3. Wer wir waren

»Wenn man sich nur in die Blüten und nicht in die Wurzeln eines Menschen verliebt, weiß man ab Herbst nicht mehr, was man tun soll.« Tattva Viveka

Doc P. rät mir, mich mit Trauma-Phänomenen zu beschäftigen. Mit den alten und neuen Kratern, die sich in Menschen auftun können.

»Wenn etwas geschieht, das meine normalen Bewältigungsfähigkeiten übersteigt, ist das, als explodiere eine Handgranate im Gehirn«, sagt der Psychotherapeut Hans Hopf über die Folgen von Traumata. »Ich bin zunächst davon befreit, aber die Splitter werden mich von nun an schmerzen, wann immer sie wollen. Das sind die posttraumatischen Belastungsstörungen, z.B. Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depressionen.«

Als mein Mann und ich uns trafen, schienen wir, oberflächlich betrachtet, frei von den Splittern alter Schlachten und bereit für eine neue Liebe zu sein.

Er hatte vor vielen Jahren Politikwissenschaft in Westberlin studiert, ich Kulturwissenschaft in Ostberlin, und wir hatten uns eine Menge zu erzählen. Beide kamen wir aus Ehen und langjährigen engen Beziehungen, beide hatten wir erwachsene oder fast erwachsene Kinder. Die Aussichten waren sonnig, der Himmel blau, die Liebe groß. Dass ein Online-Partnerschaftsportal nachgeholfen hatte, schmälerte nicht im Geringsten die überraschende Intensität unserer Begegnung. Vollkommen euphorisiert und geborgen in dem Gefühl, nun endlich den Menschen fürs Leben gefunden zu haben, machten wir uns daran, eine Patchworkfamilie zu stricken, in der es allen gutgehen sollte. Wir zogen zusammen, kümmerten uns um unsere alten Eltern, unterstützten die erwachsenen Kinder und sorgten für meine Tochter, die gerade begann, ihre Füße auf den schwankenden Boden der Pubertät zu setzen. Wir sprachen, vögelten, reisten viel, versicherten uns unentwegt, wie erstaunlich glücklich wir seien, und heirateten recht bald, mit einem großen, unvergesslichen Fest. Wir liebten das Gefühl, füreinander die Retter aus alten Nöten und tiefem Kummer zu sein. Nach knapp zwei Jahren waren wir das erste Mal am Ende.

Blicken wir auf unsere Eltern – kriegstraumatisierte Menschen, verfangen in schwierigen Ehen –, sehen wir überdeutlich, welches Beispiel uns vorgelebt wurde. Die Sozialwissenschaftlerin Margarete Stokowski schreibt sehr treffend: »Sicherheit, Stabilität und Sauberkeit waren die Antwort auf das Chaos des Krieges.«

Unsere Eltern in Ost wie West arbeiteten viel und schauten kaum zurück. Mein Mann, knapp zehn Jahre nach Kriegsende geboren, litt, wie auch ich, zu Hause keinen physischen Hunger. Man sorgte für uns, so gut es ging, aber unsere Eltern hatten vornehmlich mit sich selbst zu tun. Mein Schwiegervater hatte als Soldat im Krieg Unaussprechliches gesehen, meine Mutter eine schwer traumatisierende Flucht aus Pommern hinter sich. Viele Verwandte waren tot oder vermisst, familiäre Wurzeln ausgerissen. Man versuchte, das Grauen zu verdrängen und die Angst zu beherrschen, und war damit vollauf beschäftigt. Da war wenig Raum für die Lebendigkeit von Kindern. Schon gar nicht für ihre Lautstärke, ihre Anarchie, ihren Kummer, ihre Ängste, ihre Intensität. Unsere Eltern waren im Rahmen ihrer Möglichkeiten liebevoll, aber nicht wirklich fähig, uns adäquat seelisch zu versorgen. Das waren ihre »Granatsplitter«, von denen Hopf spricht.

Und so wurden wir typische Kinder der Kriegsgeneration: fortwährend darum bemüht, unsere Eltern zu trösten, ihre Stimmungen zu erahnen, wenn auch ihnen und uns völlig unbewusst. Ich werde bis heute das Gefühl nicht los, dass es meine Schuld ist, wenn nicht permanent alle happy sind. Was sie nicht sind; und auch nicht sein können, selbst wenn ich mich noch so sehr anstrenge. Denn immerzu schraube ich mit den falschen Werkzeugen an der falschen Aufgabe herum. Und werde wütend, wenn es nicht klappt.

Genauso ging es uns nach gut zwei Jahren Beziehung. Die tief verinnerlichte, falsche Verpflichtung, so eine Art Hausmeister in der Seele des anderen zu sein, verantwortlich für die Abteilung Lebensglück, fiel uns auf die Füße. Es funktionierte nämlich nicht.

Mein Mann wurde stumm, und ich wurde laut.

Das wiederum erschreckte ihn zutiefst. Er flüchtete zum ersten Mal für ein paar Monate, kam jedoch zurück, und ab jetzt wollten wir es so richtig richtig machen. Nur: Beschlüsse und Erkenntnisse sind das eine; und das andere ist (jaaaa, an dieser Stelle dürfen alle, die das liebesfremd finden, laut aufheulen) hard work. Und damit ist eben nicht das Klempnern am anderen gemeint, wie ich insgeheim lange dachte, sondern an sich selbst. Günstig ist es, die Zwischenergebnisse hin und wieder mal abzugleichen, wenn man ein Paar bleiben will. Das versuchten wir, aber im Rückblick kommt mir der Verdacht, dass wir dabei nie ganz ehrlich waren.

Wir wollten, dass es schön ist. So lange, bis es schrecklich wurde.

Je mehr ich mit der Zeit das Gefühl verlor, seine engste Vertraute zu sein, umso mehr zerrte ich an ihm. Die Schmerzen der ersten temporären Trennung waren mir noch lebhaft in Erinnerung – so etwas wollte ich bitte auf keinen Fall noch mal mitmachen müssen. Und wie ein Kind, das sich die Ohren zuhält und laut vor sich hin trällert, kämpfte ich die inneren Stimmen nieder, die mich warnten und immer wieder mehr oder minder höflich darauf hinwiesen, dass mit uns etwas ganz und gar nicht stimmte. Unsere Gespräche wurden allmählich zu einer wirren Selbstbespiegelung aus These und Antithese, wir stritten um Sinnloses und beklagten uns heimlich bei Freunden übereinander. Und immer häufiger sprach mein Mann von einer neuen, interessanten Bekannten …