Christuslegenden

Deutsche Neuübersetzung

 

SELMA LAGERLÖF

 

 

 

 

 

 

Christuslegenden, S. Lagerlöf

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849659196

 

www.jazzybee-verlag.de

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Inhalt:

DIE HEILIGE NACHT.. 1

DIE VISION DES KAISERS. 6

DER BRUNNEN DER WEISEN.. 11

BETHLEHEMS KINDER.. 18

DIE FLUCHT NACH ÄGYPTEN.. 34

IN NAZARETH.. 39

IM TEMPEL.. 43

DAS HALSTUCH DER HEILIGEN VERONIKA.. 54

DAS ROTKEHLCHEN... 90

UNSER HERR UND DER HEILIGE PETRUS. 95

DIE HEILIGE FLAMME.. 103

 

DIE HEILIGE NACHT

 

Als ich fünf Jahre alt war, überkam mich eine große Trauer! Ich kann kaum sagen, ob ich seitdem jemals eine größere empfunden habe.

Das war, als meine Großmutter starb. Bis zu diesem Tag saß sie immer auf dem Ecksofa in ihrem Zimmer und erzählte Geschichten.

Ich erinnere mich, dass Großmutter von morgens bis abends Geschichte für Geschichte erzählte, und dass wir Kinder daneben saßen, ganz still, und ihr zuhörten. Es war ein herrliches Leben! Keine anderen Kinder waren so glücklich wie wir. Es ist nicht viel, was mir von meiner Großmutter in Erinnerung blieb. Ich weiß aber, dass sie sehr schöne, schneeweiße Haare hatte und gebeugt ging, und dass sie immer dasaß und Strümpfe strickte.

Und ich erinnere mich sogar daran, dass sie jedes Mal, wenn sie eine Geschichte beendet hatte, ihre Hand auf meinen Kopf legte und sagte: "All das ist so wahr, wie dass ich dich sehe und du mich siehst."

Ich erinnere mich auch daran, dass sie Lieder singen konnte, aber das tat sie nicht jeden Tag. Eines der Lieder handelte von einem Ritter und einem Meertroll und hatte diesen Refrain: "Es bläst kalt, kalt über dem Meer."

Dann fällt mir auch ein kleines Gebet ein, das sie mich gelehrt hat, und ein Vers aus einem Kirchenlied.

An all die Geschichten, die sie mir erzählt hat, kann ich mich nur schwach und unvollständig erinnern. Nur an eine erinnere ich mich so gut, dass ich sie wiederholen kann. Es ist eine kleine Geschichte über die Geburt Jesu.

Nun, das ist fast alles, was ich mir über meine Großmutter ins Gedächtnis bringen kann, außer dem natürlich, was ich noch am besten weiß: die große Einsamkeit, als sie weg war.

Ich erinnere mich an den Morgen, als das Ecksofa leer blieb und es unmöglich war zu verstehen, wie die Tage jemals enden sollten. Daran entsinne ich mich gut. Das werde ich nie vergessen!

Und natürlich, dass wir Kinder die Hand der Toten küssen mussten, und dass wir Angst hatten, dieses zu tun. Aber dann sagte uns jemand, dass es das letzte Mal sein würde, dass wir Großmutter für all die Freuden danken könnten, die sie uns bereitet hatte.

Und dann weiß ich noch, wie die Geschichten und Lieder vom Gehöft weggefahren wurden, eingeschlossen in einem langen, schwarzen Sarg, und dass sie nie wieder zurückkamen.

Etwas war aus unserem Leben verschwunden. Es schien, als ob die Tür zu einer schönen, verzauberten Welt – die wir zuvor nach Belieben betreten und verlassen konnten – nun geschlossen war. Und es gab niemanden mehr, der wusste, wie man diese Tür öffnet.

Aber ich erinnere mich auch daran, dass wir Kinder nach und nach gelernt haben, mit Puppen und Spielzeug zu spielen und wie andere Kinder zu leben. Und dann kam es mir vor, als ob wir unsere Großmutter nicht mehr vermissen oder uns an sie erinnern würden.

Aber auch heute noch, nach vierzig Jahren, da ich hier sitze und die Legenden über Christus sammle, die ich dort im Orient gehört habe, erwacht in mir diese kleine Geschichte von Jesu Geburt, die meine Großmutter zu erzählen pflegte, und ich fühle mich fast schon gezwungen, sie noch einmal zu erzählen und ebenfalls in meine Sammlung aufzunehmen.

Es war ein Weihnachtstag und alle Leute waren in die Kirche gefahren, außer Großmutter und mir. Ich glaube, wir waren ganz allein im Haus. Wir durften nicht mitgehen, weil die eine zu alt und die andere zu jung war. Und wir waren beide traurig, weil man uns nicht zur Frühmesse gebracht hatte, um den Gesang zu hören und die Weihnachtskerzen zu sehen.

Aber als wir in unserer Einsamkeit zusammensaßen, begann Großmutter, eine Geschichte zu erzählen.

"Es war einmal ein Mann", sagte sie, "der in die dunkle Nacht hinausging, um sich glühende Kohlen zu leihen, mit denen er ein Feuer entfachen konnte. Er ging von Hütte zu Hütte und klopfte. 'Liebe Freunde, helft mir!", sagte er. "Meine Frau hat gerade ein Kind zur Welt gebracht, und ich muss ein Feuer machen, um ihr und dem Kleinen Wärme zu spenden.'

"Aber es war schon sehr spät, und alle Leute schliefen. Niemand antwortete.

"Der Mann ging immer weiter. Schließlich sah er weit entfernt das Leuchten eines Feuers. Da ging er in diese Richtung und sah, dass das Feuer im Freien brannte. Viele Schafe schliefen um das Feuer herum, und ein alter Hirte saß daneben und wachte über die Herde.

"Als der Mann, der sich Feuer leihen wollte, zu den Schafen kam, sah er, dass drei große Hunde zu Füßen des Hirten schliefen. Alle drei erwachten, als sich der Mann näherte, und öffneten ihre großen Kiefer, als wollten sie bellen; aber es war kein Geräusch zu hören. Der Mann bemerkte, dass sich die Haare auf ihren Rücken aufstellten und die scharfen, weißen Zähne im Feuerschein glänzten. Sie stürzten sich auf ihn. Er spürte, dass einer von ihnen an seinem Bein zerrte, einer seine Hand biss und ein anderen an seiner Kehle hing. Aber ihre Kiefer und Zähne gehorchten ihnen nicht, und der Mann erlitt nicht die geringste Verletzung.

"Dann wollte der Mann noch weiter gehen, um endlich das zu bekommen, was er benötigte. Aber die Schafe lagen Rücken an Rücken und so nah beieinander, dass er nicht an ihnen vorbeikam. Da stieg der Mann auf ihre Rücken und ging über sie hinweg zum Feuer. Und keins der Tiere erwachte oder bewegte sich."

Bis dahin durfte Großmutter ununterbrochen erzählen. Aber an diesem Punkt konnte ich nicht anders, als sie zu unterbrechen. "Warum ist das nicht passiert, Oma?", fragte ich.

"Das wirst du gleich hören", sagte Großmutter und fuhr mit ihrer Geschichte fort.

"Als der Mann fast das Feuer erreicht hatte, sah der Hirte auf. Er war ein mürrischer, alter Mann, unfreundlich und hart zu den Menschen. Und als er den seltsamen Mann kommen sah, ergriff er seinen langen Hirtenstab, den er immer in der Hand hielt, wenn er seine Herde bewachte, und warf ihn ihm nach. Der Stab flog direkt auf den Mann zu, aber bevor er ihn erreichte, bog er auf eine Seite ab und flitzte an ihm vorbei, weit hinaus auf die Wiese."

Als Großmutter da angekommen war, unterbrach ich sie wieder. "Großmutter, warum hat der Stab den Mann nicht getroffen?" Großmutter machte sich nicht die Mühe, mir zu antworten, sondern setzte ihre Geschichte fort.

"Dann ging der Mann zum Hirten und sagte zu ihm: 'Guter Mann, hilf mir und leih mir ein wenig Feuer! Meine Frau hat gerade ein Kind zur Welt gebracht, und ich muss ein Feuer machen, um ihr und dem Kleinen Wärme zu spenden.'

"Der Hirte hätte am liebsten 'Nein' gesagt, aber als er so darüber nachdachte, dass die Hunde den Mann nicht verletzen konnten, die Schafe nicht vor ihm davongelaufen waren und der Stab ihn verfehlt hat, bekam er ein wenig Angst und wagte es nicht, ihm das zu verweigern, worum er ihn bat.

"'Nimm so viel, wie du brauchst!", sagte er zu dem Mann.

"Aber da war das Feuer fast erloschen. Es waren keine Holzscheite oder Äste mehr darin, nur ein großer Haufen glühender Kohlen, und der Fremde hatte weder Spaten noch Schaufeln, womit er diese hätte wegtragen können.

"Als der Hirte das sah, sagte er noch einmal: 'Nimm so viel, wie du brauchst!' Und er war froh, dass es dem Mann nicht gelingen würde, Kohlen mitzunehmen.

"Aber der Mann bückte sich, nahm mit bloßen Händen Kohlen aus der Asche und legte sie in seinen Mantel. Weder verbrannte er sich die Hände, als er sie berührte, noch verbrannten die Kohlen seinen Mantel; er trug sie weg, als wären sie Nüsse oder Äpfel gewesen."

Aber da wurde die Geschichtenerzählerin zum dritten Mal unterbrochen. "Oma, warum verbrannten die Kohlen den Mann nicht?"

"Das wirst du gleich hören", sagte Großmutter und fuhr fort:

"Als der Hirte, der so ein grausamer und hartherziger Mensch war, all das sah, begann er sich zu fragen: 'Was für eine Nacht ist das, in der die Hunde nicht beißen, die Schafe keine Angst haben, der Stab nicht trifft und Feuer verbrennt?" Er rief den Fremden zurück und sprach zu ihm: 'Was für eine Nacht ist das? Und wie kommt es, dass alle Dinge dir gegenüber so teilnahmsvoll sind?'

"Da sagte der Mann: 'Ich kann es dir nicht sagen, wenn du es selbst nicht siehst.' Er wollte seines Weges gehen, damit er bald ein Feuer machen und seine Frau und sein Kind sich wärmen konnten.

"Aber der Hirte wollte den Mann nicht aus den Augen verlieren, bevor er herausgefunden hatte, was das alles zu bedeuten hatte. Er stand auf und folgte dem Mann, bis sie an den Ort kamen, an dem er lebte.

"Da sah der Hirte, dass der Mann nicht mal eine Hütte hatte, in der er leben konnte, sondern dass seine Frau und sein Baby in einer Berggrotte lagen, wo es nichts als kalte, nackte Steinmauern gab.

"Der Hirte dachte, dass das arme, unschuldige Kind vielleicht in der Grotte erfrieren könnte; und obwohl er so ein hartherziger Mann war, berührte ihn dieser Anblick und er überlegte, dass er ihnen helfen musste. Er löste seinen Rucksack von der Schulter, nahm daraus ein weiches, weißes Schaffell, gab es dem Fremden und sagte, er solle das Kind darauf schlafen lassen.

"Und sobald er offenbarte, dass auch er barmherzig sein konnte, wurden seine Augen geöffnet, und er sah, was er vorher nicht sehen konnte, und hörte, was er vorher nicht hören konnte.

"Er sah, dass rings um ihn herum ein Kreis aus kleinen, silbernen Engeln stand, von denen jeder ein Streichinstrument in der Hand hielt, und alle in lauten Tönen davon sangen, dass in dieser Nacht der Erlöser geboren wurde, der die Welt von ihren Sünden befreien würde.

"Da verstand er, warum in dieser Nacht alle Dinge so glücklich waren, dass sie nichts falsch machen wollten.

"Und nicht nur um den Hirten herum standen Engel, er sah sie überall. Sie saßen in der Grotte, draußen auf dem Berg, und sie flogen am Himmel. Sie kamen in großen Gruppen, und als sie an ihnen vorbeigingen, hielten sie inne und warfen einen Blick auf das Kind.

"Da war ein solcher Jubel und solche Freude, Gesang und Frohlocken! All das sah er nun in der dunklen Nacht, während er vorher nichts erkennen konnte. Er war so glücklich, dass ihm seine Augen geöffnet worden waren, dass er auf die Knie fiel und Gott dankte."

Hier seufzte die Großmutter und sagte: "Was dieser Hirte sah, könnten auch wir sehen, denn die Engel fliegen an jedem Heiligabend vom Himmel herab. Ach, wenn wir sie nur sehen könnten."

Da legte Großmutter ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: "Du musst dich daran erinnern, denn diese Geschichte ist wahr, so wahr, wie ich dich sehe und du mich siehst. Und diese Wahrheit wird nicht erst durch das Licht von Lampen oder Kerzen enthüllt, und sie ist nicht auf Sonne oder Mond angewiesen; das einzig Wichtige ist, dass wir unsere Augen öffnen und die Herrlichkeit Gottes sehen können."


 

DIE VISION DES KAISERS

 

Es geschah zu der Zeit, als Augustus Kaiser in Rom und Herodes König in Jerusalem war.

Damals legte sich eine sehr dunkle und heilige Nacht über die Erde. Es war die dunkelste Nacht, die man je gesehen hatte. Man hätte meinen können, dass die ganze Erde in ein Kellergewölbe gefallen war. Es war unmöglich, Wasser und Land zu unterscheiden, und man konnte sich nicht mal mehr auf einer gut bekannten Straße zurechtfinden. Und es konnte ja auch nicht anders sein, denn kein Lichtstrahl fiel vom Himmel. Alle Sterne blieben versteckt in ihren eigenen Häusern, und selbst der schöne Mond hatte sein Gesicht abgewandt.

Die Stille und das Schweigen waren so tief wie die Dunkelheit. Die Flüsse standen still, der Wind rührte sich nicht mehr, und selbst die Espenblätter hatten aufgehört zu zittern. Wäre jemand am Ufer des Meeres entlang gelaufen, hätte er festgestellt, dass sich die Wellen nicht mehr auf dem Sand brachen; und wäre einer in der Wüste gewandert, hätte der Sand nicht unter den Füßen geknirscht. Alles war so bewegungslos, als wäre es in Stein gehauen, um ja die Heilige Nacht nicht zu stören. Das Gras hatte Angst zu wachsen, der Tau wollte nicht mehr fallen, und auch die Blumen wagten es nicht, ihren Duft zu verströmen.

In dieser Nacht suchten die wilden Tiere nicht nach Beute, die Schlangen bissen nicht, und die Hunde bellten nicht. Und was noch herrlicher war, selbst unbelebte Dinge waren nicht bereit, die Heiligkeit der Nacht zu stören, indem man sie für eine böse Tat benutzt hätte. Kein nachgemachter Schlüssel wollte ein Schloss knacken, und kein Messer hätte seinem Opfer auch nur einen Tropfen Blut gekostet.

In Rom verließ in genau jener Nacht eine kleine Gruppe von Menschen den Kaiserpalast auf dem Palatin und nahm den Weg über das Forum, der zum Kapitol führte. Während des gerade zu Ende gegangenen Tages hatten die Senatoren den Kaiser gefragt, ob er Einwände gegen die Errichtung eines ihm geweihten Tempels auf Roms heiligem Hügel hätte. Aber Augustus hatte seine Zustimmung nicht sofort gegeben. Er wusste nicht, ob es den Göttern recht sein würde, wenn sein Tempel neben ihrem stünde, und er hatte geantwortet, dass er zuerst ihren Willen in dieser Angelegenheit feststellen wollte, indem er ihnen ein nächtliches Opfer darbrachte. Er war es, der in Begleitung einiger vertrauter Freunde auf dem Weg war, dieses Opfer zu erbringen.

Augustus ließ sich von ihnen in seiner Sänfte tragen, denn er war alt, und es war beschwerlich für ihn, die lange Treppe zum Kapitol hinaufzusteigen. Er selbst hielt den Käfig mit den Tauben, die als Opfer dienen sollten. Keine Priester, Soldaten oder Senatoren begleiteten ihn, nur seine engsten Freunde. Fackelträger gingen vor ihm her, um den Weg in der Dunkelheit zu erhellen, und hinter ihm folgten die Sklaven, die das Dreibein, die Messer, die Holzkohle, das heilige Feuer und all die anderen Dinge trugen, die für das Opfer notwendig waren.

Unterwegs unterhielt sich der Kaiser fröhlich mit seinen treuen Anhängern, und so bemerkte keiner von ihnen die unendliche Stille und Ruhe der Nacht. Erst als sie den höchsten Punkt des Kapitols und die freie Stelle erreicht hatten, die sie für die Errichtung des Tempels in Betracht gezogen hatten, bemerkten sie, dass etwas Ungewöhnliches geschah.

Es konnte keine Nacht wie alle anderen sein, denn am Rande des Felsens sahen sie das erstaunlichste Wesen, das sie jemals gesehen hatten! Zuerst dachten sie, es sei ein alter, verhutzelter Olivenstamm; später meinten sie, dass eine alte Steinstatue aus dem Tempel des Jupiters auf den Felsen herausgelaufen sei. Schließlich wurde ihnen klar, dass es nur die alte Hexe sein konnte.

Sie hatten noch nie etwas so Altes, Wettergegerbtes und Riesiges gesehen. Diese alte Frau war ehrfurchtgebietend! Wäre der Kaiser nicht anwesend gewesen, hätten alle die Flucht ergriffen.

"Sie ist es", flüsterten sie einander zu, "die schon so viele Jahre gelebt hat, wie es an unserer Küste Sandkörner gibt. Warum ist sie gerade heute Nacht aus ihrer Höhle gekommen? Was sagt sie dem Kaiser und dem Reich voraus – sie, die ihre Prophezeiungen auf die Blätter der Bäume schreibt und weiß, dass der Wind die Worte des Orakels zu der Person tragen wird, für die sie bestimmt sind?"

Sie hatten solche Angst, dass sie sofort auf die Knie gefallen wären, wenn sich die Hexe bewegt hätte. Aber sie saß so still da, als wäre sie leblos. Sie hockte am äußersten Rand des Abhangs, schattierte ihre Augen mit der Hand und blickte in die Nacht hinaus. Sie saß da, als wäre sie auf den Hügel hinaufgegangen, um deutlicher sehen zu können, was weit weg geschah. Sie konnte selbst in einer Nacht wie dieser Dinge sehen!

In diesem Moment erkannten der Kaiser und sein ganzes Gefolge, wie tief die Dunkelheit war. Keiner von ihnen konnte eine Handbreit vor sich sehen. Und welche Ruhe! Was für eine Ruhe! Nicht einmal das dumpfe Rauschen des Tibers konnten sie hören. Die Luft schien sie zu ersticken, kalter Schweiß brach auf ihren Stirnen aus, und ihre Hände wurden taub und kraftlos. Sie fürchteten, dass eine schreckliche Katastrophe drohte.

Aber niemand wollte zeigen, dass er Angst hatte, und alle sagten dem Kaiser, dass dies ein gutes Zeichen sei. Die ganze Natur hielt den Atem an, um einen neuen Gott zu begrüßen.

Sie rieten Augustus, sich mit dem Opfer zu beeilen, und sagten, dass die alte Hexe ganz offensichtlich aus ihrer Höhle gekommen sei, um seinen überragenden Geist zu preisen.

Die Wahrheit war aber, dass die alte Hexe so in eine Vision vertieft war, dass sie nicht einmal bemerkte, dass Augustus zum Kapitol gekommen war. In ihrem Geiste war sie in ein weit entferntes Land transportiert worden, wo sie über eine ausgedehnte Ebene wanderte. In der Dunkelheit stieß sie mit ihrem Fuß ständig an etwas, das sie für Grasbüschel hielt. Sie beugte sich nach unten und fühlte mit der Hand. Nein, es war kein Gras, es waren Schafe. Sie lief zwischen großen, schlafenden Schafherden hindurch.

Dann bemerkte sie das Feuer der Hirten. Es brannte in der Mitte des Feldes, und sie tastete sich zu ihm durch. Die Hirten schliefen am Feuer, und neben ihnen lagen die langen, mit Dornen besetzten Stäbe, mit denen sie ihre Herden vor den wilden Tieren verteidigten. Aber diese kleinen Tiere mit den glitzernden Augen und den buschigen Schwänzen, die sich zum Feuer stahlen, waren das nicht Schakale? Und doch griffen die Hirten sie nicht mit ihren Stöcke an, die Hunde schliefen weiter, die Schafe flohen nicht, und die wilden Tiere legten sich neben den Menschen zur Ruhe.

Das war es, was die Hexe sah, aber sie bekam nichts von dem mit, was auf dem Hügel hinter ihr passierte. Sie merkte nicht, dass man dort einen Altar errichtete, Holzkohle anzündete und Weihrauch verteilte, und dass der Kaiser eine der Tauben aus dem Käfig nahm, um sie zu opfern. Aber seine Hände waren so gefühllos, dass er den Vogel nicht halten konnte. Mit einem Schlag ihrer Flügel befreite sie sich und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

Als dies geschah, blickten die Höflinge misstrauisch auf die alte Hexe. Sie glaubten, dass sie es gewesen war, die das Missgeschick verursacht hatte.

Wie sollten sie auch wissen, dass die Hexe die ganze Zeit der Meinung war, neben dem Feuer der Hirten zu stehen und ein leises Geräusch zu hören, das die stille Nacht erzittern ließ? Sie hörte es lange bevor sie bemerkte, dass es nicht auf der Erde, sondern im Himmel seinen Ursprung hatte. Schließlich hob sie den Kopf nach oben, wo sie Licht sah und schimmernde Gestalten, die sich in der Dunkelheit bewegten. Es waren kleine Scharen von Engeln, die, freudig singend und offenbar etwas suchend, über der weiten Ebene hin und her flogen.

Während die Hexe dem Lied der Engel lauschte, bereitete sich der Kaiser auf ein neues Opfer vor. Er wusch seine Hände, reinigte den Altar und nahm die andere Taube. Aber obwohl er seine ganze Kraft aufbrachte, um sie festzuhalten, glitt ihm der rutschige Körper der Taube aus der Hand, und der Vogel schwang sich fort in die undurchdringliche Nacht.

Der Kaiser war entsetzt! Er fiel auf die Knie und betete zu den Göttern. Er flehte sie um die Kraft an, die er brauchen würde, um die Katastrophen abzuwenden, die diese Nacht anzukündigen schien.

Aber auch das hörte die Hexe nicht. Sie lauschte mit ganzer Seele dem Lied der Engel, das immer lauter wurde. Schließlich wurde es so laut, dass die Hirten aufwachten. Sie lehnten sich auf ihre Ellbogen und sahen leuchtende Heerscharen silberweißer Engel, die sich wie Zugvögel in langen, sich hin- und herbewegenden Linien in der Dunkelheit bewegten. Einige hielten Lauten und Becken in den Händen, andere Zithern und Harfen, und ihr Lied erklang so fröhlich wie Kinderlachen und so sorglos wie das Trillern der Lerche. Als die Hirten das hörten, standen sie auf, um in die Bergstadt zu gehen, wo sie lebten, um dort von dem Wunder zu erzählen.

Sie tasten sich auf einem schmalen, gewundenen Pfad vorwärts, und die Hexe folgte ihnen. Plötzlich wurde es dort oben auf dem Berg hell: Ein großer, heller Stern entflammte direkt darüber, und die Stadt auf dem Berggipfel glitzerte wie Silber im Sternenlicht. All die wogenden Engelsscharen eilten dorthin und jubelten vor Freude, und die Hirten beeilten sich so sehr, dass sie fast anfingen zu rennen. Als sie die Stadt erreichten, bemerkten sie, dass sich die Engel über einem niedrigen Stall in der Nähe des Stadttores versammelt hatten. Es war ein erbärmlicher Bau, mit einem Dach aus Stroh und dem nackten Felsen als Rückwand. Darüber hing der Stern, und immer mehr Engel strömten dorthin. Einige setzten sich auf das Strohdach oder kletterten auf die steile Bergwand hinter dem Haus, andere wiederum hielten sich mit ausgebreiteten Flügeln in der Luft und schwebten über dem Stall. Hoch, hoch oben, erhellten ihre leuchtenden Flügel die Luft.

In dem Moment, als der Stern über der Bergstadt zu leuchten begann, erwachte die ganze Natur, und die Männer, die auf dem Kapitol standen, kamen nicht umhin, als ihn auch zu sehen. Sie fühlten sich erfrischt, als ob sie ein durch den Raum streifender Wind liebkosen würde; köstliche Düfte strömten um sie herum; Bäume wiegten sich; der Tiber begann zu rauschen, die Sterne zu funkeln, und plötzlich ragte der Mond am Himmel hervor und erleuchtete die Welt. Und aus den Wolken kamen kreisend die beiden Tauben herab und landeten auf den Schultern des Kaisers.

Als dieses Wunder geschah, stand Augustus stolz und glücklich auf, aber seine Freunde und seine Sklaven fielen auf die Knie.

"Heil dir, Cäsar!", riefen sie. "Die Götter haben dir geantwortet. Du bist der Gott, der auf dem Kapitol angebetet werden soll!"

Und dieser Huldigungsruf, den die Männer ihrem Kaiser als Tribut zollten, war so laut, dass die alte Hexe ihn hörte. Er weckte sie aus ihren Visionen. Sie stand von ihrem Platz am Rande des Felsens auf und ging herab zu den Leuten. Es war, als wäre eine dunkle Wolke aus dem Abgrund aufgetaucht, die nun über den Berghang auf sie herabkam. Ihr extremes Alter ließ sie furchteinflößend aussehen! Verfilzte Haarfetzen hingen um ihren Kopf herum, ihre Gelenke waren verknöchert, und die dunkle Haut, hart wie die Rinde eines Baumes, bedeckte ihren Körper, Furche auf Furche folgend.

Mächtig und ehrfurchtgebietend kam sie dem Kaiser entgegen. Mit einer Hand packte sie sein Handgelenk, mit der anderen zeigte sie auf den fernen Osten.

"Schau!", befahl sie, und der Kaiser erhob die Augen und schaute. Das Himmelsgewölbe öffnete sich vor seinen Augen, und sein Blick wanderte in den fernen Orient. Er sah einen niedrigen Stall hinter einer steilen Felswand, und in der offenen Tür knieten ein paar Hirten. Im Stall sah er eine junge Mutter, die vor einem kleinen Kind kniete, das auf einem Strohbündel auf dem Boden lag.

Und die großen, knorrigen Finger der Hexe zeigten auf das arme Baby. "Heil, Caesar!", rief sie, ein Ausbruch verächtlichen Gelächters. "Da ist der Gott, der auf dem Kapitol verehrt werden soll!"

Da wich Augustus vor ihr zurück, als sei sie eine Wahnsinnige. Aber die Hexe wurde vom mächtigen Geist der Prophezeiung ergriffen. Ihre trüben Augen begannen zu brennen, ihre Hände waren zum Himmel gestreckt, ihre Stimme so verändert, dass es nicht mehr ihre eigene zu sein schien; sie erklang mit solcher Resonanz und Kraft, dass sie auf der ganzen Welt zu hören war. Und sie sprach Worte, die sie unter den Sternen zu lesen schien.

"Auf dem Kapitol soll der Erlöser der Welt verehrt werden – Christus – , aber nicht sterbliche Menschen."

Als sie das gesagt hatte, ging sie an den vor Schreck starren Männern vorbei, langsam den Berg hinunter und verschwand.

Am nächsten Tag verbot Augustus dem Volk strengstens, ihm auf dem Kapitol einen Tempel zu bauen. An seiner Stelle baute er ein Heiligtum für das neugeborene Gotteskind und nannte es den "Himmelsaltar" – Ara Cœli.


 

DER BRUNNEN DER WEISEN

 

Im alten Judäa kroch die Dürre, hager und mit hohlen Augen, zwischen verdorrten Disteln und vergilbtem Gras umher.

Es war Sommerzeit. Die Sonne brannte auf den Rücken unbeschatteter Hügel nieder, und der kleinste Windhauch entriss dem grauweißen Boden dicke Wolken aus Kalkstaub. Die Herden standen zusammengedrängt in den Tälern, an den ausgetrockneten Bächen.

Die Dürre ging überall herum und betrachtete die Wasservorräte. Sie wanderte hinüber zu den Teichen des Salomo und seufzte, als sie sah, dass sich darin immer noch eine kleine Menge Wasser aus ihren Bergquellen befand. Dann ging sie weiter zum berühmten Davidsbrunnen, in der Nähe von Bethlehem, und fand selbst dort noch Wasser. Schließlich trampelte sie schlurfend die große Fernstraße hinauf, die von Bethlehem nach Jerusalem führte.

Als sie etwa auf halbem Weg war, sah sie den Brunnen der Weisen, der in der Nähe des Straßenrandes stand. Sie sah auf einen Blick, dass er fast trocken war. Dann setzte sie sich auf die Umrandung, die aus einem einzigen, ausgehöhlten Stein bestand, und blickte in den Brunnen. Der glänzende Wasserspiegel, den man normalerweise oben an der Öffnung sah, war tief hinab gesunken, und der Schmutz und der Schlick am Boden des Brunnens machten ihn schlammig und dreckig.

Als der Brunnen das bronzefarbene Gesicht der Dürre sah, das sich in seinem eingetrübten Wasser widerspiegelte, zitterte er vor Angst.

"Ich frage mich, wann du leer sein wirst", sagte die Dürre. "Sicherlich erwartest du nicht, dort unten in der Tiefe eine Süßwasserquelle zu finden, die dir neues Leben einhauchen wird; und was den Regen betrifft – gelobt sei Gott!, davon wird in den nächsten zwei oder drei Monaten keine Rede sein."

"Du kannst dich zufrieden geben", seufzte der Brunnen, "denn nichts kann mir jetzt noch helfen. Es würde nichts weniger als eine Quelle aus dem Paradies brauchen, um mich zu retten!"

"Dann will ich dich nicht im Stich lassen, bis der letzte Tropfen versiegt ist", sagte die Dürre. Sie sah, dass sich der alte Brunnen seinem Ende näherte, und wollte das Vergnügen haben, ihn Tropfen für Tropfen sterben zu sehen.

Sie setzte sich bequem auf den Rand des Brunnens und freute sich zu hören, wie dieser dort unten in der Tiefe seufzte. Es freute sie auch sehr, den durstigen Reisenden zuzusehen, die zum Rand des Brunnens kamen, den Eimer herunterließen und ihn mit nur wenigen Tropfen schlammigen Wassers wieder heraufzogen.

So verging der ganze Tag; und als sich die Dunkelheit herabsenkte, schaute die Dürre erneut in den Brunnen. Da unten schimmerte noch etwas Wasser. "Ich werde die ganze Nacht hier bleiben", rief sie, "also keine Eile! Wenn es wieder so hell wird, dass ich noch einmal herunterschauen kann, bin ich sicher, dass dein Ende gekommen sein wird."

Die Dürre machte es sich am Rande des Brunnens gemütlich, während sich die heiße Nacht, die noch grausamer und quälender war als der Tag, auf Judäa legte. Hunde und Schakale heulten unaufhörlich, und durstige Kühe und Esel antworteten ihnen aus ihren muffigen Ställen.

Als die Brise ab und zu ein wenig auflebte, brachte sie keine Erfrischung mit sich, sondern war so heiß und erstickend wie der keuchende Atem eines großen, schlafenden Monsters. Die Sterne strahlten so prächtig wie nie, und ein kleiner, silbriger Neumond warf ein hübsches blaugrünes Licht über die grauen Hügel. Und in diesem Licht sah die Dürre eine große Karawane kommen, die auf den Hügel zusteuerte, wo sich der Brunnen der Weisen befand.

Die Dürre saß da, betrachtete die lange Prozession und erfreute sich erneut an dem Gedanken an all den Durst, der zum Brunnen kommen und keinen einzigen Tropfen Wasser finden würde, mit dem man ihn löschen konnte. Da waren so viele Tiere und Treiber, dass sie den Brunnen leicht hätten leeren können, selbst wenn er ziemlich voll gewesen wäre. Plötzlich fiel ihr auf, dass diese Karawane, die in der Nacht vorwärts marschierte, etwas Ungewöhnliches, etwas Geisterhaftes an sich hatte. Zuerst kamen auf einem Hügel, der hoch und deutlich am Horizont aufragte, alle Kamele in Sicht; es war, als wären sie direkt vom Himmel herabgekommen. Sie schienen auch größer zu sein als gewöhnliche Kamele und trugen die enormen Lasten, die auf ihnen lagen, mit großer Leichtigkeit.

Dennoch verstand die Dürre nichts von dem, was sie sah – außer, dass die Tiere absolut echt waren, denn für sie waren sie so schlicht, wie Kamele eben sind. Sie konnte sogar erkennen, dass die drei vordersten Tiere Dromedare mit grauer, glänzender Haut waren, prächtiges Zaumzeug und herrliche Sättel trugen, mit Fransen gesäumt, und von stattlichen, edel aussehenden Rittern geritten wurden.

Die ganze Prozession hielt am Brunnen an. Mit drei kurzen Rucken legten sich die Dromedare auf den Boden, und ihre Reiter stiegen ab. Die Lastenkamele blieben stehen, und als sie sich versammelten, schienen sie eine lange Reihe von Hälsen, Höckern und merkwürdig gestapelten Bündeln zu bilden.

Sofort gingen die Reiter auf die Dürre zu und begrüßten sie, indem sie ihre Hände auf ihre Stirnen und Brüste legten. Sie sah, dass sie strahlend weiße Gewänder und riesige Turbane trugen, auf deren Vorderseite sich jeweils ein heller, glitzernder Stern befand, der leuchtete, als wäre er direkt dem Himmel entnommen worden.

"Wir kommen aus einem fernen Land", sagte einer der Fremden, "und wir bitten dich, uns zu sagen, ob dies wirklich der Brunnen der Weisen ist?"

"Er wird heute noch so genannt", sagte die Dürre, "aber schon morgen wird es hier keinen Brunnen mehr geben. Er wird heute Nacht noch sterben."

"Das verstehe ich, nachdem ich dich hier sehe", sagte der Mann. "Aber ist das nicht einer der heiligen Brunnen, die nie austrocknen?, oder woher hat er seinen Namen?"

"Ich weiß, dass er heilig ist", sagte die Dürre, "aber wozu soll das gut sein? Die drei Weisen sind längst im Paradies."

Die drei Reisenden tauschten Blicke aus. "Kennst du wirklich die Geschichte dieses alten Brunnens?", fragten sie.