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Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 9783746021362

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

als ich im Juni 1996 nach São Paulo reiste, um ein Buch über Straßenkinder zu schreiben, lernte ich ein Projekt kennen, das die Heilsarmee genau in jenem Monat eröffnet hatte, um Straßenjungen über Nacht zu beherbergen. Drei der allerersten Jungen, die ihren Fuß ins Projekt setzten, waren Obiracir, Paulo und Valdir.

Im Mai 1997 kehrte ich nach São Paulo zurück, um für längere Zeit in dem Straßenkinderprojekt mitzuarbeiten. Da erfuhr ich, dass sowohl Obiracir als auch Paulo nicht mehr am Leben waren. Obiracir war von Drogenhändlern erdrosselt, Paulo von der Polizei erschossen worden. Valdir hingegen arbeitete als Betreuer im Projekt mit und brannte nur so vor Liebe für die Straßenkinder. Wenn er ihnen aus seinem Leben erzählte, saßen die wildesten Jungs mucksmäuschenstill auf ihren Stühlen und klebten ihm förmlich an seinen Lippen.

Seine Geschichte ist so schockierend, so ergreifend und gleichzeitig so fantastisch, dass ich mich immer mehr dazu gedrängt fühlte, ein Buch daraus zu machen. Und so habe ich es getan.

Möge dieses Buch zum Segen werden für alle, die es lesen!

Damaris Kofmehl

São Paulo, im Sommer 1999

Im Angesicht des Todes

«Specht?» Die Stimme des Jungen klang heiser und verzweifelt. «Specht!» Er ließ seinen Blick über die Praça da Sé schweifen. In der Dunkelheit nahm er die Umrisse mehrerer Straßenkinder wahr, die sich auf dem Boden lagerten. Dicht aneinandergedrängt, auf auseinandergefalteten Pappkartons und grauen Wolldecken, saßen und lagen sie da, kicherten, rauchten Haschisch, schnüffelten Leim aus Plastiktüten und glotzten den mageren Jungen fragend an. Er mochte um die vierzehn Jahre alt sein, trug abgetragene Jeans und ein ausgeleiertes T-Shirt. Sein filziges Haar glich einer unwirklichen Perücke. Der Junge keuchte.

«Hat jemand von euch Specht gesehen?»

«Specht? Kenn ich nicht», antwortete ein dunkelhäutiges Mädchen, während es an seinen Fingernägeln herumkaute.

«Wer soll denn das sein?»

«Ist das nicht der große Schwarze, der die Gegend hier unsicher macht?» fragte der Junge an ihrer Seite. «Der bekannt dafür ist, die Leute so rasch zu überfallen, dass sie nicht mal Zeit haben, sich sein Gesicht einzuprägen?»

«Genau der», bestätigte der magere Junge atemlos. «Hast du ihn gesehen?»

«Leute, hat jemand hier den schnellsten Dieb São Paulos gesehen?»

«Er war leider zu schnell, um gesehen zu werden!» Ein Grinsen ging durch die Runde.

«Was willst du von ihm?» fragte einer. «Gehörst du etwa zu seiner berüchtigten Bande?»

«Was geht das dich an?» entgegnete der Junge nervös. «Hast du ihn gesehen?»

«Soll ein gefährlicher Bursche sein, hab ich gehört. Mit dem würde ich mich nicht anlegen.»

Der Junge merkte, dass es keinen Zweck hatte, die Gruppe weiter zu befragen, und ging davon. Er steuerte auf die breite Treppe der Kathedrale zu und überflog mit den Augen die wenigen Gestalten, die zu dieser fortgeschrittenen Stunde hier herumlungerten, betrunkene Männer, Straßenkinder, Drogenhändler — das übliche Bild.

«Wir müssen ihn finden», murmelte der Junge, «wir müssen ihn finden!» Er beschleunigte seinen Schritt und ging zur Metrostation Se, die um diese Zeit wie ausgestorben dalag, obwohl es hier tagsüber nur so von Menschen wimmelte. Ein Bursche mit Baseballmütze, kurzer Hose und einer halb gerauchten Zigarette, die an seinen Lippen klebte, kam von der anderen Seite auf ihn zu. Ihre Blicke kreuzten sich, und gleichzeitig zuckten beide die Achseln.

«Nichts. Und du?»

«Keine Spur. Und im Hotel?»

«Ratte ist noch nicht zurückgekommen.»

«Mann, ich hoffe, wir sind nicht zu spät.»

Sie traten ungeduldig von einem Bein aufs andere. Es war eine jener schwülen Sommernächte Ende Januar, in welcher man vor Hitze kaum schlafen konnte.

«Tiago! Narbe! Psst!» Die beiden Jungen wandten sich um und entdeckten Ratte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er winkte sie mit einer flüchtigen Handbewegung zu sich hinüber. Er war groß und kräftig, und sein Gesicht war so schwarz wie die Nacht. Sein rechtes Ohr war seltsam zerfleddert, denn vor zehn Jahren hatten Ratten es angeknabbert, als er sich nachts in einem Tunnel schlafen gelegt hatte. Tiago und Narbe überquerten die Straße und gesellten sich zu ihm.

«Und?»

Ratte schüttelte den Kopf. «Ich schätze, er hat sich mit Marcia in irgendein Loch verkrochen.»

«Und was machen wir jetzt?»

«Gute Frage.»

Ratlos sahen sich die drei Burschen an. Narbe kniff die Augen zusammen und sog nervös an seiner Zigarette. In Wirklichkeit hieß er Jose, wurde jedoch von allen nur bei seinem Spitznamen genannt wegen einer breiten, hässlichen Narbe in seinem Gesicht, die sich der Siebzehnjährige bei einem Streit zugezogen hatte.

«Bist du absolut sicher, den Namen richtig verstanden zu haben?» hakte er nach.

«Ich schwöre bei meiner toten Großmutter!» bestätigte Tiago. «Sie sagten, Specht hätte ausgespielt. Sie sagten, er und seine Musketiere wären längst überfällig. Sie sagten, 1000 Volt würde das noch heute regeln.»

«Wie lange ist es her, dass du die Typen belauscht hast?»

«Vielleicht zwei Stunden.»

«Verd...» Narbe stieß ein paar Fluchwörter aus und kickte mit dem rechten Fuß eine am Boden liegende Büchse davon, als wäre sie verantwortlich für diese Situation. «Mit 1000 Volt ist nicht zu spaßen! Wir müssen uns vorbereiten, Jungs!» Er griff nach seinem Revolver, den er unter seinem T-Shirt versteckt hatte, um anzudeuten, was er unter «vorbereiten» verstand. Dann ließ er die Waffe wieder verschwinden.

«Wir müssen Specht warnen», sagte Ratte aufgeregt, «wir müssen die beiden finden.»

«Fragt sich bloß wo», murmelte Tiago. In Gedanken vergegenwärtigten sie sich alle Orte, die sie bereits nach ihm abgesucht hatten, durchstreiften alle Gassen und Winkel, wo sich Specht mit Vorliebe aufzuhalten pflegte.

«Hat jemand von euch im „Drachen“ nachgefragt?» wollte Narbe wissen. Tiago und Ratte verneinten. Diese Bar hatten sie in der Tat vergessen. Ein neuer Hoffnungsschimmer flammte in ihren Gesichtern auf.

«O. k., Jungs. Ich werde nachsehen», entschied Narbe rasch, «wir treffen uns im Hotel.»

«Ist es nicht besser, wir bleiben zusammen?» zweifelte Tiago.

«In zehn Minuten hab ich euch eingeholt», entgegnete Narbe nur.

«Und wenn er nicht dort ist?»

«Mein Gott, dann soll er selbst zusehen, wie er seinen Kopf aus der Schlinge zieht! Mein Leben werde ich jedenfalls nicht für ihn riskieren. Alles hat seine Grenzen.» Narbe warf die Zigarette fort und zertrat sie mit dem Absatz seiner Turnschuhe. «Wir treffen uns im Hotel. Seid auf der Hut, Leute!»

Sie trennten sich. Narbe machte sich auf den Weg zur Drachenbar, einer düsteren Kneipe in einem genauso düsteren Stadtviertel Sao Paulos. Hier sammelte sich nachts allerlei Gesindel an, Prostituierte, Zuhälter, Drogenhändler und jede Sorte von Banditen. Wer seines Lebens sicher sein wollte, machte in der Dunkelheit einen großen Bogen um dieses berüchtigte Viertel, denn wer hier zur falschen Zeit am falschen Ort auftauchte, konnte nur allzu leicht Opfer einer verirrten Kugel werden. Doch diese Tatsache beunruhigte Narbe nicht im Geringsten, als er zielstrebig auf die Drachenbar zusteuerte. Er kannte sich hier aus. Dröhnende Musik drang aus dem Innern der Kneipe, vermischt mit Männerstimmen. Narbe begrüßte einige Bekannte, wandte sich dann dem Barkeeper zu und kam gleich zur Sache.

«Hast du zufällig Specht gesehen?»

Der Barkeeper rieb ein Bierglas sauber und schüttelte den Kopf. Narbe presste die Lippen aufeinander und schaute über die vielen Gesichter in der spärlich beleuchteten Bar hinweg, in der Hoffnung, Specht auszumachen. Mit seinen Fingern trommelte er unruhig auf der Theke herum.

«Dann ist es also wahr», stellte der Barkeeper unversehens fest.

«Was ist wahr?»

«Dass 1000 Volt zurückgekehrt ist.»

Unwillkürlich zuckte Narbe zusammen. «Woher weißt du das?»

«Man hört so allerhand.»

«Was weißt du noch?»

«Man sagt, er hätte auf seiner Flucht einen Polizisten umgelegt. Das war vor einer Woche.»

«Und weiter?»

«Man sagt, er hätte ein paar der gefährlichsten Typen um sich geschart und sei entschlossen, sein Gebiet zurückzuerobern, koste es, was es wolle.»

Narbe schlug die Faust auf die Theke und fluchte leise vor sich hin. Was er hörte, gefiel ihm nicht.

«Es scheint sich was zusammenzubrauen, oder?»

«Das kannst du laut sagen», knirschte Narbe. «Wenn Specht hier vorbeikommt, sag ihm, er soll sich in Acht nehmen.» Er wollte sich bereits abwenden, als ihm jemand von hinten auf die Schulter klopfte. Er wandte sich um und war einen Moment lang sprachlos, als er sich dem Gesuchten so unverhofft gegenübersah.

«Specht!» murmelte er mit sichtlicher Erleichterung. «Wir haben dich überall gesucht! Wo hast du gesteckt, Mann?!»

«Wir haben uns ein wenig amüsiert», antwortete Marcia an seiner Stelle und schmiegte ihren eleganten Körper an ihn. Specht legte seinen Arm um ihre Schulter und küsste sie auf die Stirn. Sein ganzes Auftreten und seine ganze Erscheinung zeugten ohne Worte von der Macht und Position, die er innehatte. Er war groß und schlank, hatte seinen Kopf kahlrasiert, trug braune Lackschuhe, schwarze Jeans und ein blaues, sauberes Hemd. Er hatte kastanienbraune Haut, große, schwarze Augen und einen Blick, der Autorität, Überlegenheit und Entschlusskraft ausstrahlte.

Er grinste Narbe belustigt an. «Und, wie läuft das Geschäft, Narbe? Habt ihr einige Scheine gemacht?»

«Mann, du amüsierst dich hier, und dabei ist da draußen der Teufel los», sagte Narbe.

«Ist euch die Polizei auf den Fersen?»

«Ich rede nicht davon», versuchte Narbe zu erklären. «Alle scheinen es bereits zu wissen, nur du nicht.»

«Was?»

«1000 Volt ist hinter uns her.»

«1000 Volt?»

«Genauer gesagt, er ist hinter dir her.»

«Ich dachte, er sei im Jugendgefängnis.»

«Ist abgehauen. Und ich brauch dir wohl nicht zu sagen, was das für dich, für uns alle bedeutet.»

Specht löste seinen Arm von Marcias Schulter und biss sich auf die Lippen. Das unbesorgte Grinsen auf seinem Gesicht war verschwunden. Er gab Narbe mit einer kaum merklichen Kopfbewegung zu verstehen, ihm nach draußen zu folgen. Er spitzte seinen Mund, wie immer, wenn etwas nicht so verlief, wie er sich das vorgestellt hatte, und starrte die Mauer auf der gegenüberliegenden Straßenseite an.

«Wissen es die andern schon?»

«Wir haben die ganze Stadt nach dir abgesucht, um dich zu warnen!»

«Wo sind sie jetzt?»

«Ich hab sie zum Hotel geschickt.»

«Gut. Sag ihnen, ich würde gleich nachkommen,»

«Aber...»

«Mach dir keine Sorgen, Narbe. Ich werde mir etwas einfallen lassen. Sobald ich entschieden habe, was zu tun ist, werde ich euch aufsuchen. Gib mir bloß ein paar Minuten Zeit, meine Gedanken zu ordnen, o.k.?»

«O.k.» Narbe entfernte sich raschen Schrittes, während Specht noch immer etwas konsterniert auf die gegenüberliegende Wand starrte und versuchte, die plötzliche Nachricht zu verdauen. 1000 Volt war hinter ihm her. Das bedeutete Ärger, großen Ärger. Nur wenige Monate waren vergangen, seit sie sich zum ersten und zum letzten Mal in die Haare geraten waren. Damals war Specht noch ein Einzelgänger gewesen, ohne Namen in der Unterwelt. Damals hatten sie ihn noch abschätzig «Neginho» genannt, «kleiner Schwarzer», und gedacht, er gehörte zu der Sorte von Typen, denen man beliebig auf der Nase herumtanzen kann. Doch diese Zeiten waren längst Vergangenheit. In der Zwischenzeit hatte er allen bewiesen, wozu er fähig war. Er hatte sich Ansehen verschafft, und aus dem «Neginho» war der «Negão», der «große Schwarze» geworden, bekannter unter dem Namen «Specht» wegen seiner raschen Überfälle, die er mit seiner Bande durchzuführen pflegte.

Marcia fasste seine Hand und legte sie sich auf die Wange. Sie sah ihren Freund beunruhigt an.

«Wer ist „1000 Volt“?»

«Niemand», antwortete Specht abwesend. «Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Es lohnt sich nicht.»

«Ich will es aber wissen!» beharrte das Mädchen auf seiner Frage. «Wer ist er? Woher kennst du ihn?»

«Vergiss es.»

«Du hast mir versprochen, nichts aus deinem Leben zu verheimlichen. Ich habe ein Recht darauf, zu wissen...»

«Er ist mein Feind, und ich habe ehrlich gesagt keine Lust, ihm zu begegnen, genügt dir das?» Er zog seine Hand energisch zurück und sah Marcia mit einem unmissverständlichen Blick an, was so viel bedeutete wie: keine weiteren Fragen.

«Du fürchtest dich vor ihm, was?» bohrte sie weiter.

«Lass mich in Frieden!» entgegnete er gereizt und begann die Straße entlangzugehen. Marcia folgte ihm und heftete sich an sein Hemd.

«Warum nennen sie ihn „1000 Volt“?»

«Hör endlich auf damit, ja? Ich muss nachdenken!»

«Mann, bist du heute schlecht drauf!» brummte das Mädchen.

Für einen Augenblick sprachen sie nicht mehr miteinander. Und dann kamen sie an jene Kreuzung, wo das Unerwartete geschah; ob es Zufall war oder ob sie ihn schon eine Weile beobachtet hatten, war schwer zu beurteilen. Sie tauchten aus dem Nichts auf und waren plötzlich da, einer auf jeder Seite, und pressten ihn und seine Freundin mit vorgehaltenen Revolvern gegen die Mauer. Es ging alles so schnell, dass Specht nicht einmal Zeit hatte, seine eigene Waffe zu ziehen. Und ehe er etwas dagegen unternehmen konnte, hatten sie ihm seine Waffe bereits entwendet und ihrem Anführer überreicht. Marcia unterdrückte einen Schrei. Specht stockte der Atem. Eine leise Ahnung stieg in ihm auf, und sein Verdacht bestätigte sich wenige Sekunden darauf, als er in das ihm wohlbekannte hässliche Gesicht seines Feindes blickte. Trotz der Dunkelheit spürte Specht den Hass, der in den Augen des anderen flackerte, wie ein Feuer, das direkt aus der Hölle gespeist wird.

«So sieht man sich wieder», sagte 1000 Volt. «Damit hast du wohl nicht gerechnet, was, Neginho?» Er spuckte vor ihm auf den Boden. «Hab gehört, hast dir einen neuen Namen zugelegt. Specht, der Superschnelle.»

Ein mitleidiges Lächeln umspielte seine Lippen. «Diesmal war ich ein wenig schneller als du, wie in guten, alten Zeiten.»

«Was willst du von mir?»

«Kannst du dir das nicht denken?» 1000 Volt trat näher an ihn heran und grinste ihm ins Gesicht. «Die Sache ist ganz einfach: Gib mir zurück, was du mir genommen hast!»

«Ich hab dir nichts genommen!»

«Ach nein? Und was ist mit all den Straßen und Plätzen, die du mit deiner Truppe dominierst? Gehörte alles mir, bevor du es dir unter den Nagel gerissen hast.»

«Na und? Die Zeiten ändern sich. Ist nicht meine Schuld, dass sie dich in den Jugendknast gesteckt haben. Such dir ein anderes Gebiet.»

«Du scheinst nicht zu kapieren, Neginho. Ich bin nicht scharf auf ein anderes Gebiet. Ich will mein Gebiet! Oder um es genauer auszudrücken: Ich will mein Gebiet für mich allein! Und deshalb rate ich dir dringend, ’ne Fliege zu machen und noch heute Nacht aus meinem Gebiet zu verschwinden, wenn du verstehst, was ich meine.»

Er nahm Spechts Revolver und zielte damit auf dessen Stirn. Specht schien trotz der Schwüle dieser Nacht das Blut in den Adern zu gefrieren. «Ich könnte dich natürlich auch gleich erledigen, obendrein mit deiner eigenen Waffe. Würde aussehen wie Selbstmord. Originelle Idee, findest du nicht?» Er grinste selbstzufrieden und kostete seine Macht in vollen Zügen aus. Er genoss es sichtlich, seine Opfer mit seinem makabren Humor zu quälen und die nackte Angst in ihren Gesichtern geschrieben zu sehen. Und wahrscheinlich hätte er sein grausames Spielchen noch einige Minuten in die Länge gezogen, wäre nicht exakt in diesem Moment ein Polizeiwagen in die Straße eingebogen. In Sekundenschnelle ließen 1000 Volt und seine zwei Helfer ihre Waffen unter den T-Shirts verschwinden.

«Diese Nacht wirst du nicht überleben, Neginho!» war das letzte, was 1000 Volt Specht ins Ohr flüsterte, bevor er sich mit seinen beiden Helfern möglichst unauffällig aus dem Staub machte. Specht fasste Marcias Hand und zog sie zu sich hin. Ihre Hand zitterte. Das Polizeiauto rollte im Schritttempo an ihnen vorbei, die beiden Polizisten blickten kritisch zu ihnen hin und waren sich offensichtlich im Unklaren darüber, was sich hier soeben abgespielt hatte.

«Lass dir nichts anmerken!» hauchte Specht, legte seine Arme um Marcias Schulter und begann sie lange und intensiv zu küssen. Ihre Herzen pochten wild, Schweiß rann von ihren Stirnen, doch sie gaben sich alle Mühe, wie ein ganz gewöhnliches Liebespärchen zu wirken. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Polizeiwagen endlich weiterfuhr. Specht verfolgte ihn mit den Augen, bis er in die nächste Seitenstraße einbog. Dann überzeugte er sich davon, dass 1000 Volt und seine Leute nicht mehr in der Nähe waren, gab Marcia ein Zeichen, und die beiden nutzten ihre Chance und begannen zu laufen. Sie rannten die Straße hinunter, überquerten einen Platz und blieben atemlos hinter einer Hausecke stehen, um etwas zu verschnaufen. Marcia warf sich zitternd an Spechts Brust und schlang ihre Arme um ihn. Der Schrecken saß ihr noch in allen Gliedern.

«Du musst fliehen», sagte sie, «der meint es ernst! Der wird dich umbringen!»

Specht antwortete nicht. Er hörte nur die Stimme, die erneut in sein Ohr flüsterte: «Diese Nacht wirst du nicht überleben, Neginho!» Er war sich dessen bewusst, dass 1000 Volt keinen Spaß gemacht hatte. Er war sich auch darüber im Klaren, dass 1000 Volt entschlossen war, sein Gebiet zurückzuerobern, koste es, was es wolle. Doch genauso entschlossen war Specht, dieselben Mittel anzuwenden, um sein Gebiet zu verteidigen. Und falls 1000 Volt vergessen haben sollte, mit wem er es zu tun hatte, so würde es ihm spätestens diese Nacht wieder einfallen. So einfach würde er sich nicht geschlagen geben und das Feld räumen, soviel stand fest.

«Was wirst du jetzt tun?» fragte Marcia besorgt. Specht spitzte den Mund.

«Ich werde ihm eine Lektion erteilen. Wenn er glaubt, mich eingeschüchtert zu haben, so täuscht er sich gewaltig. Ich werde mich bis an die Zähne bewaffnen und kämpfen.»

«Tu das nicht! Er wird dich umbringen!»

«Wer heute Nacht wen umbringt, das wollen wir noch sehen», murmelte Specht mit einer Entschlossenheit, die seine Freundin erschreckte.

Sie gingen zum Hotel, wo Ratte, Tiago und Narbe sie bereits mit Ungeduld erwarteten. Auf dem Zimmer, das Specht für sich und seine Bande gemietet hatte, schilderte er seiner Gruppe, was geschehen war. Die Situation war kritischer, als alle gedacht hatten. Narbe zündete sich eine Zigarette an, um seine Nervosität zu überspielen.

«Ich hab dich gewarnt, Specht. Ich hab dir gesagt, wir dürfen nicht lasch werden. Ich hab dir gesagt: Halt Augen und Ohren offen, um mögliche Rivalen rechtzeitig auszuschalten. Hab ich das gesagt oder nicht?»

«Halt die Klappe!» schnauzte Specht. «Niemand von uns konnte wissen, dass 1000 Volt aus dem Gefängnis abhauen würde!»

«Das bedeutet also Krieg», brachte Tiago ihre Lage nüchtern auf den Punkt. Doch Specht schüttelte energisch den Kopf.

«Nein, das bedeutet, dass wir uns jetzt reichlich mit Munition und Waffen eindecken, in die Stadt ausschwärmen und 1000 Volt und seine Leute noch heute Nacht erledigen. Und dann wollen wir sehen, wer es in Zukunft wagen sollte, sich mit uns anzulegen. Dies ist die Nacht der Entscheidung!»

Seine Worte klangen beinahe feierlich und hatten eine unglaubliche Überzeugungskraft. Er kniete sich auf den Boden und zog eine schwere Holzkiste unter dem Bett hervor, worin er, selbstverständlich gut verschlossen, verschiedenste Waffen mit den entsprechenden Patronen aufbewahrte. Wie oft er jede dieser Waffen bereits auf unschuldige Opfer gerichtet hatte, um ihnen ihr Geld abzuknöpfen, hätte er nicht sagen können. Er wusste nur, dass er sie diese Nacht zum ersten Mal verwenden würde, um jemanden zu töten. Der Gedanke daran war ihm unangenehm, doch er war entschlossen, seinen Plan durchzuführen. Diese Nacht würde es ein Blutbad geben, das war ihnen allen klar. Und es war besser, sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, welche Konsequenzen dies mit sich bringen würde. Bei Aktionen wie dieser musste man Gefühl und Verstand ausschalten, um den Erfolg zu garantieren.

Keine zehn Minuten später trennten sich die fünf Jugendlichen, und während sich Narbe, Ratte und Tiago in die eine Richtung begaben, schlugen Specht und Marcia die andere Richtung ein. Es war kurz nach Mitternacht. Ein warmer Wind wehte. Ziellos durchstreiften sie die Straßen jenes Stadtviertels, immer in der unerträglichen Spannung, sich plötzlich ihrem Feind gegenüberzusehen. Schließlich setzten sie sich auf die Treppe eines Hauseingangs und warteten; worauf, das wussten sie selbst nicht.

In Gedanken schweifte Specht zurück, weit zurück in die Vergangenheit, in seine Kindheit, sah sich als kleinen Jungen mit seinen Geschwistern spielen, sah seine Mutter, seinen Vater, hörte ihre Stimmen, hörte, wie sie seinen Namen riefen. Valdir. Es war lange her, seit ihn jemand bei seinem richtigen Namen genannt hatte. Vieles war geschehen in der Zwischenzeit, zu vieles, wie ihm schien. Niemals hätte er gedacht, eines Tages an den Punkt zu kommen, an welchem er jetzt angelangt war. Niemals hätte er gedacht, dass er am 12. März 1996 mit einem Revolver unter dem Hemd auf einer Treppe sitzen würde, um auf den Tod seines Feindes zu warten.

Erneut ertappte er sich dabei, wie seine Gedanken in die Vergangenheit wanderten. Sein ganzes Leben zog wie ein Film an ihm vorbei, und für einen Augenblick kam es ihm so vor, als würde er sich dadurch von sich selbst verabschieden. War es am Ende sein eigener Tod, auf den er wartete? Er weigerte sich, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Und dennoch schauderte es ihn bis ins Innerste, wenn er an den Satz zurückdachte, den ihm 1000 Volt ins Ohr geflüstert hatte und der sich in seinem Kopf festgegraben hatte:

«Diese Nacht wirst du nicht überleben, Neginho!»

Valdir

«Lass mich los! Ich werde die Polizei rufen!» Die laute Stimme seiner Mutter riss den Sechsjährigen aus dem Schlaf. Augenblicklich schoss Valdir in die Höhe. Seine vier Geschwister hatten sich bereits bei der Zimmertür versammelt und starrten wie gelähmt in die Küche, unschlüssig, ob sie eingreifen oder sich zurückhalten sollten. Es war ein Uhr in der Frühe, und Valdir wusste bereits, was vorgefallen war: seine Eltern waren sich wieder einmal in die Haare geraten. Die Szene war so alltäglich, dass Valdir sich eigentlich längst hätte daran gewöhnen müssen. Doch jeder Streit zwischen Miriam und Romildo war für den Jungen eine neue Tragödie und erfüllte ihn mit Wut, Verzweiflung und Ohnmacht. Er verstand nicht, woher seine Eltern immer wieder Gründe nahmen, um sich das Leben gegenseitig zur Hölle zu machen. Er wusste nur, dass sich sein Vater, wenn er betrunken war, in ein Tier verwandelte und Dinge tat, an die er sich später nicht mehr erinnern konnte.

«Schrei mich nicht an!» hörte Valdir seinen Vater brüllen. «Du hast k-kein Recht, mich anz-zuschreien!» Allein seine Stimme verriet, dass er betrunken war, sehr betrunken. «Ich habe Hunger! Hast du v-verstanden?»

Auch die Mutter schien ein Gläschen über den Durst getrunken zu haben. «Dir bis in alle N-Nacht die Birne volllaufen lassen, das kannst du, was?»

«Ich habe Hunger!!!» wiederholte der Vater und schlug mit der Faust auf den Tisch.

«Dann koch dir doch s-selbst was zu essen! Au! Lass mich los!»

Valdir zwängte sich zwischen seinen Geschwistern hindurch, um zu sehen, was los war. Sein Vater hatte seine Mutter an den Haaren gepackt und wirbelte sie in der Küche herum, als wäre sie eine Puppe. Mit der andern Hand schlug er ihr fortwährend ins Gesicht. Bei jedem Schlag krampfte sich Valdirs Herz zusammen. Er konnte nicht mitansehen, wie sein Vater seine Mutter misshandelte, und er verstand nicht, warum seine Geschwister nichts dagegen unternahmen. Er ballte seine kleinen schwarzen Fäuste, und getrieben von der kindlichen und wahnwitzigen Hoffnung, seine Mutter beschützen zu können, ging er auf seinen Vater los, heftete sich an sein linkes Bein und versuchte, ihn von ihr wegzuzerren.

«Lass sie los! Lass sie los!!!» schrie er ununterbrochen, bis sein Vater ihn mit dem rechten Fuß grob zu Boden stieß. Valdir raffte sich jedoch wieder auf und krallte sich an Vaters Hemd. Angeregt durch Valdirs Mut, löste sich nun auch Wagner, sein achtjähriger Bruder, von der Tür und packte Vaters Arm. Die beiden Jungen glichen zwei hungrigen Wölfen beim Angriff auf ihr Opfer, und obwohl sie ihrem Vater größen- und kräftemäßig weit unterlegen waren, setzten sie alles daran, ihn von ihrer Mutter loszureißen.

«Schert euch w-weg! Ihr Ratten!»

«Lass unsere Mutter los!» Diesmal war es die siebenjährige Valeria. Sie hatte zu weinen begonnen, und die beiden jüngsten Geschwister, Valdirene mit fünf und Valdemir mit vier Jahren, fielen in ihr Schluchzen ein.

Wagner grub seine Zähne in die Hand seines Vaters, worauf dieser vor Schmerzen aufschrie und die Mutter freigab, um sich der beiden Jungs zu entledigen. Wagner fiel rücklings zu Boden, Valdir schlug mit dem Kopf gegen die Tischkante.

«Ich werde die Polizei rufen!» wiederholte die Mutter, während sie zum Eingang stolperte. »Ich werde dich anzeigend

«Dann tu’s doch!» rief der Vater und packte sie erneut am Arm. «Ruf die Polizei! R-ruf sie!»

Valdir fasste sich an seine rechte Schläfe und spürte Blut an seinen Fingern. Doch die Sorge um seine Mutter ließ ihn seinen eigenen Schmerz vergessen. Er rannte hinter seinen Eltern her, die ihren Streit in der Zwischenzeit auf der Straße fortsetzten und die gesamte Nachbarschaft aufweckten. Mehrere verschlafene Gesichter erschienen an Fenstern und Türen, teils aus Ärger über die gestörte Nachtruhe, teils aus purer Neugier. Keinem wäre es jedoch eingefallen, sich in den Streit der beiden einzumischen, denn alle wussten, dass sie sich früher oder später von selbst beruhigen würden — wie jedes Mal. Lediglich eine korpulente Schwarze schlüpfte rasch in ihre Plastikschlappen und watschelte zur offenen Tür des baufälligen Holzhüttchens, nahm die zwei Kleinsten, die nicht mehr zu schreien aufhören wollten, bei der Hand und brachte sie in ihrem eigenen bescheidenen Häuschen in Sicherheit. Valdir, Wagner und Valeria standen indessen etwas verloren auf der Straße, während sich ihre Eltern die schrecklichsten Fluchworte an den Kopf warfen.

«Hört auf!» rief Valeria unter Tränen. «Hört endlich auf!» Doch es nützte alles nichts. Die beiden hatten sich bereits derart in ihre Wut hineingesteigert, dass es kein Zurück mehr gab. Romildo stieß Miriam von der Straße, gab ihr mehrere Ohrfeigen, und auf einmal versetzte er ihr einen so gewaltigen Schlag, dass sie das Gleichgewicht verlor und den steilen Abhang neben ihrer Hütte hinunterstürzte.

Die Kinder schrien entsetzt auf.

«Mama!!!»

«O mein Gott!» rief die Nachbarin, die Valdirene und Valdemir in ihrer Hütte in Sicherheit gebracht hatte. Alle rannten gleichzeitig zur Unfallstelle. Miriam lag gute sieben Meter weiter unten, zwischen Grünpflanzen und Bauschutt, und versuchte sich aufzurichten. Sie hielt sich wimmernd den rechten Arm fest.

«Miriam?! Bist du verletzt?» fragte die Nachbarin besorgt. In der Zwischenzeit eilten auch andere Nachbarn herbei, und ein großer, magerer Mann um die dreißig rutschte spontan den unebenen Erdhügel hinunter, um Miriam hochzuhelfen.

«Eine Schande!» kommentierte jemand empört und schielte zu Romildo hinüber, der noch immer mit schwerer Zunge vor sich hin fluchte und sich anscheinend nicht darüber im Klaren war, was er angerichtet hatte.

Valdir zwängte sich zwischen den Beinen der Leute hindurch und ließ seinen Blick suchend den Abhang hinuntergleiten. Der Mann, der seiner Mutter zur Hilfe geeilt war, legte seinen Arm um ihre Hüfte und kletterte mit ihr vorsichtig auf die Straße zurück. Sie hielt sich mit der linken Hand den rechten Arm fest, und im schwachen Licht der Straßenlaterne sah Valdir, dass der Arm seltsam verrenkt war.

«Mama!» stieß der Junge entgeistert hervor und klammerte sich an sie wie ein Schiffbrüchiger an einen Rettungsring. Wagner und Valeria taten es ihm gleich. Die Mutter strich ihnen mit der linken Hand zitternd über die Köpfe.

«Das wird er büßen, Mama!» sagte Wagner mutig und mit Tränen in den Augen. «Ich werde es ihm heimzahlen, das verspreche ich dir!»

«Lass uns von hier fortgehen, Mama!» schluchzte Valeria.

Der Mann, der so spontan seine Hilfe angeboten hatte, ließ Miriam inmitten der vielen Schaulustigen stehen und ging auf Romildo zu, außer sich vor Erregung über das, was dieser Mann seiner Frau angetan hatte.

«Hast du gesehen? Hast du gesehen?! Sie hat sich deinetwegen den Arm gebrochen! Hast du das gesehen?!!» Er drehte mit der Faust Romildos Hemdkragen herum und sah ihm wutentbrannt ins Gesicht. «Wenn du noch einmal, ein einziges Mal deine Frau schlägst, werde ich dich eigenhändig umbringen! Hast du verstanden?!» Er ließ ihn los, und Romildo torkelte zu seiner Hütte und schlug ohne ein weiteres Wort die Tür hinter sich zu.

Valdir kannte den Mann, der sich so für seine Mutter eingesetzt hatte. Er wohnte keine drei Häuser weiter die Straße hinunter und hieß Max. Er mochte Miriam und hatte sich ihretwegen schon häufig mit Romildo herumgestritten. «Warum trennst du dich nicht endlich von deinem Mann?» fragte er sie oft, wenn Romildo sie wieder einmal geschlagen hatte. «Das ist doch kein Leben. Zieh zu mir mit deinen Kindern. Ich hab zwar nicht viel Platz, aber sobald ich mehr Geld habe, werde ich anbauen. Überleg’s dir, Miriam. Denk an dich, denk an deine Kinder!»

Max war bei weitem nicht der einzige Mann, der sich für Miriam interessierte und sie ständig zu überreden versuchte, sich von Romildo scheiden zu lassen. Miriam war eine äußerst attraktive Frau, mittelgroß, schlank, mit goldbrauner Haut und schwarzem, hüftlangem Haar, und es war der gesamten Nachbarschaft unerklärlich, warum sich eine so hübsche Frau wie sie nicht längst einen anderen Mann gesucht hatte. Statt dessen ließ sie sich von Romildo demütigen, unterdrücken und misshandeln. Ihre innere und äußere Schönheit nahm täglich ab, verblühte wie eine Rose im Sommerwind, rasch und unaufhaltsam, bis eines Tages nichts mehr davon übrigbleiben würde.

«Wann nimmst du endlich Vernunft an, Miriam?» sagten die Nachbarsfrauen. «Siehst du denn nicht, dass dich dieser Mann zugrunde richtet? Was hält dich davon ab, ihn zu verlassen?»

«Ich habe fünf Kinder großzuziehen», entgegnete Miriam jedes Mal.

Diese Nacht schliefen Valdir und seine vier Geschwister bei Fabiana, der schwarzen Nachbarin, die zwar selbst kaum Platz für ihre eigene Familie hatte, jedoch immer bereit war, die Nachbarskinder in kritischen Situationen bei sich aufzunehmen. Und die Situation war leider nur allzu häufig kritisch. Manchmal war Romildo so betrunken, dass sie ihn von der Bar nach Hause tragen mussten. Sobald Miriam sah, in welchem Zustand man ihren Mann heranschleppte, packte sie alle fünf Kinder und brachte sie zu Fabiana, bevor das Donnerwetter losging. Fabiana beklagte sich nie darüber, dass Miriam zu so später Stunde an ihre Tür klopfte. Sie stellte nie Fragen, schob die verschlafenen Kinder ins Wohnzimmer und verteilte sie in den Betten ihrer eigenen vier Kinder.

«Danke!» murmelte Miriam jeweils erleichtert, und Fabiana winkte jedes Mal ab und brummte: «Die Rechnung kommt später.»

Es ging bereits auf zwei Uhr zu, als sich die letzten Nachbarn in ihre Häuser zurückzogen. Max erklärte sich bereit, Miriam ins Krankenhaus zu bringen, um ihren Arm untersuchen zu lassen, und Fabiana kümmerte sich wie immer um die Kinder. Es dauerte lange, bis Valdir in dieser Nacht einschlief. Das Blut an seiner Schläfe war eingetrocknet, doch er spürte seinen Puls gegen die Wunde hämmern. Er versuchte, das Geschehene irgendwie zu verdauen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Er sehnte sich zurück nach jener Zeit, als sie noch eine richtige Familie gewesen waren, als er unbesorgt und verspielt wie jeder kleine Junge in den Tag hineingelebt und sich um nichts weiter gekümmert hatte als um den Augenblick.

Er sehnte sich zurück nach jener Zeit, als sein Vater noch als Polizist gearbeitet hatte. Ja, sein Vater war Polizist gewesen, und Valdir hatte das immer großartig gefunden. Er fand, es gäbe keinen besseren Beruf für einen Vater als Polizist. Wenn er einmal groß wäre, würde auch er Polizist werden, so wie sein Vater, würde mit Mut und Tapferkeit für Recht und Gerechtigkeit kämpfen und die Menschen vor bösen Banditen beschützen. Er fragte seinem Vater immer Löcher in den Bauch über seinen Beruf und gab sich nicht zufrieden, bis er ihm irgendeine haarsträubende Geschichte auftischte, bei der er mindestens zehn Räuber auf einmal hinter Schloss und Riegel brachte.

Sein Vater war ein Held, soviel stand für den damals Fünfjährigen fest, und immer, wenn seine Eltern arbeiten gingen, wollte er mit seinen Geschwistern Räuber und Gendarm spielen. Wagner und Valeria, die auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen sollten, hatten allerdings ganz andere Ideen im Kopf. Ihr beliebtestes Spiel war Doktor und Patient. Valdir und die beiden kleinsten waren die Patienten, mussten sich aufs Bett legen und stillhalten, wenn Herr Doktor Wagner oder Frau Doktor Valeria sie mit einer Nadel in den Bauch pieksten. Valdir begann immer wie am Spieß zu schreien und sagte: «Ich will euer Spiel nicht spielen! Ich werd Mama alles erzählen! Und dann werdet ihr sehen!»

«Nichts wirst du sagen!» pflegte Valeria ihren Bruder einzuschüchtern. «Sonst kannst du morgen was erleben!»

Doch Valdir rannte jeweils davon, warf sich schluchzend aufs Bett und rief: «Ich will Mama! Ich will meine Mama!»

Den ganzen Tag wartete Valdir mit Sehnsucht auf den Abend, wenn seine Eltern von der Arbeit kamen. Sie pflegten gegen halb sieben nach Hause zu kommen, und immer brachten sie Süßigkeiten mit. Nie erzählte Valdir, was seine älteren Geschwister tagsüber mit ihnen machten. Er hatte Angst, sie würden es ihm tags darauf doppelt zurückzahlen.

Das waren die unangenehmen Erinnerungen, die Valdir in seinem Herzen trug. Doch es waren nicht die beschwerlichen, sondern die unbeschwerten Zeiten, die Valdir in dieser Nacht zu schaffen machten und nach denen er sich mehr denn je zurücksehnte. Wie lange war es her, seit sie zum letzten Mal gemeinsam Einkäufe erledigt hatten? Vater, Mutter und alle fünf Geschwister? Valdir erinnerte sich, wie sehr es ihm Spaß gemacht hatte, sich in den Einkaufswagen zu setzen und wie ein König von seinem Vater herumchauffieren zu lassen. Und wenn Vater sich nach langem Betteln endlich dazu durchgerungen hatte, den Kindern etwas zum Naschen zu geben, suchte sich Valdir immer genau das Gegenteil von dem aus, was sein Vater ihm hatte kaufen wollen. Und jedes Mal gab es deswegen eine lange Diskussion, bis Valdir seinem Vater mit einem breiten, gewinnenden Lächeln alle Argumente aus der Hand schlug und seinen gewünschten Erdbeerjoghurt strahlend entgegennahm.

Valdir erinnerte sich auch an seinen sechsten Geburtstag, als seine Mutter ihm eine riesige Torte backte und mit Schokolade, grünem Zuckerguss und Plastikfigürchen in ein richtiges Fußballfeld verwandelte. Ja, seine Mutter war bekannt für ihre Torten. Wo immer es ein Fest gab, wurde sie damit beauftragt, Kuchen zu backen, und immer ließ sie sich etwas Neues einfallen, um sich selbst in ihrer Originalität zu übertreffen. Einmal wurde sie sogar eingeladen, für die Stadtregierung von São Miguel Paulista eine Torte zu backen, und die Torte wurde über zwei Meter lang!

Ja, Valdir hatte allen Grund, auf seine Eltern stolz zu sein, und niemals hätte er gedacht, dass sie sich eines Tages so verändern würden. Doch sie hatten sich verändert, und wie sie sich verändert hatten! Und das alles nur wegen des verfluchten Alkohols! Valdir hatte bereits aufgehört zu zählen, wie oft sein Vater betrunken aus der Bar gekommen war und seine Mutter unter irgendeinem läppischen Vorwand durchgeprügelt hatte wie einen Hund. Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er und seine Geschwister bei der Nachbarin schliefen, um nicht mitansehen zu müssen, wie ihre Eltern sich stritten. Und dabei wiederholte sich die Szene fast täglich, wenn nicht vor ihren Augen, so nachts in ihren Träumen. Es war ein immer wiederkehrender Alptraum, ein Drama ohne Ende, und manchmal fragte sich Valdir, ob es nicht besser gewesen wäre, nie geboren zu sein.

Schließlich zog er seine Beine an den Bauch und wischte sich die Tränen ab, die seit geraumer Zeit über seine Wange liefen. Und mit der Sorge um seine Mutter schlief er endlich erschöpft in Fabianas Hütte ein.

Ein Brief aus São Paulo

Wenn es etwas gab, worauf sich Valdir besonders freute, so waren es jene unvergesslichen Tage, an denen sie die Großeltern besuchten. Carmen und Roberto, Miriams Eltern, wohnten in einem bescheidenen, dezent eingerichteten Häuschen mit viel Land und einem großen Blumengarten. Carmen kümmerte sich um Haus und Garten und verdiente Geld mit selbstgebackenen Kuchen. Roberto stellte Lederschuhe und Gürtel her, die er in der Stadt verkaufte.

Valdir liebte seine Großeltern über alles, nicht nur wegen des himmlischen Kuchens, den Großmutter jedes Mal auf den Tisch zauberte, wenn sie zu Besuch kamen. Auch nicht in erster Linie, weil Großvater ihn im hölzernen Handkarren wie einen kleinen Prinzen durch die Gegend spazieren führte. Nein, der wahre Grund war ein anderer und für den sechsjährigen Jungen kaum in Worte zu fassen: Es war die Sicherheit und Ruhe, die die Großeltern ausstrahlten, wie ein Leuchtturm in stürmischer See oder eine Oase inmitten der Wüste.

Sobald Valdir den Fuß über die Schwelle ihres Häuschens setzte, fühlte er sich geborgen und beschützt. Hier tauchte er in eine Welt ein, die nichts gemeinsam hatte mit seiner eigenen, zerstörten Welt, mit der er täglich konfrontiert war. Im Haus seiner Großeltern war es, als würde die Zeit stehenbleiben und als würde der Friede, der sich an diesem Ort befand, automatisch auf alle Anwesenden übertragen. Und da war noch etwas anderes: Valdirs Großeltern besaßen die seltene Fähigkeit, sich Zeit zu nehmen und auf die Probleme der Menschen einzugehen. Nie ließen sie eine Frage unbeantwortet, immer wussten sie einen Rat, ein tröstendes Wort, einen Ausweg aus einer schwierigen Situation. Und alles, was sie taten oder sagten, war von einem unerschütterlichen Gottvertrauen geprägt.

«Wenn ich erwachsen bin, will ich so klug sein wie du», sagte Valdir einmal. Der Großvater lächelte.

«Dann bitte Gott, dass er dir Weisheit gibt. Denn alle Weisheit kommt von ihm.»

Valdir dachte nach: «Wie ist Gott eigentlich so?»

«Gott ist Liebe», antwortete der Großvater. «Möchtest du wissen, wie sehr er dich liebt?»

Valdir nickte, und sein Großvater legte seine Arme um ihn, drückte ihn fest an sich und gab ihm einen riesigen Kuss auf die Wange. «Sooo sehr liebt er dich, Valdir, und noch viel mehr.»

«Wieviel mehr?»

«Unendlich viel mehr.»

«Und warum kommt er nicht und sagt mir das selbst?»

Der Großvater setzte Valdir rittlings auf seinen Schoß und strich ihm zärtlich über das krause Haar.

«Er ist bereits gekommen, vor zweitausend Jahren, um allen Menschen zu sagen, dass er sie liebt. Aber die Menschen haben ihm nicht geglaubt.»

«Warum nicht?»

«Weil sie sich selbst mehr liebten als Gott. Sie dachten, sie würden ganz gut ohne Gottes Liebe zurechtkommen, und deshalb haben sie ihn getötet.»

Valdir sah seinen Großvater mit großen Augen an. «Aber warum?»

«Weil die Menschen gerne unabhängig sind und ihr Leben selber bestimmen wollen. Sie wollen keinen Gott, der ihnen sagt, welcher Weg gut und welcher Weg schlecht für sie ist. Im Grunde erklärt jeder Mensch Gott für tot, wenn er ihm nicht sein Leben anvertraut.»

«Aber, wenn sie Gott getötet haben, gibt es ihn denn jetzt nicht mehr?»

«O doch, es gibt ihn, denn Gott ist stärker als der Tod.»

«Und wo ist er jetzt? Im Himmel?»

«Gott ist überall gleichzeitig», erklärte der Großvater, «im Himmel, auf Erden und in jedem Menschen, der ihn in sein Herz hineinlässt.»

«Und wie kommt Gott da rein?»

«Ganz einfach: Er klopft an, und wer ihm die Tür auftut, bei dem tritt er ein.»

«Hat Gott bei dir angeklopft?»

«O ja, das hat er», bestätigte der Großvater. «Viele Jahre hat er angeklopft, und ich hab ihn draußen stehen lassen. Aber eines Tages hab ich ihn eingeladen einzutreten, und seither wohnt er in mir. Und weißt du, es ist etwas Wunderbares, wenn Gott in einem Menschen wohnt. Wer mit anderen gestritten hat, kann ihnen plötzlich vergeben, und wer sie gehasst hat, kann sie plötzlich lieben.»

Bei diesen Worten wurde Valdir auf einmal nachdenklich. «Großvater», fragte er mit gerunzelter Stirn. «Meinst du, Gott hat auch schon bei Mama und Papa angeklopft?»

«Gott klopft bei jedem Menschen an», antwortete Großvater, «nur gibt es viele, die es nicht einmal hören, wenn er anklopft.»

Valdir nickte. «Ich glaube, Mama und Papa schreien viel zu laut, um ihn zu hören», stellte er resigniert fest. Der Großvater wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er, der sonst immer auf alles eine Antwort parat hatte, musste sich schweigend eingestehen, dass es selbst im Leben eines kleinen Jungen Situationen gab, die man nicht einfach mit ein paar tröstenden Worten zurechtbiegen konnte. Und es schmerzte ihn zu sehen, wie sein Enkel unter dieser tragischen Wahrheit zu leiden hatte.

Als Miriam ihre Eltern eine Woche nach dem Unfall zusammen mit den Kindern besuchte, wurden sie wie immer herzlich empfangen. Doch Valdir bemerkte gleich, dass die Freude seiner Großeltern getrübt war von der Sorge um ihre Tochter, denn sie wussten bereits, was es mit dem gebrochenen Arm auf sich hatte.

«Großvater! Lass uns mit dem Schubkarren eine Runde drehen!» rief Valeria, und bevor jemand etwas einwenden konnte, hatte sie sich bereits in den kleinen Holzwagen gesetzt, winkte die Geschwister zu sich und wartete darauf, dass Großvater wie immer das Zugpferdchen spielte.

Der Großvater winkte ab.

«Heute nicht, Kinder! Mein Rücken ist nicht mehr das, was er einmal war.»

«Ich helf dir beim Ziehen!» meldete sich Wagner großzügig, aber der Großvater schüttelte den Kopf.

«Heute wirklich nicht! Spielt alleine mit der Kutsche!»

«Och, Großvater», sagte Valeria enttäuscht, «ohne dich macht es keinen Spaß!»

Der Großvater kramte ein paar Münzen aus der Hosentasche und drückte sie Wagner in die Hand. «Kauf davon ein paar Bonbons für euch, und pass gut auf die Kleinen auf, ja?» Wagner bedankte sich höflich, obwohl er eigentlich lieber mit Großvater auf Kutschfahrt gegangen wäre als von seinem Geld Bonbons zu kaufen. Es war sonst nicht Großvaters Art, sie mit ein paar Münzen abzuspeisen. Die Situation war befremdlich, und im Unterbewusstsein erahnten die Kinder wohl, weswegen die Großeltern sich heute nicht mit ihnen abgeben wollten. Und dabei wäre es gerade das gewesen, was sie so dringend brauchten: einen Halt, um in dieser verwirrenden Zeit nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Die Großeltern verschwanden mit Miriam im Haus, und Wagner blickte auf die Münzen in seiner Hand und verkündete, wer Bonbons wolle, solle mit ihm gehen.

«Ich bleibe hier», sagte Valdir.

«Dann kriegst du aber keine Bonbons», ermahnte ihn Valeria.

«Ich will keine Bonbons», sagte Valdir.