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Du musst Chaos in dir tragen um einen tanzenden Stern zu gebären.

Friedrich Nietzsche

Prolog

Kennt ihr die Sagen der griechischen Mythologie? Die Geschichten von den Göttern, die ihre eigenen Eltern, die Titanen, schlimm bestraft haben? Von Zeus, dem notgeilen Göttervater, der jedem Barney Stinson Konkurrenz machen könnte, und von dem Zickenkrieg zwischen Athene, Hera und Aphrodite um Paris, der mit seinem schwanzgesteuerten Gehirn den Trojanischen Krieg ausgelöst hat?

Ja klar, diese Geschichten kennt jeder.

Auch bei den weniger beachteten ägyptischen Göttern ging es hauptsächlich um Mord, Sex und Macht. Um einen Gott beispielsweise, der seinen Bruder tötet, um auf den Thron zu kommen. Um Götter-Geschwister, die ein Verhältnis miteinander haben und deren Sohn dann das totale Arschloch wird. Hey, das Ganze könnte fast von HBO verfilmt worden sein!

Auf was ich nun eigentlich hinauswill, ist Folgendes: Diese ägyptische Götterversammlung, das ist meine Familie. Zumindest väterlicherseits.

Wer ich bin? Nun, mein Name ist May Setek. Dabei ist May eigentlich nur die Kurzform von Mayhem. Ich bin siebzehn Jahre alt, gehe noch zur Highschool und bin eine Hexe. Und ja, ich bin die Tochter von Seth, dem ägyptischen Gott des Chaos. Genau genommen von Seth, dem Brudermörder, der Osiris auf dem Gewissen hat und danach auch noch seinen Neffen Horus töten wollte.

Ich erzähle das nicht, weil ich stolz auf die Grausamkeit meines Vaters bin, sondern weil ich mich langsam mit dem Gedanken anfreunde, dass er vielleicht gar nicht sooo böse ist, wie ich am Anfang dachte. Erst jetzt verstehe ich, dass das Chaos in seiner Natur liegt – und auch in meiner. Doch macht es uns nicht notwendigerweise gleich zu einem Superschurken.

Natürlich war meine anfängliche Skepsis Seth gegenüber nicht ganz unbegründet. Die gruseligen Sachen mit seinem Bruder und seinem Neffen habe ich ja bereits erwähnt – und auch ich habe mit meinem Vater das eine oder andere Hühnchen zu rupfen. Er hat sich bei mir, seiner eigenen Tochter, erst vor etwa einem Jahr blicken lassen. Zu dem Zeitpunkt nämlich, als ich selbst anfing, göttliche Kräfte zu zeigen. Siebzehn verdammt lange Jahre habe ich meinen Vater nicht gekannt und dann stellt sich auch noch heraus, dass er der »böse Onkel« der ägyptischen Götterwelt ist. Das muss man erst mal verdauen.

Ich hatte nicht geglaubt, dass ich meinem Dad überhaupt etwas bedeute, bis ich es durch die seltsame Blutverbindung mit ihm selbst gesehen habe: Er liebt mich! Ist das zu fassen?!

Und diese »Verbindung« hat noch etwas in mir ausgelöst: Ich will meinen Cousin Horus tot sehen. Mir reicht es nicht, dass er wie die anderen Götter in einem endlosen, unruhigen Halbschlaf liegt, nein. Ich würde am liebsten Chicken-Nuggets aus dem falkengesichtigen Gott machen. Und dabei bin ich eigentlich Vegetarierin!

Ich weiß, ich weiß. Es klingt hart, wenn ein siebzehnjähriges Mädchen sagt, dass es jemanden töten will, aber schließlich mussten nur wegen Horus drei unschuldige Leute sterben.

Da war zum einen meine mir unbekannte Tante Charity, die sich schon vor der Geburt meiner Mom von unserer Hexenfamilie losgesagt hatte. Horus hatte sie durch ein Amulett jahrzehntelang beeinflusst und sie schließlich so weit getrieben, meinen Mitschüler Noah zu töten. Zwar hat sie das nicht selbst getan, aber sie hat meinen anderen Mitschüler, den Vampir Eric, dafür benutzt und ihn schließlich auch umgebracht. Und dann wollte sie zu guter Letzt mich töten, um Horus und seinen Eltern Osiris und Isis wieder den Weg in unsere Welt zu ebnen. Ich war sogar für ein paar Sekunden tot, aber dann konnte ich mich mit meinen göttlichen Kräften zum Glück wieder heilen. Mein Vater hat dann natürlich Charity getötet.

Jahaaa, einfach geht anders!

Denn da war ja noch die Sache mit Noah …

Nicht nur, dass Charity ihn auf dem Gewissen hatte. Er wurde nach seinem Tod zu einem Geist.

Da nur wir Übernatürlichen Geister sehen können, haben wir gewissermaßen viel Zeit miteinander verbringen »müssen«. Und obwohl ich wusste, dass es eine saublöde Idee war, habe ich mich ein bisschen in ihn verliebt.

Keine Ahnung, wie, habe ich Noah dann wieder zurück ins Leben geholt, wohl auf die gleiche Art, wie ich mich selbst geheilt habe. Das war eigentlich gar nicht so ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass meine Tante Isis ihren Mann und Bruder – ja, das war echt eklig! – Osiris auch wiedererweckt hat.

Alles super, oder? Schließlich ist mein Schwarm kein Geist mehr.

Falsch!

Seither verhält sich Noah mir gegenüber seltsam abweisend. Er redet kaum noch mit mir, sieht mich nicht mehr an und natürlich verbringt er auch keine Zeit mehr mit mir. Wir schauen uns keine Filme mehr an. Wir liegen nicht mehr gemeinsam in einem Bett.

Natürlich: Noah lebt wieder, aber die Zuneigung, die er einmal für mich empfunden hat, ist weg.

Und dafür hat der gefiederte Götteridiot Horus einen ordentlichen Extra-Arschtritt verdient.

1. Kapitel

Der Gott des Chaos wollte sich in einem Eiscafé mit mir treffen.

Ich hatte seinen Wunsch mit einem lockeren Schulterzucken hingenommen. Wenn er meinte …

Deshalb erreichte ich nun auch zwanzig Minuten zu spät das besagte Gebäude. Ich sprang vom Rad, schob es zum spärlich gefüllten Fahrradständer und schloss es mit einer Kette ab, als wäre ich ein gewöhnlicher Mensch. Im Sommer reihte sich hier ein Fahrrad an das andere, aber nun war Anfang Dezember. So langsam wurde es auch in unserer beschaulichen Stadt im Bundesstaat Maryland ziemlich kalt. Heute herrschten kühle zehn Grad Celsius.

Ich zog meine Kopfhörer aus den Ohren. Dann rieb ich mir mit meinen Händen über die nackten Arme und sofort wurde mir kuschelig warm. Zum Glück konnte ich mich mit der Macht des Feuers wärmen. Ich hätte meine Kräfte auch gegen die Kälte an sich einsetzen können. Praktischerweise hatte ich ja Macht über alle Elemente. Doch das wäre ein wenig … übertrieben.

Als ich den Laden betrat, ertönte nur ein leises Klingeln –trotzdem richteten sich alle Augenpaare sofort auf mich. Es waren kaum Leute im Lokal: eine gestresste Mutter mit ihren drei Kindern, vier Mädchen mit Instrumentenkoffern, die fast größer waren als sie selbst, und ein ach so cooler Typ mit Hipster-Brille und MacBook, der wohl sehr darunter litt, dass es hier keinen Starbucks gab.

Zum Glück wandten sich alle schnell wieder ab. Es war mir unangenehm, wenn mich Leute länger ansahen. Irgendwann fielen ihnen nämlich meine ungewöhnlich hellgrauen Augen auf. Eine Augenfarbe, die kein Mensch hatte – aber auch kein Übernatürlicher. Manchmal wechselten die Augen sogar die Schattierung und dann war die Iris so dunkelgrau wie Gewitterwolken.

Ich nahm an einem Tisch in der Ecke des Cafés Platz. Damit saß ich so weit entfernt von den anderen Gästen wie nur möglich.

Während ich auf Seth wartete, fiel mir auf, dass die Mutter immer wieder zu mir herblickte. Mir entging nicht die Abfälligkeit, die dabei in ihren Augen lag.

Ich seufzte.

Meine ganze Familie – inklusive mir – war in der Stadt als Hexenring verschrien. Zugegebenermaßen stimmte die Annahme, wir waren wirklich Hexen: Meine Mom legte Tarotkarten und meine Gran pendelte, nur meine Tante Harmony arbeitete im städtischen Krankenhaus als Ärztin. Doch auch wenn uns die ganze Stadt für Verrückte hielt, musste man zugeben, dass meine Gran und meine Mom gar nicht mal so selten Kundschaft hatten. Wenn es um den Verdacht der Untreue ging, rannten viele Menschen zu meiner Mom. Meine Großmutter war mehr die Spezialistin für Wasser- und Energielinien.

Ich schenkte der Frau einen finsteren Blick und sie wandte sich ertappt ab. Nachdem ich zehn Minuten lang abwechselnd auf meine schwarz-rot karierten Fingernägel – das Werk meiner besten Freundin Vivienne – und mein Handydisplay geblickt hatte, kam endlich die Bedienung zu mir. Viel Begeisterung konnte mir das jedoch nicht entlocken.

Vor mir stand Lyndsay Brooks, eine Cheerleaderin aus meiner Schule und somit neben Horus einer meiner Todfeinde. An meiner Highschool war es klischeegetreu so, dass das Cheerleader-Team zu achtzig Prozent aus unausstehlichen Zicken bestand. Und Lyndsay gehörte definitiv zu ihnen.

Sie rümpfte ihre Nase und strich sich ein paar schwarze Strähnen aus dem Gesicht. »Hi«, murmelte sie und fummelte an ihrer Kellnerschürze herum.

»Wenn du die Nase noch höher in die Luft reckst, brichst du dir einen Halswirbel.«

»Was?«

Ich lächelte falsch. »Ach, ich hab nur so vor mich hin gemurmelt.«

Lyndsay konterte gleich mit einem verbalen Gegenschlag: »Und du bist allein hier, oder?« Sie beugte sich etwas zu mir herunter. »Ich will dich jetzt nicht erschrecken, aber ist das eine schwarze Witwe hinter dir?«

Ich verstand diese böse Anspielung sofort. In der Schule ging das hartnäckige Gerücht um, dass sich Noah umgebracht hatte, nachdem er mit mir geschlafen hatte. Die Wahrheit war, dass Noah und ich uns zwar geküsst hatten, aber sonst nichts passiert war – außer dass er eben gestorben war. Ermordet durch den Einfluss meiner Tante. Und nun lebte er sogar wieder. Allein durch meine Kräfte. Nur blöd, dass ich das nicht sagen konnte, ohne die ganzen übernatürlichen Wesen zu outen – inklusive meiner Wenigkeit.

»Also ich sehe da keine Spinne«, ertönte eine dunkle Stimme hinter Lyndsay. »Und sie ist mit mir hier.«

Ab und zu war ich froh, wenn mein Dad auftauchte. Das hier war gerade einer dieser seltenen Augenblicke.

Lyndsay drehte sich zu meinem Vater um und sofort war ihre Arroganz wie weggewischt. Vor ihm wurde sie regelrecht zu einem hirnlosen, sabbernden Teenager.

»Ähm … Hi … Also, äh, was willst du denn trinken?«

Als sie kicherte, verdrehte ich die Augen.

Mein Dad hatte eine unglaubliche Wirkung auf Frauen – was mich natürlich gewaltig nervte. Es war so eklig, mit anzusehen, wie die halbe Weltbevölkerung meinem jahrtausendealten Vater nachsabberte.

»Hast du schon etwas bestellt, Mayhem?«

Seth beachtete Lyndsay nicht weiter. Er ging an ihr vorbei und setzte sich mir gegenüber hin.

»Ich glaube, ich hätte gerne einen Früchteeisbecher.«

Es war Dezember und es war kalt, aber wir waren in einem Eiscafé und ich mochte Eis.

Dad sah nicht einmal zu Lyndsay hin, während er bestellte. »Und ich nehme einen einfachen Kaffee.«

»Okay.«

Ich wusste, dass mich Lyndsay böse anstarrte, aber ich blickte sie nicht an. Sie konnte ja nicht ahnen, dass der gut aussehende junge Typ – er wirkte zumindest gerade wie Mitte zwanzig – mein Vater war.

Man musste allerdings zugeben, dass ich meinem Dad nicht besonders ähnlich sah – was daran lag, dass ich meiner halb vampirischen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war: blasse Haut, zierliche Gestalt und langes, gewelltes Haar. Er hingegen war – in seiner menschlichen Hülle – beinahe zwei Meter groß, mit dunkler Haut, schwarzen Haaren und einem leichten Dreitagebart. Er glich einem Supermodel aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Wenn man ihn aber länger ansah, merkte man, dass er fast ein bisschen zu perfekt war. Perfekte Haut, perfekte Zähne, perfekte Haare. Ein perfekter Körper. Alterslos. Unsterblich.

Ich hatte von diesem »Perfektsein« nicht viel abgekriegt: Ich war ziemlich mager, hatte gerade wieder Probleme mit Haarbruch und bekam immer gigantische Pickel, wenn ich zu viel Schokolade aß. Das einzig »Göttliche« an mir – das Einzige, worin ich meinem Vater ähnelte – waren die Augen.

Man sagt ja, die Augen seien die Fenster zur Seele. Nun, meine Augen zeigten, dass ich das personifizierte Chaos war. Sie waren regengrau und wurden je nach Stimmung dunkler.

»Wie geht es dir, meine Kleine?«, fragte Seth und lächelte leicht.

Er zog den schwarzen Mantel aus. Darunter trug er ein rotes Hemd.

Ich hatte erst vor kurzem gelernt, dass Rot seine Farbe war. Rot war nicht nur das Blut, welches im Kampf verschüttet wurde, sondern auch die Wüste, Symbol von Oberägypten – einem Reich also, das lange Zeit nur Seth gehört hatte. Streng genommen war ich sogar Prinzessin Mayhem von Oberägypten.

O, ihr Götter, ich hatte echt was gelernt!

»Mir geht's ganz gut«, antwortete ich ausweichend.

Was sollte ich ihm denn auch erzählen?

Meinen Herzschmerz wegen Noah? Wohl kaum …

Was verstand Seth schon von Liebe? Seine erste Ehe war arrangiert und meine Mom lediglich eine seiner vielen Geliebten gewesen. Er war der Casanova schlechthin.

Ich hingegen machte gerade meinen ersten Liebeskummer durch.

Ich mochte Noah nach wie vor, aber er schien mich kaum noch wahrzunehmen. Auch wenn ihm nichts mehr an mir lag, so empfand ich doch noch so viel für ihn. Noah sah wahnsinnig gut aus, war witzig und verständnisvoll. – Okay, sein Musikgeschmack war ausbaufähig und manchmal war er echt nervig, aber wer war schon perfekt?

Er wäre echt so ein toller fester Freund gewesen …

»Ich habe gelesen, dass das heißt, dass gar nichts in Ordnung ist«, durchbrach Seth jäh meine abstrusen Träumereien.

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Du hast was wo gelesen?«

Dad hatte eine Collegetasche bei sich. Er legte sie auf den Tisch und kramte darin herum, bis er eine Zeitschrift mit einem grinsenden Paar und einem Baby auf dem Cover herauszog.

»Teenager, besonders im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren«, las er, »reden oft nicht mit ihren Eltern über ihre Probleme. Sie vertrauen sich dann lieber ihrem Freundeskreis an. Diese Verschlossenheit hat nichts mit Ihrer Kompetenz als Elternteil zu tun, sondern ist ein ganz gewöhnlicher Prozess des Erwachsenwerdens.« Er sah von der Zeitschrift auf. »Was hast du für Probleme?«

Ich stöhnte und verschränkte die Arme vor der Brust. Hielt er sich jetzt für einen Experten, nur weil er irgendein billiges Magazin über Erziehung gelesen hatte?

»Wusstest du, dass Teenager angeblich am anstrengendsten überhaupt sind?«, fragte er weiter. »Ich dachte immer, Babys wären das. Wegen des Geschreis die ganze Zeit, und dann dieses aufwendige und ekelhafte Windelwechseln! Bin ich froh, dass du aus diesem Alter raus bist.«

Seth war nie ein Baby, ein Kind oder ein Teenager gewesen. Er war wie seine Geschwister erwachsen auf die Welt gekommen. Zudem war ich sein einziger Nachkomme in seinem mehrere Jahrtausende langen Leben. Das einzige Kind, dem Seth jemals nahe gewesen war, war Horus gewesen – und den hatte er umbringen wollen …

Bei mir hatte er sich einfach nur meine gesamte Kindheit lang kein einziges Mal blicken lassen.

»Interessant.«

Seth grinste – vor Begeisterung?!

Ich seufzte. Wenn er sich schon so ins Zeug legte und die Magazine las, dann wollte ich zumindest so nett sein und ihn ein wenig in mein Gefühlsleben einbeziehen.

»Wie soll es mir denn gehen, Seth? Man wollte mich töten! – Nein, ich korrigiere: Man hat mir ein Messer ins Herz gestoßen und ich war kurz tot. Weißt du, das ist nicht gerade toll!«

Das war neben meinen Gefühlen für Noah mein zweites großes Problem: dass mein eigener Cousin mich töten wollte und dass meine eigene Tante es sogar getan hatte, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Dabei hatte ich in meinem Leben noch nie etwas wirklich Böses verbrochen. Das Schlimmste war, jemandem – der wirklich arschig zu mir gewesen war! – Herpes anzuhexen. Und Larissa hatte es wegen ihres Mobbings echt verdient!

Seths Miene verfinsterte sich. »Das habe ich nicht vergessen, Mayhem. Deine Tante wurde dafür bestraft und Horus hat keine Macht mehr in dieser Welt. Du musst keine Angst haben.«

»Aber was, wenn es noch mehr Leute gibt, die mich töten wollen?« Ich beugte mich über den Tisch. »Was, wenn Charity bei den Hexen von Isis war? Oder bei denen von Nephthys?« Bei dem Namen seiner untreuen Ex-Frau verzog Seth angewidert das Gesicht. »Die würden meinen Tod doch sehr begrüßen!«

Charity hatte in ihrem Wahn verraten, dass, wenn ich starb, die Götter aus ihrem nun schon Jahrtausende andauernden Schlaf erwachen würden. Das lag an meinem besonderen Blut: Durch meine Vampir-Hexen-Mom verfügte ich über Blutmagie und durch meinen Dad floss göttliches Blut in meinen Adern. Ein überaus mächtiger Magie-Cocktail.

»Charity war eine Ausgestoßene«, beruhigte mich Seth. »Isis' und Nephthys' Hexen würden sich nicht mit ihr abgeben.«

Das beruhigte mich nicht einmal im Geringsten.

Seth griff nach meinen Händen und drückte sie sanft. Ich sah zu ihm auf. »Ich werde nicht zulassen, dass dir jemals wieder irgendjemand wehtut.«

Lyndsay kam ausgerechnet jetzt mit unserer Bestellung zurück – als Seth meine Hände hielt und mich voller Vaterliebe ansah. Die Cheerleaderin wirkte zuerst total aufgebracht, bis ihr Blick auf das Elternmagazin fiel. Dort stand in Großbuchstaben: JUNGE ALLEINERZIEHENDE MÜTTER BRAUCHEN JEGLICHE UNTERSTÜTZUNG. Da schenkte sie mir ein teuflisches Grinsen.

Sofort riss ich meine Hände weg.

»Dein extragroßer Früchteeisbecher. Du musst ja jetzt für zwei essen!«, flüsterte sie mir zu und stellte das Eis-Ungetüm vor mir ab.

Aus irgendeinem Grund gelang es mir nicht, mich angemessen über die vier Kugeln Früchteeis und das viele Obst, garniert mit Schlagsahne und Fruchtsoße, zu freuen. Im Gegenteil: Ich war so wütend, dass mir nicht mal ein dummer Spruch einfiel, den ich ihr ins Gesicht schleudern konnte, geschweige denn irgendetwas, womit ich dieses blöde Missverständnis hätte aufklären können.

Als mir endlich etwas Passendes durch den Kopf schoss, war sie schon weg.

Na ja, in spätestens neun Monaten würden meine Mitschüler auch schnallen, dass ich nicht schwanger war. Bis dahin würden sie halt wieder alle blöde Sprüche reißen. War ja nichts Neues.

Seth starrte seinen Kaffee mit zusammengekniffenen Augen an.

»Was ist denn?«, fragte ich ihn.

»Da schwimmt eine Kugel Eis drin.«

»Und?«

»Ich trinke stets Kaffee. Keinen Eiskaffee.«

»Was ist jetzt so schlimm dran?« Ich blinzelte verwirrt.

»Ich bin zu alt für Veränderungen.«

»Ich bin auch eine Veränderung.«

Seth ignorierte den Einwand. »Ich mag kein Eis.«

»O, ihr Götter!«, fluchte ich genervt.

Ich fischte das Vanilleeis mit meinem Löffel heraus und knallte es mir als zusätzliche Garnierung auf meinen Eisbecher.

Was Lyndsay nicht wusste, war, dass ich wirklich für zwei bestellt hatte.

Ich führte den ersten Löffel an meinen Lippen vorbei in die Nähe meiner Haare. Schmatzend machte sich Kurt, ein kleiner Nilflughund und mein Hexentier, über das Vanilleeis her.

Seit ich gestorben war, ließ mich Kurt nicht mehr allein aus dem Haus gehen. Mit ihm an meiner Seite war ich ein bisschen stärker, schneller und hatte geschärfte Sinne.

Nach fünf Löffeln hatte Kurt fast eine Gehirnfrostung. Ich wischte seinen Sabber mit einer Serviette weg und konnte nun endlich selbst das Eis genießen.

»Warum wolltest du mich jetzt eigentlich treffen?«, fragte ich meinen Dad. »Sagst du mir endlich, wann wir ein ordentliches Kampftraining abhalten?«

»Mayhem, du bist vor nicht einmal zwei Wochen fast gestorben. Willst du es nicht etwas langsamer angehen?«

»Ich fühle mich ausgezeichnet!«, rief ich etwas zu aufgebracht. »Ich will nicht mehr länger warten. Ich will wieder kämpfen. Ich will, nein, ich muss stärker werden!«

Ich unterlegte meinen Wunsch mit einem kleinen Erdbeben. Ich ließ den Boden nur ein bisschen wackeln. Ein paar Gläser klirrten und die vier Mädchen im Café schrien unisono auf.

Seth war erstaunt. »Seit wann kannst du denn Erdbeben verursachen?«

»Seit ich das Staffelfinale von Game of Thrones gesehen habe.«

Seth lehnte sich zurück. »Gut, gut! Glaubst du, deine Großmutter könnte übermorgen die Theorie ausfallen lassen? Dann widmen wir uns weiter deiner kämpferischen Ausbildung.«

Ich lächelte zufrieden.

Seth lächelte auch. »Und jetzt genieß dein Eis.«

Allzu viel Zeit war für das Genießen allerdings nicht drin. Drei Minuten später betraten neue Gäste den Laden. Das laute Mädchenlachen hätte ich immer und überall erkannt.

»Hallo May!«

»Viv!«, lächelte ich. »O, hi Shane.«

Vivienne, kurz Viv, Denaux war meine allerbeste Freundin. Sie war eine Voodoo-Priesterin und damit auch eine Hexe. Sie hatte sich bei ihrem Freund Shane Sterling eingehakt.

Shane war ein Mensch und Noahs bester Freund gewesen. Der arme Kerl wusste weder, dass sein Freund noch lebte, noch, dass seine Freundin mit Voodoo-Puppen umgehen konnte.

»Hi May. Also, soll ich uns einen Latte Macchiato zum Mitnehmen holen?«, fragte Shane seine Freundin.

Viv nickte und sah, nachdem er abgezogen war, wieder zu mir herüber. »Hallo May.«

Warum grüßte mich Viv noch einmal? Und warum um alles in der Welt grinste sie so breit? Das war schon beinahe unheimlich.

Dann blickte sie zu meinem Dad und checkte ihn ab. – War das möglich?! Meine beste Freundin verschlang gerade meinen Vater mit ihren Augen!

Ich war ehrlich entsetzt.

Viv, du hast einen Freund! Hier bei dir!, teilte ich ihr per Telepathie mit.

Ja? Na und? Ich darf ja wohl noch andere Kerle außer Shane heiß finden! Ich bin durch die Beziehung schließlich nicht asexuell geworden. Und dieser Kerl ist ja mal megaheiß. Da verbrennt man sich glatt die Zunge! Woher kennst du ihn? Bist du über Noah hinweg? Hast du ihn schon geküsst? Warum sagst du mir nichts? Warum …

Auf mich prasselten unendlich viele Fragen auf einmal ein.

STOPP! Du verstehst das nicht.

Viv wusste zwar, dass mein Vater ein Gott war, aber sie hatte ihn noch nie gesehen.

»Ach, Viv, ich habe dir Seth noch gar nicht vorgestellt.«

Ich grinste, als ihr die Augen fast aus dem Schädel kugelten, da ihr klar wurde, wer da eigentlich saß.

»Viv, das ist mein Dad Seth, Gott des Chaos, des Krieges, der Wüste et cetera, bla, bla, bla. – Seth, das ist meine beste Freundin Viv aus dem Denaux-Coven. Sie ist aber eigentlich eine Laveau.«

Vivs Familie hatte nach dem gewaltsamen Tod der berühmten Marie Laveau, Vivs Großmutter, den Nachnamen wechseln müssen. Vivs Tante lebte noch in New Orleans, Viv, ihre zwei Schwestern und ihre Mutter waren hierhergezogen.

»Hi!« Mein Dad hob die Hand zum Gruß. »Ich kannte deine Großmutter Marie noch. Ich habe ihr mal bei einem schlimmen Zombie-Problem geholfen.«

Mir ist gerade unheimlich schlecht, May, schickte mir Viv per Telepathie.

Tja, ich bin eher froh, dass du nicht versuchst, meine Stiefmutter zu werden.

Hör auf, das ist nicht witzig!, keifte Viv. Ich habe gerade eine alte Mumie abgecheckt!

Als ihr Freund zurückkam, machte sich Viv mit ihm schnell aus dem Staub.

»Habe ich sie etwa eingeschüchtert?«, fragte mich mein Vater.

***

Ich kam pünktlich zum Abendessen nach Hause. Kaum hatte ich einen Fuß ins Innere unseres riesigen Anwesens gesetzt, schlug mir der herzhafte Geruch von würzigen Kräutern in die Nase.

Kurt, der sich beim Nachhausefahren in die Kapuze meines Pullovers verkrochen hatte, weil ich immer noch nicht in der Lage war, seine Form zu verändern, so wie es Hexen in meinem Alter eigentlich können sollten, regte sich mittlerweile auch wieder. Seine lederartigen Flügel streiften über meinen Nacken, als er sich suchend vornüberbeugte.

Mein Magen verlangte währenddessen knurrend, dass ich dieses herrlich duftende Essen auf der Stelle suchen und verschlingen sollte. Ich hatte nämlich nicht mehr allzu viel von dem Eisbecher gegessen, weil Seth plötzlich eine seiner vielen Anekdoten zum Besten geben wollte.

In den letzten zwei Wochen hatte er mir so einige Geschichten aus seiner Vergangenheit erzählt. Unter anderem, wie damals Rom in Brand geraten war – Nero war tatsächlich daran schuld gewesen, weil er Seth mit seiner Leier so gelangweilt hatte, bis der entnervte Gott ein Haus in Brand gesteckt hatte. Oder wie Seth versehentlich den Prager Fenstersturz, der zum Dreißigjährigen Krieg geführt hatte, durch ein »spaßiges« Gerangel verursacht hatte.

Das Eis in meinem Becher hatte ihn nun dazu gebracht, mir ausschweifend darüber zu erzählen, wie es damals auf der Titanic gewesen war. – Ja, mein Dad war auf der Titanic mitgefahren, hatte aber ausnahmsweise nicht dafür gesorgt, dass der Dampfer gegen den Eisberg geknallt war.

»Manchmal machen Menschen eben dumme, dumme Fehler«, hatte er mir gesagt. »So wie dieser notgeile Kapitän, der die Costa Concordia geschrottet hat.«

Auf jeden Fall war mein Dad mit der Titanic herumgeschippert, dann war sie auf den Eisberg aufgelaufen und langsam gesunken. Mein Dad hatte sich an eine alte Mumie – die Leute damals standen auf Mumien – geklammert, die sich als sein alter Freund Madu herausgestellt hatte. Mit ihm war er dann ans Festland getrieben. Er hatte das Bad im Pazifik genossen, während viele Menschen im Eiswasser ertrunken waren.

Madu stand nun in einer seiner zwei Dutzend Luxus-Apartments, die über die ganze Welt verstreut lagen.

Ich schüttelte die Gedanken an den Mumienfreund ab, bevor ich weiter in Richtung Küche marschierte. In den letzten vier Wochen bot sich mir jedes Mal das gleiche Bild: Meine Familie, die seit meiner Geburt nur aus meiner Mom, meiner Tante und meiner Gran bestanden hatte, lachte und scherzte mit einer vierten Person. Einem Jungen mit hellbraunen Haaren und blauen Augen. Noah.

Bei seinem Anblick zog sich mein Herz so schmerzhaft zusammen, dass ich sogar ein leises Schluchzen unterdrücken musste. Noah hatte mir meinen ersten Liebeskummer beschert und als wäre das nicht schlimm genug, konnte ich ihm nun nicht einmal aus dem Weg gehen, da er seit seiner Auferstehung bei uns im Haus lebte.

Als Hexen der Stadt waren wir dazu verpflichtet, ihn bei uns aufzunehmen. Er war gestorben und seine Leiche war begraben worden – zumindest zum Schein. Wir hatten herausgefunden, dass Charity seinen Leichnam entwendet und mumifiziert hatte, damit ein Gott in seinen Körper hätte hineinschlüpfen können.

Fakt war, dass Noah in der gesamten Stadt als tot galt. Man konnte nun nicht einfach seine Auferstehung verkünden, genauso wenig, wie wir seine Erinnerungen an die übernatürliche Welt löschen konnten.

Aber Noah würde ohnehin nur noch ein paar Monate hierbleiben. Er hatte mir gesagt, dass er im Herbst aufs College gehen wollte. Ich wusste zwar nicht, wohin, aber es war klar, dass es ganz, ganz weit weg sein würde. Vielleicht sogar auf einem anderen Kontinent.

Ich für meinen Teil würde im besten Fall auf das College in der Nachbarstadt gehen, die nicht einmal eine Autostunde von hier entfernt lag. Damit blieb ich ganz in der Nähe der anderen Übernatürlichen, die meine Hilfe brauchten.

Ganz zu schweigen davon, dass mich Noah sowieso nicht bei sich haben wollte …

Erst als ich einen der Stühle am Esstisch quietschend zurückzog, bemerkte meine Familie endlich, dass ich auch im Raum – im Haus! – war.

Tante Harmony ließ vor Schreck einen Fleischspieß zu Boden fallen. Ihr Kater Mister Mittens machte sich gleich laut schnurrend darüber her.

»May ist ja schon zu Hause!«

»Schon seit fünf verdammten Minuten«, grummelte ich leise.

Ich widmete meine Aufmerksamkeit unserem Tisch. Darauf warteten schon vier Teller, fünf Gläser und Besteck auf ihren Einsatz. O Mann, der Salzstreuer war ja auch so megainteressant! Er war geformt wie ein Engel und aus … aus … Er war halt aus silbernem Irgendwas.

Meine Mom hatte ihn wohl auf dem jährlichen Nachtflohmarkt der Stadt erstanden, den sie als Vampir aus zwei Gründen schätzte: erstens, weil er nachts stattfand, und zweitens, weil sie es liebte, jede Menge – teils auch unsinnigen – Besitz anzuhäufen.

Natürlich versuchte ich gerade einfach nur angestrengt, zu verhindern, dass mein Blick zu Noah hinüberglitt. – Obwohl, einen kleinen Seitenblick durfte ich ja wohl riskieren?

Ich hob den Kopf und sah zur Kochstelle. Noahs blaue Augen blickten mich direkt an. Sofort durchzuckte etwas, das sich wie ein Blitz anfühlte, meinen ganzen Körper. Schmetterlinge flatterten in meinem Bauch, das Blut schoss in meine Wangen und meine Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln.

Und das alles innerhalb eines Augenblicks!

Als Noah bemerkte, dass ich ihn anstarrte, wandte er den Kopf ab. Kein Lächeln, aber auch kein angewidertes Gesicht.

Seit seiner Wiederauferstehung wirkte Noah so anders. Beinahe so gefühlskalt und distanziert wie ein Vampir. Aber Noah war kein Blutsauger geworden. Seine Aura sagte mir, dass er ein gewöhnlicher Mensch war.

Nur ein Mensch, versuchte ich mich selbst zu trösten. Er würde ein gewöhnliches Menschenleben führen. Falls ich überhaupt etwas davon mitbekommen sollte. Zudem war es in meiner Nähe ohnehin viel zu gefährlich für ihn. Als Tochter des Seth würde ich sicher des Öfteren attackiert werden und Noah konnte sich als schwacher Mensch kaum gegen Übernatürliche wehren.

Menschen sind kein Date-Material, machte ich mir bewusst. Verliebe dich nie in einen Menschen. Nach Noah nie wieder!

»Wie war es?«

Meine Mutter saß mir plötzlich gegenüber. Sie hielt ein Glas mit Blut in der Hand, was mich dazu veranlasste, so gut ich konnte durch den Mund zu atmen. Ich hasste den ekelhaften Geruch von Blut!

»Wie war was?«

»Na, dein Treffen mit Seth.« Ich merkte sofort, dass sie versuchte, jegliche Gefühlsregung in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Meine Mom hasste meinen Dad dafür, dass er uns sofort verlassen hatte, nachdem ich geboren worden war. Doch dass er jetzt meine Nähe suchte, machte sie rasend vor Wut.

»Seth wollte nur ein bisschen mit mir reden«, erzählte ich ihr. »Ich denke, er macht sich noch Sorgen um mich.«

Immerhin war ich sein einziges Kind, sein einziger lebender Blutsverwandter.

Sie schnaubte abfällig und stürzte das ganze Glas Blut ex hinunter. »Hat er etwas über mich gesagt?«, fragte sie mich dann.

»Äh … Was soll er da schon sagen?«

In letzter Zeit schaute mein Dad regelmäßig hier vorbei. Meine Mom bleckte dann meist die Reißzähne und verzog sich in ihr Schlafzimmer.

Sie warf die Hände in die Luft. »Was weiß ich?«

Okay. Das war mehr als seltsam. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich fast gedacht, dass meine Mom langsam wieder Gefühle für meinen Dad entwickelte. Aber das war so was von absurd! Ich hatte erlebt, wie meine Mom ihn mehrfach erdolcht und ihm ein Veilchen nach dem anderen verpasst hatte. Sie hatte ihn mehr als unsterblichen Sandsack denn als Flirt-Material betrachtet.

»Es ist Zeit für das Essen!«, kündigte meine Gran nun an.

Im nächsten Moment kamen auch schon die Töpfe angeflogen. Auf meinem Teller landete ein mit Käse überbackener Nudel-Gemüse-Auflauf. Kurt krabbelte über meine Schulter und fing Sekunden später bereits laut zu schmatzen an.

Ich wollte mich ebenfalls aufs Essen stürzen, als sich der Stuhl neben mir bewegte. Noah hatte sich an den Esstisch gesetzt.

Warum sitzt er plötzlich neben mir? Die letzten zwei Wochen hat er mich wie Luft behandelt!

Sieh ihn nicht an! Sieh ihn nicht an!

O, ihr Götter, er wird echt immer heißer!

»Ist was, May?«, fragte er mich, als ich ihn ein paar Sekunden zu lange unverhohlen angeglotzt hatte.

Ertappt zuckte ich zusammen. »Ich dachte, du hättest einen fetten Pickel auf der Stirn.«

Danke, Mund, dass du ab und zu etwas ohne nachzudenken von dir gibst!

Kein Problem, Hirn.

Ohne ein weiteres Wort wandte Noah den Blick ab.

War dieses seltsame Verhalten für menschliche Männer normal?

Noahs Teller war vollgehäuft mit Fleischspießen, Pommes und Gemüse, darüber Knoblauchsoße. Wie konnte man nur so viel essen? Der Kerl mampfte ja zum Frühstück und Mittag genauso viel.

Ein paar Minuten lang herrschte einvernehmliche Ruhe am Esstisch. Ich teilte mein Essen mit Kurt. Meine Mom mischte sich Ambrosia, den Alkohol der Übernatürlichen, ins Blut.

Da fiel mir wieder ein, was ich mit Seth besprochen hatte.

»Seth möchte am Mittwoch ein Kampftraining abhalten«, sagte ich zu meiner Großmutter.

Gran kaute etwas zu lange auf den Pommes herum. »Ach so?«

»Ich will besser im Kämpfen werden«, gab ich zu. »Und Seth ist wohl der beste Trainer, den es dafür auf der Welt gibt.«

»Das mag wohl wahr sein«, sagte sie. »Aber nur Kampfstärke allein ist nicht alles. Wissen ist ebenfalls Macht, May.«

»Seth hat viele Schlachten verloren, weil er sich zu oft von seinem Temperament hat leiten lassen«, mischte sich nun auch Tante Harmony ein. »Und du bist auch sehr temperamentvoll, May.«

Ich schnaubte. Wie sollte ich denn auch anders sein? Meine Mutter war ja nicht weniger temperamentvoll als mein göttlicher Chaos-Vater.

»May braucht das Kampftraining.«

Erstaunt blickte ich zu Noah, der sich gerade zum ersten Mal seit langem für mich eingesetzt hatte.

»Ich meine, sie hat auf beiden Seiten klare Defizite, aber sie muss einfach mal lernen, wie man kräftig zulangt.«

»Ich zeig dir mal, wie ich zulangen kann!«

Rumms! Ich schwang eine Gurke wie ein Schwert. Immer und immer wieder schlug ich mit dem Gemüse auf Noah ein.

»Hey! Was soll das?!«

»Sei froh, dass ich kein echtes Schwert herbeigezaubert habe!«, blaffte ich zurück. »Du bist so ein Arschloch, Noah!«

Kurz sah er etwas schuldbewusst aus.

»Kinder!«, rief meine Gran. »Reißt euch gefälligst zusammen!«

Die vegetarische Waffe verschwand aus meiner Hand.

Meine Mom und Harmony grinsten amüsiert.

Ich stand auf. »Ich esse in meinem Zimmer.« Ohne noch einen Blick auf Noah zu werfen, verließ ich die Küche.

Ich hörte ihn noch fragen: »Was habe ich denn getan?«

Was er getan hatte? Fragte er wirklich, was er getan hatte?

Warum war er nur so scheiße zu mir? Was hatte ich ihm getan?

***

In meinem Zimmer angekommen, rief ich sofort Vivienne an, um mich bei ihr auszukotzen.

Selbstverständlich hatte ich ihr von Noahs Wiedererweckung erzählt. Als sie mich nach Charitys Angriff besucht hatte, war das das Erste gewesen, das ich ihr unter Tränen gebeichtet hatte. »Noah lebt wieder und er mag mich nicht mehr«, hatte ich gut zwanzig Mal hintereinander gebrabbelt und die Seidenbluse von Viv dabei als Taschentuch benutzt. Die Bluse war jetzt übrigens in meinen Besitz übergewechselt, weil Viv sich strikt weigerte, sie jemals wieder anzuziehen.

Wie erwähnt war sie eine der wenigen, die wussten, dass mein Vater ein Gott war. Nur die zwei Hexenfamilien der Stadt und Noah waren eingeweiht. Und leider auch Larissa, die unausstehliche Ex von Noah und ihres Zeichens eine Banshee, eine Todesfee aus Irland. Meine anderen übernatürlichen Freunde hatten keine Ahnung von meiner Abstammung – und es war besser, sie blieben darüber im Unklaren.

Die ganze Sache war so kompliziert und eigentlich auch unfassbar: Es gab doch eigentlich keine Götter mehr, da sie vor Jahrtausenden voller Erschöpfung in einen tiefen Schlaf gefallen waren – bis auf Seth und einen Teil von Horus.

Seth aber konnte im Gegensatz zu seinem Neffen weiterhin herumstreifen – schwächer zwar, als zu seinen Bestzeiten, aber immerhin. Horus hingegen nahm nur durch sein Auge, das ihm Seth einmal in einem Streit herausgerissen und seitdem aufbewahrt hatte, Einfluss auf diese Welt. Die Betonung lag auf »nahm«, da ich das Auge mit Hilfe meines Vaters inzwischen zerstört hatte.

Aber zurück zum Thema: Es gab also keine Götter mehr bis auf meinen Vater. Es waren einige Jahrtausende vergangen, in denen er ziellos umhergestreift war und Unheil gestiftet hatte – um dann ausgerechnet auf meine Mutter zu treffen. Das war nicht einmal Zufall oder echte Liebe gewesen, sondern eher ausgemachtes Schicksal, weil meine Ur-Ur-Und-so-weiter-Großmutter ihre Macht von Seth hatte. Seitdem war meine Familie dem Gott des Chaos gewissermaßen zu Diensten. Als Seth wieder einmal seine Hexen besuchte, lief er meiner Mom über den Weg. Was dann folgte, wollte ich mir am liebsten gar nicht ausmalen: Sie hatten eine Affäre miteinander, tranken sogar gegenseitig ihr Blut und schließlich wurde meine Mom mit mir schwanger. Eigentlich unmöglich, da Mischblüter wie sie als unfruchtbar galten – aber da war ja diese Sache mit der Blutmagie …

Neun Monate später wurde ich geboren und mein Dad war im gleichen Moment abgehauen, als er erfuhr, dass ich als Hexe zur Welt gekommen war. Er wartete aber nur darauf, dass meine Chaoskräfte erwachten – und das taten sie vor wenigen Monaten dann auch endlich. Jetzt war ich die einzige Chaoshexe auf der Welt.

Nachdem ich Vivs Namen dreimal laut vor dem Spiegel – unserem »Bildtelefon« – gesagt hatte, veränderte sich die Oberfläche. Sie warf Wellen und dann sah ich meine beste Freundin als Spiegelbild.

»Hi May!« Viv strahlte über das ganze Gesicht.

An ihrem Hals erkannte ich trotz ihrer dunklen Haut einen noch dunkleren Knutschfleck. Ihre schwarzen Locken waren zerzauster als sonst.

Ich zog eine Augenbraue hoch.

»Shane ist grad gegangen«, erklärte sie mir beinahe atemlos. Sie schnippte mit den Fingern. Sofort erwachte Albert, ihre oberste Voodoo-Puppe, zum Leben. Er griff sich eine Bürste und fing an, ihre Haare wieder in Ordnung zu bringen.

»Lässt du ihn denn schon ins Haus?«, fragte ich erstaunt. Eigentlich hätte ich auch gleich fragen können: Hast du ihm etwa gesagt, dass du eine Hexe bist?

In Vivs Zuhause standen öfter mal Totenschädel herum, dazu kamen aufgehängte Haarsträhnen und natürlich die ganzen Voodoo-Puppen.

Hinter Viviennes Rücken sah ich allein Dutzende von ihnen in ihrem Zimmer herumstehen. Und zwar nicht, weil Vivienne noch mit ihnen spielte – obwohl ich den Verdacht hatte, dass sie sich die sauteuren Monster-High-Exemplare nicht nur kaufte, um an ihnen verschiedenste Zauber auszuprobieren.

»Nein! Spinnst du?«, sagte Viv. »Snuggles häutet sich gerade! Da sind er und Mom immer wahnsinnig schlecht gelaunt.«

Snuggles war eine riesige Albino-Boa und nebenbei das Hexentier von Vivs Mom.

»Aber ich habe ihn mal vor unser Haus mitgenommen«, erklärte sie mir. »Damit er nicht noch misstrauischer wird. Und er wollte nicht mal reinkommen, nachdem wir ein bisschen auf der Veranda rumgemacht haben.«

Ich grinste. »Hast du beim Rummachen nicht eh an meinen Dad gedacht?«

»Oh mon dieu, bitte hör auf damit, May!« Sie warf die Hände in die Luft. »Meine Mom hat mir nur erzählt, dass dein Dad der Gott des Chaos ist. Ich hab eben nicht gewusst, dass er so attraktiv ist! Ich hab ihn mir viel älter vorgestellt. Mit einem langen, weißen Bart und so welligem, weißem Haar.«

»Du meinst, wie Zeus aus dem Herkules-Film von Disney

»Nein …« Kurze Pause. »Ja. Aber das ist egal! Ich hab mir halt gedacht, dass du über Noah hinweg bist.«

Ich schüttelte betrübt den Kopf. »Nein.« Schniefer. »Er war heute wieder total scheiße zu mir.«

»Ach Süße, was ist denn passiert?«

»Ich hab nichts getan und dann hat er mich als total blöd und nichtsnutzig hingestellt! Warum ist er nur so gemein zu mir, Viv?«

»Soll ich zu dir kommen?«, fragte sie. »Wir machen uns Kakao mit Marshmallows und dann heißt es: Netflix und Chill. Oder so.«

Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Das hörte sich echt himmlisch an, aber irgendwie wollte ich im Moment keine Leute um mich haben. Allerdings fühlte ich mich allein auch ziemlich unwohl.

Ich war einfach vollkommen planlos.

»Schon gut, Viv«, sagte ich. »Ich bin irgendwie total müde. Ich glaube, ich lege mich in zwei Stunden ohnehin ins Bett.« Und dann heule ich mir einfach die nächsten drei Stunden wegen Noah die Augen aus.

»Ach May«, seufzte Viv. »Dabei waren Noah und du echt ein süßes Paar.«

Statt Vivienne anzusehen, starrte ich auf meine schwarze Kommode. Es stimmte schon: Noah und ich hatten uns eine Zeit lang wirklich gut verstanden. Wir hatten sogar ein paar Mal ganz kurz davorgestanden, uns zu küssen, aber Noahs Geister-Zustand hatte das verhindert. Als er dann wieder einen festen Körper hatte, hatte ich mir schon eine wunderbare – und zugegeben kitschige – Zeit mit ihm ausgemalt: Küssen und Kuscheln im Überfluss. Und nun war er einfach so ein Arsch!

Ich schniefte wieder.

»Soll ich wirklich nicht zu dir kommen?«, bot sich Viv erneut an.

»Weißt du, was du tun kannst?«, sagte ich dann zu ihr. »Du suchst mir einen übernatürlichen Kerl. Damit kann ich die Akte Noah vielleicht endlich abschließen und verbrennen. Und ihn gleich mit dazu.«

»Du weißt, dass das nicht so einfach geht, May. Du bist immer noch wahnsinnig verschossen in ihn.«

»Ja, toll! Er liebt mich aber nicht mehr! Wahrscheinlich rennt er wieder zu seiner Ex Larissa zurück!«

Plötzlich, ohne Vorankündigung, wurde die Tür aufgerissen. Wie die personifizierte Finsternis glitt meine Mom in einem engen, schwarzen Kleid in den Raum.

»Hallo Vivienne!«, begrüßte sie meine Freundin so überschwänglich, wie es ein Wesen wie sie nur konnte. »Wie geht's dir denn so?«

Mir wich das Blut aus dem Gesicht. Meine Mom war ein Vampir – inklusive ausgeprägten Gehörs. Ob sie mitbekommen hatte, dass ich noch in Noah verliebt war? Beziehungsweise dass ich überhaupt in ihn verknallt gewesen war?

»Äh … gut, Miss Setek«, sagte Viv, geschockt darüber, dass meine Mom wieder einmal völlig unangekündigt aufgetaucht war. Eigentlich sollte uns das beide gar nicht mehr überraschen. »Tschüss, May.«

Viv warf mir noch einen Blick zu, den ich so deutete, dass ich mich nach dem Gespräch mit meiner Mom ruhig wieder melden könne.

Ich nickte ihr zu und sie verschwand aus dem Spiegel.

Ein bisschen genervt fuhr ich zu meiner Mom herum. »Was gibt's denn so Wichtiges?«

Kurzentschlossen legte ich mich aufs Bett. Kurt landete auf meinem Bauch und spreizte die Flügel weit auseinander, so dass es aussah, als hätte ich ein Batman-Logo auf dem Bauchnabel. Dabei sah er mich mit seinen dunklen Knopfaugen, ohne zu blinzeln, an.

Lautlos schlich sich meine Mom ans Bett heran. »Sei nicht böse auf den Jungen.«

Ich schnaubte laut. Jetzt entschuldigte sie sich auch noch für ihn?! Sollte das ein schlechter Scherz sein?

Meine Mom war ohnehin nicht sehr gut im Entschuldigen. Tja, wenn man wie sie zum Teil Vampir war, dann war man einfach ein bisschen … kalt.

Ich hatte sie lieb und wusste, dass ihr die Sache anscheinend am Herzen lag, aber das änderte nichts an der Wut, die ich in diesem Moment auf Noah hatte. Ganz im Gegenteil!

Meine Mom musste sich tatsächlich für ihn entschuldigen! Das war doch echt das Letzte!

»Für Noah ist nun alles anders«, fuhr meine Mutter indes fort. »Er war ein Mensch, dann ein Geist und nun … May, versuch ihn doch zu verstehen.«

Was denn verstehen? Er hätte mein Herz haben können! Ich hätte Noah liebevoll unterstützt! Ging zu zweit nicht alles leichter?

»Noah wird seine Familie nie wiedersehen. Er lebt wieder, aber er wird dennoch kein Wort mit ihnen wechseln können.«

Ich streichelte Kurts Kopf. Er schloss die Augen und schnurrte wie eine Hauskatze.

Noah tat mir ja auch leid, aber das war doch kein Grund, so arschig zu mir zu sein.

»Noah ist jetzt ein Teil dieses Covens. Äh, ich meine natürlich dieser Familie. Noah ist ein Teil dieser Familie. Er wird von uns beschützt!«

»Bis er aufs College geht«, zischte ich. »Das sind nur noch ein paar Monate.«

Ich sah Noahs Zukunft schon vor mir: Er würde irgendein weit entferntes College besuchen, klar. Mit seinem guten Aussehen und seiner – eigentlich – netten, aufgeweckten Art würde er sich sehr schnell Freunde machen. Bei der ersten Party im Studentenwohnheim würde er rasch ein Mädchen kennenlernen. Das würde er dann in derselben Nacht noch vögeln. Die Kleine würde ihm ihre Nummer geben – und er würde nie anrufen. Bei der nächsten Party würde er wieder jemanden kennenlernen und es würde genauso enden. Ich meine, er war schließlich ein Junge in diesem speziellen Alter, wo es nur um das eine ging. Und wenn er erst mal auf dem College war, würde es noch schlimmer werden …

Meine Mom seufzte schwer. »Ach May …«

Jetzt hörte sie sich schon an wie Viv.

Ach, die arme, arme May. Wie erbärmlich sie war, wenn sie sich in ihrem Liebeskummer suhlte.

Ich setzte ein falsches Lächeln auf. »Ich verzeihe Noah sowieso. Bin nur schlecht gelaunt, weil ich meine Tage bekomme. Du weißt ja.«

»Oh. Na dann.«

Meine Mom kaufte mir diese Lüge ohne jeglichen Zweifel ab.

Schade. Ich hätte mir gewünscht, sie hätte mehr nachgebohrt.

2. Kapitel

Ich war ein seltsames Wesen. Geboren aus Blut- und Chaosmagie, hatte ich ein paar eigenartige Fähigkeiten geerbt. – Gut, die meisten davon waren echt cool! Mit ein bisschen mehr Übung und Selbstkontrolle – vielleicht erlangte ich die ja endlich, wenn ich mehr »Innere Ruhe«-Tee trank – würde ich irgendwann Herrin über das Wetter werden. Blitz, Sturm, Hagel – kein Problem für mich. Mein Dad war ja schließlich nicht nur der Gott des Chaos und des Krieges, sondern auch der Herrscher über Unwetter, die es in sich hatten.

Leider hatte ich überdies auch eine total unbrauchbare Fähigkeit erworben. Ab und zu träumte ich von meinem Vater. Ich sah dann immer Geschehnisse aus seinem langen Leben: die Ermordung seines Bruders, seine Streitereien mit Horus und all das Chaos, das in ein paar Jahrtausenden so zusammenkommt. Auf diese Weise hatte ich auch erfahren, dass ich ihm sehr wohl etwas bedeutete. Das war gar nicht so selbstverständlich – man hat als siebzehnjährige vegetarische Teenie-Hexe, der von Blut schlecht wird, schon reichlich Bedenken, ob jemand wie Seth einen als Tochter akzeptiert.

Ohnehin verstand ich dieses Blutmagie-Dingsbums noch nicht so ganz. Wenn ich wie ein Vampir Blut trinken und beim Zaubern mein eigenes Blut verwenden würde, könnte ich dadurch im besten Fall ein paar nette Tricks erlernen. Aber mir grauste wie gesagt vor der roten, ekligen Suppe.

Doch zurück zum Thema: In dieser Nacht steckte ich also wieder einmal in einer Episode von »Seths unmodernes Leben« fest. Also irgendwo in Ägypten, wahrscheinlich sogar lange vor den ersten Pharaonen: in der nullten Dynastie. Ich konnte nicht einmal sagen, warum ich den Zeitpunkt so gut abschätzen konnte. Ich spürte es einfach. Wir waren in einer Zeit, wo es noch nicht einmal Hieroglyphen gegeben hatte.

Ich stand in einem steinernen Haus, das schon fast einem Palast ähnelte. Oder war es mehr ein Tempel?

Der Raum wurde nur von mehreren Fackeln erhellt, dementsprechend konnte ich nicht viel erkennen.

Ich drehte mich ein wenig nach rechts und sah meinen Dad. Oder besser gesagt eine riesige Statue von ihm. Sie war aus schwarzem Stein – Obsidian? – und mit Gold verziert. Und er war in seiner Tiergestalt abgebildet worden. Sein Kopf war der eines komischen Ungetüms, das heute nicht mehr existierte. Es hatte eine lange Schnauze und seltsame eckige Ohren.

Aber die Statue an sich war echt verdammt cool!

Plötzlich hallte ein animalischer Schrei durch das Gebäude. Es klang ein wenig nach Wolf.

Dann kam schon mein Dad mit menschlichem Aussehen in den Raum gestürmt. Vor der Statue standen mehrere Schalen mit Weihrauch und Opfergaben. Er kickte das ganze Zeug um, warf die Fackeln zu Boden und stand auch kurz davor, seine Statue mit bloßen Händen zu zerstören – hätte ihn ein anderer Mann nicht an seinem Arm gepackt.

»Beruhige dich, Seth.«

Dad schrie noch einmal auf und riss sich dann von dem anderen Mann, der zweifelsohne ebenfalls ein Gott war, los. Dieser trug wie mein Vater teures Leinen, überragte Seth um einen Kopf und seine schwarzen Haare waren lang und glatt.

»Das ist nicht gerecht!«, brüllte Seth in altägyptischer Sprache. »Ich habe das Land rechtmäßig erobert!«

»Nun ja, die Ermordung deines Bruders war alles andere als eine ›rechtmäßige Eroberung‹.«

Seth schnaubte laut. »Ägypten gehört mir! Mir allein!«

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Auch Horus hat als Sohn des Osiris Anspruch auf das Land.«

»Osiris gehört doch nun endlich das Jenseits! Soll er das mit Horus teilen!«

»Horus ist wie ich ein Himmelsgott. Er kann nicht Herrscher der Unterwelt werden.«

Seth leckte sich über die Lippen. »O, da kann ich sicher ein bisschen nachhelfen.« Sein Schwert erschien in seiner Hand.

»Du wirst Horus nicht töten, Seth!«, donnerte der andere Gott mit lauter Stimme. »Glaub mir, ich finde es auch nicht gut, dass Horus geboren wurde. Er kann mir meinen Anspruch auf den Himmel streitig machen, aber er ist doch noch ein Kind!«

Mein Vater grummelte. »Sei nicht immer so ein Spielverderber, Re.«

Meine Augen wurden groß. Das war dann tatsächlich der Gott Re! Einer der wenigen ägyptischen Götter, die ein eher positives Verhältnis zu meinem Vater hatten. Seth hatte Apophis, die Chaosschlange, getötet und somit Res Freundschaft gewonnen.

Der Gott grinste. »Ich versuche dich nur vor einem großen Fehler zu bewahren. Wenn du Horus etwas antust, dann wird Isis dich töten. Er ist der einzige Grund, warum sie es noch nicht getan hat. Sie will ihn nicht in Schwierigkeiten bringen.«

»Ich würde Isis zuerst erledigen.«

»Unterschätze deine Schwester nicht«, riet ihm Re. »Horus ist Isis' Sohn und Isis liebt ihn über alles. Du hast ihr schon den Ehemann genommen. Nimmst du ihr auch noch den Sohn, so wird ihre Rache fürchterlich sein.«

»So wird ihre Rache fürchterlich sein.« Seth verdrehte genervt die Augen. »Na gut. Ich habe keine Lust mehr auf diese unsinnige Diskussion. Ich werde Horus in Ruhe lassen. Vorerst.«

Re wirkte sichtlich beruhigt.

Seth wandte sich seiner heiligen Statue zu. »Wie sieht es denn hier aus?! Sina! SINA! Komm sofort her!«

Ein paar Sekunden später tauchte eine Priesterin auf, die mit ziemlicher Sicherheit eine von Seths Hexen war. Das machte sie damit auch zu einer meiner Vorfahrinnen.

Mit ihrer dunklen Haut, den kinnlangen Haaren und den dunkelbraunen, mandelförmigen Augen sah die Hexe meiner Gran gar nicht einmal so unähnlich. Vielleicht war sie ihre Urururgroßmutter?