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Der Autor

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Claus Derra ist Arzt und Psychologe, er arbeitet aktuell als niedergelassener Psychosomatiker in einem MVZ für Schmerztherapie in Berlin. Von den verschiedenen Entspannungsverfahren lernte er 1978 als erstes das Autogene Training bei Dietrich Langen in Mainz. In den folgenden Jahren absolvierte er zunächst eine Hypnoseausbildung, dann bei Sven Olaf Hoffmann eine mehrjährige Weiterbildung als Psychotherapeut in tiefenpsychologischer Einzel- und Gruppentherapie.

Die progressive Relaxation lernte er ab 1988 zunächst autodidaktisch, später dann in Arbeitskreisen mit Kollegen und Kolleginnen zusammen. Seit Anfang der 1990er Jahre ist er Dozent für Autogenes Training, Progressive Relaxation und Hypnotherapie.

Klinisch psychiatrische Weiterbildung von 1987 bis 1990 in Ravensburg Weißenau, danach bis 1994 Leitung des sozialpsychiatrischen Dienstes und der Sucht- und AIDS-Beratungsstelle in Koblenz. 1994 bis 1997 Oberarzt in der psychosomatisch-neurologischen Rehabilitation in Bad Buchau. Ab 1998 Leitender Oberarzt und später ärztlicher Direktor einer gastroenterologisch-psychosomatischen Rehaklinik in Bad Mergentheim.

Weiterbildung in Sozialmedizin und Begutachtung sowie in Traumabehandlung durch EMDR. Vielfältige Tätigkeiten als Dozent und Supervisor. Verschiedene Bücher und CDs zu den Entspannungsverfahren, zu Achtsamkeit, Schmerztherapie und Schlafstörungen. Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der deutschsprachigen Hypnosegesellschaften und des wissenschaftlichen Beirates der DGAEHAT.

Claus Derra

Körperorientierte Entspannungstechniken

Mit zwei Beiträgen von Corinna Schilling

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031222-7

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-031223-4

epub:   ISBN 978-3-17-031224-1

mobi:   ISBN 978-3-17-031225-8

 

Geleitwort zur Reihe

 

 

 

Die Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: In den anerkannten Psychotherapieverfahren wurde das Spektrum an Behandlungsansätzen und -methoden extrem erweitert. Diese Methoden sind weitgehend auch empirisch abgesichert und evidenzbasiert. Dazu gibt es erkennbare Tendenzen der Integration von psychotherapeutischen Ansätzen, die sich manchmal ohnehin nicht immer eindeutig einem spezifischen Verfahren zuordnen lassen.

Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass es kaum noch möglich ist, die Theorie eines psychotherapeutischen Verfahrens und deren Umsetzung in einem exklusiven Lehrbuch darzustellen. Vielmehr wird es auch den Bedürfnissen von Praktikern und Personen in Aus- und Weiterbildung entsprechen, sich spezifisch und komprimiert Informationen über bestimmte Ansätze und Fragestellungen in der Psychotherapie zu beschaffen. Diesen Bedürfnissen soll die Buchreihe »Psychotherapie kompakt« entgegenkommen.

Die von uns herausgegebene neue Buchreihe verfolgt den Anspruch, einen systematisch angelegten und gleichermaßen klinisch wie empirisch ausgerichteten Überblick über die manchmal kaum noch überschaubare Vielzahl aktueller psychotherapeutischer Techniken und Methoden zu geben. Die Reihe orientiert sich an den wissenschaftlich fundierten Verfahren, also der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen und der Systemischen Therapie, wobei auch Methoden dargestellt werden, die weniger durch ihre empirische, sondern durch ihre klinische Evidenz Verbreitung gefunden haben. Die einzelnen Bände werden, soweit möglich, einer vorgegeben inneren Struktur folgen, die als zentrale Merkmale die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes, die Verbindung zu anderen Methoden, die empirische und klinische Evidenz, die Kernelemente von Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele umfasst. Darüber hinaus möchten wir uns mit verfahrensübergreifenden Querschnittsthemen befassen, die u. a. Fragestellungen der Diagnostik, der verschiedenen Rahmenbedingungen, Settings, der Psychotherapieforschung und der Supervision enthalten.

Nina Heinrichs (Bremen)
Rita Rosner (Eichstätt-Ingolstadt)
Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)
Carsten Spitzer (Rostock)
Rolf-Dieter Stieglitz (Basel)
Bernhard Strauß (Jena)

Die Buchreihe wurde begründet von Harald J. Freyberger, Rita Rosner, Ulrich Schweiger, Günter H. Seidler, Rolf-Dieter Stieglitz und Bernhard Strauß.

 

Inhalt

 

 

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. Vorwort
  3. 1 Herkunft und Entwicklung von Entspannungstechniken
  4. 1.1 Entspannung als bio-psycho-soziales Muster
  5. 1.2 Körperwahrnehmung, Körperbewusstsein und Embodiment
  6. 1.3 Entspannung und Imagination
  7. 2 Verwandtschaft mit anderen Verfahren
  8. 2.1 Physiotherapie und Sport (Entspannung und Bewegung)
  9. 2.2 Körperpsychotherapien (Körpererleben und Psyche)
  10. 2.2.1 Formen der Atementspannung
  11. 2.2.2 Funktionelle Entspannung nach Marianne Fuchs
  12. 2.2.3 Eutonie nach Gerda Alexander
  13. 2.2.4 Konzentrative Bewegungstherapie nach Helmuth Stolze
  14. 2.2.5 Feldenkrais-Methode nach Moshe Feldenkrais
  15. 2.2.6 Traumatherapie (Bilaterale Stimulation)
  16. 2.3 Ruhehypnose (heterosuggestive Entspannung)
  17. 2.4 Imaginative Verfahren (visuelle Entspannung)
  18. 2.5 Meditation (Entspannung und ganzheitliches Erleben)
  19. 2.6 Entspannung und Achtsamkeit (Prinzip der Sanduhr)
  20. 3 Wissenschaftliche und therapietheoretische Grundlagen von Entspannungstechniken
  21. 3.1 Physiologische Grundlagen der Entspannung
  22. 3.2 Neurobiologische Grundlagen der Entspannung
  23. 3.3 Anwendungsbezogene Grundlagen
  24. 4 Kernelemente der Diagnostik
  25. 4.1 Zur Differentialindikation von Entspannungstechniken
  26. 4.2 Eingangsdiagnostik
  27. 4.3 Verlaufskontrolle
  28. 5 Kernelemente der Therapie
  29. 5.1 Progressive Relaxation (Original; Bernstein und Borcovec; Weiterentwicklungen)
  30. 5.1.1 Originalkonzept von Edmund Jacobson
  31. 5.1.2 Adaptation von Bernstein und Borcovec
  32. 5.1.3 Weiterentwicklungen
  33. 5.2 Autogenes Training (Grundstufe, Aufbaustufe, Oberstufe)
  34. 5.2.1 Grundstufe (Ruhe, Schwere, Wärme)
  35. 5.2.2 Aufbaustufe (Organübungen, formelhafte Vorsatzbildung)
  36. 5.2.3 Oberstufe (imaginativ-meditative Fortgeschrittenenstufe)
  37. 5.3 Andere Entspannungsmethoden mit Körperbezug
  38. 6 Klinische Fallbeispiele
  39. 6.1 Entspannungsverfahren als Prävention
  40. 6.2 Entspannungsverfahren im therapeutischen Gruppensetting
  41. 6.2.1 Progressive Relaxation bei Hypertonie
  42. 6.2.2 Autogenes Training bei Reizdarm
  43. 6.3 Einzelsetting
  44. 7 Hauptanwendungsgebiete
  45. 7.1 Allgemeine präventive Indikationen
  46. 7.2 Symptombezogene Indikationen
  47. 7.3 Differentialindikation und Kontraindikation
  48. 8 Verschiedene Settings für Entspannungstechniken
  49. 8.1 Entspannungsverfahren in der Prävention (ambulant)
  50. 8.2 Entspannungsverfahren in der Rehabilitation (stationär)
  51. 8.3 Entspannung bei Kindern
  52. 9 Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung
  53. 10 Wissenschaftliche und klinische Evidenz
  54. 10.1 Klinische Indikationen
  55. 10.2 Motivation und Alltagstransfer
  56. 10.3 Kombination mit anderen Techniken und Verfahren
  57. 11 Institutionelle Verankerung (Verbände, Abrechnungs- modalitäten)
  58. 11.1 Verbände
  59. 11.2 Abrechnung
  60. 12 Informationen zu Aus-, Fort- und Weiterbildung
  61. Literatur
  62. Register

 

Vorwort

 

 

 

Entspannungsmethoden sind Basistherapeutika. Sie haben ein sehr breites und wissenschaftlich gut gesichertes Indikationsspektrum. Im präventiven Bereich sowie zur unspezifischen und spezifischen Behandlung von Störungen können sie eingesetzt werden. Entspannung ist auch ein Kernelement der Achtsamkeitspraxis. Daher können Entspannungstechniken vielen Menschen einen einfachen ersten Einstieg in das Erleben von Achtsamkeit ermöglichen. Sowohl Jacobson wie auch Schultz nutzten das Konzept des inneren Beobachters, ohne dies jedoch so zu benennen.

Dieses Buch vermittelt eine Übersicht über die Entwicklung der verschiedenen körperbezogenen Entspannungsmethoden und stellt durch das Konzept des Embodiment eine Verbindung zu den imaginativen und meditativen Verfahren insbesondere hier zum Autogenen Training her.

Ich danke den Herausgebern dieser Reihe für die Möglichkeit einer Bilanz und Perspektive von Entspannungstechniken im Sinne eines Basispsychotherapeutikums.

Eine Kernaussage des Buches ist die heute notwendige Entwicklung weg von alltagsfernen langen Entspannungsübungen im Liegen hin zu alltagsgerechten kurzen Übungen im Sitzen und im Stehen. Nur eine kurze physiologisch und psychologisch gut konditionierte Entspannung kann uns helfen, den umfänglichen und komplexen Stressbelastungen im Alltag etwas entgegen zu setzen und den Lebensstil darauf einzustellen. Dabei können auch elektronische Medien zukünftig eine wichtigere Rolle spielen.

Corinna Schilling hat die Darstellung der beiden wichtigen körperbezogenen Methoden des Yoga und des Qi Gong übernommen. Ich danke ihr auch für die kritische Durchsicht des gesamten Manuskriptes.

Anita Brutler danke ich für die Organisation und die Geduld, mit der sie die Entwicklung des Buches begleitet hat.

Dominik Rose sei herzlich gedankt für das engagierte und differenzierte Lektorat.

Nicht zuletzt sollen die vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Entspannungskurse in den letzten 35 Jahren in Prävention, Therapie, Ausbildung und Supervision erwähnt werden, ohne deren Rückmeldungen und Entwicklungen das Buch nicht diese Tiefe der Erfahrung vermitteln könnte. Die einzelnen Fallbeispiele sind reale Berichte von verschiedenen Therapeutinnen und Therapeuten, die sich beim Lesen dieses Buches vielleicht wiederfinden werden.

Berlin im Mai 2020
Claus Derra

Dieses Buch widme ich meinem psychotherapeutischen Lehrer und Mentor Sven Olaf Hoffmann.

 

1          Herkunft und Entwicklung von Entspannungstechniken

 

 

Rest is nearly always a part of any therapeutic procedure.

(Edmund Jacobson 1929)

1.1       Entspannung als bio-psycho-soziales Muster

Mit Entspannung und Ruhe wird im allgemeinen Sprachgebrauch ein positiver Zustand beschrieben, der im Kontrast zu Aktivität, Arbeit und Leistung steht. Damit verbunden sind auch Begriffe wie Pause, Erholung und Freizeit, die von dem Trierer Entspannungsforscher Krampen als unsystematische Entspannung im Lebensalltag eingeordnet werden (Krampen 2013). Das Gefühl der Entspannung kann ein sehr eindrückliches ganzheitliches Erlebnis auslösen, das in unterschiedlicher Form als körperliche (insbesondere muskuläre) Entspannung und angenehmes Wärmegefühl, in Form von Beruhigung, Zufriedenheit bis hin zu Glücksgefühlen, oder auch mit Dämpfung affektiver Schwingungen, sowie als ein positives Gefühl des Abgeschirmtseins und der Regeneration wahrgenommen werden kann.

Wissenschaftlich wird Entspannung im Handbuch der Entspannungsverfahren von Vaitl und Petermann wie folgt definiert:

Definition

»Entspannung ist ein spezifischer psychophysiologischer Prozess, der sich auf einem Kontinuum von Aktiviertheit-Desaktiviertheit zum Pol eines fiktiven Basalwertes hin bewegt und gekennzeichnet ist durch Gefühle des Wohlbefindens, der Ruhe und Gelöstheit. Sie ist kein Sonderzustand, sondern ein Reaktionsmuster, welches biologisch angelegt ist, zum natürlichen Verhaltensrepertoire des Menschen gehört und unter günstigen Bedingungen leicht hervorzurufen ist.« (Vaitl 2000)

Diese etwas abstrakte Definition beinhaltet, dass Entspannung ein normales, biologisch notwendiges Reaktionsmuster des Menschen ist. Die Entspannungsreaktion ist Teil unseres natürlichen Verhaltensrepertoires und wird unter entsprechenden Umgebungsbedingungen (z. B. körperliche Ruhehaltung, Stehenbleiben, Hinlegen, Reizabschirmung, abends beim Einschlafen) automatisch eingeleitet. Als Gegenpol zur Spannung dient sie dem Schutz des Organismus vor übermäßiger Beanspruchung und zur Erholung von Arbeit. Die Entspannungsreaktion fördert den Stressabbau und die Linderung von Beschwerden und kann auch zu kreativen Freiräumen und positiveren Gedankeninhalten führen. Im sozialen Kontext kann unsystematische Entspannung durch Spazierengehen, Spiele, Tanz, Musik und andere Freizeitrituale gefördert werden. Auch Essen, Trinken und Schlaf sind kulturell mögliche Entspannungszeiten.

Die vielfältigen Möglichkeiten der unsystematischen Entspannung sind daher für die individuelle Energiebalance und den persönlichen Biorhythmus von zentraler Bedeutung. Wir entwickeln dabei bewusste und unbewusste Gewohnheiten, die später schwer wieder zu verändern sind. Wenn wir Entspannungstechniken und Achtsamkeitsstrategien anderen Menschen vermitteln, ist es wichtig, zunächst diese Gewohnheiten zu erfassen, bewusst zu machen und möglichst positiv zu würdigen.

Machen wir uns bewusst: auch das Rauchen einer Zigarette hat nicht nur einen gesundheitsschädlichen Effekt, sondern kann gleichzeitig die Situation einer Pause und Abstand vom belastenden Alltag vermitteln. Zudem ist bei Rauchern sehr oft der erste tiefe Atemzug der gerade angezündeten Zigarette – mit der Inhalation des kühlen Rauches vermischt mit der frischen Luft – ein Signal, das verbunden und fest konditioniert wird mit den psychischen und vegetativen Reaktionen einer parasympathischen Entspannungsreaktion (image Kap. 3.1. und image Kap. 3.2.), somit eine Gewohnheit die besonders schwer zu ändern ist. Eine ähnliche Konditionierung erreichen Entspannungsverfahren bei den meisten Menschen erst nach längerer Übungspraxis (Hoffmann et al. 2017).

Individuell entwickelt jeder Mensch in seinem Lebensstil unterschiedliche Entspannungsrituale, die dann durch die regelmäßige Anwendung im Alltag im Sinne einer Gewohnheit mehr oder weniger erfolgreich zum Spannungsausgleich angewendet werden können.

Merke

Bei der Vermittlung von Entspannungstechniken ist es klug, die bisherigen unsystematischen Entspannungsgewohnheiten einer Person zu erfassen und an diesen individuellen und vertrauten Alltagserfahrungen anzuknüpfen, bevor wir mit der Entspannungstechnik einen neuen und anfangs zumeist ungewohnten Weg einführen. Sehr konsequent wird dies heute in der sog. informellen Achtsamkeitspraxis (image Kap. 2.6.) umgesetzt und geübt.

Um die Effektivität von Regenerationsphasen zu verbessern, gab es immer auch schon systematische Behandlungselemente zur Entspannung. Das Zitat von Jacobson, »Ruhe und Erholung ist beinahe immer ein Teil jeglichen therapeutischen Vorgehens«, trifft die Erfahrung, dass die Entspannungsreaktion schon seit Jahrtausenden systematisch als Behandlungselement eingesetzt wird. So finden wir als Entspannungstechniken beispielsweise von Schamanen induzierte Trancezustände, Elemente der chinesischen Medizin, Erfahrungen mit Ritualen in Klöstern, Meditation, Liegekuren bei Tuberkulose, Einnahme von bestimmten Drogen etc.

Wissenschaftlich fundiert und systematisiert wurde der Einsatz von Entspannung durch die Entwicklung der beiden klassischen Entspannungsverfahren, der Progressiven Relaxation von Edmund Jacobson (1929) und dem Autogenen Training von I. H. Schultz (1932). Beide entwickelten eine Vorgehensweise, nach der das Einleiten einer Entspannungsreaktion konditioniert und somit schnell, zuverlässig und effektiv auch in schwierigen Situationen abgerufen werden kann. Die beiden »Väter« der Entspannungsverfahren hatten anfangs eine noch relativ mechanistische Vorstellung von der Wirksamkeit. Schultz postulierte Entspannung als »organismische Umschaltung« von Sympathikus auf Parasympathikus. Jacobson nahm eine automatische Übertragung der Muskelentspannung auf die anderen Systeme des Organismus an. Mit der weiteren Erforschung der Grundlagen und klinischen Anwendung entstand zunehmend das Modell einer Entspannungsreaktion in einem mehrdimensionalen bio-psycho-sozialen Kontext (Derra 2017).

Biologisch-physiologisch ist die Entspannungsreaktion zunächst gekennzeichnet durch:

•  eine Abnahme des Muskeltonus und Veränderung der peripheren Reflextätigkeit,

•  Senkung des arteriellen Blutdrucks und Umverteilung der Durchblutung zugunsten der Körperoberfläche, d. h. Hauterwärmung durch periphere Vasodilatation,

•  Verlangsamung der Pulsfrequenz,

•  Abnahme der Atemfrequenz (die Atmung wird flacher und gleichmäßiger),

•  Minderung des Sauerstoffverbrauchs sowie

•  Abnahme der Hautleitfähigkeit und Zunahme des Hautwiderstandes

Psychologisch entsteht durch die Reizabschirmung und Wendung der Aufmerksamkeit nach innen eine veränderte Körperwahrnehmung:

•  vermehrte Schläfrigkeit tritt auf

•  Wahrnehmungsschwellen werden erhöht,

•  die Umgebung wird distanzierter erlebt,

•  das Denken wird assoziativer,

•  bildhafte Gedankensequenzen können zunehmen.

Die soziale Funktion von Entspannung könnte man beschreiben mit einer

•  Verbesserung der Erholungsfähigkeit

•  Regeneration und Herstellen von Gleichgewicht (Homöostase)

•  Stabilisierung von Biorhythmen

•  Verbesserung der Leistungsfähigkeit

•  Prävention von Dysbalancen und Störungen

Ein solches bio-psycho-soziales Entspannungsmodell ist als ein ganzheitliches Modell zu verstehen, bei dem sich die Dimensionen wechselseitig bedingen. Es integriert physiologische, neurobiologische, lerntheoretische, informationstheoretische, kognitive und sozialpsychologische Aspekte der Entspannung (image Kap. 3). Als Erklärungsmodell ist es für Therapeuten und Patienten umfassender als die früheren Vorstellungen. Der praktische Nutzen besteht vor allem darin, dass die individuell sehr unterschiedlichen Erlebnisse bei der Entspannung in den drei Dimensionen gut einzuordnen sind.

Angewendet auf Entspannungstechniken beinhaltet das bio-psycho-soziale Modell auch, dass sich deren Wirksamkeit in dem Maße verstärken kann, je vertrauter und erfahrener die Übenden in jeder dieser drei Dimensionen werden. Somit entwickelt sich die umfängliche und nachhaltige Wirksamkeit von Entspannungstechniken erst durch regelmäßige Durchführung von Entspannungsübungen sowie insbesondere mit deren Anwendung im Alltag.

Eine Vertiefung der einzelnen Konzepte sowie weitergehende Überlegungen zur Entwicklung der verschiedenen theoretischen Erklärungsansätze und deren wissenschaftliche Gewichtung findet sich in dem umfassenden Werk von Krampen zur Therapie und Prävention mit Entspannungsverfahren (Krampen 2013).

1.2       Körperwahrnehmung, Körperbewusstsein und Embodiment

Für die meisten Menschen ist der Einstieg in das Erleben von Entspannung zu Beginn leichter über die Wahrnehmung des eigenen Körpers und dessen Rhythmen (hier bietet sich besonders die Atmung an, mit dem einfachen Spüren des Wechsels zwischen Ein- und Ausatmung). Körperorientierte Entspannungstechniken wie die Progressive Relaxation, die Atemtechniken, das Yoga oder Qi Gong haben dementsprechend ihren Schwerpunkt in der Körperwahrnehmung, während Autogenes Training oder Meditation eine gewisse Vorstellungs- und Symbolisierungsfähigkeit voraussetzen. Symbolisierung meint hier die Fähigkeit, abstrakte Begriffe in konkretes Körpererleben umzusetzen. Der erste Satz im Autogenen Training, »Ich bin ganz ruhig«, kann nur dann wirken, wenn die Übenden eine positive körperliche Vorstellung von »Ruhe« oder ein entsprechendes angenehmes Gefühl damit verbinden können. Beim Erlernen des Autogenen Trainings werden daher oft Hilfestellungen gegeben, die die Umsetzung des Begriffes »Ruhe« in körperliches Erleben begleiten und erleichtern. So wird beispielsweise eine Assoziation zu einem beruhigenden Bild oder einer schönen persönlichen Erinnerung hergestellt.

Das Erlernen eines Entspannungsverfahrens führt zwangsläufig zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Durch die bewusste Wendung der Wahrnehmung weg von den äußeren Einflüssen kann sich eine Aufmerksamkeit für Empfindungen aus dem Inneren entwickeln, die manchen Menschen ganz neue Erfahrungen ermöglicht. Diese so genannte Interozeption bewirkt, dass physiologische Prozesse, die sonst überhaupt nicht registriert würden, verstärkt wahrgenommen werden können.

Schon allein das ruhige entspannte Sitzen und das Schließen der Augen verändert die Wahrnehmung durch eine verstärkte Selbstaufmerksamkeit. Gleichzeitig wird die Wahrnehmung auf andere Qualitäten verlagert und dort akzentuiert. Bei der weiteren Verarbeitung kommt es automatisch zu einer Bewertung der Signale aus dem Körperinneren: der Herzschlag kann beispielsweise als sehr beruhigend wahrgenommen werden, er kann aber auch (weil ungewohnt) ängstliche Beobachtungen auslösen. Wenn wir im Alltag nach außen orientiert sind, nehmen wir die Tiefensensibilität, beispielsweise die viszerale Sensibilität, kaum wahr. Diese würde unsere Handlungsfähigkeit stören, Signale aus dem viszeralen Bereich müssen daher ausreichend intensiv sein, damit sie in unser Bewusstsein vordringen können. Dies liegt daran, dass Afferenzen aus dem Herz-Kreislaufsystem, der Atmung und dem gastrointestinalen Bereich vorwiegend der Aufrechterhaltung des inneren Milieus und der Homöostase viszeraler Prozesse dienen, nicht aber der Vermittlung von Sinneseindrücken (Vaitl 2000). Während einer Entspannungsübung können sich jedoch viszerale Empfindungen im Rahmen der verstärkten Interozeption unvermutet bemerkbar machen und dann vom Übenden (weil ungewohnt) subjektiv als Störung eingeordnet werden. Hier sind beruhigende Informationen durch die Therapeutinnen1 besonders wichtig.

Eine ungestörte Wahrnehmung und Verarbeitung der Körpererlebnisse ist Voraussetzung für das Empfinden von peripherer Entspannung. Dabei handelt es sich einerseits um neuronale Reizverarbeitungen, die zentral unter Einbeziehen sensorischer und motorischer Funktionsstrukturen des Gehirns die Veränderung von Körpervorgängen ermöglichen. Diese Wechselwirkung zwischen Gehirn und Körper ist besonders beim Autogenen Training ein zentraler Wirkmechanismus. Der im Kopf formulierte Satz »Mein rechter Arm ist schwer« muss peripher eine entsprechende Wahrnehmung auslösen, die dann dem Gehirn zurückgemeldet wird. Quasi: »Stimmt, ich fühle das, der rechte Arm ist schwer.« Diese bestätigende Wahrnehmung ermöglicht dann wiederum ein vermehrtes Entspannen der Muskulatur, und so entsteht im Wechselspiel zwischen Gehirn und Muskel ein immer stärkeres Entspannungserleben (Garcia 1983).

Interozeption umfasst jedoch nicht nur die Wahrnehmung physiologischer Vorgänge, vielmehr ist damit auch eine symbolische Umsetzung in Sprache und Bilder verbunden. Die Eindrücke werden sprachlich benannt und mit Vorstellungen aus dem bisherigen vertrauten Erfahrungsbereich des Lebens verglichen. Wenn die Übenden über ihre Erlebnisse berichten, müssen sie entsprechende sprachliche Begriffe und bildhafte Beschreibungen verwenden, um dem Gegenüber ihre Empfindungen deutlich zu machen. Wir nehmen heute an, dass vermutlich jede Form psychotherapeutischer Intervention nicht nur verbal, sondern durch eine gezielte Herstellung und Veränderung bestimmter Vorstellungen und Erlebnisse wirksam wird (Hüther 2005).

Körperwahrnehmung und kortikale Repräsentation

Bei der Körperwahrnehmung werden neuroanatomisch die meisten afferenten Neuronen im Rückenmark umgeschaltet und ziehen dann nach zentral zum Thalamus. Dabei werden sie vorher mit verschiedenen Kerngruppen des Hirnstamms, z. B. Nucleus ruber, Nuclei olivaris, Nuclei vestibularis (Gleichgewichtskerne), sowie mit dem Kleinhirn verbunden, so dass schon vor der bewussten Wahrnehmung eines Reizes eine komplexe Informationsvernetzung entsteht. Der Ort der eigentlichen bewussten Wahrnehmung ist der Gyrus postcentralis der Hirnrinde, der wiederum mit verschiedenen Assoziationsfeldern in Verbindung steht. Bekanntermaßen sind die peripheren Teile des Körpers zentral auf der Hirnrinde nicht gleichförmig, sondern nach ihrer Wichtigkeit in Form eines Homunculus mit riesigem Kopf und Händen und eher verkümmert erscheinenden Restkörper repräsentiert (kortikale Repräsentation, image Abb. 1.1).

Bei jedem Menschen entsteht in der funktionellen Zusammenarbeit dieser anatomischen Strukturen ein persönliches Körperbild, das einen Teil unserer Identität ausmacht. Psychische und körperliche Erkrankungen (z. B. Angststörungen, Depressionen, chronische Schmerzen, neurologische Erkrankungen) können zu erheblichen Wahrnehmungsveränderungen und Körperbildstörungen führen. Für das Erlernen einer aktiven Entspannung ist daher einerseits eine ungestörte Wahrnehmung von Afferenzen eine wichtige Voraussetzung, andererseits wird gerade

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Abb. 1.1: Kortikale Repräsentation (Homunculus)2

beim Lernen und Üben auch die Empfindung und Differenzierung der Afferenzen im Sinne der Körperwahrnehmung geschult und verändert. Sobald wir die Augen schließen, werden interozeptive Wahrnehmungen automatisch intensiver. Dies bedeutet aber, dass nicht nur physiologisch erwünschte Wahrnehmungen verstärkt werden, sondern auch Spannungen und Symptome wie z. B. Schmerz, Tinnitus oder auch die viszeralen Abläufe intensiver wahrgenommen werden können. Während der Entspannung kann es daher wie oben ausgeführt auch zu störenden und subjektiv beunruhigenden Sensationen kommen, die über eine Aktivierungsreaktion zu plötzlichen Muskelanspannungen führen können.

Eine recht plausible Modellvorstellung für die Bedeutung dieser Aufmerksamkeitslenkung ist das in der Verhaltenstherapie gängige sog. Scheinwerfermodell der Wahrnehmung (image Abb. 1.2).

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Abb. 1.2: Scheinwerfermodell: Waches Alltagsbewusstsein mit Reaktionsbereitschaft

Unser Bewusstsein kann nur eine begrenzte Menge an Information aufnehmen und verarbeiten, daher kommt es immer zu einer Selektion nach der Bedeutsamkeit. Im aktiven Wachzustand wird das Sehen, Hören und Denken die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wir müssen reaktionsbereit sein, um den Alltag zu bewältigen. Dies entspricht einer Sympathikusaktivität. Sobald wir die Augen zur Entspannung schließen, wird einerseits unser bildhaftes Denken aktiviert, wir »sehen« weiter mit geschlossenen Augenlidern. Andererseits wird unser Bewusstsein seine für das Leben notwendigen Informationen aus anderen Sinneskanälen abrufen, d. h. unser Hören wird intensiviert, und gleichzeitig kommt es zu einer verstärkten Interozeption. Dieses Phänomen nutzen wir für das Entspannungstraining: Statt vermehrter Wachsamkeit und Sympathikusaktivität lenken wir die Aufmerksamkeit auf entspannende physiologische Abläufe (Haut- und Muskelwahrnehmung, Atemrhythmus image Abb. 1.3).

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Abb. 1.3: Scheinwerfermodell: Entspannung mit Aufmerksamkeit auf Körperwahrnehmung

Dabei entsteht das oben schon erwähnte Wechselspiel zwischen peripheren Veränderungen (z. B. Muskelspannung, Durchblutung) und zentraler Wahrnehmung sowie der Verarbeitung dieser Veränderungen.

Bei der Durchführung einer Entspannungsübung könnte der initiale Impuls von der zentralen Planung ausgehen: »Ich möchte mich entspannen«. Es könnten aber auch als erstes die peripheren sensorischen Afferenzen melden: »Du bist verspannt, es wird Zeit für eine Entspannungsübung!«.

Die Tabelle 1.1 zeigt eine schematische Darstellung der bewussten Wahrnehmungsverarbeitung in den jeweils zugehörigen anatomischen Korrelaten (image Tab. 1.1). Die vorbewusste Wahrnehmung spielt sich auf peripherer Ebene ab und läuft im Wesentlichen über Reflexe, deren feinere Steuerung automatisch aus den zentralen Strukturen des Gehirns, insbesondere des Hirnstamms erfolgt.

Tab 1.1: Komponenten und Vernetzung der bewussten Wahrnehmung eines Reizes

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Reaktion auf WahrnehmungBewertungAnatomischer Ort der Reizverarbeitung