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Karl-Ludwig Kley, Thomas de Maizière

Die Kunst guten Führens

Macht in Wirtschaft und Politik

 

 

 

 

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Satz: ZeroSoft, Timişoara

Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

 

 

Printed in Germany

 

ISBN: 978-3-451-38715-9

ISBN E-Book (ePub): 978-3-451-82244-5

Inhalt

Gute Führung kann man lernen – Einleitung

Die Schaltstellen der Demokratie – Führen in der Politik (von Thomas de Maizière)

Neu im Spitzenamt – Anfänge

Welcher Weg? Erwartungen und Ziele

Wie die Spinne im Netz? Das Umfeld

Kurze Sicht und langer Atem – Handeln und entscheiden

Alles hat seinen Preis – Erfolg und Misserfolg

Von den Bedingungen guter Führung

Eine Frage der Zeit – Rhythmen der Macht

Das Kraftwerk des Wohlstands – Führen in der Wirtschaft (von Karl-Ludwig Kley)

Wer kommt ganz nach vorne – und wie?

Was zählt? Kriterien der Amtsführung

Eine Welt – Das System Unternehmen

Grenzen überwinden, Begrenzungen akzeptieren

Nach vorne gehen – Veränderungen

Eine Frage des Stils

Wer ändert wen? Amt und Person

Zwei unterschiedliche Planeten? Was Führung in Wirtschaft und Politik trennt und was sie eint

Experte oder Politikprofi? Die Bedeutung von Fachwissen

Wer bestimmt, wo es langgeht? Entstehung und Verbindlichkeit von Zielen

Das Neue anstoßen oder ihm hinterherlaufen? Vom Umgang mit Veränderungen

Der Normalfall? Krisenvorsorge und Krisenbewältigung

Geht es um die Sache oder um die Person? Das Reden über Fehler

Unter dem Radar oder ständig auf dem Schirm? Beobachtungsdruck und Medienpräsenz

Wie macht man es sich unbequem? Die Selbstführung

Mehr zusammen? Die Diskussion führen

Unsere zehn Goldenen Regeln guter Führung

Dank

Zitierte oder im Buch erwähnte Literatur

Üben der Autor

Gute Führung kann man
lernen – Einleitung

Seit Jahrzehnten kennen wir uns und sind freundschaftlich miteinander verbunden. Die Berufswege aber haben uns in ganz verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens geführt: den einen in die Politik, den anderen in die Wirtschaft.

Oft haben wir miteinander diskutiert, mal erregt, mal verständnisvoll, warum die Politik schon wieder die Notwendigkeiten wirtschaftlicher Vernunft aus den Augen verloren habe oder warum Unternehmen zwar einerseits den Staat am liebsten aus allem heraushalten wollten, andererseits aber die Ersten seien, die laut nach Subventionen riefen, wenn es opportun erscheine. Und so ist über die Zeit bei durchaus unterschiedlichen Auffassungen im Einzelfall viel Verständnis für die Zwänge in der Arbeit des jeweils anderen entstanden. Gleichzeitig gab es aber auch mehr als genug Gelegenheiten, um für das jeweilige eigene berufliche Umfeld von den Anregungen des Freundes zu profitieren.

Auch an anderen Stellen hat sich jeder von uns mit Führungskräften ausgetauscht, die ihre Erfahrungen in ganz anderem Umfeld gesammelt haben: in gemeinnützigen Organisationen, als mittelständische Unternehmer, bei der Bundeswehr oder bei befreundeten Streitkräften, in Start-ups, in Verbänden, in Kirchen, in der Wissenschaft und beim Sport. Und das oft noch mit unterschiedlichen internationalen Prägungen. Wir haben sie darüber ausgefragt, warum sie etwas gerade so und nicht anders gemacht hatten. Wir haben ihnen zugeschaut und über sie nachgedacht.

Jede dieser Führungskräfte lebt und agiert in den verschiedensten Umgebungen, aber etwas eint doch alle: Es geht immer um die Führung von Menschen. Es geht darum, Mitarbeiter jeden Tag und überall hinter einer gemeinsamen Zielsetzung zu vereinen. Die Wege dorthin sind vielfältig. Das hat mit unterschiedlichen Zielen und Organisationen und mit der Vielfalt der Menschen und Kulturen zu tun. Wir sind daher davon überzeugt, dass es ein überall und in jeder Lage gleichermaßen gültiges Universalrezept für erfolgreiche Führung nicht geben kann.

Führung findet nicht im luftleeren Raum statt. Große Organisationen sind anders zu führen als kleine. Führungsstile unterscheiden sich. Es gibt viele Bücher darüber, ob es den „richtigen“ Führungsstil gibt und was ihn ausmacht. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen und politiktheoretische Betrachtungen beschäftigen sich mit Führung als Prinzip und Konstrukt. Zu unserem Thema gibt es vor allem das 2007 erschienene Buch von Nico Grasselt und Karl-Rudolf Korte „Führung in Politik und Wirtschaft“. Hier werden nach wissenschaftlichen Methoden und Befragungen Definitionen und Techniken von Führung in beiden Bereichen untersucht. All das ist nicht Gegenstand unseres Buches. Und so ist für unsere Leser zunächst festzuhalten, was dieses Buch nicht ist: Es ist kein Lehrbuch.

Stattdessen ist es ein zwar subjektiver, aber doch verallgemeinerungsfähiger Erfahrungsbericht über Führung in Politik und Wirtschaft, ein Bericht von innen. Es geht uns darum, unsere Erfahrungen aufzuschreiben und damit weiterzugeben. Denjenigen, die Führungskräfte sind oder werden wollen, soll dieses Buch als Denkanstoß oder auch als Reibungsfläche dienen können. Und bei denen, die keine Führungsaufgaben wahrnehmen, wollen wir Verständnis für die Bedingungen wecken, unter denen Führungsarbeit geleistet werden muss. Das Ganze ist sehr persönlich geprägt wie Erfahrungen eben so sind. Auch unser jeweiliges Verständnis, was Führung ist und was sie ausmacht, folgt dem eigenen Kompass. So haben wir in einem ersten Schritt jeweils unser eigenes Führungsverhalten reflektiert und mit dem anderer Führungspersönlichkeiten in unserem Umfeld verglichen. In einem zweiten Schritt haben wir zusammen anhand von Beispielen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Führung in Politik und Wirtschaft debattiert und beschrieben. So weist das Gesamtbild dann doch über unsere Einzelerfahrungen hinaus.

Führungskompetenz und -stärke bekommen in der turbulenter und unübersichtlicher werdenden Welt eine immer größere Bedeutung. Dabei wird schon der Begriff Führung in Deutschland leider eher kritisch betrachtet. In der DDR ging man dabei so weit, dass man den Führerschein in Fahrerlaubnis umtaufte. Im Ausland ist das ganz anders, insbesondere im angelsächsischen Ausland. „Leadership“ ist dort ein rundum positiv besetzter Begriff.

Führung bedeutet, Macht zu haben und auszuüben. Nur mit Macht lassen sich Dinge verändern. Natürlich wird die Ausübung von Macht in Politik und Wirtschaft vielfach kontrolliert. So durch institutionelle Beschränkungen wie die begrenzte Dauer von Mandaten, durch „checks und balances“, also durch die Verteilung von Zuständigkeiten und Machtbefugnissen, oder durch die Herstellung von Öffentlichkeit mittels Transparenz. Wir meinen aber, dass all diese notwendigen und richtigen Beschränkungen die Eigenverantwortung einer Führungskraft nicht ersetzen können. Macht verantwortungsvoll auszuüben heißt für uns zum einen, die Ziele der Institution, der man dient, über die eigenen Ziele zu stellen. Zum anderen bedeutet es aber auch, Menschen mit Anstand und Menschlichkeit zu führen, kurz sie als Persönlichkeiten wahrzunehmen und nicht nur als Funktionsträger.

Führung ist sinnvoll, ja unverzichtbar, um eine Institution zu etwas zu bewegen, aber sie ist kein Selbstzweck oder bloßes Instrument. Nach unserer Auffassung ist ethisch begründetes Handeln konstitutiv für gute Führung. Führungskräfte sind in allen Bereichen und auf allen Ebenen dazu aufgerufen, über sich selbst nachzudenken, den Dialog untereinander zu suchen und nicht Abgrenzung zu leben oder gar Feindbilder zu pflegen. Gute Führung geht nicht allein.

Führen kann man erlernen. Das haben wir erlebt, bei uns und anderen. Lehrbücher sind umfassend und systematisch, wenn sie gut sind. Wir haben über die Zeit das eine oder andere Fachbuch gelesen und daraus gelernt. Der Klassiker über Führung von Fredmund Malik („Führen – Leisten – Leben“) hat uns beeindruckt. Allerdings empfanden wir beide historische Fachbücher und Monografien über bedeutende Persönlichkeiten als interessanter und lehrreicher. Auch Autobiografien von Führungspersönlichkeiten haben uns bereichert. Hagiografien, die im autobiografischen Umfeld öfters vorkommen, haben wir dabei tunlichst vermieden; von Heiliggesprochenen lernt man wenig. Zu unserer Lektüre gehörten auch Biografien aus ganz anderen Lebensbereichen: als Fußballbegeisterte zum Beispiel „Leading“ des Fußballmanagers Alex Ferguson oder „Rebell am Ball“, ein Buch von 1971 über Günter Netzer und dessen Erfahrungen mit dem Führungsverhalten seines Trainers Hennes Weisweiler.

Wichtiger aber als alles Lesen war für uns beide das Lernen in der Praxis. Wir haben dort Vorbilder gefunden, Vorbilder für bestimmtes Verhalten oder spezielle Kompetenzen. Mentoren standen uns in bestimmten Situationen zur Seite, Freunde griffen korrigierend und hinterfragend ein, auch die eigene Familie. Wir haben Vorgehensweisen getestet, weiterentwickelt oder verworfen. Wir haben wiederholt, was erfolgreich war, und aus Fehlern gelernt – und Ratgeber außerhalb unseres Berufes konsultiert, wenn es empfehlenswert war.

Über eines aber, das man nicht erlernen kann, sind wir uns völlig einig: Eine erfolgreiche Führungskraft kann nur werden, wer Menschen mag.

In jeder Generation werden Bücher über Führung neu geschrieben, zum Beispiel weil eine technologische Revolution die Rahmenbedingungen grundlegend ändert oder weil sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen völlig anders präsentieren. All das verändert Führung. Dennoch sind in der Vergangenheit gewonnene Führungserfahrungen nicht obsolet. Viele von ihnen gelten auch in einer „neuen“ Welt, wie zum Beispiel im digitalen Zeitalter. Denn auch dort gilt in der Politik wie in der Wirtschaft: Führung heißt, Menschen zu führen.

Und so haben wir uns zugetraut, zum Schluss unseres Buches zehn „Goldene Regeln guter Führung“ aufzustellen. Hätten wir uns in unseren Laufbahnen nur immer daran gehalten …

Wir hoffen, dass wir mit der folgenden Mischung aus der Beschreibung von Führungssituationen, aus persönlichen Erfahrungen und unseren allgemeinen Bewertungen unseren Lesern etwas mitgeben können. Und sei es nur das, was man nicht machen sollte.

 

Der Lesbarkeit halber verwenden wir im Buch in der Regel die männliche Grundform. Wir meinen damit – wenn nicht ausdrücklich anders angegeben – aber stets die gesamte Gruppe, unabhängig vom Geschlecht.

Die Schaltstellen der Demokratie – Führen in der Politik
(von Thomas de Maizière)

Neu im Spitzenamt – Anfänge

Eignung: Wer hat das Zeug dazu – und warum?

Minister sind nicht die besten Fachleute. Fachkenntnisse muss man am wenigsten mitbringen, wenn man ein Spitzenamt in der Politik erreichen will. Das klingt erstaunlich, hat sich aber bewährt. Immer mal wieder werden Expertenregierungen gelobt, so zuletzt in Österreich im zweiten Halbjahr 2019. Sie werden aber letztlich immer nur als Übergangsmodell angesehen. Und das ist auch richtig so. Politik ist mehr als Fachverstand.

Meine Erfahrung ist, dass reine Fachleute zur Führung einer großen Organisation wie etwa eines Ministeriums nicht genügend Distanz mitbringen. Gute Lehrer, Rechtsanwälte, Ärzte oder Unternehmer sind nicht automatisch die besten Kultus-, Justiz-, Gesundheits- oder Wirtschaftsminister. Und Virologen wären in einer Pandemie, wie wir sie 2020 durch das Coronavirus erlebt haben, auch nicht unbedingt die besten politischen Krisenmanager. Viele Bürger hätten das vermutlich auch gar nicht gewollt.

Minister, die glauben, sie seien in allen Themen die besten Sachbearbeiter, sind keine guten Minister. Die Mitarbeiter stellen in einem solchen Ministerium die eigene gedankliche Arbeit schnell ein. Fachkenntnis muss man also nicht mitbringen in ein Ministerium, wohl aber die Bereitschaft, sich in die Sachmaterien des Ressorts gründlich einzuarbeiten. Das gilt für die Grundzüge ebenso wie für wichtige Details. Man muss die Bereitschaft mitbringen, die Fachsprache, die jeder Geschäftsbereich benutzt, zu verstehen, anzuwenden, aber sie genauso für normale Menschen auch zu „übersetzen“. Gerade dieses „Übersetzen“ muss ein guter Politiker in der Demokratie leisten.

Politische Erfahrung in ein Ministeramt mitzubringen ist wichtiger als reine Fachkenntnis. Das klassische Sozialisationsprinzip von Spitzenpolitikern ist die sogenannte Ochsentour, die oft in den Jugendorganisationen der Parteien beginnt, sich dann in den Vorständen der Mutterpartei fortsetzt, von dort zunächst in ein Abgeordnetenmandat führt und schließlich in Regierungsfunktionen mündet. All das dient dazu, sich mit der Zeit politische Erfahrung anzueignen. Das sollte man nicht abschätzig betrachten. Die Ochsentour stählt die Persönlichkeit auf dem Weg nach oben.

Junge politische Nachwuchshoffnungen haben wenig politische Erfahrung und kommen zuweilen trotzdem in wichtige Ämter. Sie sollen hier Erfahrungen sammeln, um dann bei größeren Aufgaben auf mehr Expertise verweisen zu können. So war es bei der jungen Angela Merkel, die von Bundeskanzler Helmut Kohl erst zur Jugendministerin gemacht wurde, um ihr danach das ungleich wichtigere Umweltministerium anzuvertrauen. Sie hatte sich im Jugendministerium bewährt. So war es auch bei mir: Ich wurde mit 36 Jahren im Oktober 1990 Staatssekretär im Kultusministerium in Mecklenburg-Vorpommern und nach vier Jahren dort Chef der Staatskanzlei.

Manchmal ist es sogar so, dass man erst bestimmte Ämter oder Funktionen haben muss, bevor man dann überhaupt für andere Führungspositionen infrage kommt. Die Chefs des Bundeskanzleramts waren nahezu alle vorher Parlamentarische Geschäftsführer von Fraktionen, Generalsekretäre ihrer Parteien oder wie Frank-Walter Steinmeier und ich Chefs von Staatskanzleien in Bundesländern. Wer in den obersten Führungsgremien seiner Partei sitzen will, der hat meistens schon Partei- oder Regierungsämter. Und wer Bundeskanzler werden will, der muss sich in aller Regel zuerst einmal als Partei- oder Fraktionsvorsitzender oder wenigstens als ein wichtiger Minister oder Ministerpräsident bewährt haben. Nicht selten ist es für die eigene politische Karriere auch sinnvoll, wenn man parallel noch wichtige Funktionen außerhalb der Politik hat. Viele Spitzenpolitiker sind ehrenamtliche Verbandsvorsitzende, etwa bei sozialen oder karitativen Organisationen. Oder sie sind Mitglieder in den Vorständen von Gewerkschaften, in Kuratorien von Stiftungen usw. Das gibt es auf allen Ebenen: So mancher Landtagsabgeordneter ist Vorsitzender des örtlichen DRK-Kreisverbandes. Und nicht wenige Bundestagsabgeordnete sind Präsidenten von Interessengruppen auf Bundesebene. Wer solche Erfahrungen außerhalb der Politik vorweisen kann, der empfiehlt sich damit für höhere Aufgaben auch innerhalb der Politik.

Was man mitbringen muss, wenn man Spitzenpolitiker werden will, das ist Zutrauen zu sich selbst, den Herausforderungen eines solchen Spitzenamtes gewachsen zu sein. Und man muss einen Macht- und einen Gestaltungswillen mitbringen, der über den Wunsch hinausgehen muss, an persönlicher Bedeutung zu gewinnen.

Die Ressorts, die ich Sicherheitsressorts nenne, also das Innen- und das Verteidigungsministerium sowie das Bundeskanzleramt, brauchen darüber hinaus politisches und fachliches Führungspersonal, das Risikobereitschaft mitbringt, sich durch eine gewisse Härte auszeichnet und im Stress ruhig und entschlossen bleibt.

Als Karl-Theodor zu Guttenberg Anfang März 2011 von seinem Amt als Verteidigungsminister zurücktrat, fand der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer keinen geeigneten Politiker der CSU, der die Risikobereitschaft für die Übernahme des Verteidigungsministeriums hatte. Es wurde sogar von Kandidaten auf persönliche Risiken bei Reisen in gefährliche Einsatzgebiete hingewiesen, die man nicht bereit sei zu tragen. So kam es zu einem Tausch zwischen CDU und CSU. Ich wurde als CDU-Politiker Verteidigungsminister, und der CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich wurde Innenminister.

Wer in Spitzenämtern politisch erfolgreich sein will, muss nach meiner Meinung darüber hinaus die Bereitschaft zur Verschwiegenheit mitbringen. Dies gilt wiederum insbesondere für die Sicherheitsressorts. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Es vergeht kein Tag, an dem ein Minister nicht der Versuchung ausgesetzt ist, Journalisten etwas mitzuteilen, was vorher nicht bekannt war, oder etwas zu bestätigen, was Journalisten glauben herausgefunden zu haben und was allein deswegen angeblich kein Geheimnis mehr sei. Dem muss man widerstehen können. Das verlangt das Staatsinteresse. Und nur so wächst auch auf Dauer bei Journalisten der Respekt.

Das Wichtigste aber ist: Niemand ist gleich zu Beginn seiner Amtszeit ein guter Minister. Man wird nicht als Spitzenpolitiker geboren, und man kommt selten „fertig“ ins Amt. Es geht bei der Berufung in ein politisches Spitzenamt nicht um die Frage, ob jemand bereits am Tage nach der Ernennung ein guter Minister, Fraktionsvorsitzender, Generalsekretär oder Staatssekretär ist, sondern um die Frage, ob das jemand in kurzer Zeit werden kann.

Als Hans-Dietrich Genscher vom Innen- ins Außenministerium wechselte, wurde seine Eignung für dieses Amt überwiegend bezweifelt. Als einer der am längsten amtierenden Außenminister der Welt verließ er 1992 hochgeachtet sein Amt. Helmut Kohl wurde als Provinzpolitiker abgetan, der unmöglich dem großen Helmut Schmidt als Bundeskanzler das Wasser reichen könne. Angela Merkel gegenüber wurden insbesondere aus der Wirtschaft und von ihrem Vorgänger Zweifel geäußert, ob sie für das Amt einer Bundeskanzlerin geeignet sei. Man vermisste politische Erfahrung, war skeptisch wegen ihrer Vergangenheit als Ostdeutsche und zum Teil sogar, weil sie eine Frau ist.

Politische Führung bedeutet, ein guter Minister oder sonst ein führender politischer Amtsträger werden zu wollen, ohne es gleich zu sein, und die Demut, sich das einzugestehen.

Nach meiner Meinung gehört auch Loyalität zu dem, was man als Führungspersönlichkeit in der Politik mitbringen muss. Loyalität gegenüber der Sache, also dem Kernanliegen des Aufgaben- und Zuständigkeitsbereichs, der einem anvertraut wird; Loyalität gegenüber den Mitarbeitern, gegenüber Partei, Fraktion und Regierung und insbesondere deren Chefs.

Ein noch so erfahrener Politiker, der sich in der Sache auskennt, mit Gestaltungswillen und Risikobereitschaft ausgestattet ist, hoch motiviert und verschwiegen agiert, wird auf Dauer jedenfalls nicht erfolgreich sein, wenn er den Ruf hat, illoyal zu sein, oder sich als illoyal erwiesen hat. Im Zweifel wird er gar nicht erst in ein Ministeramt berufen. Keiner der Kollegen wird über das Professionelle hinaus mit ihm eng zusammenarbeiten. Kein Mitarbeiter wird für ihn das Letzte geben. Und keiner wird ihm trauen.

Meine Erfahrung ist: Wer nicht bereit ist zu dienen, kann nicht gut führen.

Auswahl: Wer wird etwas – und wie?

Die Personalauswahl ist in der Politik Chefsache. Und jeder Spitzenpolitiker hat Namen von Persönlichkeiten in eine Art Notizbuch virtuell oder tatsächlich „eingetragen“. Darin finden sich Namen von Menschen, die einem genannt werden oder die man selbst erlebt hat und die Potenzial für eine höhere Funktion zeigen. In ein solches „Notizbuch“ zu gelangen, das ist eine Mischung aus Leistung, Glück und Zeitpunkt.

Es gibt für die Besetzung von Spitzenämtern in der Politik keine Headhunter. Es gibt zwar selbsternannte Berater oder sogenannte Vertraute, die einem Regierungschef Namen von angeblich geeigneten Persönlichkeiten zuflüstern, die zum Minister berufen werden könnten oder sollten. Deren Einfluss darf aber nicht überschätzt werden.

Allerdings gibt es immer einige wenige Persönlichkeiten, die das Ohr des Regierungschefs oder des Parteivorsitzenden haben und dann vertraulich einzelne Personen vorschlagen. Das funktioniert aber nur dann, wenn ein solcher Hinweis wirklich vertraulich bleibt. Eine solche Persönlichkeit war der verstorbene Peter Hintze, lange Jahre CDU-Generalsekretär und Parlamentarischer Staatssekretär.

Minister sind in aller Regel Mitglieder der Parteien, die zusammen die Regierung stellen. Wenige Ausnahmen bestätigen die Regel. Politisch erfolgreich ist man auf Dauer nur, wenn man Mitglied einer Partei ist. Das verlangt ein Bekenntnis und Treue auch in schlechten Tagen. Viele Parteilose scheuen das, manchmal aus Opportunismus.

Selbst geeignete Kandidaten werden aber nur dann ein Führungsamt bekommen, wenn die Konstellation passt. Konstellation ist das Wichtigste für eine Karriere. Nicht nur, aber auch in der Politik. Eine Regierung, ein Partei- oder Fraktionsvorstand oder auch ein Parlamentsausschuss muss eine Mischung sein von Alten und Jungen, von Frauen und Männern, von Erfahrenen und Neuen aus verschiedenen Landesteilen in Deutschland, auch aus Ost und West.

Das wird oft kritisiert. Es könne doch nicht sein, dass ein geeigneter Kandidat oder eine geeignete Kandidatin nur deshalb nicht Minister wird, weil er oder sie aus dem „falschen“ Landesverband kommt. Diese Kritik mag auf den ersten Blick berechtigt sein, weil Leistung dann nicht so viel zählt wie Herkunft. Auf den zweiten Blick ist sie das nicht. Die Bevölkerung kann in einer Demokratie schon erwarten, dass politische Gremien wenigstens in etwa die große Breite der Bevölkerung repräsentieren. Und das gilt regional, aber auch für die altersmäßige Zusammensetzung.

Noch wichtiger ist die richtige Konstellation auch deswegen, weil man in die meisten politischen Spitzenfunktionen nicht „von oben“ berufen oder ernannt wird, sondern „von unten“ gewählt werden muss. Wer bei Wahlen immer nur Pech hat, der hat keine Chance, in Spitzenpositionen zu gelangen – und sei er auch noch so talentiert. Und wem umgekehrt bei Wahlen immer das Glück und der Zufall gewogen sind, dem stehen politisch viele Türen offen.

Ein schwieriges Thema ist, ob ein Minister „Stallgeruch“ zu dem Ressort braucht, das er übernimmt, also eine innere Bindung über eine frühere berufliche oder sonstige Nähe. Der frühere erfolgreiche Verteidigungsminister Peter Struck hatte wie die meisten Verteidigungsminister zu Amtsbeginn keinen Stallgeruch. Die Bildungs- und Forschungsministerin Anja Karliczek hatte in der wissenschaftlichen Community Akzeptanzprobleme, weil sie ohne vollakademisches Studium herkömmlicher Art keinen Stallgeruch hat. Nach meiner Erfahrung hilft Stallgeruch zu Beginn einer Amtszeit, weckt aber auch große, gerade am Anfang vielleicht zu große Erwartungen. Er ist insofern sicher eine hilfreiche, aber keine zwingende Erfolgsbedingung für einen guten Minister. Das gilt insbesondere für Minister mit uniformierten Mitarbeitern. Soldaten, Polizisten und Feuerwehrleute sind diesbezüglich besonders sensibel. Wer hier als Minister keinen „menschlichen Draht“ zu den Uniformträgern findet, hat verloren, und mag er oder sie auch noch so viel zusätzliches Geld für das Ressort einwerben.

Sehr gern beteiligen sich die Presse und die Öffentlichkeit an der Besetzung von politischen Spitzenämtern. Da werden Hoffnungen herbeigeschrieben und scheinbar sichere Kandidaturen abgeschrieben. Das ist gefährlich. So war es bei der Auswahl von Kandidaten für die Wahl des Bundespräsidenten 2010. Ursula von der Leyen galt vielen in der Presse als gesetzt. Sie legte vor Fotografen ihren Zeigefinger vor den Mund, was als Bestätigung des Gerüchts gewertet wurde, sie würde die erste Bundespräsidentin. Später wurde dann Horst Köhler gewählt. Manchmal ist eine Spekulation über Personen in der Presse das frühe journalistische Herausfinden von Tendenzen in der Entscheidungsfindung, manchmal ist es aber auch ein journalistischer Test ohne sachlichen Hintergrund. Ein falscher Name früh genannt, das ist im politischen Journalismus nicht schlimm. Einen richtigen Kandidaten für eine Position früh getippt und vielleicht gar promotet zu haben, das gilt in Journalistenkreisen dagegen als Ritterschlag.

Immer noch gilt aber die alte Regel: Wer zu früh als Kandidat genannt wird, verringert seine Chancen. Es gibt sogar Parteifreunde, die jemanden dadurch verhindern wollen, dass sie ihn zu früh zum Kandidaten für ein bestimmtes Amt ausrufen.

Angela Merkel ist dafür bekannt, die Öffentlichkeit bei Personalentscheidungen zu überraschen. So war es auch in meinem Fall, als sie mich 2005 zum Chef des Bundeskanzleramts machte. Die meisten hatten mit Norbert Röttgen gerechnet. Dabei hatte sie bei dieser Personalentscheidung zuerst den CSU-Politiker Erwin Huber im Auge und dann mich.

Zu den politischen Führungspositionen, die nicht durch Wahlen besetzt werden, gehört das Ministeramt. Nach dem Grundgesetz schlägt der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten bestimmte Persönlichkeiten zur Ernennung als Bundesminister vor. Das ist das alleinige Vorschlagsrecht des Regierungschefs. Der Bundespräsident kann einen solchen Vorschlag nur unter ganz engen Voraussetzungen ablehnen. Aber auch der Bundeskanzler ist bei diesem Vorschlagsrecht politisch nicht frei. Selbst starke Bundeskanzler haben ihre Personalvorschläge aus der eigenen Partei zwar selbst getroffen, aber vorher wichtige Vertreter der eigenen Partei konsultiert.

Der Bundeskanzler hat zudem nur für die Ministerien eine echte Personalauswahl, die von der Partei besetzt werden, der der Bundeskanzler angehört. Für die anderen Ministerämter ist faktisch das politische Recht des Personalvorschlages auf den sogenannten Riegenführer der jeweiligen Koalitionspartei übergegangen, meistens also auf den Parteivorsitzenden. Die Ressortverteilung wird am Ende der Koalitionsverhandlungen politisch ausverhandelt, die Benennung der Personen obliegt den Parteien, nicht dem Bundeskanzler.

Wenn ein Bundeskanzler schwerwiegende Bedenken gegen einen Ministerkandidaten eines Koalitionspartners hat oder der Koalitionspartner das ahnt, dann sind beide Seiten gut beraten, eine solche Personalie vertraulich zu erörtern, bevor der Name bekannt wird. Sind Kandidaten erst einmal öffentlich benannt und würde dann der Bundeskanzler widersprechen, dann ginge das nicht ohne Gesichtsverlust und wäre kaum noch zu machen. Einen solchen Fall habe ich erlebt, als es im Februar 2009 um die Nachfolge des zurückgetretenen Wirtschaftsministers Michael Glos ging. Der damalige CSU-Vorsitzende Horst Seehofer hatte intern einen Kandidaten vorgeschlagen, der auf ernste Zweifel stieß. Da blieb alles vertraulich. Im Ergebnis wurde Karl-Theodor zu Guttenberg Nachfolger von Glos.

Betrachtet man zusammenfassend, dass die Parteimitgliedschaft, die Zugehörigkeit zu einem Landesverband, das Alter, der Stallgeruch, die Konstellation oder die Notwendigkeit eines Überraschungsfaktors wichtiger sind als die pure Qualität, um Minister eines der wichtigsten Staaten der Welt zu werden, dann könnte man solche Kriterien der Personalauswahl für ungeeignet halten. Es sind politische Kriterien, die im Einzelfall sicher auch kritikwürdig sind. Aber wenn ich mir die Personalauswahl der Minister in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vergegenwärtige, dann muss man sich weder im Vergleich zur Wirtschaft noch zur europäischen oder internationalen Politik für diese Personalauswahl schämen. Die Spitzenpolitiker, die Menschen in Ministerämter berufen, haben selbst ein Interesse daran, dass die Regierung gut arbeitet. Deswegen kommt die fachliche Qualität neben den genannten politischen Kriterien bei der Personalauswahl letztlich auch nicht zu kurz.

Ich behaupte nicht, dass die beschriebenen Kriterien der Personalauswahl auf andere Bereiche außerhalb der Politik übertragbar sein könnten. Aber ich halte es für angemessen und erfolgreich, politische Kriterien für die Auswahl von politischen Führungspersönlichkeiten anzulegen. Das mag im Einzelfall schiefgehen, aber für den Zweck eines politischen Erfolgs sind politische Kriterien sachgerecht.

Politische Führung bedeutet, politische Kriterien bei der Auswahl von Führungspersönlichkeiten in der Politik anzulegen.

Anfänge – Von guten und schlechten Starts ins Amt

In den ersten Tagen in einem neuen Amt ist ein Spitzenpolitiker vielfältigen Erwartungen ausgesetzt, internen wie externen.

Intern kommt es darauf an, das neue Büro, ja das neue Haus als das eigene in Besitz zu nehmen. Als „Haus“ bezeichnet man politikintern das Ministerium oder die Parteigeschäftsstelle. „Mein Haus“ ist eine liebevoll gemeinte Bezeichnung eines Ministers oder Staatssekretärs für sein Ministerium oder eines Parteivorsitzenden oder Generalsekretärs für seine Parteizentrale.

Zur Amtsübergabe gibt es eine Personalversammlung. Dabei achten die Mitarbeiter sehr genau darauf, wie der Vorgänger den Nachfolger würdigt und umgekehrt, vor allem aber darauf, wie „der Neue“ die Mitarbeiter anspricht. Wenn er den Ton trifft, ist das die halbe Miete, das Herz der Mitarbeiter zu gewinnen.

Der erste Blick der Mitarbeiter auf einen neuen Chef richtet sich darauf, ob er an dem bisherigen Spitzenpersonal festhält und ob es eine Neuorganisation im Haus gibt. Nach meiner Erfahrung empfiehlt es sich, die Personalentscheidungen für die zweite Führungsebene, bei Ministerien also die Staatssekretärsebene, sehr schnell zu treffen. Das ist für den Staatssekretär, der das Haus verlassen muss, zwar bitter, zugleich aber auch am besten, weil keine falschen Hoffnungen entstehen. Ich habe das sowohl im Innenministerium wie auch im Verteidigungsministerium mit fachlich hervorragenden Spitzenbeamten so entschieden, weil wir nach meiner Meinung menschlich nicht zusammenpassten und inhaltlich nicht dieselben Grundüberzeugungen teilten.

Weitere Personalentscheidungen, die ich gleich zu Anfang getroffen habe, betrafen mein direktes Umfeld im Ministerium. Als Entscheidungs- und Verantwortungsträger braucht man in seinem engsten Nahbereich kompetente und professionelle Mitarbeiter, die zugleich loyal und vertrauenswürdig sind. Ich habe meine Sekretärin gebeten, mich in die verschiedenen Ministerien zu begleiten, ebenso einen Leiter Leitungsstab und den Pressesprecher. In der Politik ist es üblich, dass ein Amtsträger bei der Zusammenstellung seines engsten persönlichen Mitarbeiterstabs weitgehend freie Hand hat, also nicht an das Personal seines Vorgängers, an Planungen der Personalverwaltung oder an Erwartungen der Personalvertretung gebunden ist.

Mit weiteren Entscheidungen kann und sollte man sich dann etwas Zeit lassen. Ich habe eine strukturelle Neuorganisation der Ministerien, die ich übernommen habe, nach einigen Wochen entschieden und durchgeführt. Natürlich gibt es stets eine dem Zuständigkeitsbereich des Ministeriums obliegende traditionelle Grundstruktur. Jedes Ministerium hat eine Zentralabteilung oder eine Grundsatzabteilung. Jedes Finanzministerium hat eine Haushaltsabteilung. Dennoch halte ich strukturelle Veränderungen in großen Institutionen alle paar Jahre für erforderlich. Das bricht Verkrustungen auf, die im Laufe der Zeit immer entstehen. Ich wollte als neuer Minister mit einer strukturellen Veränderung, also einer Veränderung der Geschäftsverteilung, auch Zeichen ins Haus setzen, dass ich mir „mein Haus“ gern so einrichte, wie ich es für richtig halte. Die Struktur einer Institution hat für die Erfüllung der inhaltlichen Ziele und für die Führung eine dienende Funktion und ist kein Selbstzweck. Die strukturelle Veränderung mit einem neuen Chef ist auch ein äußeres Zeichen dafür, dass etwas Neues beginnt.

In den ersten Tagen als neuer Minister habe ich mir Zeit genommen, um möglichst alle Mitarbeiter an ihrem Arbeitsplatz zu besuchen. Das ist sehr aufwendig. Es ist mir auch nicht immer gelungen. Aber es wurde stets als großes Zeichen der Wertschätzung von den Mitarbeitern wahrgenommen. Im Bundeskanzleramt hatten bis zu meiner Amtsübernahme viele in der Registratur oder in der Poststelle noch nie einem Minister die Hand gegeben oder ihn von Nahem gesehen.

Außerdem hat mir die äußere Gestaltung der jeweiligen Diensträume und der Flure immer auch einen Eindruck von der inneren Verfasstheit der Mitarbeiter gegeben.

Von den Abteilungsleitern, also der dritten Führungsebene, habe ich in kürzester Zeit eine Ist-Analyse, eine Beschreibung der zeitlich dringlichsten und der inhaltlich wichtigsten Aufgaben ihrer Abteilung, erbeten. Anschließend habe ich mit den Abteilungsleitern – meistens unter vier Augen – darüber gesprochen. Dies hatte einen doppelten Zweck: Zum einen diente es meiner inhaltlichen Einarbeitung, und zum anderen lernte ich so die Qualität der Abteilungsleiter selbst am besten kennen und einschätzen.

Politische Führung bedeutet, unangenehme Entscheidungen so früh wie möglich zu treffen und nicht aufzuschieben. Je früher sie getroffen werden, desto weniger werden sie als hart empfunden. Je weicher und unentschiedener ein Chef zu Beginn seiner Amtszeit ist, als umso härter werden seine Entscheidungen empfunden, wenn sie spät fallen. Meine Erfahrung ist: lieber früh zu hart als zu weich.

Jedes Ministerium hat einen nachgeordneten Geschäftsbereich. Das sind oft große Behörden mit Tausenden oder Zehntausenden von Mitarbeitern. Das gilt natürlich vor allem für die „großen“ Ministerien wie Verteidigung, Innen oder Finanzen sowie Arbeit und Soziales. Auch eine Partei hat nachgeordnete Gebietsgliederungen und Fachorganisationen. Die Mitarbeiter dort erwarten schnellstmöglich Antrittsbesuche des neuen Chefs im ganzen Land. Es wird sehr genau darauf geachtet, wohin man zuerst geht: zur geografisch nächsten Organisation, zur angeblich wichtigsten, zur größten oder zu einer als problematisch empfundenen Organisation. Der erste Besuch und die weitere Besuchsreihenfolge sind deshalb klug zu überlegen. Eine wichtige Entscheidung ist auch darüber zu treffen, ob bei diesen Besuchen die Presse dabei sein soll. Dafür spricht, dass man damit öffentlich Zeichen setzt und die Mitarbeiter sich wichtig und ernst genommen fühlen. Dagegen spricht, dass solche Besuche unter öffentlicher Begleitung nicht wirklich geeignet sind, die Stärken und Schwächen einer Organisation kennenzulernen und Probleme aufzunehmen. Es empfiehlt sich daher, mit einigen kurzen, öffentlichkeitswirksamen Besuchen zu beginnen und daran dann ausführlichere Besuche im internen Rahmen anzuschließen.

Dieses interne „Inbesitznehmen“ ist für den neuen Chef wichtig, aber zeitintensiv. Und gleichzeitig erwarten die Öffentlichkeit, die eigene Klientel, die Koalition und die eigene Partei in den ersten Tagen in einem neuen Amt sichtbare inhaltliche Akzente nach außen. Aus der früheren Schonzeit von 100 Tagen, die dazu genutzt werden sollte, dass man sich in sein Amt einarbeiten konnte, ist eine Erwartung geworden, nach 100 Tagen eine erste Bilanz der Arbeit des neuen Ministers ziehen zu können. Das ist absurd, aber wohl nicht mehr zu ändern. Deshalb arbeiten seit einigen Jahren alle Neuen darauf hin, dass es wenigstens einige solcher positiven Bilanzpunkte nach 100 Tagen geben kann.

Die meisten Spitzenpolitiker auf Bundesebene bewegen sich inzwischen längst in einem europäischen und internationalen Kontext. Deshalb sind Antrittsbesuche im Ausland selbstverständlich geworden. Das gilt auch umgekehrt. Mein neu ins Amt gekommener französischer Kollege Bernard Cazeneuve hat mich sogar am ersten Tag seiner Amtszeit als Innenminister spätabends in Berlin besucht. Daraus ist nicht nur eine sehr gute inhaltliche Zusammenarbeit, sondern auch eine persönliche Freundschaft geworden.

Es gibt sehr viele Fachministerkonferenzen, natürlich in Deutschland, aber auch international und insbesondere innerhalb der Europäischen Union. Sie sind nicht immer sehr effektiv, sondern langatmig, ritualisiert, protokollarisch festgefügt und wenig ergebnisorientiert. Und dennoch ist es wichtig, dass ein neuer Minister zur ersten Sitzung in seiner Amtszeit dort auftritt. Deutschland ist ein großes Land, alle erwarten von ihm eine Führungsrolle, so dass alle Kollegen neugierig sind, wie der neue Minister aus Deutschland ist. Es erleichtert die Zusammenarbeit der nächsten Jahre sehr, bei solchen Konferenzen von Beginn an präsent zu sein, auch wenn das in Konkurrenz zu anderen dringlichen Aufgaben steht, die am Anfang einer Amtszeit anstehen.

In der Politik ist es üblich, seriös und wichtig, dass ein neuer Amtsträger seinen Vorgänger nicht öffentlich kritisiert und umgekehrt. Das gilt selbst dann, wenn es um einen echten Regierungswechsel geht, also wenn die Opposition die bisherige Regierung ablöst, oder wenn der Vorgänger unter unglücklichen Umständen, etwa durch einen Rücktritt, ausgeschieden ist. Der Nachfolger kann und wird zwar neue Akzente setzen. Er kann Entscheidungen, mit denen er nicht zufrieden ist, korrigieren. Er kann andere Personalentscheidungen treffen. Aber es gilt als Nachtreten, als schlechtes Verlieren oder als kleinkariertes Gewinnen, wenn sich Vorgänger oder Nachfolger öffentlich direkt persönlich kritisieren. Darüber hinaus gibt es eine informelle Regel, dass sich ein ehemaliger Amtsinhaber nicht öffentlich zu Themen und Vorgängen äußert, in denen er vorher verantwortlich war. Das gilt jedenfalls in den ersten Monaten nach der Amtsübergabe.

Man mag solche Regeln der politischen Höflichkeit altmodisch finden. Ich finde sie gut. Sie machen das Leben für alle Beteiligten leichter. Sie schließen Wunden schneller, die mit der Abgabe eines Amtes verbunden gewesen sein mögen, und sie erleichtern die Arbeit der Mitarbeiter, die im selben Haus mit einem neuen Chef arbeiten.

Politiker in Führungspositionen haben vergleichsweise kurze Amtszeiten. Die Amtszeit eines Ministers und die Wahlperiode eines Abgeordneten betragen vier oder fünf Jahre, die von Parteiämtern meist sogar nur zwei Jahre. Man kann nicht einmal fest davon ausgehen, so lange auch tatsächlich im Amt zu bleiben, dafür ist das politische Geschäft zu unberechenbar. Aber die eigenen inhaltlichen Ziele sollten über diese Zeitspanne hinaus gerichtet sein. Deshalb stellt sich zu Beginn einer jeden Amtszeit die Frage, ob man mit der Abarbeitung problematischer und umstrittener Themen beginnt oder ob man am Anfang die Projekte aussucht, bei denen man schnell Erfolge erzielen kann. Das gilt natürlich nur dann, wenn man es sich aussuchen kann. Ich bin der Meinung, es ist besser, mit den problematischen Entscheidungen zu beginnen. Wenn sie abgearbeitet sind, werden sie gegen Ende der Legislaturperiode eher wieder vergessen sein, und danach kann man sich auf die angenehmeren Dinge konzentrieren. Die öffentliche Versuchung ist genau umgekehrt nach dem Motto: Erst das Schöne und Leichte, das Schwierige kommt später. Siehe da, neue Besen kehren gut, so heißt es dann. Ein neuer Minister kann schnell Erfolge zeigen. Nach meiner Meinung kommt es aber nicht auf die schnellen Erfolge an, sondern auf die nachhaltigen. Eine Legislaturperiode ist ein Langstreckenlauf.

Ein Beispiel: In der Koalitionsvereinbarung 2013 hatten sich CDU/CSU und SPD auf eine Erweiterung der doppelten Staatsbürgerschaft verständigt. Dies war in meiner Partei als Kompromiss ungeliebt. Als ich dann meiner Unionsarbeitsgruppe vorschlug, diesen Punkt als einen der ersten abzuarbeiten, gab es Bedenken. Warum solle man der SPD so früh einen Erfolg gönnen? Ich habe umgekehrt argumentiert: Wenn die SPD so früh einen Erfolg habe und wir dann mit unseren Themen anschließend Erfolg hätten, dann würden wir im Laufe der Zeit besser punkten. So haben wir es dann gemacht, und dieses Vorgehen wäre auch ein Erfolg geworden, wenn nicht die CDU selbst das Thema viel später ohne Not innerparteilich wieder aufgegriffen hätte, ohne allerdings eine Lösung durchsetzen zu können.

Politische Führung bedeutet, die unangenehmen oder unpopulären Sachen zuerst anzupacken und nicht auf die lange Bank zu schieben.

 

Für einen neuen Amtsträger ist das Erwartungsmanagement wichtig. Großartige Ankündigungen zu Beginn verheißen eine große Amtszeit. Große Pläne klingen groß. Neues steht im Raum, Visionen entstehen. Die Fantasie wird geweckt. Ich halte das für gefährlich. Erfolge fährt man als Führungspersönlichkeit in der Politik nie allein ein. Viele Erfolgsbedingungen sind unbeeinflussbar und extern. Nicht eingelöste Erwartungen bleiben länger im Gedächtnis als gar nicht erst geweckte Erwartungen. Deswegen finde ich es klüger, ein Erwartungsmanagement so zu betreiben, dass man mit Ankündigungen vorsichtig und zurückhaltend ist, aber Ergebnisse produziert, die die Erwartungen übertreffen. Das ist nicht spektakulär, vor allem nicht für die Pressearbeit. Aber nach meiner Erfahrung ist es auf Dauer erfolgreicher, sowohl in der Sache wie auch für die Akzeptanz und die Reputation eines Spitzenpolitikers.

Politische Führung bedeutet, selbstgeweckte Erwartungen zu übertreffen und nicht erfüllbare Erwartungen zu vermeiden.

Welcher Weg? Erwartungen und Ziele

Erwartungen kennen – und manchmal enttäuschen

An einen Minister oder einen politischen Führer werden vielfältige Erwartungen gerichtet:

 

Es ist objektiv unmöglich, all diesen Erwartungen gerecht zu werden. Wer das versucht, wird scheitern. Man kann das auch offen aussprechen, dann haben viele mehr Verständnis für Absagen und angebliche Zurücksetzungen. Man sollte gar nicht erst den Eindruck erwecken, als könne man alle Erwartungen erfüllen.

Politische Führung besteht darin, aushalten zu lernen, nicht alle Erwartungen erfüllen zu können.

Politische Führung besteht darin, unerfüllbare Erwartungen austarieren zu können.

Politische Führung besteht darin, keine dieser Erwartungen vollständig zu enttäuschen und zugleich zu entscheiden, welche Erwartungen wann am wichtigsten sind.

Aufgaben – Man kann sich nicht alles aussuchen

Für jede Führungspersönlichkeit in der Politik gibt es selbstgesetzte und fremdgesetzte Aufgaben. Der Aufgabenbereich ist vielfältig: Ein Minister ist als Regierungsmitglied vergleichbar mit einem Vorstandsmitglied, als Ressortchef in etwa vergleichbar mit einem operativ arbeitenden CEO, also einem Vorstandsvorsitzenden einer großen Institution, gegenüber nachgeordneten großen Behörden mit einem Vorsitzenden des Aufsichtsrats. Und der Vorstand einer Partei fühlt sich manchmal – zu Unrecht – wie eine Gesellschafterversammlung.

Ein Spitzenpolitiker muss sich der unterschiedlichen Rollen bewusst sein, die er in seinen verschiedenen Funktionen hat: Operative Führung, Beteiligung an gemeinsamer Teamführung und Delegation von Führung, all das gehört zur Aufgabenfülle, verlangt unterschiedliche methodische Ansätze und Vorgehensweisen.

Politische Führung bedeutet, die unterschiedlichen Rollen funktional auszufüllen und mit der dieser Funktion entsprechenden Methode anzugehen.

In der Sache sind die meisten Aufgaben gerade für einen Minister vorgegeben: Ein Innenminister sorgt für Sicherheit, ein Außenminister vertritt deutsche Interessen im Ausland, ein Finanzminister nimmt Steuern ein und sorgt mit dem Haushalt für die Ausgaben. Auf Dauer ist diese natürliche Aufgabe der Kern jedes Ministeramtes und nicht die Umsetzung irgendeiner Koalitionsvereinbarung oder die Befriedigung eines persönlichen Profils.

Die Koalitionsvereinbarung ist so etwas wie das Hausaufgabenheft von Politikern in Regierungsverantwortung, egal ob sie direkt der Regierung oder einer regierungstragenden Fraktion bzw. Partei angehören. In ihr ist niedergelegt, was zu tun und was zu unterlassen ist. Wenn ein Fachpolitiker an der Aushandlung der Koalitionsvereinbarung beteiligt war, dann hat er seine eigenen Hausaufgaben mit verhandelt. Wenn das nicht der Fall ist, ist er trotzdem daran gebunden.

Die der Sache nach naturgemäßen Daueraufgaben einer Organisation wie eines Ministeriums und die Abarbeitung der Hausaufgaben einer Koalitionsvereinbarung bestimmen den größten Teil der Aufgaben in einem politischen Spitzenamt. Daneben bleibt oft wenig Zeit, Geld und Kraft für die Erarbeitung und Umsetzung selbstgesetzter Aufgaben.

Man kann auch eine Unterscheidung zwischen sachlichen und politischen Aufgaben treffen. Eine sachliche Aufgabe für einen Kultusminister ist es, dafür zu sorgen, dass guter Unterricht stattfindet und möglichst wenig Unterricht ausfällt. Eine politische Aufgabe für einen Kultusminister kann es sein, eine bestimmte Schulstruktur, die er oder seine Partei für richtig hält, politisch durchzusetzen. Für einen Gesundheitsminister ist die Bewältigung eines weltweit auftretenden Virus mit hoher Ansteckungsgefahr eine sachliche Aufgabe, die Haltung zum und der Umgang mit dem Thema Sterbehilfe eine politische.