt.» Es wurde versprochen, dass die Schule im Januar wieder eröffnet würde. Doch Gerüchte gingen um, dass sie damit nur die Schüler beruhigen wollten. Die Wahrheit war: Niemand wusste, was geschehen würde. Der 11. September hatte alle in tiefe Ungewissheit gestürzt.

Es war ein schrecklicher Tag gewesen, der 11. September. Deborah war eben in ihr Zimmer gekommen, als ihre Mitbewohnerin ihr eröffnete, ein Flugzeug wäre in New York in ein Gebäude gestürzt. Deborah dachte sich nicht viel dabei. Sie hatte noch nie zuvor von den Zwillingstürmen gehört, und als sie zusammen mit den anderen Schülern im Fernsehen mitverfolgte, wie die beiden Hochhäuser einstürzten, ahnte sie nicht, dass dieses Ereignis auch in ihrem Leben Wellen schlagen würde, größere Wellen, als sie es sich jemals hätte träumen lassen. Es war, als hätte in dem Augenblick, als das erste Flugzeug den ersten Turm rammte, eine unsichtbare Zeitbombe zu ticken begonnen. Doch davon wusste in diesem Moment niemand etwas. Und vielleicht war es auch besser so ...

Am größten war der Schock natürlich für die rund dreißig amerikanischen und kanadischen Kinder, die die Murree Christian School besuchten. Aber auch alle anderen Kinder der MCS, die aus England, Holland, Finnland, Deutschland, der Schweiz, Australien, Neuseeland und von den Philippinen kamen, waren betroffen und erschüttert.

Am nächsten Morgen hielt der Schulleiter, Mr. Russell Morton, in der großen Turnhalle, die gleichzeitig als Auditorium diente, eine Rede, und es wurde eine Gedenkminute für die Opfer eingelegt. Später traf Deborah auf Larry Cutherell, den Finanzdirektor der Schule, der ebenfalls ziemlich mitgenommen war von der Geschichte, weil sein Bruder zur Zeit des Attentats unmittelbar am Tatort in New York gewesen war und alles live miterlebt hatte.

Larrys Bruder Luke arbeitete als Arzt in einem Missionskrankenhaus in Pakistan. Nun war er gerade auf Heimaturlaub in den USA und nahm zusammen mit über 150 Ärzten an einem Chirurgenkongress teil, der ursprünglich im World Trade Center hätte abgehalten werden sollen. Doch weil den Organisatoren die Räumlichkeiten zu teuer waren, verlegten sie den Kongress kurzfristig in ein Hotel, gleich gegenüber von den Zwillingstürmen. Am Morgen des 11. September warteten die Chirurgen auf einen Professor aus New York City, der den ersten Vortrag halten sollte. Nachdem er sich bereits zehn Minuten verspätet hatte, rief er von seinem Handy aus an und berichtete, er würde es leider nicht schaffen zu kommen, da es einen Flugzeugunfall gegeben hätte.

Zuerst wusste niemand, was das bedeutete, bis die Meldung hereinkam, die Türme des World Trade Centers stünden in Flammen. Augenblicklich teilten sich die Ärzte in Gruppen auf. In kürzester Zeit waren sie einsatzbereit und konnten sich um die vielen Verletzten kümmern. Luke sah mit eigenen Augen, wie die Türme in sich zusammenstürzten. Er habe kaum glauben können, dass dies alles wirklich passierte, erzählte er seinem Bruder.

«Wir hatten ja keine Ahnung, welche Konsequenzen das für uns hier in Pakistan haben würde», erklärte Larry gegenüber Deborah. «Es ist tragisch. Es ist einfach tragisch.»

«Ja, das ist es», bestätigte Deborah.

Die folgenden Tage verbrachten Schüler wie Lehrer nur noch vor dem Fernseher. Doch die Stimmung erreichte ihren absoluten Tiefpunkt, als sie am Freitagabend erfuhren, dass die Schule schließen würde und jeder in sein Heimatland zurückreisen müsste. Die Nachricht war niederschmetternd für alle. Ein Junge wurde gar so wütend, dass er eine Scheibe zertrümmerte, während die andern einfach nur fassungslos dasaßen und nicht einmal mehr fähig waren, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Manch einer wischte heimlich eine Träne aus den Augen.

Es ging alles viel zu schnell. Es blieb kaum mehr Zeit, sich von allen zu verabschieden. Deborahs Freundin Christine war bereits vor dem 11. September nach Islamabad gereist, und jetzt würden sie sich nicht einmal mehr sehen, bevor sie Pakistan verließen und in verschiedenen Flugzeugen in verschiedene Länder flogen. Und ob sie sich jemals wiedersehen würden, war unklar. Christine war Amerikanerin, und vielleicht würden es ihre Eltern vorziehen, eine Weile in Amerika zu bleiben.

Deborah hatte das Gefühl, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Das neue Schuljahr hatte gerade begonnen, sie hatte sich eben erst in ihrer neuen Klasse eingelebt, sich zusammen mit den Mädchen in ihrem neuen Zimmer eingerichtet, und jetzt, keine vier Wochen nach dem ersten Schultag, zerplatzte alles, was Deborah lieb und wertvoll geworden war, wie eine schillernde Seifenblase in der Luft.

Als Nächstes hatte die Fünfzehnjährige ihren Geschwistern beim Packen geholfen. Sie hatte sechs Geschwister, aber erst vier gingen bis jetzt zur Schule: der achtjährige Micha, der zehnjährige Elias, die zwölfjährige Rahel und der vierzehnjährige Daniel. Die sechsjährige Naemi und der dreijährige Benjamin waren noch zu Hause bei den Eltern, die in Lahore, im Westen von Pakistan, nur wenige Kilometer von der indischen Grenze entfernt, als Missionare arbeiteten. Doch jetzt, nach dem Anschlag auf das World Trade Center, waren auch sie von ihrer Missionsgesellschaft aufgefordert worden, das Land so rasch wie möglich zu verlassen.

14:15 – «Deborah»

Das Mädchen drehte sich um. Jenny stand direkt hinter Deborah und schenkte ihr ein goldenes Lächeln, obwohl ihre Augen feucht waren. Jenny war zwölf und kam von den Philippinen. Sie war ein zierliches Mädchen mit karamellbrauner Haut und schwarzen mandelförmigen Augen. Sie ging in dieselbe Klasse wie Deborahs Schwester Rahel, während ihr Bruder DJ bereits übernächstes Jahr seinen Schulabschluss machen würde. Ihre Eltern arbeiteten als Missionare in Afghanistan.

«Werden wir uns wiedersehen», fragte sie mit zarter Stimme. Deborah lächelte zurück.

«Natürlich werden wir uns wiedersehen», sagte sie so überzeugt wie irgend möglich.

«Du verlierst nie den Mut, was»

«Wir wären sowieso im November in den Heimaturlaub gefahren», entgegnete Deborah achselzuckend. «Jetzt gehen wir halt zwei Monate früher. Was soll's.»

«Freust du dich auf Deutschland»

«Es kommt mir schon irgendwie komisch vor», gestand Deborah, «ich weiß nicht genau, was mich dort erwarten wird.»

«So geht's mir auch», nickte Jenny, «ich kenne die Philippinen kaum. Es ist wie ein fremdes Land für mich. Ich kann mir nicht vorstellen, dort glücklich zu sein, ohne deine Schwester, ohne dich, ohne alle andern.» Sie musste sich Mühe geben, um nicht von ihren Gefühlen überwältigt zu werden. «Wirst du mir schreiben»

«Aber klar werde ich das!», versprach Deborah. «Ich hab ja deine E-Mail-Adresse.»

«Versprochen»

«Großes Ehrenwort.» Deborah lächelte und schloss das Mädchen, das einen ganzen Kopf kleiner war als sie, in die Arme. Mrs. Visitacion, Jennys Mutter, kam soeben mit ihrem älteren Sohn DJ aus dem Aufenthaltsraum und steuerte unverzüglich auf die beiden zu.

«Jenny, es wird Zeit zu gehen», sagte sie und nickte Deborah freundlich zu. Sie wirkte angespannt wie alle an diesem Nachmittag. «Hast du schon gepackt, meine Liebe»

«Mein Koffer steht da drüben», antwortete Jenny und deutete unbestimmt auf die vielen Koffer, Taschen und Rucksäcke, die sich neben dem Haupteingang des Gästehauses stapelten.

«DJ, könntest du bitte Jennys Koffer zum Auto bringen»

DJ nickte und wandte sich dann an Deborah. «Halt die Ohren steif, Deborah», meinte der Sechzehnjährige und zwinkerte ihr durch die Brillengläser kameradschaftlich zu. «Und verlerne dein Englisch nicht, okay»

«Ich werde mir Mühe geben», sagte Deborah. Sie wechselte ein paar Worte mit Mrs. Visitacion und drückte Jenny noch einmal fest an sich, ehe sie sich endgültig voneinander trennen mussten. Wehmütig schweifte ihr Blick über all die Schüler und Schülerinnen, die von ihren Eltern abgeholt wurden.

Einige Kindergartenkinder saßen ganz verloren zwischen dem Gepäck und weinten leise vor sich hin. Autos fuhren in den Hof, Eltern drängten sich durchs Gewühl und sammelten ihre Sprösslinge ein, letzte E-Mail-Adressen wurden ausgetauscht, Tränen wurden abgewischt, pakistanische Angestellte halfen beim Einladen der Taschen, und schließlich kamen auch Deborahs Eltern aus dem Aufenthaltsraum, wo sie zusammen mit anderen Eltern und einigen Lehrern einen letzten gemeinsamen Tee getrunken hatten. Ihr Kopfnicken in Richtung Deborah war das Zeichen zum Aufbruch.

14:30 – Deborah trommelte ihre Geschwister zusammen und schleppte ihren Koffer zum Wagen. Ihr Herz war mindestens doppelt so schwer wie der Koffer. Sie wollte optimistisch sein, sie wollte sich einreden, dass alles halb so schlimm war, dass es eigentlich nur Vorteile mit sich brachte, ein paar Monate in Deutschland zu leben.

Vielleicht würde sie sogar ein paar alte Freunde wiedersehen, überlegte sie. Aber als Familie Lanz gegen halb drei das Schulgelände verließ und die MCS zwischen den mächtigen Pinienbäumen am Fuße des Himalaja-Gebirges verschwand, war Deborah elend zumute. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, heimatlos zu sein. Und je weiter sie sich von Murree entfernten, desto stärker zweifelte sie daran, dass sie jemals wieder nach Pakistan zurückkehren würde.

Wiedenest, Deutschland –

Mittwoch, 26. September 2001

08:10 – Paul-Gerhard blickte durch seine runden Brillengläser verschlafen nach vorne und versuchte, die merkwürdigen Zeichen zu entschlüsseln, die der Mathelehrer in einem unbarmherzigen Tempo an die Tafel kritzelte. Man sollte wirklich nicht mit Mathe den Tag beginnen, dachte Paul-Gerhard bei sich, und erst recht nicht bei Herrn Meier, der keine Rücksicht auf Verluste nahm. Überhaupt sollte ein gewöhnlicher Schultag nicht schon um acht Uhr beginnen, das war unzumutbar und schadete dem allgemeinen Wohlbefinden.

Zugegeben, er hätte vielleicht nicht bis um drei Uhr in der Früh Musik hören sollen. Zudem musste er noch die letzten Vorbereitungen für seine Geburtstagsparty treffen, die am Samstag stattfand. Stolze sechzehn Jahre alt wurde er, das war schon ein Grund, um eine Party zu schmeißen. Und es gab sogar noch einen zweiten, genauso wichtigen Grund zum Feiern: Familie Lanz war aus Pakistan zurück! Paul-Gerhard freute sich schon jetzt darauf, am Samstag alle wiederzusehen, vor allem Daniel und Deborah, seine besten Freunde.

Sie kannten sich seit ihrer Kindheit. Ihre Väter waren ebenfalls befreundet und hatten sogar an derselben Bibelschule unterrichtet. Sie wohnten nur eine Straße voneinander entfernt und spielten oft zusammen. Deborah hatte Paul-Gerhard zu jedem ihrer Kindergeburtstage eingeladen, und umgekehrt natürlich auch. Das war Ehrensache. Tja, und eines Tages verkündete ihm Deborah, sie würden nach Pakistan ausreisen, und zwar für längere Zeit.

Paul-Gerhard hätte beinahe der Schlag getroffen. Er konnte sich ein Leben ohne Lanzens nicht vorstellen. Sie gehörten zu seinem Leben, so war es schon immer gewesen, und so würde es immer sein. Dachte er zumindest. Lanzens hatten sich sogar ein Haus gebaut, und deshalb wäre Paul-Gerhard nie auf die Idee gekommen, dass sie jemals aus dem schönen Wiedenest wegziehen würden. Doch sie taten es, zum Unverständnis sämtlicher Verwandter, Nachbarn und Freunde. Keiner konnte sich einen Reim darauf machen, wie um alles in der Welt eine neunköpfige Familie einfach so ihre Heimat verlassen konnte, um in ein muslimisches Land zu ziehen, wo doch jeder wusste, dass die Regierung dort alle zwei Jahre einen Putsch erlebte und alles andere als stabil war.

Und dann, am 6. Februar 1999, hatten sie all ihr Hab und Gut in Fässer gepackt und waren nach Pakistan ausgewandert. Das war ganz schön hart gewesen für Paul-Gerhard. Natürlich ging das Leben auch so weiter, aber es war halt nicht mehr dasselbe. Deborahs Optimismus fehlte, Daniels exotische Erfindungen, die gemeinsamen Ausflüge und das nächtelange Philosophieren über den wahren Sinn der menschlichen Existenz. Paul-Gerhard fühlte sich einfach nicht komplett ohne Lanzens, sie waren ein Teil von ihm, den man nicht einfach durch jemand anderen ersetzen konnte.

Aber jetzt waren sie zurück! Und Paul-Gerhard konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Ob sie sich verändert hatten Er selbst war in die Länge geschossen, und seit er sein Herz an Hardcore-Musik verloren hatte, war auch seine Frisur etwas wilder geworden.

08:25 – «Paul-Gerhard Weilst du im Geiste schon unter uns, oder ist dein Hirn wieder einmal in der Garderobe hängen geblieben» Die zynische Stimme des Mathelehrers riss den Jungen aus seiner Gedankenwelt. Er räusperte sich und setzte sich einigermaßen aufrecht hin.

«Tut mir leid», brummte er und schob sich eine Haarsträhne hinter das rechte Ohr. «Es wurde etwas spät gestern.»

«Ja, das sehe ich allerdings», meinte Herr Meier mit vorgestrecktem Kinn. «Ich würde es sehr begrüßen, wenn du dich jetzt mit dem Sinus und dem Kosinus befassen würdest. Also. Wir haben hier ein gleichschenkliges Dreieck ...»

Weiter kam er nicht, denn es klopfte. Der Lehrer legte die weiße Kreide auf den Tisch, marschierte zur Tür und öffnete sie. Die Schüler begannen zu tuscheln. Ein Junge aus der hinteren Reihe nutzte die Gelegenheit und beschoss Paul-Gerhard mit einem elastischen Gummiband.

«Hey, Schlafmütze, weilst du im Geiste schon unter uns»

Paul-Gerhard brummte.

«Meier kapiert einfach nicht, dass ich meinen Schönheitsschlaf brauche.»

«Davon sieht man aber nicht viel», kicherte sein Nachbar, wofür er einen Ellbogenstoß in die Rippen kassierte.

«Psst», machte jemand, «Meier kommt zurück.» Tatsächlich drehte sich der Lehrer wieder der Klasse zu, während er die Tür schloss, ein schlankes Mädchen vor sich ins Zimmer schob und verkündete:

«Darf ich euch vorstellen: Deborah Lanz. Sie wird ab heute in eure Klasse gehen. Ich glaube, ein paar von euch kennen sie bereits.»

Paul-Gerhard fiel augenblicklich die Kinnlade herunter, und sein Herz begann vor Freude wild zu pochen. Er starrte das Mädchen an, als käme es von einem anderen Planeten. Deborah hatte sich kaum verändert, war nur etwas größer geworden. Aber ihr sanftmütiger Gesichtsausdruck, ihr geschmeidiges langes Haar, das ihr zu einem Zopf geflochten bis weit über die Schultern fiel, ihre klaren, blauen Augen mit den langen Wimpern, ihre elegante Haltung, alles war noch genauso, wie es Paul-Gerhard in Erinnerung hatte. Er fand, dass sie wie ein Engel aussah. Sie trug eine helle Sommerbluse und Jeans. Um ihren Hals hing ein kleines silbernes Kreuz.

«Da hinten ist noch eine Bank frei», meinte Herr Meier und deutete auf eine Bank unmittelbar hinter Paul-Gerhard. «Wir sind gerade damit beschäftigt, den Kosinus für dieses Dreieck zu berechnen. Ich bin sicher, jemand wird dir kurz erklären, worum es geht.»

Deborah begab sich zu ihrem Platz, und als sie an Paul-Gerhard vorbeikam, strahlte sie ihn an. Paul-Gerhard liebte dieses Strahlen.

«Schön, dich zu sehen, Paul-Gerhard.»

«Hey, Deborah. Ich wusste gar nicht, dass du in unsere Klasse kommst.»

«Ich ehrlich gesagt auch nicht.»

«Klasse! Ich bin schon gespannt auf deine Geschichten von Pakistan. Hier war es ziemlich langweilig, wie du dir ja denken kannst. Nichts passiert außer dem 11. September.»

«Paul-Gerhard!» Herrn Meiers Tonfall war unmissverständlich. «Das Plauderstündchen bitte auf die Pause verschieben.»

«Natürlich, Herr Meier», nickte der Junge höflich, doch kaum hatte sich der Lehrer wieder der Tafel zugewandt und in eine seiner leidenschaftlichen Erklärungen hineingesteigert, nutzte Paul-Gerhard die Gelegenheit, um noch ein paar Worte mit Deborah zu wechseln. Es war schlicht unmöglich, damit bis nach der Stunde zu warten. Immerhin hatten sie sich zweieinhalb Jahre nicht gesehen, ganze zweieinhalb Jahre, das war nach Paul-Gerhards Empfinden mehr als ein halbes Jahrhundert! Da musste doch selbst der archaische Herr Meier ein Auge zudrücken.

«Wie lange bleibst du hier»

«Ich weiß es nicht. Ein paar Monate, denke ich.»

«Nur ein paar Monate Da kann ich mir ja nicht mal dein Gesicht einprägen.»

Deborah schmunzelte.

«Dann musst du eben nächstes Mal mit nach Pakistan kommen.»

Der Mathelehrer räusperte sich lautstark, und seine dicken weißen Augenbrauen schoben sich bedrohlich zusammen.

«Paul-Gerhard! Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Reiß dich gefälligst zusammen und konzentriere dich auf den Unterricht!»

«Tschuldigung», murmelte der Teenager ergeben, und Deborah stupfte ihn kurz in den Rücken und flüsterte:

«Du hast dich überhaupt nicht verändert, Paul-Gerhard.»

«Du dich auch nicht», flüsterte der Junge zurück, dann fasste er Bleistift und Lineal und begann hingebungsvoll Meiers Skizzen von der Wandtafel in sein Heft zu kopieren, obwohl er überhaupt nicht bei der Sache war. Die verbleibende Stunde rutschte er nur nervös auf seinem Stuhl hin und her, warf zwischendurch einen flüchtigen Blick nach hinten, ohne sich von Meier erwischen zu lassen, und jedes Mal, wenn ihm Deborah ein Lächeln zuwarf, vergrößerte sich sein Martyrium, bis zum Klingeln der Pausenglocke durchzuhalten. Es grenzte seiner Meinung nach an pure Menschenquälerei, ihm zu verbieten, mit ihr zu reden, und ihn stattdessen mit Sinus- und Kosinustheorien vollzuquasseln.

08:45 – Nur knapp überlebte er die Mathestunde, und bevor Herr Meier auf die Idee kam, sich den Teenager nach dem Klingeln nochmals vorzuknöpfen, packte Paul-Gerhard Deborah am Arm und zog sie schnell hinaus auf den Flur. Er machte erst Halt, als sie sich beim Pausenplatz auf ein abgelegenes Mäuerchen gepflanzt hatten, wo sie ungestört plaudern konnten – wenigstens für fünf Minuten. Paul-Gerhard platzte schier vor Neugier.

«Mensch, erzähl Deborah! Wie war's in Pakistan

«Großartig», sagte Deborah. «Ich liebe dieses Land, das Leben, die Düfte, die Menschen. Es ist mein Zuhause geworden.»

«Ist es nicht gefährlich»

«Gefährlich ist es überall auf der Welt.»

«Überall außer in Wiedenest. Das schlimmste Verbrechen der letzten Jahre war der mysteriöse Tod einer Katze, die ein unbekannter Täter vergiftet hat. Stand groß in den Schlagzeilen. Aber mehr läuft nicht in Wiedenest. Hier sieht man die gefährlichen Dinge nur im Fernsehen.»

Deborah schmunzelte. Paul-Gerhard war wirklich immer noch der Alte.

«Als wir am Montag vom Flughafen abgeholt wurden, waren alle so erleichtert, dass wir nach Deutschland gekommen sind», erzählte das Mädchen kopfschüttelnd. «Die Leute verstehen nicht, dass wir gar nicht aus Pakistan rauswollten.»

«Ich schätze, nach dem Attentat in Amerika ist die ganze Welt in Panik geraten. Also, mir persönlich wurde schon etwas mulmig zumute.»

«Mir auch», gestand Deborah, und in Gedanken sah sie erneut die Bilder der qualmenden Türme vor sich, wie sie im Fernsehen gezeigt wurden, und die Aufnahmen von Menschen, die sich vor Verzweiflung aus den Fenstern stürzten. «Aber ich würde trotzdem am liebsten gleich mit dem nächsten Flug zurück nach Pakistan.»

«Hast du denn keine Angst, dass dir was passieren könnte Ich meine, vielleicht versteckt sich dieser Bin Laden sogar in Pakistan und plant von dort aus einen neuen Angriff. Wäre doch möglich.»

Deborah zog den Mund schief.

«Jetzt redest du genau wie alle andern. Ich verstehe nicht, warum alle immer glauben, es würde in Pakistan nichts als Terroristen geben. Nicht jeder, der einen Bart hat, ist mit Osama verwandt.»

Wenn sie ehrlich war, musste sie sich aber eingestehen, dass sie seit dem 11. September tatsächlich ein gewisses Misstrauen gegenüber bärtigen Männern mit Turban entwickelt hatte. Im Flieger nach Deutschland hatten mehrere Pakistanis mit langen dunklen Bärten direkt hinter ihr gesessen, und Deborah fürchtete die ganze Zeit, die Männer würden jeden Moment das Flugzeug mit Maschinengewehren und Bomben in ihre Gewalt bringen wollen.

«Stimmt es, dass Terroristengruppen ihre Trainingslager in den Bergen haben, wo sich eure Schule befindet», wollte Paul-Gerhard wissen.

«Wer hat dir denn so was erzählt»

«Also stimmt es.»

«Ich weiß es nicht.»

«Aber es könnte sein, nicht wahr»

«Paul-Gerhard. Hör endlich auf damit. Die Schule hat fünfzig pakistanische Angestellte. Die meisten von ihnen sind Muslime. Aber ich mag sie. Sie sind mir alle ans Herz gewachsen, ob Christ oder Muslim. Da ist der Hausmeister, Mr. Albert, Javeed, einer der Köche, Simon Malik, der Schulmanager, und so viele andere. Es macht mich traurig, wenn die Leute alle in einen Topf werfen. Nicht jeder Moslem ist ein Fanatiker. Pakistan ist ein wunderschönes Land, und die meisten Pakistanis sind zuvorkommende und gastfreundliche Menschen. Warum kommst du nächstes Jahr nicht mit und überzeugst dich selbst»

Paul-Gerhard lachte.

«Ich soll nach Pakistan kommen»

«Ja», nickte Deborah, und plötzlich begann sie die Idee zu faszinieren. «Wär das nicht der absolute Hit»

«Du hast vielleicht Ideen, Deborah. Ich kann doch nicht einfach weg hier.»

«Warum nicht Wir sind damals als neunköpfige Familie ausgereist.»

«Aber ich gehe noch zur Schule.»

Jetzt grinste das Mädchen und streckte frech ihre kleine Stupsnase in die Luft.

«Dreimal darfst du raten, was ich in Pakistan mache. Ich gehe zur Schule. Die MCS ist eine Schule, falls du das vergessen hast. Und eine Schule ist dazu da, dass man zur Schule geht. So einfach ist das.»

«Deborah, ich warne dich, setz mir keinen Floh ins Ohr ...»

Deborahs Augen begannen vor Begeisterung zu leuchten wie zwei kleine Sterne. So war sie schon immer gewesen, wenn sie sich erst einmal in Fahrt geredet hatte. Und wenn sie sich etwas in ihren hübschen kleinen Schädel gesetzt hatte, brachte man es nicht so leicht wieder heraus, daran erinnerte sich Paul-Gerhard noch lebhaft.

«Komm schon», sagte sie und versetzte dem Jungen einen freundschaftlichen Stoß in die Seite. «Nenn mir drei plausible Gründe, warum du es nicht tun solltest. Und ich nenne dir drei Gründe, warum du es tun solltest.»

Paul-Gerhard kratzte sich nachdenklich am Kinn.

«Also, ich denke ... meine Eltern wären bestimmt dagegen.»

«Nicht, wenn meine Eltern mit ihnen reden. Meine Mutter hat ein dickes Fotoalbum mit dabei und ist Weltmeisterin im Schwärmen von Pakistan. Und meinen Vater kennst du ja. Der wäre der Erste, der deinem Vater die Idee schmackhaft machen würde.»

«Und was ist mit der Schule hier»

«Ach, das wird sich schon finden. Viele Jugendliche machen ein Austauschjahr. Und du würdest sogar noch dein Englisch aufbessern, weil der Unterricht auf Englisch abgehalten wird.»

«Hmm», machte Paul-Gerhard und kam allmählich ins Grübeln. «Ich dachte, die MCS wäre ausschließlich für Missionarskinder, deren Eltern in Pakistan arbeiten.»

«Vor allem Pakistan und Afghanistan», ergänzte Deborah. «Aber frag unsern Schulleiter. Ich glaube nicht, dass Mr. Morton dich ablehnen würde. Warum sollte er Und du hast es doch selbst gesagt: Ist nichts los in Wiedenest. Also warum nicht die Gelegenheit nutzen und deinen Horizont etwas erweitern»

Es war unschwer zu erkennen, dass Deborahs Überredungskunst zu wirken begann.

«Wiedenest oder Pakistan», sinnierte Paul-Gerhard vor sich hin, «unglaublich, da bist du keine zwei Stunden zurück, und schon krempelst du mein ganzes Leben um.»

«Keine Ursache», meinte Deborah großzügig und zwinkerte ihm munter zu. «Du ziehst also einen Tapetenwechsel in Erwägung»

«Du lässt mir ja keine Wahl!»

«Es wird die beste Zeit deines Lebens, glaub mir.»