Inklusion in Krippe und Kita
Inklusion in Krippe und Kita
Ein Leitfaden für die Praxis
Überarbeitete Neuausgabe 2021 (2. Gesamtauflage)
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
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Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG
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ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82317-6
ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-80514-1
ISBN Print 978-3-451-38946-7
Einleitung
1. Begriffsbestimmung: Integration und Inklusion
1.1 Was ist Integration?
1.2 Was ist Inklusion?
2. Geschichte und rechtliche Grundlagen der Inklusion
2.1 UN-Kinderrechtskonvention
2.2 UN-Behindertenrechtskonvention
2.3 Gesetzliche Grundlagen in Deutschland
3. Inklusive Pädagogik in Krippe und Kita
3.1 Wertschätzung der Vielfalt und Abbau von Barrieren
3.2 Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung
4. Zentrale Ressource: Die Haltung der pädagogischen Fachkräfte
4.1 Biografische Kompetenz und Selbstreflexion
4.2 Lernen im Spiel
4.3 Empathie, Responsivität und Feinfühligkeit
4.4 Netzwerkarbeit
4.5 Wertschätzung von Diversität
4.6 Austausch zwischen allen Beteiligten
5. Inklusionsziel: Starke Kinder
5.1 Ausschlaggebende Faktoren für die Entwicklung von Resilienz
5.2 Den Schutzschild der Kinder stärken
6. Erziehungspartnerschaft mit den Eltern
6.1 Vielfalt der elterlichen Wünscheund Erwartungen
6.2 Vorurteilsbewusste Bereitschaft zum Dialog
7. Behinderungsformen und Fördermöglichkeiten
7.1 Definition und Ursachen von Behinderung
7.2 Kinder mit Körperbehinderung
7.3 Kinder mit Sprachbehinderung
7.4 Kinder mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung
7.5 Kinder mit Sehbehinderung
7.6 Kinder mit Hörbehinderung
7.7 Kinder mit seelischen Störungen
8. Umgang mit sozial schwierigen Situationen
8.1 Armut und die Folgen
8.2 Andere sozial schwierige Situationen
9. Umgang mit Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten
9.1 Was sind Entwicklungsstörungen?
9.2 Was sind Verhaltensauffälligkeiten?
10. Aus- und Fortbildung in Inklusion und Anforderungen an eine Inklusionsassistenz
10.1 Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung
10.2 Wer kann Inklusionsassistenz sein?
10.3 Einsatz einer Inklusionsassistenz
11. Pro und kontra Inklusion
12. Aufgaben der Träger, unterstützende Leistungen und Qualitätssicherung
13. Kooperation und Netzwerk
Checkliste für Inklusion (Kopiervorlage)
Links & Empfehlungen
Literatur
Über die Autoren
Wenn wir heute in ein angeblich „unterentwickeltes“ Land reisen, sind wir oft überrascht und beschämt von der Gastfreundschaft und der vorbehaltlosen Großzügigkeit, die uns dort entgegengebracht werden. Manch einer hat sich dabei vorgenommen, nach der Rückkehr nach Deutschland Menschen aus anderen Ländern ähnlich freundlich zu begegnen. Aber selten gelingt es, diesen Vorsatz einzulösen. Wir fragen uns, ob das ein typisch deutsches Problem ist, oder was da in uns falsch entscheidet oder so rasch vergisst.
Einen Gast in die Familie aufzunehmen gebietet in vielen Ländern und Gegenden das Gastrecht. Einen Ankömmling in die Mitte einer Gruppe oder einer Gemeinschaft zu nehmen ist jedoch nicht immer selbstverständlich. Die Gruppe hat dem Neuen gegenüber möglicherweise Vorbehalte. Der Ankommende selbst hingegen hat die Erwartung und Hoffnung, mit offenen Armen angenommen zu werden, so wie er ist, und aufgenommen zu werden als ein neues Mitglied der Gruppe. Dabei ist die Schwierigkeit gleich groß für eine erwachsene Hamburgerin, die in München in einen Sportverein eintreten will, wie für ein Kind aus München, das in eine Hamburger Schule wechselt. Wie schwer muss es dann erst für ein türkisches Kind sein, das kein Wort Deutsch spricht und in einen Kindergarten kommt, oder ein Kind aus Syrien, das der lebensgefährlichen Situation in seinem Land gerade entronnen ist?
Inklusion ließe sich an zahllosen Bildern und Biografien erläutern. Meist wird daran die schwierige Seite betont, und die Diskussionen zu diesem Thema sind mit bitterem Ernst durchwachsen. Da und dort scheint die Hoffnung durch, dass Inklusion auch bereichernd für Gruppen und Gemeinschaften sein könnte. Wie jedes Ding hat also auch Inklusion mindestens zwei Seiten, die wir in diesem Buch beleuchten möchten.
Wir möchten außerdem deutlich machen, wie sehr Inklusion eine ethische Grundhaltung ist, die wie jede moralische Kategorie einem gesellschaftlichen und historischen Wandel unterliegt. Ein solcher Wandlungsprozess kann nicht mit Gewalt durchgesetzt werden. Selbst wenn er Gesetz geworden ist, ist seine konkrete Umsetzung einem ständigen Diskurs unterworfen. Müssen tatsächlich 100 Prozent aller Menschen inkludiert werden oder gibt es auch Schonräume, die manchen Menschen besser tun als die große Gruppe der Allgemeinheit? Darf man auch gegen Inklusion sein, prinzipiell oder bei bestimmten Menschen? Wir möchten diese und andere Fragen erst einmal zulassen und Sie alle zu einer Reihe von fruchtbaren Diskussionen und Entscheidungen ermutigen.
Wir wollen mit diesem Buch alle Pädagoginnen und Pädagogen ansprechen1. Während Inklusion in Schule und Geriatrie eine intensiv diskutierte Herausforderung darstellt, sind Bücher und Diskussionen über Inklusion in der Krippe und in Kindertagesstätten rar. „In Verbindung mit Artikel 7 der UN-Konvention, in dem die Gültigkeit der Menschenrechte und aller Grundfreiheiten auch für Kinder mit Behinderung festgeschrieben ist, ergibt sich ebenfalls die Pflicht, Kindertageseinrichtungen mit in den Entwicklungsprozess hin zu einem inklusiven Bildungssystem auf allen Ebenen hineinzunehmen“ (Deutsches Jugendinstitut 2013, S. 29). In der gesellschaftlichen Realität jedoch ist Inklusion in Kindertagesstätten scheinbar eine Selbstverständlichkeit, die keiner weiteren Diskussion bedarf. Wir haben dazu einige Vermutungen.
Ein anderes Ziel dieses Buches ist es, Sie dazu zu ermutigen, den Beginn mit einem neuen Kind gut vorzubereiten. Wie Sie ja selbst wissen, fühlen wir uns in einer neuen Gruppe nicht so recht wohl, wenn wir mit Skepsis und Unsicherheit empfangen werden. Stellen Sie also viele Fragen an das neue Kind, an seine Eltern, an Ihr Team und an sich selbst. Je besser Sie und Ihre Einrichtung vorbereitet sind, umso offener und herzlicher wird der Empfang des Kindes werden.
Wir sind der festen Überzeugung, dass Inklusion nie nur das Thema einzelner Personen sein kann, sondern immer ein Thema für das gesamte Team ist. Sie finden in diesem Buch viele Fallbeschreibungen aus unserem pädagogischen und therapeutischen Alltag. Hier geht es uns nicht darum, Lösungen zu präsentieren. Selten ist dies aus der Problemstellung heraus zu schaffen. Unsere Überlegungen sind Ansätze zur Diskussion, zum Beispiel im Team oder mit anderen Fachleuten. Wir möchten Sie also ermutigen, in verschiedene Richtungen zu denken und vielfältige Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.
Wir wünschen Ihnen, dass Sie in Ihrer täglichen Arbeit von diesem Buch profitieren und sich nach der Lektüre gestärkt und bereichert fühlen.
Anne Groschwald
Henning Rosenkötter
Das lateinische Wort „integratio“ bedeutet so viel wie Erneuerung oder Wiederherstellung. Im soziologischen und pädagogischen Zusammenhang sind damit Einbeziehung und Eingliederung gemeint. Das Gegenteil von Integration ist Separation (Abtrennung) und/oder Exklusion (Ausschluss).
In der (früh-)pädagogischen Praxis hat Integration zum Ziel, Kinder, die sonst ausgeschlossen wären, in ihre soziale Gruppe einzubeziehen, etwas wiederherzustellen, das durch eine Beeinträchtigung bedroht oder verloren geglaubt war. Dazu gilt es zunächst, Unterschiede zwischen „normaler“ und „gestörter“ Entwicklung wahrzunehmen und festzustellen. Die Anforderung besteht darin, Kinder, die sich nicht „normal“ entwickeln, einer Form der Behinderung oder Entwicklungsstörung zuzuordnen und für sie einen Förderplan zu erstellen. Danach ist dann das zunächst Getrennte wieder zu vereinen. Integration unterscheidet also zwischen Kindern mit und ohne Förder- und Therapiebedarf. Traditionell werden Kinder mit definierten Entwicklungsstörungen integriert: meist körperlich, geistig oder seelisch kranke oder behinderte Kinder. Im Zusammenhang mit gemeinsamer Betreuung, Bildung und Erziehung bedeutet Integration, ohne Aussonderung auszukommen.
Inklusion, vom lateinischen Wort „inclusio“ abgeleitet, bedeutet Einschluss. Der Einschluss aller Kinder in eine Gemeinschaft meint, jedes einzelne Kind gleichberechtigt an allen Tätigkeiten teilhaben und mitgestalten zu lassen – unabhängig von seinen Fähigkeiten, von seiner ethnischen, kulturellen oder sozialen Herkunft, seinem Geschlecht oder von seinem Alter. Inklusion betrachtet den Menschen als Teil der Gemeinschaft.
Inklusion begrüßt die Vielfalt aller Kinder und entscheidet nicht über einen bestimmten Platz eines Kindes in seiner sozialen Gruppe. Inklusion geht vielmehr von der Besonderheit und den individuellen Bedürfnissen eines jeden Kindes aus und verlangt den Blick auf die gesamte Persönlichkeit des Kindes. Inklusion tritt ein für das gleiche Recht aller Kinder. Der Inklusionsgedanke besagt, dass alle Kinder und ihre Erzieherinnen und Erzieher miteinander und voneinander lernen. Kein Kind soll ausgesondert werden, weil es den Anforderungen nicht entsprechen kann.
Inklusion will auch die Rahmenbedingungen an den Bedürfnissen und Besonderheiten der Kinder ausrichten. Die Strukturen haben sich den individuellen Bedürfnissen anzupassen. So entwickeln sich Bildungseinrichtungen zu einem fördernden und herausfordernden Ort für alle Kinder. Der Inklusionsgedanke wertschätzt alle Anteile eines Kindes, will Bildungsgerechtigkeit erzielen und baut somit Bildungsbarrieren ab.
Damit ist Inklusion auch ein Teil eines demokratischen Wertesystems: Es geht darum, gesellschaftliche Bedingungen der Kinder aktiv zu erfragen, Barrieren zu erkennen und Gelegenheiten zu identifizieren, die eine Ungleichbehandlung und Ausgrenzung bewirken. Das Ziel ist Gerechtigkeit.
Sich auf Inklusion einzulassen bedeutet deshalb auch, sich mit Bildungsbarrieren auseinanderzusetzen. In diesem Buch werden wir weniger auf die bildungshemmenden Einflüsse von sozialer Benachteiligung auf der gesellschaftlichen Ebene eingehen, sondern uns mit der Frage beschäftigen, welche Bedeutung diese Faktoren für das einzelne Kind haben. Damit ist impliziert, dass sich jeder von uns auch noch einmal mit der eigenen Biografie beschäftigt: Was konnten mir meine Eltern mitgeben, was nicht? Was haben sie mir geschenkt, und was macht mich stark? Welche Faktoren gab es in meinem Leben, die meine Bildungsmöglichkeiten erschwert haben?
Inklusion ist die Fortentwicklung aller Bemühungen um Integration. Sie eröffnet allen Kindern die Möglichkeit, ihr Recht auf die Erreichung ihres individuell höchstmöglichen Bildungszieles wahrzunehmen. Inklusion kann verstanden werden als ein gesellschaftliches und pädagogisches Modell, das auf bestimmten Werten beruht: auf der Anerkennung der Besonderheit eines jedes Menschen, der Mehrfachzugehörigkeit eines Menschen, der Anerkennung der Tatsache, dass bestimmte Gruppen eher gefährdet sind, Barrieren zu erfahren, als andere. Es geht demnach um die Berücksichtigung einer sozialen Vielfalt, ihrer Anerkennung und den Schutz vor Ausgrenzung, Ungleichbehandlung und Diskriminierung.
Integration bildete Gruppen, die unsere Unterstützung und unseren Schutz brauchen (z.B. behinderte Kinder, Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder mit psychischen Besonderheiten). Inklusion nimmt hingegen keine Unterteilung in Gruppen vor. Die Unterschiede aller Menschen sollen nicht als ein zu lösendes Problem, sondern als ein Teil von Vielfältigkeit (Diversity) betrachtet werden. Nicht „das Normale“ ist die Norm, sondern die Unterschiedlichkeit und die Gleichwertigkeit jedes Individuums (Albers 2011). Nicht das einzelne Kind ist gezwungen, sich an vorhandenen Normen zu beweisen, sondern die Gesellschaft soll Strukturen schaffen, die es jedem Kind ermöglichen, sich in seinen wertvollen Leistungen zeigen und entwickeln zu können.
Neben der Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt nimmt der Begriff der Partizipation in der Inklusions-Diskussion einen breiten Raum ein. Voraussetzung für eine gelungene Teilhabe ist es, zunächst die Bedürfnisse eines Kindes zu erkennen. Dazu gehören alle Bedürfnisse in der Pflege und Betreuung, in Bildung und Erziehung. Alle, die mit Kindern leben und arbeiten, sind bestrebt, die Lebenskompetenzen und die Widerstandskraft aller Kinder zu unterstützen und zu fördern. Als Lebenskompetenzen (life skills) zählt die Weltgesundheitsorganisation (WHO 1994, zitiert nach Fröhlich-Gildhoff et al. 2012) zehn Faktoren auf:
Die Lebenskompetenzen stellen wichtige Schutzfaktoren dar, die Kindern (und Erwachsenen) Sicherheit verleihen. Besonders der zehnte Faktor leitet zum Bereich der Resilienz über. Mit Resilienz ist Widerstandskraft gemeint, nämlich die Fähigkeit des Menschen, schwierige Lebenssituationen und Krisen mithilfe der eigenen Ressourcen zu meistern und daraus für das weitere Leben Erfahrung und Kraft zu schöpfen (siehe ausführlicher dazu Kapitel 5).
Kinder wie Jan werden vielleicht anfangs als ein behindertes Kind in die Einrichtung integriert. Im Laufe der Zeit wird Jan – unbemerkt und allmählich – dann als der Technik-Freak oder der Solo-Sänger gesehen. Seine körperliche Beeinträchtigung rückt aus dem Fokus. Und er hat gute Chancen, dass später alle Beteiligten in ihm ein gelungenes Beispiel für Inklusion sehen werden.
Katarina Tomasevski (2004), die frühere UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Bildung, entwickelte mit den vier „A“ eine anschauliche Systematik zur Beschreibung der Grundvoraussetzungen für Bildung:
Grundsätzlich erscheinen diese Voraussetzungen plausibel und moralisch absolut gerechtfertigt. Aber gleichzeitig werden auch Bedenken und Fragen aufgeworfen, werden diese Gedanken in die berufliche Gegenwart projiziert:
Hier beißt sich, sprichwörtlich ausgedrückt, die Katze in den Schwanz: Wie kann ich den Spagat bewältigen, alle Kinder gleich zu behandeln und wertzuschätzen ohne Ansehen der Herkunft, des Geschlechts oder des Entwicklungsstands, ohne in eine Gleichmacherei zu verfallen? Wenn die Kinder schon so unterschiedlich sind, dann kann ich ihnen doch nicht gleiche Spiel- und Lernangebote machen? Ein kognitiv schwächer entwickeltes Kind wäre damit überfordert und würde womöglich abwehrend oder scheinbar gleichgültig reagieren. Ihre Bedenken möchten wir keinesfalls abtun und werden sie in den Kapiteln 3 und 11 weiter diskutieren.
Sind die vier „A“ bei Jan verwirklicht? Aus dem Praxisbeispiel (siehe Seite 13) geht das nicht hervor. Ohne ein zusätzliches Nachdenken können seine Erzieherinnen das nicht wissen. Sie müssen sich bei allen Kindern immer wieder bewusst fragen, ob die Bedingungen gegeben sind, dass die Voraussetzungen für Bildung und Erziehung für Jan und seine Eltern verfügbar, erreichbar, annehmbar und anpassungsfähig sind.
Lassen Sie uns Inklusion noch ein wenig weiter denken: Wenn alle Kinder unterschiedlich sind und ihren Fähigkeiten und Neigungen gemäß erzogen und gebildet sein sollen, stehen Frühpädagogen vor der enormen Aufgabe eines individualisierten Zusammenlebens. Argumente wie „Wir müssen ja für alle 25 Kinder da sein“ können dann nicht mehr gelten. Wo Integration noch auf kranke und behinderte Kinder fokussiert war, soll Inklusion alle Kinder im Blick haben und keines abweisen – also auch das kleine Musikgenie fördern, den Jungen, der schon elektrische Schaltkreise baut, und denjenigen, der alle Käferarten sammelt und bestimmt, dem Kind Freiräume lassen, das unentwegt herumrennt und tobt, und das vierjährige Mädchen unterstützen, das schon ziemlich gut lesen kann.
Doch warum fällt Inklusion manchmal noch so schwer? Die defizitorientierten Gedanken sind nicht einfach aus dem Kopf zu löschen. Wir Erwachsenen haben sie so gut gelernt, dass sie automatisch einschießen und Angst und Abwehr hervorrufen, selbst wenn unser Verstand das eigentlich nicht möchte. Es hat auch keinen Zweck, darüber empört oder enttäuscht zu sein, dass sie sich nicht schnell löschen lassen, sondern erst nach und nach in den Hintergrund treten, wenn unsere Erfahrungen und Erlebnisse mit Inklusion positive Resultate gebracht haben.
Dürfen wir Sie ein wenig trösten? Das menschliche Gehirn funktioniert folgendermaßen: In Bruchteilen von Sekunden trifft es Entscheidungen, bevor sie uns bewusst werden können. Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann (2011) hat seine Erfahrungen darüber in dem Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“ zusammengefasst. Kahnemann geht davon aus, dass wir über zwei Denksysteme verfügen. Das erste System, das Schnelle Denken, erzeugt Eindrücke und Gefühle, arbeitet schnell und automatisch ohne willentliche Steuerung. Es erzeugt Intuitionen, angenehme Gefühle, repräsentiert Normen und Prototypen und erzeugt elementare Bewertungen. Das zweite System, das Langsame Denken, unterstützt System 1 und lässt Eindrücke und Gefühle zu Überzeugungen und Einstellungen werden. Das langsame System 2 tritt erst dann in Aktion, wenn ein bestimmtes Muster erkannt wird und wenn wir bewusst darauf fokussieren. In der Regel macht sich das Langsame Denken die Vorstellungen des Schnellen Denkens zu Eigen. Das bedeutet, dass wir unsere Überzeugungen häufig nicht überprüfen, sondern dem raschen Impuls der unbewussten Eindrücke gehorchen. So ist es auch bei inklusiven Aufgaben.
Ein Inklusionsproblem oder ein sichtbar behindertes Kind löst bei jedem Menschen, auch abhängig von seinen persönlichen Erlebnissen, unterschiedliche Gefühle aus, die sich unkontrolliert zu Angst und Abwehr oder zu Zuneigung, Akzeptanz und Sympathie entwickeln. Erst wenn wir uns bewusst fragen, ob diese Gefühle sich mit den moralischen Normen decken, können wir immer wieder scheinbare Widersprüche entdecken, die uns emotional hin- und herzerren. Das Bewertungssystem des Langsamen Denkens sagt uns: Heiße doch dieses Kind herzlich willkommen. Bring ihm keine Vorurteile entgegen. Es kann doch nichts dafür, dass es so ist. Du bist für alle Kinder gleichermaßen da. Am anderen Ende ruckelt das Schnelle Denken: Am liebsten würde ich „Nein“ sagen. Mir ist zum Davonlaufen. Das kann ich nie und nimmer. Das haben wir doch immer so gemacht. Ich will nicht schon wieder etwas Neues und Schwieriges.
Zu Ihrer Beruhigung: Den meisten Menschen, auch wenn sie vom Fach sind, geht es am Anfang ähnlich, bevor sie sich auf den Weg machen, Inklusion zu entdecken. Wahrscheinlich geht es auch denjenigen so, die Gesetze und Bestimmungen verfasst haben. Die ethische Grundhaltung von Zwischenmenschlichkeit erfordert Gesetze, die eine Gleichbehandlung aller Menschen einfordern. Diese Grundrechte in der pädagogischen Praxis umzusetzen steht auf einem anderen Papier. Unser Schnelles Denken warnt uns vor den Gefahren und Hindernissen, das Langsame Denken sagt: Mach es, stehe zur Inklusion, lerne Neues und mache Erfahrungen, die dich beflügeln und aus denen du gestärkt hervorgehen wirst. Dann wird sich nach und nach auch das Schnelle Denken verändern.
Weitere Beispiele sollen verdeutlichen, wie langwierig und schwierig sich dieser Erfahrungsund Lernprozess gestalten kann. Es gibt nicht wenige Kinder, die unter mehreren Gesichtspunkten hohe Anforderungen an eine Krippe oder eine Kita stellen: ein Kind mit einer leichten Entwicklungsverzögerung, dessen Eltern drogenabhängig sind, ein sehr unruhiges Kind mit Entwicklungsverzögerung und einer alkoholabhängigen Mutter, ein Kind aus einer Roma-Familie, die gerade aus Rumänien zugezogen ist, noch kein Bleiberecht hat und unter ärmsten Bedingungen lebt. Solche kombinierten Inklusionsanforderungen setzen zunächst einmal viele Gefühle aus System 1 frei: Mitleid, Abwehr bis Abscheu, Hilfsbereitschaft, Unverständnis, Angst und noch vieles mehr.
Welche Gefühle und Assoziationen löst diese Geschichte in Ihnen aus? Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie schnell sich wohl Vermutungen oder Hypothesen gebildet haben. Sicher haben Sie schon während des Lesens einige Vermutungen angestellt, warum Georg so verhaltensauffällig geworden ist. Und Sie haben unbewusst erste Lösungsversuche angedacht („Das hätte ich anders gemacht!“).
Wir möchten Sie nun dazu anregen, konkrete Überlegungen anzustellen, damit Sie verschiedene Annahmen einbeziehen und Ihre nächsten Schritte planen können. Die nächsten Schritte könnten sein: die Diskussion in Ihrem Team, die weitere Arbeit mit dem Kind, die Einbeziehung anderer Fachleute, die Planung eines Elterngesprächs. Nach einer gewissenhaften Überprüfung der Überlegungen und der Absprache im Team und mit externen Fachleuten sollten Sie die Eltern in Ihre weiteren Pläne einbeziehen.
Wichtig ist es uns, dass diese Überlegungen schon vor dem Eintritt des Kindes in die Einrichtung angestellt werden. Wir sind der Überzeugung, dass viele Probleme bei der Inklusion leichter zu lösen wären, wenn die Bedingungen und Voraussetzungen im Erstgespräch bekannt und breit diskutiert werden würden.
Neben verschiedenen Hypothesen zur Entstehung von Georgs Verhaltensauffälligkeiten ist weiter mit zu bedenken: Die Kindertagesstätte hatte gar keine Wahl. Sie musste Georg aufnehmen. Der kommunale Träger und das Jugendamt hatten darauf gedrungen. Auch die Mutter bestand auf der Aufnahme, da sie nach Anerkennung des Asylstatus eine Arbeit gefunden hatte und sich und Georg ernähren muss.
Nachdem Sie nun im Vorfeld Ihre eigenen Überlegungen und Folgerungen anstellen, erfahren Sie später in Kapitel 11 genauer, was sich daraus entwickeln kann.
Bisher haben wir in erster Linie darüber gesprochen, was Inklusion mit den Erwachsenen macht. Im nächsten Schritt begeben wir uns in die Perspektive der Kinder. Oft wird ihnen unterstellt, sie seien anderen Kindern gegenüber grausam oder verletzend ehrlich. Auf der anderen Seite wird angenommen, dass Kinder auf andere Kinder mit Handicap vorbehaltsloser, sozusagen „natürlicher“ reagieren. So scheinen Kinder die Behinderung nicht wahrzunehmen und fragen dann aber doch präzise nach, warum zum Beispiel Sven immer so zuckt oder Manuela nicht laufen lernt. Beide Beobachtungen scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen.
Der entscheidende Punkt ist: Menschen helfen gerne. Helfen hat sich in der Menschheitsgeschichte als ein evolutionärer Vorteil entwickelt, als es darum ging, sich gemeinschaftlich gegen Höhlenbären oder Dürre zu wehren oder Getreide anzubauen, Felder zu bewässern und gemeinsam zu ernten, Tiere zu zähmen und Streit zu schlichten. Helfen ist uns, umgangssprachlich ausgedrückt, „in Fleisch und Blut übergegangen“ – eine schöne Metapher dafür, dass dieser wichtige Aspekt des sozialen Lebens genetisch verwurzelt bleibt.
Wir kommen also als geborene Helfer zur Welt. Niemand weiß darüber so gut Bescheid wie der Psychologe und Anthropologe Michael Tomasello (2010), der über die Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft von Menschenaffen und Menschen geforscht hat. Möglicherweise nimmt alles seinen Anfang mit einem Lächeln. Das Lächeln, das über das Gesicht eines schlafenden Neugeborenen huscht, führt bei den Eltern zu liebevollen Blicken und einem glücklichen Gefühl. Wenige Wochen später imitiert das Baby das Lächeln seiner Eltern. Beiden, Kind und Eltern, ist dieses Verhalten buchstäblich in die Wiege gelegt. Plakativ gesagt: Eltern brauchen dieses Verhalten nicht in Volkshochschulkursen zu lernen (Pauen 2006).
Schon im Alter von 14 bis 18 Monaten helfen Kinder ohne vorherige Übung ihren erwachsenen Bezugspersonen: Sie heben heruntergefallene Gegenstände auf, sie öffnen Schranktüren, wenn die erwachsene Person keine Hand frei hat, sie beseitigen Hindernisse und korrigieren Fehler (Zimpel 2012). Bei etwas älteren Kindern (ca. 20 Monate) kann eine zusätzliche Belohnung die Hilfsbereitschaft sogar verringern. Kooperation und Hilfe gewähren schon kleine Kinder gerne umsonst. In diesem Alter können Kinder also bereits die Absichten anderer Personen erkennen und nachvollziehen. Das geht so weit, dass Kinder mit rund 18 Monaten ihr Verhalten an der Handlungsabsicht eines Partners ausrichten, dessen Handlung missglückt ist (Elsner 2014). Dreijährige Kinder fühlen sich anderen Kindern verpflichtet, wenn sie ein gemeinsames Ziel erreichen wollen. Sie sorgen dafür, dass andere Kinder bei gemeinsamen Aufgaben ihren Anteil an der Belohnung erhalten, warten sogar damit, ihre Belohnung einzuziehen, bis auch andere Kinder in diesen Genuss kommen. Anders als Menschenaffen sind Menschenkinder auch bereit, Belohnungen zu teilen. Sie finden oft untereinander Wege, um sich fast ohne Streitereien zu einigen. Manchmal kann man auch beobachten, dass kleine Kinder sich gegenseitig zur Fairness ermahnen. „Es ist vielleicht sehr zugespitzt formuliert, aber nicht übertrieben: Die gegenseitige Perspektivübernahme beim Helfen ist eine Kernkompetenz des Menschen wie für Känguruhs der Weitsprung …“ (Zimpel 2012, S. 37). In diesem Zusammenhang ist es auch müßig, darüber zu spekulieren, wie hoch der genetisch ererbte Anteil unseres Verhaltens ist und inwieweit Umwelteinflüsse und kulturelles Erbe prägend sind. Es ist in jedem Fall deutlich geworden, dass sich beide Quellen gegenseitig verstärken und die Grundlage sozialen Lernens sind: Kinder sind geborene Helfer.
Wie kann man sich dann erklären, dass Kinder dieses Verhalten untereinander oder Erwachsene in ihrer Kommunikation mit Kindern nicht zeigen? Die Antwort ist: „Eine angeborene Neigung kann (…) verkümmern. Ohne eine ermutigende und vertrauenswürdige Umgebung verlieren Kinder ihre biologische Neigung zur Einigung, zur Abstimmung der Intentionen und der Verständigung über gemeinsame Ziele. Hier sind Elternhaus und Bildungseinrichtungen gefordert: Nur das Erleben gelingender Koordinationen von kooperativen Handlungen schöpft das humane Entwicklungspotenzial Heranwachsender aus. Enttäuschtes Vertrauen ist die Hauptquelle von Lern- und Verhaltensproblemen“ (Zimpel 2012, S. 36).