Oh … wie habe ich während dieser Zeit gehofft, dass du es bist.
Ich öffnete die Augen, Nates Worte schwirrten in meinem Kopf herum. Erst jetzt realisierte ich, dass ich doch noch eingeschlafen war.
Dieser Satz, dieser eine Satz, der deutlich machte, dass er Gefühle für mich hegte, hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ja, ich war es, ich war die Gestaltwandlerin, nach der Nate gesucht hatte. Der Grund, warum er hierher in diese Kleinstadt gezogen war, die nicht viele Menschen als ihre Heimat auswählten. Es gab also kein Hindernis mehr zwischen uns. Alle meine Zweifel hatte er gestern ausgeräumt. Er empfand wirklich etwas für mich und ich … wenn ich ehrlich war, hatte ich auch schon seit langer Zeit Gefühle für ihn, viel länger, als ich mir eingestehen wollte. Auch das Geheimnis, wegen dem er mich auf Abstand haben wollte, existierte nicht mehr, seit ich wusste, was er war und was ich war. Wir waren beide Gestaltwandler, mit dem Unterschied, dass ich mich leider noch kein einziges Mal bewusst verwandelt hatte, bis jetzt nur während des Schlafs. Also wusste ich noch immer nicht, welches Tier ich war. Aber das war hoffentlich nur noch eine Frage der Zeit und dann könnte ich mit Nate, Liam und Lana endlich in Tiergestalt durch die Wälder streifen. Natürlich erst, wenn ich mich einigermaßen unter Kontrolle hätte.
***
»Dana lässt dich schön grüßen.« Ich wollte meiner Grandma einen Kuss auf die Wange geben, aber sie wich zurück. Ich hatte vergessen, dass sie seit dem Tod meines Grandpas auf solche Liebesbekundungen allergisch reagierte.
Ich hatte meine Strategie geändert. Statt mit ihr über Nate und seine Freunde zu streiten, log ich sie regelmäßig an, so wie jetzt auch. Ich behauptete, dass die Arbeit bei Nate weiter ging, um die Vormittage ungestört bei ihm verbringen zu können und die Nachmittage verbrachte ich offiziell bei Dana oder Laura. Sie schöpfte keinen Verdacht. Das hoffte ich wenigstens.
»Möchtest du etwas essen? Ich habe Rührei gemacht. Es ist noch warm.« Sie strickte, während sie Radio hörte, und schaute starr auf ihre Nadeln.
»Ja, danke. Ich nehme mir was.« Ich holte mir einen Teller aus dem Küchenschrank, nahm mir etwas Rührei und setzte mich zu ihr an den Küchentisch.
Sie nickte leicht. »Anna hat mir gestern gesagt, dass sie wieder jemanden sucht. Möchtest du den Job bei dem Solter-Jungen nicht aufgeben?« Ich seufzte.
»Solange wir nicht fertig sind, werde ich dort nicht kündigen. Keine Sorge, lange wird es nicht mehr dauern«, versuchte ich sie zu beruhigen.
»Henry möchte nächsten Monat mit dem Dach beginnen.«
Ich nickte. »Super.« Aber sie war noch nicht fertig. »Bist du dir sicher, dass wir keinen Kredit aufnehmen wollen?«
»Mein Gehalt wird für die ersten beiden Semester reichen und dann können wir immer noch darüber nachdenken«, sagte ich.
»Aber du könntest dir einen Traum erfüllen und mit dem Geld eine Reise nach Europa machen. Du könntest die Sixtinische Kapelle, die Sagrada Familia und Häuser von Hundertwasser sehen.« Mein Mund klappte auf. Schlägt sie das gerade wirklich vor?
»Grandma, wir können nicht unser Haus in Zahlung geben, nur damit ich verreisen kann. Das kann ich einfach nicht tun.« Sie sah mich an und für einen Moment dachte ich Stolz in ihren Augen aufblitzen zu sehen. »Ich habe auch nach meinem Studium noch genug Zeit die Welt zu sehen.«
Ihre Stimme wurde laut. »Liegt das an diesem Nathan? Bist du in ihn verliebt?«
»Nein, nein!« Warum verstand sie es denn nicht? »Es geht hier um etwas viel Wichtigeres, nämlich um unser Haus.«
Bevor ich mich noch weiter mit ihr stritt, entschied ich mich lieber nach oben zu gehen. Ob das an ihrem Alter lag? Vielleicht wurde sie langsam wunderlich. Hoffentlich kam sie bald wieder zur Besinnung. Wenigstens hatten wir jetzt das Auto, das einige Zeit in der Werkstatt war, wieder und so hockte sie nicht den ganzen Tag keifend im Haus. Die Wochenenden wurden dadurch wesentlich erträglicher.
***
Am nächsten Tag fuhr ich zu Nate, mit dem Entschluss ihm zu vergeben. Nachdem er am Vortag so offen zu mir gewesen war, gab es keinen Grund weiter sauer auf ihn zu sein. Er hatte mir seine Gefühle offen gelegt, jetzt war ich an der Reihe ihm meine zu zeigen. Ich stieg gerade aus dem Ford aus, als mich Liam an der Hand packte. Mit voller Kraft zog er mich zur Beifahrerseite.
»Was machst du da?«, rief ich wütend.
»Steig ein«, befahl er und öffnete die Tür. Ich verschränkte die Arme und schaute ihn fragend an. »Was soll das?«, fragte ich.
»Ich erkläre es dir später. Erst fahren wir los. Die anderen wissen Bescheid.« Ich wusste, dass er nicht locker lassen würde, also gab ich nach. Was sollte denn auch Schlimmes passieren?
»Du hättest wenigstens mich fahren lassen können. Das ist mein Auto«, beschwerte ich mich, als wir uns auf der Landstraße befanden.
»Du kennst den Weg aber nicht.«
»Vielleicht doch, wenn du mir das Ziel sagen würdest.«
»Wir fahren ans Meer.« Ich schaute ihn zweifelnd an. »Wirklich? Und das ist mit den anderen abgesprochen?«
»Wir haben gedacht, du brauchst einen Tag, um abzuschalten.« Das hörte sich gar nicht schlecht an.
»Ich habe auch ein schönes Hotel rausgesucht, wo wir heute übernachten werden.«
»Ein Hotel?«, rief ich hysterisch. Ich konnte doch nicht mit ihm in ein Hotel gehen.
»Klar, gib es doch zu. Du wolltest dir schon immer mit mir ein Zimmer teilen. Diese erotische Spannung zwischen uns ist kaum mehr auszuhalten.« Meinte er das ernst? Doch dann sah ich sein grinsendes Gesicht und wusste, hoffte, dass er nur Spaß machte.
»Vorher gibt es aber Frühstück. Ich habe einen Riesenhunger«, entschied er.
Mir gefiel es ganz und gar nicht, dass ich weder wusste wohin es ging, noch, ob ich ein Zimmer oder sogar ein Bett mit ihm teilen musste. Liam war unberechenbar. Einerseits gefiel mir diese Charaktereigenschaft, andererseits machte sie mir auch Angst.
»Emma, es geht darum einmal loszulassen, die Kontrolle herzugeben, dein Ich zu verlieren, so wie es auch bei deiner ersten Verwandlung sein wird. Sieh es einfach als nette Übung an.« Das beruhigte mich in keiner Weise.
»Dann muss ich aber meine Grandma anrufen.« Ich nahm mein Handy aus der Hosentasche und war gerade dabei ihre Nummer anzuwählen, als Liam es mir wegnahm. Ohne zu zögern, schmiss er es einfach aus dem Fenster.
»Hey!«, brüllte ich und schaute zurück. »Halt sofort an!«
»Die Regel hatte ich wohl noch nicht erwähnt. Handys sind verboten.«
»Ja, aber du hättest es doch nicht gleich aus dem Fenster werfen müssen.«
»Lass los«, wiederholte er dreimal und sah mich ganz merkwürdig dabei an. Den Blick hatten bestimmt auch Sektenführer drauf, die gerade Unschuldige bekehren wollten. Je früher ich mich auf sein Spiel einließ, desto schneller würde ihm langweilig werden und er würde aufhören mich zu ärgern … hoffentlich.
»Meine Grandma wird mich umbringen, wenn ich nicht nach Hause komme.«
»Nicht, wenn ich es vorher mache.«
Wir fuhren auf den Parkplatz eines gewöhnlichen Diners, der ein Magnet für Trucker zu sein schien.
»Frühstück!«, rief er glücklich.
Es war nicht viel los. Gerade einmal drei Gäste saßen verteilt im rechteckigen Raum. Eine Kellnerin mit minzgrüner Arbeitskleidung schenkte uns noch nicht einmal ein Lächeln, sondern tippte lieber auf ihrem Handy herum. Die Speisekarten befanden sich schon auf dem Tisch. So musste sich die Frau noch weniger bewegen. Liam riskierte einen Blick in die Karte.
»Ach, das hört sich alles so lecker an. Ich glaube, ich bestelle einfach die gesamte Frühstückskarte.« Ich, naiv wie ich war, hielt das für einen Scherz und suchte mir die Pancakes aus. Irgendwann schien der schwarzhaarigen Frau ihr Handy zu langweilig geworden zu sein und sie setzte sich in Bewegung.
»Was darf's sein?«, fragte sie monoton, während sie auf ihren Notizblock schaute. »Ich hätte gerne einmal alle Frühstücksgerichte«, bestellte er. Ich riss die Augen auf. »Ach, und dazu einen Kaffee.« Liam schaute zu mir und die Kellnerin tippte ungeduldig mit dem Kugelschreiber auf den Block. Irgendwann warf sie mir einen genervten Blick zu, als ich immer noch nichts sagte.
»Haben Sie sich entschieden oder brauchen Sie noch etwas Zeit?« Völlig überrascht, dass sie, anstatt Liam für verrückt zu erklären, mich anblaffte, kam ich ins Stottern.
»Ich … ich … ich nehme das Gleiche. Nein, Quatsch. Ich wollte sagen, ich teile es mit ihm und einen O-Saft bitte.« Zufrieden konnte sie sich endlich von uns abwenden und marschierte davon.
»Was ist?«, fragte Liam, als ich ihn böse anschaute. »Wirklich? Die ganze Frühstückskarte?«
»Ich habe Hunger und wenn du so weiter machst, bekommst du nichts davon ab.« Der Tisch reichte nicht für Liams Bestellung, also musste die Kellnerin sogar noch mehr Einsatz zeigen und einen Tisch dazu stellen. Sie war davon ganz und gar nicht begeistert, aber sie maulte wenigstens nicht herum. Ich nahm einen Schluck aus meinem Glas und legte mir einen Pancake auf den Teller. Die Butter darauf fing schon langsam an zu schmelzen, während ich immer noch die Massen an Essen betrachtete.
»Das ist viel zu viel.«
»Und wenn schon. Ich habe es satt mich immer entscheiden zu müssen. Warum kann ich nicht wenigstens im Restaurant alles haben?« Darauf fiel mir nichts mehr ein. Lieber – als Liam beim Essen zuzuschauen konzentrierte ich mich auf mein eigenes. Ein großer Klecks Ahornsirup landete auf meinem Teller.
»Wie lange fahren wir noch?«, fragte ich ihn zwischen zwei Bissen.
»Maximal eine Stunde.« Er machte sich gerade über den Speck her. »Möchtest du etwas Rührei, bevor es alle ist?«
Ich schüttelte den Kopf. Trotzdem legte er etwas von dem noch dampfenden Ei auf meinen Teller und garnierte es mit einer Scheibe Speck. »Ich hoffe, du bist nicht eine von den Frauen, die ständig mit Kalorienzählen beschäftigt sind. Wenn ja, ist das heute auch verboten.«
»Ich weiß schon, ich muss loslassen«, betete ich das herunter, was er mir heute schon so oft gesagt hatte. Er grinste. »Genau.« Als mein Bauch sich langsam wölbte, war der Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr konnte. Das Essen war gar nicht schlecht gewesen und ich hatte doch mehr probiert, als ich vorgehabt hatte. Besonders gut war der Lachsbagel. Dennoch hatten wir nicht annährend die Hälfte des Essens geschafft. Sorgsam wischte sich Liam den Mund ab, zerknüllte die Papierserviette und stand auf.
»Ich geh schnell auf die Toilette und bezahlen.« Kurze Zeit später kam er mit einem nervösen Gesichtsausdruck wieder zurück und setzte sich kerzengerade an seinen Platz gegenüber von mir.
»Hast du noch Geld?«, flüsterte er.
»Genau 5 $. Wozu brauchst du das?«
»Was ist mit deiner EC- oder Kreditkarte?«
»Die sind zu Hause. Ich wusste nicht, dass ich sie heute brauchen würde.«
»Scheiße«, fluchte er. Langsam wurde ich unruhig. »Ich habe mein Portemonnaie vergessen«, rückte er mit der Sprache raus.
»Und wie sollen wir all das hier jetzt bezahlen?« Ich wäre ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen.
»Ich habe da schon eine Idee.« Bevor ich nach dieser fragen konnte, rief er die Kellnerin zu uns. »Entschuldigung.«
Ich war ganz nervös und mein Herz schlug wie verrückt. An den Schritten konnte ich hören, dass sie sich in Bewegung setzte.
»Ich hätte gern noch eine Kugel Eis«, sagte er. Ich konnte nicht glauben, was er da tat. Das war sein Plan? Noch mehr bestellen, das wir nicht bezahlen konnten?
»Was für eine?«, fragte sie genervt.
»Irgendeine … überraschen Sie mich einfach.«
»Das geht nicht. Nachher lassen Sie das Eis wieder zurück gehen, weil Sie die Sorte nicht mögen.«
»Haben Sie Schokolade?«
»Klar. Wer hat nicht Schokolade?«
»Gut, dann nehme ich einmal Schokolade und bitte zum Mitnehmen.«
Sie trottete in die Küche davon. »Los, los, los«, zischte er und war schon aufgesprungen. Starr blickte ich ihn an. Er wollte abhauen. »Schnell, bevor sie wiederkommt«, drängte er mich. Ich konnte nicht fassen, was ich da tat, aber ich rannte Liam hinterher in Richtung Ausgang. »Hey«, brüllte uns die Frau noch hinterher, als wir gerade die Tür aufmachten. Ich wagte es nicht langsamer zu werden. Ganz im Gegenteil, ich rannte so schnell wie möglich zum Wagen. Liam war noch etwas schneller als ich und hatte den Motor schon gestartet, bevor ich reinsprang. Mit quietschenden Reifen fuhren wir an der Kellnerin vorbei, die unser Eis in der Hand hielt. Erst als ich das Diner im Rückspiegel nicht mehr sehen konnte, wagte ich wieder zu atmen.
»O Gott, o Gott«, war das Einzige, das ich herausbrachte. Liam lachte laut auf und auch ich – obwohl ich es ganz und gar nicht lustig fand kicherte geisteskrank. Das war die ganze Anspannung, die auf einmal abfiel.
»Die Arme … das Essen war doch bestimmt richtig teuer.«
»Ich habe kein Mitleid, so schlecht wie sie uns behandelt hat.«
»Trotzdem hat sie das nicht verdient.«
»Du bist wirklich sehr mitfühlend«, bemerkte er. »Lass dir das nicht zum Verhängnis werden.«
»Du hast gut reden, durch deine Vergesslichkeit und deinen unermesslichen Appetit wären wir fast verhaftet worden. Also pass lieber auf dich selber auf.«
Er zuckte mit den Schultern. »Da ist vielleicht was dran. Ich sollte keine Ratschläge geben, wenn ich selber welche brauche.« Immer wieder ging mir die Kellnerin durch den Kopf, die jetzt bestimmt gerade der Polizei schilderte, was passiert war. Hoffentlich hatte sie sich das Kennzeichen nicht gemerkt.
Nach einer Stunde roch ich endlich das Meer. Es entspannte meinen Körper sofort und Glück durchströmte meinen Verstand. Kurze Zeit später sah ich das glitzernde Wasser, auf das wir direkt zufuhren. Doch dann fiel mir etwas auf.
»Hey Liam, wie sollen wir eigentlich in das Hotel einchecken, wenn wir keine Kreditkarte haben?«
Erst schockierten ihn meine Worte. Doch dann sah ich, dass es nur gespielt war. Ganz lässig holte er aus der Hosentasche seine braune Geldbörse raus und warf sie mir in meinen Schoß. »Versuchen wir es einfach mit den fünf, die dort drin sind.« In mir brodelte es so sehr, dass mir ganz heiß wurde.
»Was? Du hast das Geld die ganze Zeit gehabt und trotzdem nicht das Essen bezahlt?«, brüllte ich.
»Komm mal runter.« Aber das wollte ich nicht. Ich hatte es satt immer wieder seine Regeln zu befolgen, aus einem Impuls heraus nahm ich sein Portemonnaie und warf es – wie er zuvor mein Handy aus dem Fenster. Sofort machte er eine Vollbremsung und blieb auf der Straße stehen. Völlig fassungslos schaute er mich an. Ich zuckte nur mit den Schultern. »Das war für mein Handy.« Er betätigte die Handbremse und stieg aus. Er kam mit einem zerfledderten Bündel zurück. »Die hat 200 $ gekostet«, beschwerte er sich. Ich tat so, als ob mir das egal wäre.
»Mein Handy auch, und muss ich dir erst die arme Kellnerin in Erinnerung rufen, die wegen uns vielleicht ihren Job verliert? Was sind da schon 200 $?«
»Wenn du mich hättest aussprechen lassen, dann hätte ich dir gesagt, dass ich alles bezahlt habe, selbst die Kugel Eis in ihrer Hand. Ich habe dich veräppelt, um zu sehen, wie du in so einer Situation reagierst.« Sofort war mir klar, er sagte die Wahrheit. Ich ärgerte mich darüber, dass es für ihn so leicht war mich hinters Licht zu führen.
»Und wie habe ich mich geschlagen?«
»Du bist doch verrückter, als ich annahm.« Endlich fuhren wir weiter. »Ist das gut oder schlecht?« Er winkte meine Frage ab. »Das wird sich noch herausstellen.«
***
Das kleine Hotel lag mitten am Strand. Eigentlich ähnelte es mehr einer großen Villa, deren weiße Holzverkleidung die Sonne reflektierte. Die Bogenfenster waren groß und ließen schon von draußen einen Blick auf die gehobene Innenausstattung zu. Um das Haus herum führte ein Wintergarten, der vorne mit schönen Polstermöbeln ausgestattet war, die zum Verweilen einluden. »Ich hoffe, du hast zwei Zimmer gebucht.« Er hielt mir die Tür auf und grinste mich unverschämt an. »Mal schauen.«
»Das sind die Schlüssel zu Ihrem Zimmer.« Der Rezeptionist reichte uns zwei goldene Schlüssel, die aber die gleiche Nummer trugen. Ich hatte es doch geahnt. Leider traute ich mich nicht vor all den Menschen eine Szene zu machen, aber Liam konnte sich schon darauf freuen, wenn wir alleine sein würden.
»Es befindet sich im ersten Stock. Entweder nehmen Sie die Treppe direkt hinter mir oder den Fahrstuhl im rechten Gang. Falls Sie noch Fragen haben, bin ich gerne für Sie da.« Wir nahmen den Fahrstuhl.
»Ich kann es nicht fassen«, zischte ich. »Ein Zimmer? Wenn da nur ein Bett drin steht, werde ich sofort abreisen.«
»Überleg mal, wenn du in einem anderen Zimmer schlafen würdest, könnte ich nicht auf dich aufpassen.« Mist, damit hatte er Recht. Wie schnell ich vergessen hatte, dass ich mich nachts in ein wildes Tier verwandeln konnte. »Aber ich hoffe für dich, es gibt dort drin zwei Einzelbetten.« Es war nur ein Bett drin. Dennoch hatte ich dafür erstmal kein Auge, weil die Aussicht auf das Meer fantastisch war. Schnell riss ich die großen Fenster auf und genoss die frische Luft auf dem kleinen Balkon. Als sich mein Verstand wieder zurück meldete, wurde er sofort auf das Problem aufmerksam. »Ich kann nicht mit dir in einem Bett schlafen.«
»Warum nicht? Wir sind zwei Erwachsene, die nicht miteinander schlafen müssen, nur weil sie sich ein Bett teilen.« Ich funkelte ihn an. »Danke für die Weisheit. Und dann habe ich noch nicht mal einen Schlafanzug mit. Eigentlich wollte ich deswegen in Unterwäsche schlafen.« Er zuckte mit den Schultern.
»Dagegen habe ich nichts.« Habe ich mir fast gedacht. Ich ließ mich auf das Bett fallen. »Können wir nicht versuchen ein Zimmer mit Einzelbetten zu bekommen?«
»Könnten wir schon.« Ich fing schon an mich zu freuen. »Wenn das Hotel nicht komplett ausgebucht wäre. Ich hatte Glück überhaupt noch eins zu bekommen.« Auf Grund seiner vielen Lügen heute wollte ich ihm das nicht glauben. Also marschierte ich noch einmal runter zum Empfang, wo der Angestellte mir Liams Worte bestätigte.
»Und?«, fragte Liam siegessicher, als er sah, wie missmutig ich das Zimmer betrat. »Ich gehe zum Strand«, wechselte ich das Thema. Mir war egal, ob er mitkam oder nicht. Ich wollte endlich mal etwas tun, was ich entschied. Sonst würde ich hier noch verrückt werden.
»Warte kurz, ich komme mit.« Ich war ganz und gar nicht dafür angezogen einen heißen Tag am Strand zu verbringen. Meine enge Röhrenjeans ließ sich nicht hochkrempeln, also konnte ich schon mal nicht ins Wasser. Und auch das weite graue T-Shirt war nicht sehr nützlich, wenn man sich die Sonne auf die Haut scheinen lassen wollte. Liam hatte auch an nichts gedacht. Er hatte noch nicht mal ein Handtuch zum Hinsetzen dabei. Also saßen wir einfach im Sand. Obwohl meine Laune im Keller war, genoss ich das Rauschen der Wellen, den leichten Salzgeruch des Wassers und die Rufe der Möwen, die über dem bewegten Wasser kreisten. Bis auf ein, zwei Menschen waren wir an diesem schönen Strand alleine. Immer wieder bohrte ich meine Zehen in den Sand.
»Wie fühlt sich das an, wenn du einen Gestaltwandler berührst?«, fragte er.
»Das ist schwierig zu beschreiben, besonders wenn ich es gerade nicht fühle.« Ohne zu zögern, nahm er meine Hand, die im Sand gelegen hatte. Sofort spürte ich das mir schon so bekannte Gefühl. »Versuche es.«
»Es ist wie ein elektrischer Schlag, es tut sogar leicht weh.« Ich sah seine Augenbrauen nach oben schießen.
»Es schmerzt?«, fragte er nach. Und dann passierte das Gleiche, was auch immer bei Nate passierte. Der Schmerz ebbte ab und verwandelte sich in ein süchtig machendes Kribbeln, das durch meinen gesamten Arm floss. Schnell entriss ich ihm meine Hand und er beobachtete mich dabei misstrauisch. »Ist da noch mehr, das ich wissen sollte?« Ich zuckte mit den Schultern, auf keinen Fall wollte ich ihn wissen lassen, wie sehr mich Hautkontakt mit Nate und ihm aus der Fassung brachte.
»Wie ist es bei dir?« Eine Gegenfrage war die beste Antwort darauf.
»Anders. Es ist wie eine Eingebung. Eine kurze Vision, die in meinem Verstand aufblitzt. Immer wenn das passiert, weiß ich, dass ich gerade einen Gestaltwandler angefasst habe.«
»Nate meinte, er kann Gestaltwandler wittern. Warum hat er es bei mir nicht bemerkt?«
»Wir können andere nur wittern, wenn sie in ihrer tierischen Gestalt unterwegs sind. Er hat die Geruchsspuren von dir wahrgenommen, die du nachts überall im Wald verteilt haben musst.«
»Moment mal, hättet ihr nicht meine Spur bis zu mir nach Hause verfolgen können?«
»Das war bei dir nicht möglich … irgendwie war die Fährte nie deutlich genug und zu weit gestreut.«
Er kniff die Augen zusammen und starrte mich an. »Was ist?«, fragte ich. »Es ist einfach merkwürdig, dass du andere Gestaltwandler spürst. Ich hätte gerne eine Erklärung dafür. Fühlst du bei jedem das Gleiche?«
Ich biss mir verlegen auf die Lippe. Natürlich nicht. Bei Lana und Summer hatte ich nur die elektrischen Schläge wahrgenommen, bei ihm war es intensiver und bei Nate war da diese unbeschreibliche Anziehung. Das war nichts, was ich Liam sagen wollte.
»Ist es bei Nate anders?«, fragte er, als ob er meine Gedanken gelesen hätte.
»Nein«, antwortete ich etwas unsicher. »Und bei mir?« Vehement schüttelte ich den Kopf.
»Okay!?« Er schien mir nicht zu glauben.
»Komm.« Liam stand auf und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. War das etwa ein Test? Ohne die Miene zu verziehen, nahm ich seine Hand und tatsächlich beobachtete er jede meiner Bewegungen. Die Gefühle waren noch immer so intensiv wie vorher, aber im Unterschied zu den ersten Malen war ich nun darauf vorbereitet. Ich konnte sie dadurch gut vor ihm verbergen und diesmal würde ich nicht die Erste sein, die den Hautkontakt beendete, auch wenn das Kribbeln immer stärker wurde. Er führte mich zum Wasser und meine Füße tauchten in das kühle Nass der heranschwappenden Wellen. Im Gegensatz zu mir hatte er wenigstens eine kurze Hose an, die ihm bis zu den Kniekehlen reichte. Seine Sachen blieben trocken, meine nicht so ganz.
»Ich kann nicht weiter rein«, sagte ich und zeigte auf meine Jeans, die am Saum schon vollgesogen war mit Salzwasser.
»Du kannst schon, aber du willst nicht.« Mit einem Ruck zog er mich tiefer in das Wasser. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel beinahe hin. Ein erschreckter Schrei entfuhr mir, während Liam nicht aufhörte zu lachen. Das Wasser reichte mir jetzt fast bis zu meinen Oberschenkeln. Durch das Stolpern war nicht nur die Hose, sondern auch mein langes Shirt nass und innerlich verfluchte ich Liam dafür. Ich hatte ja nichts zum Wechseln dabei. Statt ihm aber eine Szene zu machen, wollte ich Rache. Er war noch viel zu trocken für meinen Geschmack. Noch immer bekam er sich nicht ein vor Lachen und ich nutzte die Unaufmerksamkeit und gab ihm einen kräftigen Schubs. Er fiel und landete mit dem ganzen Körper im Wasser. Jetzt war ich diejenige, die lachte.
»Na warte«, brüllte er und rannte auf mich zu. Schnell versuchte ich zu flüchten, doch er war schneller. Er umfasste meine Hüfte, hob mich hoch und ließ sich mit einem Satz fallen, so dass wir beide im kühlen Nass landeten und diesmal konnte ich nicht anders, als mich dabei herrlich zu amüsieren. Vergeblich wollte ich wieder auf die Füße, aber die Wellen raubten mir immer wieder das Gleichgewicht, so dass ich nicht hochkam. Er dagegen stand schon wieder, umklammerte einen Arm von mir und zog mich hoch. Er zog mich an sich heran, so dicht, dass unsere Körper nur mehr eine Handbreit voneinander entfernt waren.
Für einen Augenblick wurde es sehr still um uns. Seine Augen fixierten mich und ich konnte mich seinem Blick nicht entziehen. Meine Hand machte sich selbstständig und strich über seine Brust. Dabei wurde das Prickeln immer stärker. Ich war gefangen in diesem Augenblick und war zu einer Sklavin meiner Gefühle geworden … wie bei Nate. Ohne zu zögern, zog er mich an sich und überbrückte den ohnehin schon kleinen Abstand zwischen uns. Ich spürte die enorme Anziehungskraft, der ich nicht widerstehen konnte und auch er schien das Opfer seiner starken Gefühle zu sein. Wasser perlte über meine Lippen. Wasser, das in meinem Mund einen salzigen Geschmack hinterließ. Er strich über meinen Mund und wischte dabei den kleinen Tropfen weg, der sich gerade gebildet hatte. Was tun wir hier?, schrie mein Verstand, aber mein Körper hörte nicht auf ihn. Ich dachte an Lana und was sie mir beigebracht hatte. Ganz langsam versuchte ich ein- und auszuatmen und meine Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. Nate kam mir in den Sinn und schlagartig befreite ich mich aus dem magnetischen Feld, das mich so stark anzog. Er war kurz davor gewesen mich zu küssen und wie gerne hätte ich ihn geküsst, doch im letzten Moment drehte ich mein Gesicht weg und ließ es auf seiner Schulter ruhen. Statt die Lippen voneinander zu kosten, umarmten wir uns. Ich merkte, wie auch er sich beruhigte, bis wir uns schließlich einvernehmlich trennten. Wir sagten kein Wort. Er strich sich verlegen über den Hinterkopf und schaute auf den Boden. Ich dagegen wollte flüchten und stapfte schnell aus dem Wasser. Er kam mir irgendwann hinterher. Ich bekam Panik, als ich daran dachte mit ihm in einem Bett zu schlafen. Eine ganze Nacht neben ihm würde ich nicht aushalten.
»Emma, warte«, rief er. Ich lief schneller, weg von ihm, der mich zur Rede stellen wollte. Doch ich war nicht schnell genug. Er holte mich ein und versperrte mir den Weg.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen.« Er rannte fast, um mit mir Schritt zu halten. »Ich hätte mich nicht so hinreißen lassen dürfen.« Ich sah ihm an, dass er es ernst meinte. Ganz langsam holte ich tief Luft. »Können wir es einfach vergessen und so weiter machen wie vorher?« Er nickte dankbar. »Klar.«
Während er ein paar Anziehsachen im nächstgelegenen Laden besorgte, gönnte ich mir eine erfrischende Dusche. Dabei kam immer wieder die Erinnerung hoch, wie Liam vor mir stand und mich so voller Begehren ansah. Ich würde lügen, wenn ich sagte, es hätte mir nicht gefallen auf diese Art von ihm angeschaut zu werden. Trotz des warmen Wassers bildete sich auf meinem Körper eine Gänsehaut. Ich drehte das Wasser auf eiskalt, in der Hoffnung, es würde mich meine Gefühle vergessen lassen. Ich musste einen Schrei unterdrücken.
Kurz später, als ich mir die geföhnten Haare kämmte, hörte ich ihn rufen: »Ich habe deine Sachen vor die Tür gelegt«. Ich öffnete die Tür nur einen Spalt und holte dann eine Tüte rein, in der sich eine khakifarbene Bermuda Shorts und eine weiße ärmellose Bluse befanden. Meine Unterwäsche wusch ich mit der Hand und föhnte sie trocken. Das dauerte länger, als ich angenommen hatte. Als ich endlich rauskam, dämmerte es schon draußen. Liam lag lässig auf dem Bett. Er hatte eine schwarze Hose und ein dunkelblaues weites Hemd an, dessen obere Knöpfe offen waren. Eine Sekunde zu lange blickte ich auf seine offengelegte Haut.
»Habe ich es mir doch gedacht …« Ertappt schaute ich ihn an. »… dass ich ein gutes Auge für Größen habe.« Mir fiel ein Stein vom Herzen, als er das sagte. »Ja, es passt wie angegossen.«
Mein Magen meldete sich plötzlich. Seit dem Frühstück hatten wir nichts mehr gegessen.
Liam schien meine Gedanken zu lesen und sagte: »Wollen wir etwas essen gehen? Das Hotel soll ein gutes Restaurant haben.« Eigentlich wollte ich nicht mit ihm essen gehen, aber ich konnte nicht verleugnen Hunger zu haben, besonders wenn mein Magen schon solch laute Hinweise gab. Also zuckte ich mit den Schultern. »Von mir aus.«
Von dem gläsernen Wintergarten hatte man eine tolle Aussicht auf den leuchtenden Sonnenuntergang. Wir hatten einen Tisch genau am Fenster ergattert und ich konnte meinen Blick kaum wegreißen von dem schönen Naturschauspiel. Es sah beinahe so aus, als würde die Sonne in einem Meer aus Gold baden. »Wunderschön«, flüsterte Liam. Ich dachte erst, er meinte mich, aber als ich ihn ansah, merkte ich, dass sein Blick genau wie meiner auf das Meer geheftet war. Als es dann dunkel wurde, zündeten die Kellner überall im Restaurant Kerzen an. Es war wirklich eine romantische Atmosphäre. Wir beide waren sehr still und redeten kaum. Wahrscheinlich, weil unser schwacher Moment immer noch über uns schwebte. Als endlich das Essen da war, war ich erleichtert mich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf das merkwürdige Schweigen und das Kerzenlicht.
»Möchtest du noch Nachtisch?«, fragte er, nachdem wir fertig gegessen hatten. »Ehrlich gesagt bin ich ziemlich müde.« Auf keinen Fall wollte ich die romantische Situation hier noch weiter hinauszögern. Doch oben im Zimmer würden wir alleine sein. Das wäre noch schlimmer. Deswegen kam es für mich noch nicht in Frage schon zu gehen. »Vielleicht noch etwas Wein?« Er nickte dankbar und bestellte einen für mich, den er zu mir herüberwandern ließ, als der Kellner wieder weg war.
Ich nahm einen großen Schluck, um meine Nervosität wegen der bevorstehenden Nacht wegzuspülen.
»Noch nie hat sich eine Frau in Aussicht darauf, mit mir eine Nacht zu verbringen, betrinken müssen«, kommentierte er. Ich verschluckte mich und begann laut zu husten. Er klopfte mir auf den Rücken.
»War das zu früh, um einen Scherz zu machen?« Ich nickte, während ich versuchte meinen Hustenreiz mit Wasser zu lindern.
Die Gläser waren alle, wir waren satt und so diente uns nichts mehr als Ausrede, um länger im Restaurant zu bleiben. Wir mussten nach oben.
***
Nachdem ich mir im Bad die Zähne geputzt hatte, kam ich zurück in das Schlafzimmer und sah ihn, wie er auf dem harten Boden in einem Meer von Decken und Kissen lag. Damit zeigte er mir, dass sich doch etwas verändert hatte und das machte mich wütend.
»Nein, nein, nein.« Fragend schaute er mich an. »Nur weil wir uns fast geküsst hätten, musst du doch nicht auf dem Boden schlafen. Hast du schon vergessen, dass wir es hinter uns lassen wollten? Und dazu gehört es sich so zu verhalten wie vorher. Wir sind doch zwei Erwachsene, die nur weil sie in einem Bett liegen, nicht miteinander schlafen müssen«, zitierte ich ihn. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und fing an die Decken wieder auf das Bett zu schmeißen.
Als wir dann beide im Bett lagen – ich vollkommen angezogen und er auch versuchte ich mich so weit wie möglich von ihm zu entfernen. Daher rutschte ich bis zum äußersten Rand. Trotzdem spürte ich seine Anwesenheit deutlich, so deutlich, dass ich nicht schlafen konnte. Jetzt bereute ich meine Worte. Warum hatte ich ihn nicht auf dem Boden schlafen lassen? Tief in meinem Inneren wollte ich wohl beweisen, dass es möglich war mit ihm in einem Bett zusammen zu nächtigen, ohne sich komisch zu fühlen. Es fühlte sich aber sehr komisch an.
»Emma?«, flüsterte Liam. »Schläfst du?« Natürlich nicht, ich war hellwach. »Nein«, flüsterte ich zurück. Warum ich flüsterte, wusste ich auch nicht.
»Ich kann nicht schlafen.« Er sagte das wie ein kleines Kind. »Du sollst auch nicht schlafen, du musst Wache halten«, zischte ich.
»Glaub mir, ich würde aufwachen, wenn du versuchst aus diesem Zimmer zu kommen.«
Richtig glauben konnte ich das nicht. Toll, jetzt würde ich noch schlechter einschlafen können. Dann könnte ich mich gleich auch noch etwas mit ihm unterhalten. Ich überlegte, über was ich mit ihm sprechen konnte. Irgendein Thema, das nicht so heikel war.
»Wann hast du herausgefunden, dass du ein Gestaltwandler bist?«
»Ich wusste es eigentlich schon immer. Bei zwei Eltern, die selber welche sind, war das sehr wahrscheinlich auch einer zu sein.«
»Deine Eltern sind auch Gestaltwandler?«
»Ja. Ich bin damit aufgewachsen. Mit 17 sind bei mir dann die verräterischen Symptome ausgebrochen und meine Eltern haben mich sofort ausgebildet. Für mich war das also keine große Sache.«
»Wow, da hattest du großes Glück. Und wann bist du dann auf Lana und Nate gestoßen?«
»Lana habe ich kurz darauf kennengelernt. Sie war zwar ausgebildet worden, aber trotzdem hatte sie ihre Fähigkeit nicht immer unter Kontrolle. Meine Eltern und ich haben ihr geholfen. Nate habe ich dann in New York kennengelernt. Er wusste nichts von seinen Fähigkeiten. Das kam erst alles bei einem Unfall raus.«
»Unfall?«
»Hat er es dir denn nicht erzählt?«
»Er hatte letztens etwas angedeutet …«
»Ich dachte, da dir fast das Gleiche passiert ist, hätte er es dir gesagt.«
»Nein, hat er nicht. Was war denn?«
»Er sollte es dir lieber selbst erzählen.«
»Bitte sag es mir, im Moment habe ich das Gefühl ihn nicht zu verstehen. Vielleicht hilft mir das.«
»Na gut, aber du weißt von nichts.«
»Okay.«
»Bei einem Campingausflug mit seinen Adoptiveltern hat er sich verwandelt. Er lag mit seiner Adoptivschwester in einem Zelt, als er zu einem Wolf wurde. Er griff sie an und hat sie dabei so schlimm erwischt, dass sie im Krankenhaus ihren Verletzungen erlag. Alle haben geglaubt, es wäre ein Tier gewesen, sogar er, aber als ich ihn eine Woche später kennenlernte und ihn auf seine Fähigkeiten aufmerksam machte, wusste er Bescheid. Seitdem hat er sehr hart daran gearbeitet sich in den Griff zu bekommen. Noch immer macht er sich furchtbare Vorwürfe und der Vorfall mit Daniel hat es nicht besser gemacht.« O Gott. Er hatte seine Schwester umgebracht und dann hatte ich ihm auch noch die gesamte Schuld an dem Angriff auf Daniel gegeben. Wie konnte er meine Vorwürfe nur ertragen? Deswegen sah er wohl nie wirklich glücklich aus.
»Das wusste ich nicht. Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast. Es verändert so einiges.«
»Wirst du dich wieder mit ihm vertragen?«
»Ja.«
»Liebst du ihn?« Wie konnte er so eine intime Frage stellen.
»Das ist nicht einfach zu beantworten.«
»Warum nicht? Sag einfach Ja, falls du ihn liebst und Nein, falls du keine Gefühle für ihn hast. Das ist nicht so schwer.«
»So lange kenne ich ihn noch gar nicht, um ihn lieben zu können«, gab ich ihm keine klare Antwort. Wenn nicht die verwirrenden Gefühle für Liam gewesen wären, die mir erst heute so richtig bewusst geworden waren, dann hätte es auf seine Frage eine klarere Antwort gegeben. Aber auch die Tatsache, dass sich mein Leben so drastisch geändert hatte und mein Gefühl, mich erst selber finden zu müssen, bevor ich jemand anderen an mich heranlassen konnte, spielten eine Rolle.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich gerädert. Ich hatte kaum geschlafen und fast jede Stunde auf die Uhr geschaut. Auf Grund des Nicht-Schlafens war ich in der Nacht ein Mensch geblieben. Nach einem leckeren Frühstück, das im Zimmerpreis enthalten war, machten wir uns auf den Heimweg.
Schließlich, nach der langen Autofahrt, standen wir vor der Tür von Nate. Er öffnete uns und begrüßte Liam mit einem Handschlag. Mich dagegen schaute er nur unschlüssig an. Es war an der Zeit seiner Qual ein Ende zu bereiten, das hatte ich schon vor dem Kurztrip vorgehabt.
»Können wir uns kurz unterhalten?«, fragte ich ihn. Liam erkannte, wann er überflüssig war und verschwand aus dem Flur. Nate wirkte hoffnungsvoll.
»Mir sind in letzter Zeit ein paar Dinge klar geworden. Der Vorfall mit Daniel hat mich total aufgewühlt. Ich habe jemanden gebraucht, dem ich die Schuld geben kann, damit ich sie mir nicht selbst geben muss.«
»Das war meine Schuld«, unterbrach er mich.
»Nein, das stimmt nicht. Es ist niemandes Schuld. Du hast versucht alles richtig zu machen und mir damit zu helfen. Ich wollte das nicht sehen, das ist mir jetzt klar geworden. Ohne euch, ohne dich, wäre ich verloren und müsste allein mit diesen Dingen fertig werden. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Es tut mir wirklich leid, dass ich so bescheuert war.« Ohne dass ich es verhindern konnte oder auch wollte, zog er mich in eine lange Umarmung. »Du warst nicht bescheuert und entschuldigen musst du dich schon gar nicht, dennoch bedeuten mir deine Worte mehr, als du dir vorstellen kannst«, flüsterte er mir ins Ohr und mich überkam eine wohlige Gänsehaut. Ich hätte noch Ewigkeiten in seinen Armen im Flur stehen können, aber leider löste er sich von mir.
»Ich hoffe euer Roadtrip war schön?!«
»Sagen wir einfach, es war eine Herausforderung.«
Ganz langsam liefen wir durch den Flur.
»Liam ist gut im Herausfordern«, wusste er sofort, wovon ich sprach. Lana und Liam saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich.
»Und?«, begrüßte sie mich. »Meinst du, wir können es heute nochmal versuchen?« Ich schaute nach draußen, wo es inzwischen dämmerte. Ich nickte.
»Toll.« Sie stand auf und zog ihren kurzen schwarzen Rock in die richtige Position. »Dann warten wir draußen auf euch.« Lana und Liam gingen raus.
Ich atmete langsam ein und aus. Sofort war die Aufregung wieder da. »Du wirst es schaffen«, sprach mir Nate gut zu.
»Hoffentlich.« Zögerlich stand ich vor der Terrassentür und auch Nate machte noch keine Anstalten hinauszugehen. Ihm lag noch etwas auf dem Herzen, das spürte ich.
»Wenn zwischen uns wieder alles okay ist …«, fing er an und dabei blickte er unsicher auf seine Schuhe. »… meinst du, wir könnten es mit einem Date versuchen?« Mit dieser Frage entlockte er mir ein Lächeln. »Ja«, hauchte ich und auch er lächelte erleichtert.
»Vorausgesetzt natürlich, ich werde das heute überleben«, fügte ich hinzu.
Er lachte. »Das wird schon.« Ich hätte am liebsten getanzt. Endlich hatten Nate und ich die Chance auf ein Date. Meine Probleme schienen wie weggeblasen und ich freute mich so sehr auf einen zweiten Kuss mit ihm. Leider musste das noch warten. Zuerst musste ich es schaffen mich zu verwandeln. Hoffentlich hatten die fragwürdigen Methoden von Liam etwas genützt.
»Bist du gestern auf andere Gedanken gekommen?«, fragte Lana, als ich mich wieder vor sie hinstellte. Ich versuchte zu verhindern verräterisch zu Liam zu gucken, aber es geschah dennoch. Nate hatte es bemerkt oder doch nicht? Auf einmal nahm sein Gesicht einen merkwürdigen Ausdruck an.
»Eine kleine Auszeit war nötig gewesen«, antwortete ich sehr vage.
»Ich hoffe Liam hat dich nicht zu sehr genervt!?«
»Es war grenzwertig.«
Lana warf ihm einen mahnenden Blick zu und er hob abwehrend seine Hände.
»Ich hoffe, es hat trotzdem geholfen. Es klingt zwar merkwürdig, weil wir dich dauernd anhalten die Kontrolle zu bewahren, aber um dich zu verwandeln, musst du auch loslassen können«, sagte Lana.
»Das habe ich gestern ebenfalls oft gehört.«
Als ich das sagte, grinste Liam verschmitzt. Wieder standen wir an der gleichen Stelle wie vor zwei Tagen und wieder beobachteten sie mich. Ich machte die Augen zu, um nicht dauernd in ihre erwartungsvollen Gesichter schauen zu müssen. Ich wusste, was ich jetzt machen musste, hoffte ich jedenfalls.
Nachdem Liam mir von Nates Schwester erzählt und ich die ganze Nacht wach gelegen hatte, konnte ich über einiges nachdenken. Dabei war mir eine Idee gekommen, besser gesagt ein Verdacht, an was ich denken müsste, um die Verwandlung auszulösen … Daniel. Um alles in der Welt wollte ich die Menschen vor mir beschützen, nie wieder wollte ich jemanden verletzen oder gar töten. Je schneller ich meine, nennen wir es mal, andere Seite in den Griff bekam, desto geringer würde das Risiko werden eine Gefahr für andere darzustellen. Die Erinnerung an das, was passiert war und die Vorstellung, was noch passieren konnte, gaben mir hoffentlich Kraft mich aus meinem menschlichen Körper zu lösen.
Doch leider stand ich wieder nur da und es passierte rein gar nichts.
»Atme ganz langsam ein und aus und suche in dir nach dem Geist des Tieres.«
Wie oft hatte Lana das schon wiederholt. Doch ich wollte mich nicht unter Druck setzen. Um mich verwandeln zu können, gehörte auch dazu nicht darauf zu achten, was die anderen denken könnten. Auch wenn ich Stunden hier stehen müsste, sollte mir das nicht unangenehm sein. Ich durchforstete meinen Geist und klammerte mich an die wenigen Erinnerungen, die ich von den Träumen hatte. Die Freude an der Bewegung meines kraftvollen Körpers, darüber, als meine Pranken sich in den Rücken des Rehs gegraben hatten. Die Gier nach dem Fleisch, als meine Zähne es zerrissen. Plötzlich sah ich die Bilder von dem Angriff auf Daniel in meinem Kopf. Mein Verstand entglitt mir und ich tauchte nicht mehr in meine Erinnerung ein, sondern in die des Tieres. Die Augen von Daniel waren weit aufgerissen. Er schrie laut auf, als meine spitzen Nägel in sein weiches Fleisch glitten … wie ein warmes Messer durch Butter. Ich bekam Angst, Angst vor mir selbst und je mehr sich das Gefühl steigerte, desto mehr Bilder sah ich.