Franziska Martinet
Alle Ansätze in diesem Band begründen den Bildungsauftrag der Kitas und somit die Verantwortung der pädagogischen Fachkräfte mit der Achtung der Rechte der Kinder und ihrer Fähigkeit zur selbsttätigen Aneignung der Welt (vgl. Liegle 2011, S. 3ff.). Sie stehen somit der Instrumentalisierung frühkindlicher Bildungsprozesse entgegen. In bildungspolitischen Diskussionen ist immer wieder die Tendenz zu erkennen, dass weniger die Bedürfnisse der Kinder als vielmehr die der Gesellschaft im Vordergrund stehen. „Man sieht oft den einzigen Wert des Kindes für die Menschheit in der Tatsache, dass das Kind in Zukunft ein Erwachsener sein wird“ (Montessori 1964, S. 223f.).
Das historische Erbe der verschiedenen pädagogischen Ansätze stellt die Grundlage für die Bildungspläne der Bundesländer dar. Der Bildungsauftrag des Kindergartens musste also nicht neu erfunden werden. Bildung in Deutschland ist nach wie vor Länderhoheit. Entsprechend hat jedes Bundesland sein eigenes Bildungsprogramm, seinen Bildungsplan, Orientierungsrahmen etc. Ähnlich wie schulische Lehrpläne definieren Bildungsprogramme für eine bestimmte Altersspanne außerschulische Lernfelder und beschreiben Bildungsbereiche, in denen Kinder ihre Kompetenzen erweitern und entwickeln können; es werden jedoch keine bestimmten, mess- und bewertbaren Bildungserfolge vorgeschrieben. Bildungspläne basieren auf dem Konzept des eigenständigen Bildungsauftrags der Kindertagesstätten. Für ihre pädagogischen Anregungen berufen sich die Einrichtungen auf diverse pädagogische Ansätze. Fachkräfte erhalten hier Empfehlungen, wie sie Kinder in ihrer Entwicklung und auf ihrem Lebensweg begleiten können.
Bedauerlicherweise wird jedoch in den Bildungsplänen bisweilen davon ausgegangen, dass pädagogischen Fachkräften die Aufgabe zukommt, den Kindern Kompetenzen in den verschiedenen Bildungsbereichen zu vermitteln. Dabei stellte schon Montessori (1972) fest, dass das Kind kein „leeres Gefäß [ist], das wir mit unserem Wissen angefüllt haben und das uns alles verdankt. Nein, das Kind ist der Baumeister des Menschen“ (ebd, S. 13). Auch manche Eltern haben den Anspruch an ihre Kinder, dass sie sich frühzeitig Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen, um den Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden. Ein Lernen nach festen Programmen, eine „Trichterpädagogik“ ignoriert jedoch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, nach denen Kinder auf ganz individuelle Art lernen und sich Kompetenzen aneignen, die für ihr aktuelles Zusammenleben in der Gemeinschaft nützlich sind und im weiteren Entwicklungsverlauf an neue Gegebenheiten angepasst werden (vgl Kobelt Neuhaus et al. 2018, S. 49f.).
Ein Bildungssystem, das die Kindheit als eigene Lebensform unterwandert, die Individualität der Kinder übergeht und die frühe Kindheit als entscheidende Entwicklungsphase fehlinterpretiert, missachtet die entscheidende Bedeutung des selbstwirksamen Lernens. Ganz von allein eignet sich das Kind die Welt im Spiel mit all seinen Sinnen an, wenn die dafür notwendigen Bedingungen wie achtsame Begleitung und vielfältige Anregungen vorhanden sind. Allein dies muss der Anspruch an eine kindliche Lebenswelt sein.
Liegle (2011) formuliert folgende Prinzipien der Professionalität pädagogischer Fachkräfte – unabhängig von der Konzeption:
Die Professionalität pädagogischer Fachkräfte kann und will sich also nicht an Bildungserfolgen messen lassen. Vielmehr geht es um die achtsame Begleitung kindlicher Entwicklung entsprechend den ganz eigenen, individuellen Bedürfnissen jedes Kindes.
Eine Bildungspolitik, die sich auf die Utopie und das Engagement der pädagogischen Fachkräfte verlässt, ohne jedoch die notwendige Wertschätzung und Anerkennung zum Ausdruck zu bringen, wird die Misere des Bildungssystems nicht lösen.
Brockschnieder, F.-J. (2017): Reggio-Pädagogik in der Kita (3. Aufl.). Freiburg im Breisgau: Herder.
Fthenakis, W. & Textor, M. (Hrsg.) (2000): Pädagogische Ansätze im Kindergarten. In: Das Jahrbuch der Frühpädagogik und Kindheitsforschung. Teil 3.
Gopnik, A.; Meltzoff, A. & Kuhl, P.K. (2001): How Babies Think: The Science of Childhood. London: W&N.
Kobelt Neuhaus, D.; Macha, K. & Pesch, L. (2018): Der Situationsansatz in der Kita. Freiburg im Breisgau: Herder.
Landesverband katholischer Kindertagesstätten (Hrsg.) (2014): Pädagogische Ansätze und Handlungskonzepte. Tacheles Expertise Juni 2014, Stuttgart. Online unter: www.lvkita.de/media/files/Arbeitshilfen/LV-P-d-Ans-tze-RZ-K4-03-15.pdf [letzter Zugriff: 01.07.2020].
Liegle, S. (2011): Pädagogische Konzepte und Bildungspläne. In: C. Küstner: Pädagogische Handlungskonzepte von Fröbel bis zum Situationsansatz. kindergarten heute. Wissen kompakt.
Miklitz, I. (2019): Naturraum-Pädagogik in der Kita. Freiburg im Breisgau: Herder.
Montessori, M. (1972): Das kreative Kind. Freiburg im Breisgau: Herder.
Regel, G. & Ahrens, S. (2016): Offene Arbeit in der Kita (3. Aufl.). Freiburg: Herder.
Saßmannshausen, W. (2015): Waldorf-Pädagogik im Kindergarten (3. Aufl.). Freiburg m Breisgau: Herder.
Steenberg, U. (2015): Montessori-Pädagogik in der Kita (3. Aufl.). Freiburg im Breisgau: Herder.
Ulrich Steenberg
Montessori-Pädagogik ist in Deutschland flächendeckend angekommen. Das schien vor rund 30 Jahren noch nicht möglich. In Deutschland gibt es heute über 1.000 Montessori-Einrichtungen. Die meisten sind Kinderhäuser, aber auch Grundschulen, Sekundarschulen, Gesamtschulen, Gymnasien oder Fachschulen gehören dazu.
Wir haben es hier mit einem pädagogischen Konzept für alle Altersstufen zu tun. Montessori-Pädagogik ist ein Konzept, das seit über hundert Jahren weltweit erfolgreich ist, in optimaler Weise die Fähigkeiten eines jeden einzelnen Kindes zu entdecken hilft und aus diesen Fähigkeiten schließlich persönlichkeitsbildende Realitäten hervorbringen kann.
Das Geniale der Montessori-Pädagogik ist ihre Einfachheit. Und diese Einfachheit zu entdecken und für sich wirksam werden zu lassen – ganz gleich, ob in der Familie, in der Ausbildung zum Erzieherberuf, in der Kita-Praxis, im Pädagogik-Studium oder im Lehrberuf – ist Ziel dieses Kapitels.
Am 31. August 1870 wird Maria Montessori als einziges Kind des Finanzbeamten Alessandro Montessori und seiner Frau Renilde in Chiaravalle bei Ancona/Italien geboren. Nach dem Besuch der sechsjährigen Grundschule (1876–1883) setzt sie es durch, dass sie die naturwissenschaftlich-technische Sekundarschule (1883–1890) besuchen darf. Gegen den Willen zumindest ihres Vaters hat Maria Montessori es schließlich erreicht, als erste Frau Italiens von 1892 bis 1896 ein Medizinstudium zu absolvieren, das sie am 10. Juli 1896 erfolgreich mit der Promotion abschließt. Diese Tatsache erregt international Aufsehen.
Ein Schlüsselerlebnis in einer sogenannten Heilanstalt lässt sie nach neuen Wegen für die pädagogische Arbeit mit geistig Behinderten suchen. Im Jahr 1900 wird sie zur Leitern eines pädagogischen Instituts zur Ausbildung von Lehrern für behinderte Kinder berufen. Dort wird es ihr ermöglicht, ihre eigene Methode zur Erziehung und Unterrichtung geistig behinderter Kinder weiterzugeben.
Nach der Geburt ihres Sohnes Mario entschließt sich Maria Montessori im Jahr 1902, sich vertieft dem Studium der Pädagogik zu widmen.
Am 6. Januar 1907 eröffnet Maria Montessori das erste „casa dei bambini“ im römischen Proletarierviertel San Lorenzo. Die überraschenden pädagogischen Erfolge, die sie bei ihrer Arbeit mit geistig Behinderten verzeichnen konnte, wiederholen sich mit diesen Kindern aus sozial schwachen Familien.
In der Folge gibt sie ihre Erkenntnisse in Ausbildungskursen national und, nach weiteren großen Erfolgen, auch international weiter; ihr erster Kurs findet im Jahr 1909 statt. Gleichzeitig veröffentlicht sie ihre wesentlichen Grundgedanken.
Im Jahr 1911 gibt Maria Montessori ihre private Arztpraxis auf, um sich ausschließlich der internationalen Verbreitung ihrer Pädagogik zu widmen. Es folgen von großen Erfolgen begleitete Reisen in die Vereinigten Staaten. Im Jahr 1916 siedelt sie nach Barcelona über, um dort ein Haus der Kinder, die in der Kirche leben, zu gründen und pädagogisch zu betreuen.
Verschiedene Reisen führen Maria Montessori nach England, in die Niederlande, durch Italien, nach Deutschland, nach Frankreich. Parallel dazu finden ihre internationalen und nationalen Ausbildungskurse statt.
Weltweit werden nun Montessori-Kinderhäuser und Montessori-Schulen gegründet. Schließlich erstreckt sich der Einflussbereich der Montessori-Pädagogik, von Europa ausgehend, über die Vereinigten Staaten bis nach Indien und Japan.
Die unermüdlich reisende und tätige Maria Montessori kämpft in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zunehmend für die Erhaltung des Friedens. In engagierten Vorträgen macht sie deutlich, in welchem Maße Frieden und Erziehung zusammenhängen.
Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland und dem Sieg der Faschisten in Spanien wird ihr bisheriges Werk in fast ganz Europa zerstört. Maria Montessori muss aus Barcelona fliehen und nimmt 1936 Wohnsitz in Amsterdam. Dort allerdings, wo sich Montessori-Pädagogik dem totalitären Zugriff entziehen kann, denn auch in der Sowjetunion ist Montessori-Pädagogik bald vernichtet, blüht sie weiter. Im Jahr 1939 verlässt Maria Montessori Europa und lebt mit ihrem Sohn Mario bis 1946 in Indien, wo sie die indische Montessori-Bewegung aufbaut.
Als Maria Montessori im Jahr 1946 und später noch einmal, nach einer weiteren Reise nach Indien, im Jahr 1948 nach Europa zurückkehrt, scheint ihr Lebenswerk in diesem kriegszerstörten Erdteil nahezu vernichtet. Unermüdlich reisend, Kurse und zahlreiche Vorträge haltend, kann die nahezu Achtzigjährige zumindest in den Niederlanden, zunehmend aber auch im übrigen Europa, eine Wiederbelebung ihres Lebenswerkes erfahren.
Am 6. Mai 1952 stirbt Maria Montessori überraschend in Nordwijk aan Zee in den Niederlanden. Dort findet sich auch ihr Grab.
„Die Kinder sind es, die mich alles gelehrt haben.“ Dieses Montessori-Zitat ist auf den ersten Blick überraschend. Viele pädagogische Entwürfe (mit dem Begriff Konzeptionen oder Konzepte sollte man eher behutsam umgehen) sind, ohne es abfällig zu meinen, eher Schreibtischprodukte und beruhen vornehmlich auf sogenannten Erkenntnissen aus der Perspektive der Erwachsenen. Montessori-Pädagogik setzt völlig anders an: Sie geht konsequent von dem aus, was zu beobachten ist; ihr Ansatzpunkt ist eine wissenschaftliche, naturwissenschaftliche Beobachtung.
Der Montessori-Weg der „Entdeckung des Kindes“ ist durchaus anspruchsvoll. Er verlangt nämlich vom Pädagogen nichts weniger als den sogenannten Perspektivwechsel. Oft kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass kluge Köpfe sich Konzepte für Kinder ausgedacht haben und dann alles daransetzen, die Kinder „konzeptkompatibel“ zu machen. Doch diese Denkweise ist ein Irrtum. Und deswegen ist die Halbwertszeit mancher sogenannter pädagogischer Konzeptionen auch eher gering, denn es erweist sich, dass sie zu wenig konsequent von den Kindern ausgehen, sondern eher von der erwachsenen Vorstellung, wie Kindheit zu sein habe. Es geht nicht darum, mithilfe von möglichst perfekt ausgedachten Plänen möglichst perfekte Kinder zu erziehen. Die Forderung lautet vielmehr: Der Erwachsene muss sich in dem Maße zurücknehmen, wie das Kind an Fähigkeiten gewinnt, und die Realität des Kindes aus dessen Perspektive wahrnehmen – und nicht aus der seinen.
Zahlreiche bedeutsame Impulse für pädagogische Neuerungen stammen erstaunlicherweise von Naturwissenschaftlern, insbesondere von Medizinern. Hier sind zum Beispiel der polnische Kinderarzt, Schriftsteller und Pädagoge Janusz Korczak, die Budapester Ärztin Emmi Pikler oder eben Maria Montessori zu nennen. Sie alle verbindet ein starker, naturwissenschaftlich orientierter Ansatz zu Fragen der Bildung und Erziehung.
„Im Unterschied zur Medizin, wo in Kliniken und Labors jede geringste isolierte Erscheinung zum mehrjährigen Forschungsobjekt wird, zeichnet sich die Pädagogik durch die Leichtfertigkeit und Schnelligkeit endgültiger Urteile aus“ (Korczak, zit. n. Dauzenroth 1989, S. 60).
Wenn Mediziner eines sehr konsequent und nachhaltig gelernt haben, dann ist das der medizinische Dreischritt: Anamnese – Diagnose – Therapie. Diesen Dreischritt übertragen sie auch und adaptieren ihn für die pädagogische Praxis. Dabei ist der erste Schritt der bedeutsamste: die wert- und vorurteilsfreie Wahrnehmung dessen, was ist. So wird gefordert: „Sehen – oder als Erzieher scheitern“ (ebd., S. 64).
Und genau das ist es, was auch Maria Montessori von jedem Pädagogen verlangt: die Fähigkeit, immer wieder und genau die konkrete Situation eines Kindes wahrnehmen zu können, ohne zu deuten. Man könnte auch sagen: Montessori fordert eine pädagogisch orientierte Anamnese. Doch das geht nicht so leichthin. Insofern muss die Qualifikation zur professionellen Wahrnehmung eine intensiv geübte Fähigkeit werden, die jeden angehenden Pädagogen in besonderer Weise auszeichnet. Wahrnehmen und nicht werten – das ist eine große Herausforderung, zumal Pädagoginnen und Pädagogen sich manchmal auch dabei ertappen, in eine Situation eher mit dem Gefühl und weniger mit professioneller Distanz hineinzugehen.
Auf eine pädagogische Anamnese folgt nun die pädagogische Diagnose. Einfach formuliert, ist das der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was ist mit dem Kind aktuell los? Was ist für seine Entwicklung aktuell notwendig? Vor welchen Herausforderungen steht dieses Kind? Und welche Herausforderungen mute ich dem Kind zu?
Wie in der Medizin jeder Patient eine individuelle Antwort auf seine konkrete Situation erwarten darf, gilt dies auch für die Arbeit mit Kindern. Jedes Kind hat ein Recht auf seine eigene pädagogische Antwort – und zwar in Bezug auf die Lebenssituation, in der es sich aktuell befindet.
Dabei sollte sich der Pädagoge jedoch im Klaren darüber sein, dass seine pädagogischen Diagnosen über ein Kind fehlerbehaftet sein können. Erzieherisches Handeln muss immer unter dem Vorbehalt der Vermutung und der Annahme stehen, dabei getragen von der Hoffnung, das Richtige und Wichtige erkannt zu haben, um das Notwendige tun zu können. Wenn Pädagoginnen und Pädagogen eine Aussage darüber wagen, was mit einem Kind „los“ ist, sollten sie sehr vorsichtig dabei vorgehen – eingedenk der Tatsache, dass sie sich durchaus geirrt haben könnten.
Montessori-Pädagogik steht immer unter einem Erkenntnisvorbehalt, weil sie sich radikal und konsequent am Kind orientiert. Und aus dieser Perspektive nähert sie sich behutsam dem dritten Schritt: der Therapie. Wenn ein Mediziner therapiert, kann er in der Regel recht schnell erkennen, ob er richtig diagnostiziert hat. Beim erzieherischen Handeln ist dies ungleich schwieriger. Pädagogen dürfen sich keine Illusionen über den Erfolg ihrer Bemühungen machen. Pädagogisch gewendet, ist es wohl besser, statt von Therapie von einem „illusionslosen Handeln“ zu sprechen.
Montessori ist sich der zahlreichen Fehlerquellen erzieherischen Handelns durchaus bewusst. Deswegen ist es von höchster Bedeutung, im Nachgang zur unermüdlichen Beobachtung, die ja Voraussetzung für eine Bedürfnisanalyse ist, trotz aller Bemühung „illusionslos“ zu handeln. Kindliche Launenhaftigkeit zum Beispiel sieht Montessori-Pädagogik in diesem Zusammenhang nicht als ein primäres Problem des Kindes, sondern eher als Anlass für den Pädagogen, darüber nachzudenken, ob dem Kind nicht vielleicht eine angemessen intellektuelle und/oder physisch herausfordernde Umgebung fehlt. In der Konsequenz sind materielle und vor allem personale Bedingungen zu schaffen, die dem Kind helfen, seine Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen.
Montessori verlangt deshalb eine „vorbereitete Umgebung“. Sie selbst hat ihre Praxis stets ausgehend von den neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verschiedenster Disziplinen befragt. Dieser interdisziplinäre Ansatz der Montessori-Pädagogik gilt auch heute noch. Die Erkenntnisse der Humangenetik, der Neurologie, Psychologie, der Verhaltensbiologie, die zahlreichen Erfahrungen der Pädiater – all das und noch mehr fließen in die Diskussion ein und tragen zur kontinuierlichen Weiterentwicklung der Montessori-Pädagogik bei. Deswegen kann man ohne Weiteres sagen: Montessori-Pädagogik vertritt nicht eine Dogmatik, sondern ist entwicklungsoffen und zukunftsorientiert.
Viele Eltern tragen einen Entwurf von der Zukunft ihres Kindes in sich. Und was tun sie nicht alles, um diesen Entwurf Wirklichkeit werden zu lassen. Oft sind sie dann enttäuscht, wenn das Kind sich ganz anders entwickelt, obwohl sie doch nur das Beste für ihr Kind wollten. Das Erste, was Montessori von allen, die es mit Kindern zu tun haben, verlangt, besteht darin, sich von diesem Machbarkeitswahn und allen Machtansprüchen zu verabschieden.
„Das Kind ist nicht ein leeres Gefäß, das wir mit unserem Wissen angefüllt haben und das uns alles verdankt. Nein, das Kind ist der Baumeister des Menschen“ (Montessori 1972, S. 13).
Wenn Montessori hier vom „Bauen“ spricht, so ist damit das genetische Potenzial eines jeden Menschen gemeint. Damit die darin liegenden Möglichkeiten zur Entfaltung kommen, bedarf es einer aktiven Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt. Der genetische Code ist kein fertiges Wachstumsprogramm, erst recht kein Bildungsprogramm, vielmehr geht es darum, die im Kind angelegten Potenzialitäten zu aktivieren.
Montessori fordert direkt und indirekt auf, alles, was den Erwachsenen den Weg zum Kind verbauen könnte, beiseite zu stellen – insbesondere jene Vorurteile, welche die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kind so häufig prägen:
„Diese Vorurteile sind so allgemein, dass es schwierig ist, sie als solche zu erkennen. Sie vermischen sich mit dem deutlichen Zeugnis der Tatsachen, denn jeder oder fast jeder hat nur das bekannte Kind gesehen, nicht das unbekannte“ (Montessori 1966, S. 62).
Darum fordert Montessori von den Erwachsenen ganz schlicht und klar den Mut zur „Entdeckung des Kindes“ (vgl. Montessori 2010a). Sie geht konsequent von dem aus, was man über das Kind weiß, und nicht davon, wie man das Kind gerne hätte.
Maßstab ist der jeweilige Erkenntnisstand der Humanwissenschaften, vor dem jede Praxis der Montessori-Pädagogik zu bestehen hat. Daraus folgt für Montessori, positiv zu beschreiben, was eigentlich Sinn und Aufgabe der Kindheit ist (im Unterschied zum Erwachsensein), und die Forderung, demgemäß – also kindgemäß – verantwortlich pädagogisch zu handeln.
Ist Montessori-Pädagogik also nur naturwissenschaftlich ausgerichtet und weltanschaulich neutral? Selbstverständlich wohnt der Montessori-Pädagogik auch ein Welt- und Menschenbild inne.
Für Maria Montessori ist der Mensch mit einer (von Gott gegebenen) unveräußerlichen Würde ausgestattet, die in jeder Lebensphase unantastbar bleiben muss. Diese Menschenwürde muss gelebt werden dürfen. Weil es jeden Menschen nur einmal in dieser Weise in der Geschichte der Menschheit gibt, gibt es für jeden Einzelnen auch nur seinen persönlichen Weg, um sinnvoll zu leben, ein Individuum zu sein, seine Personalität zu entfalten.
Daraus erschließt sich der Sinn von Kindheit. Dieser besteht darin, dem Kind zu ermöglichen, eine autonome Personalität aufzubauen und zu entwickeln – also ein Mensch zu werden, der seine Fähigkeiten leben darf und kann, der dies in Freiheit tut, der dabei verantwortlich zu handeln gelernt hat –, sich selbst gegenüber, den anderen Menschen gegenüber und gegenüber der Umwelt.
Dafür sind Bedingungen zu schaffen. Und diese Bedingungen richten sich vor allen Dingen an die Menschen, welche für die Persönlichkeitsbildung des Kindes entscheidende Verantwortung tragen.
In der Montessori-Pädagogik liegen Weg und Ziel nahe beieinander. Wird als Ziel genannt, dass die Kinder dazu befähigt werden, verantwortlich mit der Freiheit umgehen zu lernen und dies auch zu können, so ist damit auch der Weg aufgezeigt: die Einübung in den selbstverantwortlichen Umgang mit Freiheit.
Aber wie soll das gehen? Muss denn nicht alles im Chaos enden, wenn jeder tun und lassen könnte, was er will? Eine Anekdote aus einer Montessori-Schule liefert die passende Antwort: Fragt der Besucher einen Schüler: „Ihr dürft hier also tun, was ihr wollt?“ Der Schüler denkt einen Augenblick nach und erwidert: „Nein, wir tun nicht einfach was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“
„Während meines ganzen Lebens habe ich die Notwendigkeit der Freiheit der Wahl, der Selbstständigkeit des Denkens und der menschlichen Würde proklamiert. Jedenfalls bin ich der Meinung, dass eine wahre und innere Freiheit nicht gegeben werden kann; sie kann nicht einmal erobert werden; sie kann deshalb nur jeder in sich selbst aufbauen als Teil der Persönlichkeit, und sie kann deshalb dann auch nicht verloren werden. Seit den Anfängen meiner Erzieherlaufbahn habe ich Bedingungen der Freiheit für die Kinder empfohlen und eingerichtet, die freie Wahl war das erste der Vorrechte in meinem Erziehungskonzept. (…) Die Freiheit der Wahl führt zur Würde des Menschen. (…) Solange die Erziehung fortfährt, den Leitlinien einer erzwungenen Unterwerfung zu folgen, werden die gegenwärtigen Bedingungen bestehen bleiben: Die Menschheit wird sich weiterhin aus vielen Menschen zusammensetzen, die von Freiheit sprechen, aber aus sehr wenigen freien Menschen“ (Montessori 1985, S. 122f.).
Damit befinden wir uns im Kern der Montessori-Pädagogik. Dieses Zitat – verfasst von Montessori kurz vor ihrem Tod – benennt die Grundzusammenhänge ihres Verständnisses von Freiheit und der daraus abzuleitenden pädagogischen Praxis, wenn man so will, die Quelle des Erfolgs der Montessori-Pädagogik:
Die Montessori-Pädagogik bietet ein Übungsfeld der Freiheit, das sich an den Möglichkeiten des einzelnen Kindes orientiert. Dieses Übungsfeld wird jeden Tag gelebt und erlebt:
Diese Grundannahmen gelten natürlich immer gemäß dem Alter und den jeweiligen Fähigkeiten des Kindes. Es versteht sich, dass auch in der Montessori-Krippe dem Kind eine freie Entscheidung zugemutet wird, die Begleitung durch die pädagogische Fachkraft aber eine andere sein wird als zum Beispiel in der Sekundarstufe eines Gymnasiums. Aber immer gilt: Das Kind steht jeden Tag in einer Entscheidungssituation, und in dieser Entscheidungssituation gilt es, selbstverantwortliches Handeln einzuüben. Hier sind drei Verantwortungsfelder zu erkennen:
„Die Freiheit muss aufgebaut werden“, fordert Montessori. Pädagogen in Montessori-Einrichtungen versuchen, konsequent mit den Kindern den Weg der Einübung in eine verantwortete Freiheit zu gehen. Das ist gewiss nicht immer leicht. Die Freiheitsfähigkeit von „Montessori-Kindern“ erscheint aber nur jenen lästig, vielleicht sogar bedrohlich, die sich anmaßen, für andere definieren zu wollen, was richtig und was gut ist. Montessori-Pädagogik fordert und ermöglicht Selbstverantwortung und nimmt dabei auf überzeugende Weise die Bedürfnisse des Einzelnen wie der ganzen Gruppe wahr.
Maria Montessori war nicht die Erste, welche die ausdauernde Konzentrationsfähigkeit eines Kindes entdeckt und deren persönlichkeitsbildende Bedeutung erkannt hat. Aber sie war die Erste, die daraus nachhaltige pädagogische Konsequenzen zog, sodass man heute mit Blick auf ihre Entdeckung vom „Montessori-Phänomen“ spricht:
Was hat Maria Montessori gesehen? Ein Kind wird so eins mit seiner Tätigkeit, dass es sich an die Dinge, an sein Spiel, an seine Arbeit ganz verliert. Zeit und Umgebung scheinen vergessen. Störungen von außen werden nicht wahrgenommen. Das Kind handelt aktiv und ist gleichzeitig in seine Tätigkeit fast meditativ versunken.
In dieser Polarisation der Aufmerksamkeit wächst und reift das Kind. Es wächst zu einer unverwechselbaren, stimmigen Persönlichkeit und gewinnt dadurch Individualität, Charakter, Kompetenz. Das ist Montessoris zentrale Erkenntnis.
Man mag sich vielleicht über den von Montessori in diesem Zusammenhang und immer wieder verwendeten Begriff „Arbeit“ für das, was das Kind doch so spielerisch tut, wundern. Montessori wehrt sich dagegen, kindliche Tätigkeit, von Erwachsenen als Spiel kategorisiert, als nicht wirklich Ernstzunehmendes („Die spielen da doch bloß“) abzutun. Also verwendet sie den Begriff der Arbeit („Freiarbeit“). Und sie macht deutlich, dass diese Form von Arbeit als frei gewählter Weg der Persönlichkeitsbildung durchaus gleichwertig ist mit der Erwerbsarbeit der Erwachsenen.
Für Montessori ist die Polarisation der Aufmerksamkeit also weit mehr als nur ein kognitiver und emotionaler Prozess zur Steigerung des Aufnahmevermögens. Es handelt sich dabei vielmehr um die Grundlage eines persönlichkeitsbildenden Ineinander und Zueinander von Leib und Geist, um einen ganzheitlichen, kindgemäßen Bildungsvorgang.
Das konzentrierte („polarisierte“) Kind wird alle seine Möglichkeiten in großem Umfang ausschöpfen können, dabei die Erfahrung machen, es selbst zu schaffen, und zufrieden, gewissermaßen aus der Situation heraus gewachsen, seinen Bildungsprozess in eigener Verantwortung steuern lernen.
Mutet das von Montessori beschriebene kindliche Handeln auch spielerisch an, vollzieht sich tatsächlich in der Polarisation der Aufmerksamkeit ein hochkomplexer, lebensbedeutsamer Prozess, den man als Erwachsener nur staunend und dankbar begleiten kann, indem man ihm optimale Vorbedingungen schafft.
Die entscheidende Vorgabe für die Erwachsenen besteht darin, das Eintreten einer Polarisation der Aufmerksamkeit genau zu beobachten. Aus dieser professionellen und gezielten Beobachtung heraus lassen sich dann die Bedingungen beschreiben, die erfüllt werden müssen, um die Konzentrations- oder Polarisationserfahrung nicht dem Zufall zu überlassen, sondern zu einem Wesensmerkmal eines pädagogischen Konzeptes zu machen – der Montessori-Pädagogik.
Kindliche Entwicklung vollzieht sich in Phasen, manchmal gar in Schüben. Das ist Erfahrung. Den Begriff und die Eigenart von sogenannten sensiblen Phasen (auch: sensibel-sensitive Perioden) hat wohl als Erste Maria Montessori in ihrer pädagogischen Bedeutung erkannt, beschrieben und didaktische wie methodische Konsequenzen daraus abgeleitet.
Für Montessori gibt es Phasen, in denen nahezu mühelos bestimmte Lernerfahrungen möglich sind. Diese Zeiträume müssen vom Pädagogen erkannt und für das Kind nutzbar gemacht werden, damit es eine optimale Entwicklung erfahren kann. Sensible Phasen sind nicht wiederholbar. Was einstmals anscheinend so leicht möglich war, bedarf später großer Anstrengung. Jeder von uns weiß, welcher Mühe es zum Beispiel bedarf, eine Fremdsprache zu erlernen; als wir unsere Muttersprache erlernten, gelang dies dagegen mühelos.
Es ist also für einen pädagogischen Prozess unabdingbar, diese sensiblen Phasen zu kennen. In der Konsequenz müssen diese „Reifeangebote der Natur“ ein- und angebunden werden an entsprechende pädagogische Szenarien – sei es Zuhause, sei es in der Kinderkrippe, im Kindergarten oder später in der Schule.
Das Besondere an der Montessori-Pädagogik ist, dass sie die Gesamtentwicklung des Kindes von der Geburt bis zum Erwachsenwerden in den Blick nimmt. Montessori spricht in diesem Zusammenhang von einem „Lebensrhythmus“, der sich in vier aufeinanderfolgenden Phasen von rund jeweils sechs Jahren ereigne. Mit diesen „Stufen der Entwicklung“ sind stets besondere Sensibilitäten verbunden. Diese „Sensibilitäten“ muss man ergründen und kennen, um eine ihnen gemäße „vorbereitete Umgebung“ (siehe Seite 34f.) zu schaffen. Eben dies ist eine der großen Leistungen der Montessori-Pädagogik: Aus ihrer Kenntnis der sensiblen Phasen – ergänzt und vertieft durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse – entwickelt sie ein „System der Institutionen“ (von der Montessori-Krippe bis hin zum Montessori-Gymnasium), dessen Qualitätskriterium immer messbar ist an dem Eintreten des Montessori-Phänomens.
Es ist also der Familie und den Pädagogen in Einrichtungen aufgegeben, aus der Kenntnis der sensiblen Perioden heraus eine vorbereitete Umgebung zu schaffen, welche Polarisation der Aufmerksamkeit ermöglicht. Das bringt ein völlig neues Bild der Erzieherin/Lehrerin und ihrer Aufgaben mit sich (siehe Seite 35ff.).
In dieser formativen, schöpferisch-konstruktiven Lebensphase entsteht das Grundgerüst von Individualität, Charakter und Personalität.
Im übertragenen Sinne beginnt – so sieht es Montessori – für das Kind eine zweite Embryonalzeit: War das Kind vorgeburtlich ein physischer, so ist es nachgeburtlich ein psychischer Embryo, der mit all seinen Fähigkeiten seine Umgebung gleichsam aufsaugt – Montessori sagt dazu „absorbiert“ –, sich auf diese Weise die Welt aneignet. War bis zur Geburt der Mutterleib eine optimal „vorbereitete Umgebung“, so wird es jetzt die Familie oder – je nach Bedarf – die Montessori-Kinderkrippe.
Die heutigen Erkenntnisse aus Biologie, vergleichender Verhaltensforschung und den Neurowissenschaften bestätigen, was Montessori möglicherweise eher erahnte als wissenschaftlich beweisen konnte: Die Geburtserfahrung, die postnatale Zeit, das erste Lebensjahr sind nicht nur psychisch von existenzieller Bedeutung in dem Sinne, dass Kinder während dieser Zeit Urvertrauen, Selbstvertrauen und Welt-Vertrauen aufbauen. Auch die physische Entwicklung ist bedeutsam. Die äußeren Einwirkungen und Anregungen, die ein Säugling während dieser Zeit erfährt, hinterlassen Spuren im Gehirn, sogenannte Engramme. Während der ersten Lebensmonate differenziert das Gehirn seine Struktur, jede neue Erfahrung wird auf bestimmte Weise gespeichert und mit anderen Erfahrungen neuronal verknüpft. Diese Grundstruktur ist später kaum wesentlich veränderbar.
Lern- und Bildungsprozesse beginnen also spätestens mit der Geburt. Das hat Maria Montessori schon früh erkannt, und daher ist für sie auch eine kompetente Begleitung der ersten drei Lebensjahre von herausragender Bedeutung. Montessori-Pädagogik geht für die ersten drei Jahre von folgenden Sensibilitäten aus:
Ein wesentliches Merkmal der ersten drei Lebensjahre ist die Sensibilität für Ordnung. Die Welt muss für das Kind erkennbar geordnet und zuverlässig sein. Das hat Konsequenzen:
Eine äußere Ordnung ist Voraussetzung für eine innere (psychische) Ordnung. Die von Montessori stets geforderte Zuverlässigkeit in der Umgebung und in der Beziehung schafft für das Kind Anregung und Ermutigung zum Handeln. Dadurch wächst in ihm das Bewusstsein, dass es zwischen den Dingen und zwischen den Menschen Beziehungen gibt, die unmittelbar auch seine Beziehungen sind. Auf diese Weise entwickeln sich Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen.
Wie oft verteidigen Erwachsene ihre Wohnungseinrichtung gegen die eigenen Kinder. Sie sollen keinen Schaden anrichten. Was das für die Psyche des Kindes und seine Bewegungslust bedeutet, das ahnen die Erwachsenen nicht.
Bewegung und Psyche stehen in einem untrennbaren Wechselverhältnis. Montessori macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass dieses Wechselverhältnis, dieses Ineinander und Zueinander von körperlicher Bewegungsmöglichkeit und psychischem Wohlbefinden, ganz wesentlich ist für den Aufbau einer stabilen Persönlichkeit. Intellektuelle und kognitive Entwicklung, sie haben psychomotorische Fundamente – und umgekehrt. Und diese Fundamente werden in den ersten drei Lebensjahren gelegt.
Montessoris Anliegen ist es daher, die seelische Ausgewogenheit des Kindes planvoll und bewusst zu ermöglichen. Dazu nimmt sie Eltern und Pädagogen in die Pflicht. Sie müssen dem kindlichen Bedürfnis nach Bewegung entgegenkommen und ihm die Freiheit des Ausdrucks ermöglichen. Ein Wohnraum muss auch ein Bewegungsraum sein dürfen (vgl. Pikler 2001).
Wer weiß, dass das erste Lebensjahr von entscheidender Bedeutung für den Sprachaufbau ist, wird angesichts dieses Beispiels und der anfänglichen Sorglosigkeit der Erwachsenen nachdenklich werden. Noch bevor das Kind die erste Silbe artikuliert, hat es überaus intensiv alle Geräusche um sich herum wahrgenommen. Diese Wahrnehmung beginnt bereits im Mutterleib und hinterlässt bedeutsame Spuren im kindlichen Gehirn (vgl. Butzkamm & Butzkamm 1999). Montessori vergleicht den Spracherwerb mit der (damals üblichen) Kunst der Fotografie:
„Im Dunkeln wird fixiert, und dann kann das Bild endlich ans Licht kommen und ist unveränderlich. Dasselbe geschieht beim psychischen Mechanismus der Sprache des Kindes. Er beginnt in der Dunkelheit des Unbewussten zu wirken, dort entwickelt er sich, fixiert sich, und dann offenbart er sich (Montessori 1972, S. 104).
Es ist also nicht gleichgültig, in welcher Geräusch- und Klangwelt das Neugeborene, der Säugling und das Kleinkind heranwachsen. Eindringlich fordert Montessori die Erwachsenen auf, behutsam und verantwortungsvoll mit dieser Geräuschumgebung umzugehen und sie, den Bedürfnissen des Kindes entsprechend, zu gestalten. Mag der Säugling auch noch nicht sprechen, noch nicht einmal lallen, vernimmt er doch alles um sich herum, verarbeitet es und baut elementare Sprachstrukturen auf. Sehr bald kommen die Tage des Lallens, der ersten Silbe, ihrer Verdoppelung, des ersten Wortes, des Einwortsatzes – bis hin zu dem, was Montessori „Explosion der Worte“ und später „Explosion der Sätze“ nennt (ebd., S. 100).
Die „Klangwelt Mutterleib“ (vgl. Tomatis 1999) ist behutsam, differenziert und kompetent schrittweise zu erweitern auf eine Klangwelt für die Kinderkrippe und den Kindergarten. Sprachkompetenz ist heute ein zentrales Kriterium für die Beschreibung kindlicher Qualifikation, zudem ein wichtiges Kriterium für soziale Integration, und ist, soweit irgend möglich, auch im Bereich der Inklusion bedeutsam. Die vorbereitete Umgebung im Sinne Montessoris wird dem entsprechen (siehe Seite 34f.).
Diese Sensibilitäten der ersten Lebensjahre sind auch für die primäre Sozialisation konstitutiv. Das Kind wird „vom unbewussten Schöpfer zum bewussten Arbeiter“ (Montessori 1972, S. 148). Die Sensibilitäten für Sprache, Ordnung und Bewegung dauern auch im Kindergartenalter fort, wenn auch mit verminderter Intensität.
Das Kind gleicht – so beschreibt es Montessori in einem Bild – einem Erben, der eine Fülle von Schätzen sein Eigen nennen kann, nunmehr aber die Aufgabe hat, diese Schätze zu ordnen. Es geht für das Kind darum, die Beziehung der Dinge zu sich selbst und zu den anderen Menschen zu erfahren und auch herzustellen. Dann kann es in gewissem Sinne auch bewerten und mit seinen Fähigkeiten angemessen umgehen.
Im Kindergartenalter offenbaren sich schöpferischer Geist und Bewusstsein zunehmend. Das Kind erweitert zielstrebig seinen Aktionsradius, geht fragend, forschend und bisweilen auch fordernd auf die Dinge zu, um sie für sich zu entdecken und verfügbar zu machen. Gleichzeitig erprobt es seine Beziehungen zu anderen Menschen, nimmt Kontakt auf und bricht diesen wieder ab, sucht die Gruppe und dann wieder das Alleinsein. „Freundschaften“ werden geschlossen – sie gelten heute, morgen aber vielleicht nicht mehr.
Montessori spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kohäsionsgesellschaft“, der ein unbewusstes Zusammengehörigkeitsgefühl zugrunde liegt. Der Kindergarten wird dem gerecht, indem er eine „vorbereitete Umgebung“ zur Verfügung stellt, welche soziale Interaktion verlangt und strukturiert (siehe Seite 34f.). Diese geplant-strukturierte Kultur des sozialen Miteinanders ist Voraussetzung für den Erfolg der Inklusivität von Montessori-Einrichtungen.
Mit dem Zeitpunkt der Einschulung – Montessori plädiert übrigens für einen gleitenden Übergang –, etwa ab dem sechsten Lebensjahr, beginnt eine stabile Phase. (Die ersten Lebensjahre bezeichnet Montessori als „labile Phase“.) Das Kind entwickelt sich ruhig und gleichmäßig. Seine Kräfte und Möglichkeiten sind nahezu unerschöpflich.
Das Schulkind „will es jetzt wirklich wissen“. Wissens-Stoff – davon kann es jetzt gar nicht genug mitbekommen, vorausgesetzt, das Kind kann sich sein Wissen in freier Arbeit selbst aneignen. Ganz konkrete Erfahrungen mit einem vielgestaltigen Material führen die Kinder schrittweise zur Abstraktion.
Allerdings: Nicht die ganze Welt kann in die Montessori-Schule geholt werden. Aber es gibt Phänomene und Erfahrungen, an denen sich das Kind die ganze Welt erschließen kann. Aus diesem Grund spricht man auch von Schlüsselerlebnissen und Schlüsselkompetenzen.
Parallel zur hohen Sensibilität für Einsicht in Zusammenhänge, zu diesem Wunsch, die Welt zu verstehen, erfolgt die Entwicklung des moralischen Bewusstseins. Wichtig ist im Grundschulalter eine innere Sensibilität: das Gewissen. Das Kind will jetzt wissen, was gut, was böse, was gerecht und ungerecht ist.
Die Entwicklung des moralischen Bewusstseins hängt eng zusammen mit sozialen Erfahrungen. Montessori fordert, dass das Kind auch jenseits von Schule und Familie eine Fülle sozialer Erfahrungen machen kann.
Didaktischer und methodischer Schlüssel für die Arbeit im Grundschulalter ist Montessoris Konzept einer „kosmischen Erziehung“. Hier geht es, vereinfacht gesagt, um einen ökologisch-didaktischen Ansatz, der dem Kind elementare Zusammenhänge erfahrbar macht, sodass, von zentralen Fragen des Menschen ausgehend, ein Verantwortungsbewusstsein auf der Grundlage von hoher Wissenskompetenz gebildet und erfahren werden kann (vgl. Montessori 1988).
Wir beschränken uns hier nur auf einige zentrale Hinweise: Pubertät, das ist eine Phase der Unruhe, der Labilität, des psychischen und physischen Umbruchs. Montessori hebt hervor, dass die Jugendlichen einerseits Schutz und Geborgenheit in einer sozialen Heimat suchen, andererseits aber auf- und ausbrechen, sich Selbstständigkeit erkämpfen und neue gesellschaftliche Erfahrungen machen wollen.
Dem entspricht die Montessori-Pädagogik mit dem sogenannten „Erdkinderplan“ – einem Konzept, das die Jugendlichen in ihrer Verantwortlichkeit und ihren Möglichkeiten ernst nimmt, sie aber sozial und emotional dabei kompetent begleitet (ebd., S. 115ff.).
Bis zum Erwachsenwerden verbringen Kinder und Jugendliche, die von der Krippe an in einer pädagogischen Einrichtung waren, etwa 20.000 Stunden in einer Umgebung, die von Erwachsenen gestaltet wurde. Welche Verantwortung lastet da auf Trägern und pädagogischen Fachkräften!
Die Umgebung hat eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die seelische und körperliche Gesundheit eines Menschen. Das Wissen um Ergonomie und Salutogenese am Arbeitsplatz ist bekannt, und es ist sicher hilfreich. Gleiches gilt aber auch für Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche einen Großteil ihrer Zeit verbringen.
Aus diesem Grund darf es nicht dem Zufall, der Intuition oder beliebiger pädagogischer Subjektivität überlassen werden, wie eine solche Umgebung gestaltet wird. Wie oft sind Kindergärten oder auch Schulen nach den Vorstellungen des Architekten geplant, ohne wirklich auf die Bedürfnisse von Kindern und pädagogischen Fachkräften eingegangen zu sein.
Für Montessori ist klar: Ein Kind muss auf eine Umwelt treffen, deren anregender Charakter ihm erlaubt, zu gestalten und seine eigenen Potenziale zu entfalten.
vielgestaltige