Jonas Goebel

Jesus,
die Milch ist alle

Meine schräge WG und ich


Abb003

Wir danken den folgenden Rechteinhabern für die freundliche Erteilung der Abdruckgenehmigung:

S. 68f., 73f.:

Der Körperteil Blues

Musik & Text: Achim Oppermann, Florian Bauer, Gaby Case

© Tao House Edition / Schmuf Hamburg Edition / Edition Alocin

Song No: 2167791

S. 106f.:

Frei Wie der Wind

Musik & Text: Andreas Fahnert, Axel Stosberg, Hans Timm Hinrichsen, Hartmut Krech, Mark Nissen

© Sony/ATV Music Publishing (Germany) GmbH / Elephanten Edition / Edition Airforce1.TV Music / EMI Music Publishing Germany GmbH

Song No: 1359839


© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de


Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Designbüro Gestaltungssaal

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern


ISBN E-Book 978-3-451-82234-6

ISBN Print 978-3-451-38957-3

Unmöglich

Inhalt

Der Einzug

@theRealJesus

Diskriminatoren

Meterbier

Adam sucht Eva

Körperteil Blues

Die Gretafrage

Elchtest

Sinnfluenza

Energy

Heiligabend

Wolkenfall

Nachwort – Darf er das?

Der Autor

Der Einzug

»Jesus, die Milch ist schon wieder alle!«, höre ich meine Freundin lauthals aus der Küche rufen. Ächzend richte ich mich in meinem Bett auf. Ein Blick auf mein Handy. Es ist 7:49 Uhr am Morgen. Und Jesus hat anscheinend schon wieder die letzte Milch ausgetrunken. Jetzt muss meine Freundin ihren Kaffee schwarz trinken. Was ihr so semi gefällt.

Ich höre, wie eine Zimmertür unsanft geöffnet wird, und ahne, was kommt. Eine tiefe Stimme dröhnt erbarmungslos über den Flur, durch die Schlafzimmertür und direkt in mein noch halb träumendes Hörorgan: »Was soll der scheiß Lärm um diese Uhrzeit? Habt ihr noch alle Bibeln im Regal?« Ja, meine Freundin mag ihren Kaffee nicht schwarz und Martin Luther mag keinen Lärm am Morgen. Gut, ich mag weder Kaffee noch Lärm am Morgen, aber mich fragt ja keiner. Der Einzige, den das alles überhaupt nicht stört? Jesus.

Willkommen in meiner Welt. Die sich zugegebenermaßen seit einigen Monaten ziemlich überraschend entwickelt hat. Ich meine: Hättest du damit gerechnet, dass eines Tages Martin Luther und Jesus Christus persönlich bei dir und deiner Freundin einziehen? Bei allem Glauben: So viel gebetet habe ich wirklich nicht! Na ja, vielleicht war das ja auch das Problem.

Auf jeden Fall sind die beiden jetzt da. Und wir bei uns im Pastorat eine kleine WG. Also ja, ich bin Pastor in einer evangelisch-lutherischen Gemeinde in Hamburg. Und das, wo ich zu wohnen habe, nennt sich Pastorat. Und ja: Eigentlich wollte ich was Anständiges lernen. Aber wie das dann manchmal so ist, zack: »Plötzlich Pastor«. Oder zack: Hast du ’nen Heiland im Wohnzimmer rumlümmeln und einen schwergewichtigen Reformator in der Küche, der dir die Vorräte wegfrisst.

Ich höre, wie Martin missmutig die Tür zuknallt, und schaue auf mein Handy: 7:51 Uhr. Vielleicht schlafe ich ja noch mal ein – nein, das mit dem Schlaf wird wohl nichts mehr. Mein Handy vibriert. WhatsApp meiner Mutter. Wie es so mit Jesus läuft. Lustig, denke ich mir. Noch vor ein paar Wochen wäre das eine äußerst unwahrscheinliche Frage gewesen. »Super!«, antworte ich per Sprachnachricht und ziehe die Decke wieder über meinen Kopf.

Mein Handy vibriert erneut. Ein Bestattungsunternehmen. Na klasse, und jetzt auch noch ’ne Beerdigung gleich am Morgen reinkriegen. Während ich überlege, ob ich rangehen oder lieber später zurückrufen sollte, fängt es in der Küche penetrant zu piepen an. Da steht der Kühlschrank wohl mal wieder zu lange offen. Eine Zimmertür wird aufgerissen. Martin brüllt, ob nicht jemand dieses dämliche Gepiepse abschalten könne. Trixi, also meine Freundin, brüllt zurück, dass er ja Milch holen gehen könne. Und Jesus? Schläft.

Ich kenne echt niemanden mit so einem festen Schlaf. Und ich kenne ziemlich gute Schläfer. Wirklich. Ich meine, manche Freunde von mir haben im Prinzip ihr ganzes Leben bislang verschlafen. Gut, das kann man von Jesus nun nicht behaupten. Trotzdem erstaunlich, was Jesus für einen tiefen Schlaf hat. Am Anfang habe ich mich manchmal gefragt, ob er vielleicht im Himmel einfach nie zur Ruhe kommt. Aber als ich ihn darauf angesprochen habe, meinte Jesus nur, dass das zu den größten Annehmlichkeiten der Ewigkeit gehören würde: tiefer und fester Schlaf. Durchaus paradox, dass mein Schlaf dagegen deutlich schlechter geworden ist, seitdem Martin und Jesus bei uns eingezogen sind.

Ich quäle mich aus dem Bett und schlurfe über den Flur ins Bad. Rasieren, Zähne putzen, duschen, abtrocknen, anziehen, Deo, Parfüm, ein schneller Kuss für Trixi, die zur Arbeit muss, Wachs in die Haare, Feuchtigkeitscreme auf die Haut und zack ist es auch schon 9 Uhr.

In der Küche sitzt Martin allein am Tisch. Vor ihm liegen eine Bibel, sein Tablet, etliche handgeschriebene Notizen und ein – Moment ich rieche kurz dran – ja, ein gut gefülltes Glas mit Whiskey.

»Moin, Martin!«, sage ich und erhalte ein Kopfnicken als Antwort. »Bist ja schon wieder früh dran mit dem ersten Whiskey«, versuche ich es mit dezenter Kritik. Martin antwortet trocken, dass das noch sein letzter von gestern und entsprechend nicht dem Alkoholkonsum des heutigen Tages zuzurechnen sei.

Da kommt ein sichtlich ausgeschlafener Jesus durch die geschlossene Küchentür. Ich erschrecke mich immer noch jedes Mal, wenn er das macht. »Jesus, wie oft denn noch: Du sollst anklopfen, bevor du durch geschlossene Türen gehst!«, meckere ich ihn entsprechend an. »Einen wunderschönen guten Morgen allerseits«, trällert der mir entgegen. Martin passt sich der guten Stimmung an und haut uns ein »Schnauze ihr beiden, ich arbeite« entgegen. Ein Wonneproppen, dieser Martin.

Jesus und ich machen uns – wie jeden Morgen – ein Nutella-Brot und setzen uns zu unserem missmutigen Reformator. »Sagt mal, ihr zwei«, ich versuche die Gunst des Morgens zu nutzen, »wieso seid ihr eigentlich ausgerechnet bei uns gelandet?« Martin reagiert nicht und Jesus sagt: »Wir haben gegooglet und deine Gemeinde war da einfach ganz oben.« Hm, denke ich mir. Ob das jetzt so glaubwürdig ist? Aber das mit der Glaubwürdigkeit ist eh so eine Sache. Ich meine: Wer glaubt dir schon diese Geschichte? Meine Kollegen halten es weiterhin für einen äußerst gelungenen, wenn auch durchaus gewagten Werbegag. Meine Bischöfin hat mir Supervision empfohlen. Meine Gemeinde hat mir eine Liste mit ortsansässigen Therapeuten zusammengestellt.

Aber das Kuriose ist: Trixi und ich haben echt keinen Moment an der »Echtheit« von Jesus gezweifelt. Als würde er einfach alle grundsätzlichen Zweifel durch seine bloße Anwesenheit ausräumen. Was nicht heißt, dass wir nicht mehr als genug Fragen an Jesus haben. Gut, und Martins Glaubwürdigkeit? Solange Jesus für dessen Echtheit bürgt, gibt es für uns da auch wenig Grund für Zweifel.

»So, ich werde dann mal Milch besorgen«, reißt mich Jesus aus meinen morgendlichen Gedanken. »Braucht ihr noch was?«. Martin und ich schütteln den Kopf und Jesus macht sich auf seinem Drahtesel auf zum Aldi. Mit dem ollen Ding ist er hier übrigens eines spätsommerlichen Sonntags angekommen. Trixi und ich sind schön am Netflix gucken und wundern uns noch, was das für ein Lärm ist. Ja, fährt da so ein unscheinbarer Typ auf ’nem ollen Fahrrad auf den Kirchhof. Wir luschern aus dem Fenster, er sieht uns natürlich und kommt schnurstracks auf die Tür zu. Klingelt, wir machen auf und was sind die ersten Worte von Jesus? »Früher war irgendwie mehr Palmwedel.«

»Ja, bitte?«, habe ich dann etwas irritiert gefragt und nur ein »Hi, ich bin Jesus. Ich wohn jetzt hier« zurückerhalten. »Äh«, hat Trixi argumentativ überzeugend noch eingewendet, da ist der gute Jesus schon an uns vorbei ins Pastorat rein. »Gästezimmer ist hinten rechts? Ah, ich seh’ schon. Diese Pastorate aus den 1970ern haben aber auch ihren ganz eigenen Charme, was? Oh, und ein schön großer Fernseher. HDR hat er? Hat er! Perfekt. Ach so, bevor ich es vergesse: Gleich kommt Martin hinterher. Der ist noch kurz zum Dönermann. Stört es euch, wenn ich erst mal ’ne Runde baden gehe? Die Anreise war länger als geplant und ich – ach ich quatsch euch mal nicht so voll, wir haben ja noch genug Zeit zum Reden. Bin dann im Bad, falls ihr mich sucht.«

Ja, und seitdem ist Jesus halt da. Und kurz darauf kam auch Martin mit schöner Knobi-Fahne und noch ein wenig Soße im Bart.

Offiziell ist Martin auf die Erde zurückgekommen, weil er, jetzt, nach 500 Jahren, eine neue und vernünftige Übersetzung der Bibel anfertigen möchte. Laut eigener Aussage ist eine solche Rückkehr zwar eigentlich nicht vorgesehen, aber Gott wären wohl irgendwann in der Diskussion mit Martin die Argumente ausgegangen. Sagt Martin. Jesus Variante ist da einen Tick anders. Zitat: »Gott hatte einfach irgendwann genug von Martins ewigen Veränderungsvorschlägen und hat sich gedacht, dass es für alle das Beste wäre, wenn die Menschen auf der Erde mal wieder in den Genuss seiner Reformationswut kämen.«

Das heißt aber eben auch: Martin ist immerhin freiwillig hier, was man von Jesus nur so bedingt sagen kann. Er behauptet zwar, dass er schon sehr gerne mal wieder hier sei, aber im Prinzip hätte er nur einmal im falschen Moment »Dein Wille geschehe« zu Gott gesagt und schwups hatte er die Aufgabe am Hals, auf die Erde zurückzukehren und ein neues Evangelium zu schreiben.

Und so sitzt der eine jetzt da und schreibt am neuen Evangelium und der andere an einer neuen Übersetzung der bisherigen biblischen Schriften. Und Trixi und ich sind natürlich auch noch da.

»Boah!«, entfährt es Martin am Küchentisch. »Was ist los?«, frage ich zurück. »Ich kriege noch die Krise mit diesem Kundenservice«, schimpft Martin, steht auf und stampft in sein Zimmer. Er versucht seit Tagen irgendwelche Rufnummern mitzunehmen. Na ja, wird schon werden.

Ich schaue mich in der Küche um. Wie immer haben Martin und Jesus alles stehen lassen. Martin behauptet durchweg, dass eine gewisse Käthe sich um den Haushalt kümmern würde. Das mag historisch gesehen durchaus stimmen. Aber wir kennen keine und solange seine Käthe hier nicht auch noch auftaucht, wäre es schon schön, wenn er auch mal im Haushalt mithelfen würde. Und sei es den Müll vor die Tür zu stellen. Gerade als ich genau das erledigen möchte, kommt Jesus mir plötzlich durch die geschlossene Haustür entgegen. »Himmel, Herrgott noch mal!«, fluche ich laut, »Jesus! Klopf an, verdammt noch mal!«

Bevor Jesus sich rechtfertigen kann, stürmt Martin zu uns in den Flur. Er hat ein großes Blatt Papier, einen Nagel und einen Hammer dabei. Es ist also wieder so weit. Wutentbrannt versucht er den Zettel an die Tür zu nageln. Wir haben Stahltüren, muss ich dazu sagen. Aber wir sind darauf vorbereitet. Ich reiche ihm unauffällig doppelseitiges Klebeband. Nach wenigen Minuten ist der erste Wutsturm vorüber, es hängen jetzt »Fünf Thesen wider die deutsche Servicewüste und die schmalgeistigen Kundenberater« an unserer Küchentür.

»Und, fühlst du dich besser, Martin?«, fragt Jesus mitfühlend. Er nickt stumm. Jesus legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Komm Martin, wir spielen eine Runde Bibelstellenraten«. Martin nickt wieder stumm. Jesus flüstert mir im Vorbeigehen zu: »Ich lasse ihn auch gewinnen.« Wir zwinkern konspirativ. Wohl wissend, dass Jesus wie immer keine Chance haben wird.

Es war für uns schon sehr überraschend, wie schlecht es um Jesus Bibelwissen bestellt ist. Martin ist ein wandelndes Bibellexikon und Jesus eher so … na ja: nicht. Jesus behauptet steif und fest, dass es ja auch nicht um die Wortwörtlichkeit, sondern um die Bedeutung und den Inhalt an sich ginge. Ein wenig irritierend finden Trixi und ich es trotzdem.

Deutlich irritierender ist allerdings inzwischen Martins YouTube-Kanal. Am Anfang fanden wir es ja noch ganz interessant zu sehen, was er da so veröffentlicht. Aber mittlerweile … mischen sich ganz schön viele Verschwörungstheorien mehr oder weniger unauffällig in seine Videos. Die stetig wachsende Zahl an Views und Abonnenten bestätigen ihn dummerweise auf seinem Weg. Für Jesus übrigens ziemlich frustrierend. Seine Followerzahlen in jeglichen sozialen Medien sind bislang äußerst überschaubar. Der gut gemeinte Hinweis von Trixi, dass er damals ja auch nur mit zwölf Followern angefangen habe, zog auch nicht so richtig.

Nun gut, die Küche ist aufgeräumt. Der Tag kann losgehen. Ich höre Martin und Jesus Bibelstellen raten und gehe rüber in mein Dienstzimmer. Das Bestattungsunternehmen anrufen. Ich überlege schon seit einiger Zeit, ob ich Jesus mal zu einem Diensttermin mitnehmen sollte. Aber noch bin ich etwas zurückhaltend. Ich weiß nicht, ob die Welt schon bereit für ihn ist. Und ob ich bereit bin, Jesus mitzunehmen, weiß ich ehrlich gesagt auch noch nicht. Andererseits ist mir auch unklar, ob überhaupt schon mal jemand für Jesus Anwesenheit ausreichend vorbereitet war.

Ein paar Stunden später klopft es an meiner Tür. Ich öffne und na sieh einer mal an: Jesus steht davor. »Na, was gibt’s?«, frage ich. Jesus beißt sich auf die Lippe und fragt, ob er hereinkommen dürfe. »Klar!«, sage ich und denke mir, dass Jesus doch genau weiß, dass er mich immer stören darf.

»Natürlich weiß ich das«, antwortet Jesus. »Du sollst nicht meine Gedanken lesen!«, fauche ich ihn an. »Wie oft denn noch: Halte dich an die DSGVO und lies meine Gedanken nur nach ausdrücklicher Zustimmung!« Jesus lächelt gequält. »Was?«, frage ich immer noch etwas gereizt. »Wie stellst du dir das vor, Jonas? Ich kann das nicht ab- oder anschalten. Ich spüre das einfach in mir. Das mit der Tür, das ist nur Disziplin, das gebe ich ja zu. Aber mit den Gedanken … Gott kennt keine Datenschutzgrundverordnung. Er ist Herr über alle Daten. Und ich eben entsprechend dann auch irgendwie.«

Ich nicke gewollt verständnisvoll und versuche auch zugleich verständnisvoll zu denken. Gar nicht so leicht. »Also, was gibt’s?«, frage ich erneut.

Jesus setzt sich an meinen Tisch und druckst etwas herum, bis es aus ihm herausbricht: »Ich kann das nicht. Ich … ich kann das mit diesem neuen Evangelium schreiben einfach nicht.« Ich schaue Jesus etwas ratlos an. Ich meine: War das nicht genau der Grund, warum Gott ihn zurückgeschickt hat? Und überhaupt: Kann Jesus nicht alles?

»Ha!«, lacht Jesus laut auf. »Natürlich kann ich auf eine Art alles. Aber deshalb fällt mir doch nicht immer alles leicht. Das damals am Kreuz? Scheiße man, das war das Heftigste und Schwierigste in meinem ganzen Leben! Und überhaupt, hast du dir je Gedanken darüber gemacht, wie viel Druck auf mir lastete? Ne du, da machst du dir das zu einfach, wenn du denkst, dass ich einfach alles kann.«

»Hmm«, sage ich. »Du weißt, dass ich dich nicht wirklich verstehen kann, Jesus. Auch wenn ich es versuche. Aber kann ich dir vielleicht irgendwie bei deinem Problem mit dem neuen Evangelium helfen?«

Ein Lächeln huscht über das Gesicht von Jesus. Ich mag das, wenn er so lächelt. Manchmal, wenn wir abends zusammen Serien gucken, dann schaue ich ihn heimlich an. Beobachte ihn. Seine Augen, die so wahnsinnig aufmerksam sind. Oder seine Lachfalten an den Augen. Es gibt immer wieder diese Momente, wo ich ihn einfach kurz berühren möchte. Nur um sicherzugehen, dass er auch wirklich da ist und ich mir das alles nicht einbilde. Aber immer, wenn ich darüber nachdenke, kommt von ­Jesus direkt ein »Ich warne dich!« und dann lasse ich es doch lieber.

Wo wir aber gerade bei dem Thema sind und weil ich oft danach gefragt werde (lustigerweise besonders häufig von Männern): So richtig gut sieht Jesus nicht aus. Ne, eigentlich überhaupt nicht. Also er ist auch nicht hässlich. Aber irgendwie erstaunlich normal. Fast unscheinbar. Auch wenn er selbst das ganz anders sieht. So unter uns: Jesus findet sich definitiv attraktiver, als er es ist. Frag ruhig meine Freundin, die ist der gleichen Meinung.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, höre ich Jesus auf einmal fragen. »Entschuldige, was hast du gesagt?« Jetzt sehe ich kein Lächeln mehr in seinem Gesicht. »Und du willst Seelsorger sein? Junge, Junge! Also: Während du gedanklich abwesend warst, habe ich dir erzählt, dass mir vor allem das Schreiben Probleme macht. Weißt du, als ich das letzte Mal hier war, da bin ich ja einfach nur so herumgelaufen, habe ein paar Wunder gemacht und halt viel geredet. Sehr viel geredet. Sehr, sehr, sehr viel geredet. Und dann haben die Leute das irgendwann aufgeschrieben. Aber ich und schreiben? Klar kann ich das. Das ist nicht das Problem. Aber ich, also … ich weiß einfach nicht, ob ich so ein schriftstellerisches Talent habe.«

Das ist ja ’n Ding, denke ich mir. Jesus schaut mich unsicher an. »Und wenn Martin deine Texte verbessern würde?«, schlage ich ihm vor. Aber er schüttelt den Kopf. »Ne, der hält sich doch jetzt schon für einen halben Jesus. Und außerdem ist er mehr als genug beschäftigt mit seiner neuen Übersetzung der bisherigen biblischen Schriften.«

Ich denke nach. Vielleicht wäre irgendeine smarte Diktier-App was für Jesus. Aber die löst auch nicht sein künstlerisches Problem. »Und was sagt Gott dazu?«, frage ich vorsichtig. Jesus zuckt mit den Schultern. »Läuft gerade nicht so bei uns.«

»Wie meinst du das? Ich dachte, es läuft bei dir und Gott immer einfach nur Bombe?« Ich schaue Jesus direkt an. Er verschränkt die Arme vor seiner Brust und atmet tief aus. Ich habe das schon ein paar Mal an ihm bemerkt. Manchmal hat er ganz kurze Momente der Verletzlichkeit. Dann ist Jesus so krass menschlich – das ist mir eigentlich schon wieder zu viel des Guten.

Aber dann ist der Moment auch wieder vorbei und ein verschmitztes Lächeln kehrt auf sein Gesicht zurück. »Doch, natürlich ist alles gut bei uns«, sagt er. »Aber ich bin halt jetzt hier und ich bin viel abgelenkt und manchmal auch einfach von den Leuten genervt …« Ich unterbreche Jesus: »Du meinst von uns hier im Pastorat?« Jesus schüttelt vehement den Kopf. »Nein, auf keinen Fall! Einfach so insgesamt. Du weißt: Ich liebe die Menschen. Aber manchmal sind sie auch so, na ja. Da könnte ich sie nehmen und schütteln und einfach sagen: Was ist los mit dir?«

Ich nicke. Wenn Jesus wüsste, wie oft ich so manche Leute gerne schütteln würde. Und schütteln ist hier eindeutig äußerst positiv formuliert.

»Ich weiß«, sagt Jesus und zwinkert mir zu. »Eines Tages werde ich dich bei der Datenschutzbeauftragten anschwärzen«, antworte ich missmutig. Wohl wissend, dass am Ende ich dann wieder der mit dem Glaubwürdigkeitsproblem sein werde.

Es klingelt an der Haustür. Ich schaue Jesus an. »War das für dich jetzt hier irgendwie hilfreich?« Er nickt und sagt: »Geh schon, alles gut.«

Ich gehe zur Tür und öffne. Trixi steht mit zwei vollgepackten Einkaufstüten davor. Sie begrüßt mich mit: »Ich hatte früher Schluss und habe gleich eingekauft, aber jetzt muss ich erst mal dringend auf Klo«, pfeffert die Tüten in die Ecke und flitzt aufs Gäste-WC. Noch bevor ich mich gebückt habe, um die Tüten in die Küche zu bringen, rauscht die Toilettenspülung und ich erhalte einen dicken Schmatzer auf den Hinterkopf. Es ist mir seit Jahren ein Rätsel mit ihr. Im Ernst: Es ist physiologisch unmöglich, so schnell auf Klo gehen zu können. Gut, aber durch verschlossene Türen gehen ist eigentlich auch unmöglich. Und aus dem Himmel zurückkehren, na ja. Ich merk schon: Der einzig Normale hier bin wohl ich.

»Es gibt Essen!«, ruft die schnellste Klogeherin der Welt laut durchs Pastorat. »Komme gleich!«, antwortet Jesus aus meinem Arbeitszimmer. »Ich komme nur, wenn es Fleisch gibt!«, höre ich Martin brüllen. »Und, was gibt’s?«, frage ich Trixi. Sie strahlt mich an und holt vier Dönerboxen aus einer der Einkaufstüten. Oh man, ich liebe sie. Also. Meine Freundin. Und die Dönerbox. Und unsere WG.

»Gucken wir ’ne Folge?«, fragt Trixi. Natürlich gucken wir eine Folge. Als ob es bessere Mittagpausen geben würde. Und so sitzen wir da und schauen gemeinsam Modern Family auf Netflix. Irgendwie sind wir ja auch eine Art moderne Familie.

Ich schaue in die Runde und mir wird warm ums Herz. Wie sie so dasitzen und sich an ihren Dönerboxen ergötzen. Martin pickt wie immer zuerst alles Fleisch heraus (er bekommt auch immer eine extra Portion Rind), Trixi sitzt auf dem Boden und genießt jeden Bissen, als hätte sie seit Wochen nichts gegessen, und Jesus schaut wie gebannt auf den Fernseher und verfehlt regelmäßig den eigenen Mund mit der vollbeladenen Gabel.

»Halt, stopp!«, rufe ich da laut. »Wir haben was vergessen!« Ich renne in die Küche, öffne den Kühlschrank und hole uns vier Fritz Kola raus. »So, jetzt ist’s perfekt«, sage ich, und dann mit einem Augenzwinkern zu Martin: »Sola Fritz Kola!«

»Na dann«, nuschelt Jesus kauend, »Prost!«

»Auf uns!«, sagt Trixi.

»Und das Leben!«, ergänzt Martin.

»Ach übrigens, ich habe auch frische Milch gekauft«, fällt da Trixi ein. »Ich vorhin auch«, quetscht Jesus zwischen einem Mundvoll Pommes hervor.

Na dann, denke ich mir. Ist der nächste Morgen ja gleich doppelt gerettet.