»Sie dachte über die seltsame Tatsache nach, dass sieben Milliarden Menschen nicht von einem Lebenszeichen von ihm abhängig waren.« Lena Andersson, Widerrechtliche Inbesitznahme
Jola hat seit meinem Trennungsabend ihr Telefon nicht mehr ausgeschaltet und nimmt jeden Anruf von mir entgegen, egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Sie ist eine meiner ältesten Freundinnen, kennt mich besser als jede andere und wollte doch kaum glauben, was in meinem Leben gerade passierte. Ihre letzte Trennung liegt drei Jahre zurück. Genug Zeit, um Abstand zu finden und nun der erheblich verstörten Freundin zur Seite zu stehen. Jola ist, wie ich, ein Fan von Ratgeberliteratur und versorgt mich mit Büchern, Zeitungsausschnitten und Hab-ich-grade-im-Netz-gelesen-Zitaten. Zunächst aber leistet sie Erste Hilfe, denn ich befinde mich im Ausnahmezustand.
Glaubt man einem Psychotraumatologen, sollte etwa zwei, spätestens aber vier Wochen nach einem traumatischen Erlebnis die sogenannte Erholungsphase eintreten: Die Dauererregung klingt ab, und man schaut wieder positiver in die Zukunft. Sowohl aus meiner persönlichen als auch aus meiner beruflichen Erfahrung als Therapeutin handelt es sich hier eher um einen frommen Wunsch. Nach dem Zusammenbruch wichtiger Lebenspläne, wenn man vor dem Scherbenhaufen einer eigentlich auf Dauer angelegten Beziehung steht, nach dem Verschwinden eines Geliebten, was immer auch wuchtige Kränkung durch Zurückweisung bedeutet, muss man sich auf viel längere Zeiträume einstellen, bis tatsächlich ernsthaft so etwas wie Erleichterung spürbar ist. Das gilt selbst bei Beziehungen, in denen so gut wie gar nichts mehr stimmte, denn die Endgültigkeit und das Folgenreiche der neuen Situation haben etwas Gewaltsames. Splattermovie eben.
Auch bei mir ließ die Erholungsphase bedauerlicherweise auf sich warten. Ich war ungeduldig und dauerbeunruhigt, denn ich wollte auf keinen Fall zu einem chronifizierten Trennungsopfer mutieren. Diese leiden, wie ich wusste, unter Vermeidungsverhalten (»Nein, ich mache diesen Brief nicht auf«, oder: »Auf keinen Fall kann ich dieses Restaurant jemals wieder betreten, denn hier haben wir uns kennengelernt« etc. pp.). Ständige Flashbacks der zentralen Trennungsszene sorgten für ein anhaltend hohes Erregungsniveau. Körper und Seele waren in heller Panik. Das war kein Dauerlauf mehr, das war der Ironman in Endlosschleife, genannt Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).
Der akute Schock hielt in meinem Fall volle acht Wochen an.
Da saß ich nun in unserer ehemals gemeinsamen Wohnung und erlebte die Abwesenheit meines Mannes, als fehlte mir eine chemische Substanz. Da er sich entzog, musste ich entziehen. Das war nicht nur ein Bild, wie ich nun wusste, sondern ein in meinem Körper tobender biochemischer Vorgang. Ich outete mich mir selbst gegenüber als Beziehungsjunkie und sah mich schon in der entsprechenden Selbsthilfegruppe. Szenario: Ein dünnes Stimmchen entringt sich mir, der Neuen in der Runde: »Hallo, ich bin Ulrike, und ich bin abhängig.« Chor zurück: »Willkommen, Ulrike!«
Bestimmte Botenstoffe, die während meiner Ehe, als sie noch glückte, reichlich unterwegs waren (o selige, engelsgleiche Dopamine!), fehlten nun, stattdessen Krawall der Adrenaline so weit das Nervensystem reichte. Sie entpuppten sich weiterhin als die Hooligans unter den Hormonen, randalierten, feuerten, malträtierten meine Nebennieren. Und wie mein Doc schon angekündigt hatte, ließen sie sich einfach nicht abbauen. Mir wurde geraten, wieder zu joggen. Angesichts der Tatsache, dass ich in dieser Zeit die zwei halben Treppen zu meiner Wohnung nur unter Aufbietung eines letzten Rests an Würde nicht auf allen vieren erklomm, das reinste Wunschdenken.
Spätestens seit Wir Kinder vom Bahnhof Zoo weiß auch der behütetste Mensch zumindest theoretisch, dass Junkies in der Lage sind, ihre eigene Oma auszurauben, wenn sie Stoff brauchen. Ich kann das nur bestätigen. Es gab Momente, da ich für ein kleines bisschen Erleichterung die Seelen oder doch zumindest die Schnuller meiner Enkelkinder vertickt hätte.
Mein Zuhause war zu einem Minenfeld der Erinnerungen geworden. In jeder Schublade drohten Verletzungen. Den Briefkasten öffnete ich mit der Konzentration einer Sprengstoffexpertin. Der kleinste Fehler konnte meine mühsam bewahrte Fassung gefährden.
Süchtige auf Entgiftungsstationen und in Selbsthilfeeinrichtungen wie Synanon stehen bekanntermaßen zunächst unter ständiger Aufsicht, um das Risiko eines Rückfalls zu minimieren. Instinktiv verordnete ich mir tagsüber so viel Gesellschaft wie möglich. Ich traf Freundinnen in den umliegenden Cafés, um der Leere der Wohnung zu entgehen. Doch auch dort kam es regelmäßig vor, dass ich in Tränen ausbrach. Einmal überreichte mir eine Kellnerin einen frisch gepressten Orangensaft mit den Worten: »Der geht aufs Haus. Alles wird wieder gut!« Als ich allerdings eines Tages um zehn Uhr morgens ungefragt einen Cognac »von dem Herrn am Fenster« spendiert bekam, erkannte ich, dass mein Zustand noch zu fragil für die scharfen Augen der Nachbarschaft war.
Nachts zog ich für ein paar Wochen in das Zimmer meiner erwachsenen Tochter. So konnte ich in den dunkelsten Momenten, wenn sich der Schlaf nach drei bis vier unruhigen Stunden schon wieder verabschiedet hatte, ihrem Atem lauschen und weiter an liebevolles Leben auf der Erde glauben.
Ihre nächtliche Nähe hielt mich auch davon ab, im Übermaß zu Substituten zu greifen. Aber wer kennt in so einer Situation schon das richtige Maß … Ich gehe davon aus, dass mein Weinhändler in der ersten Zeit nach meiner Trennung das Geschäft seines Lebens machte und ich als »Kundin des Jahres« in die Geschichte des Unternehmens eingehen werde. Dennoch war es so wie immer bei echtem Kummer: Der Alkohol machte alles nur noch schlimmer. Er war ja auch nicht das, was ich wollte, sondern ein mieser, flüchtiger Ersatz.
Wenn andere Süchtige ihren Substanzentzug abbrechen wollen, wenden sie sich, je nachdem, an die nächste Apotheke, den Spätverkauf oder die Jungs mit den Tütchen am Bahnhof. Es wird nicht lange dauern, bis sie diesen Schritt bitter bereuen, aber für eine gewisse Zeit ist die Erleichterung gigantisch.
Im Trennungsfall allerdings ist die Beschaffung der Droge kompliziert bis unmöglich. So gerne ich zeitweise den Entzug abgebrochen hätte – es lag absolut nicht in meiner Hand. Mein Mann war weg und meldete sich nicht bei mir. Je schneller ich das begriff, je eher ich nicht immer wieder im Gefängnis landete, ohne vorher über Los zu gehen, umso besser. Erzählte mir jemand von meinem Mann, fühlte ich mich jedes Mal wie ein hungriger Hund vor dem Fleischerladen. Als eine Bekannte berichtete, sie habe ihn gesehen, und er habe fröhlich gewirkt, plagten mich tagelang Bauchschmerzen.
Eine Therapeutenkollegin riet mir zu totaler Kontaktsperre. In Fällen wie meinem ist ja leider davon auszugehen, dass der andere erleichtert und nicht im Geringsten mit so viel Schmerz unterwegs ist wie man selbst. Erreichen ihn nun verzweifelte, vorwurfsvolle, wütende, traurige oder wie auch immer geartete Nachrichten, fühlt er sich verfolgt und angegriffen. Oder spürt sein schlechtes Gewissen. Oder bekommt Angst. Oder Ärger mit der Neuen. Oder alles gleichzeitig. Nicht gerade das, wovon Männer träumen. Schon gar nicht, wenn sie die Flucht der Auseinandersetzung vorgezogen haben.
Der Neuverliebte wird vielleicht auf Kontaktversuche reagieren, aber niemals in der Weise, wie wir uns das wünschen. Kann er gar nicht! Weil wir ihn ungünstigerweise gerade dann am dringlichsten erreichen wollen, wenn er gerade am dringlichsten wegwill.
Verzweiflung ist die mieseste PR-Beraterin, die man sich denken kann. Eine selbstauferlegte Kontaktsperre ist der beste Selbstschutz. Mit nackten Füßen malerisch in den Scherben zu tanzen verschafft vielleicht für Sekunden Erleichterung, muss aber blöderweise mit tagelangem Schmerz bezahlt werden. Woran ich auch dachte, was ich mir auch ausmalte, um dem Druck und der Angst Paroli zu bieten, die Hooliganhormone zu besänftigen, die Schwärze der Nächte wenigstens etwas aufzuhellen – es auszuleben hätte mich immer wieder zurückgeworfen.
Ich hämmerte mir also entsprechende Leitlinien ein, die da lauteten:
Das Drama NICHT anheizen.
NICHT anrufen, egal, wie empört man ist.
NICHT simsen, egal, wie traurig man ist.
NICHT mailen, egal, wie betrunken man ist.
NICHT!
Denn es kommt entweder keine Antwort (= Schmerz!) oder eine falsche Antwort (= Schmerz!!).
Leider verstieß ich ein paarmal gegen diese goldenen Regeln einer halbwegs würdevollen Trennung und hasste mich anschließend tagelang dafür. Auch das gehört zu den Umwegen, die ich mir durch einfaches Klappehalten hätte ersparen können. Zumal ich meinem Mann ja nicht mehr persönlich begegnete.
Es waren keine gemeinsamen Kinder im Spiel, über die man sich täglich hätte einigen müssen, und für die ersten technischen Abwicklungsvorgänge versuchten wir einen Modus zu wählen, der so sachlich und minimalistisch wie möglich war.
In einem Buch über Alkoholismus las ich einmal einen Satz, den ich nur sinngemäß zitieren kann und der für Abhängige aller Art gilt. Am liebsten hätte ich ihn mir auf den Arm tätowiert: »Man muss sich immer fragen, ob das, was man gerade vorhat, die eigene Nüchternheit gefährdet. Wenn ja, dann darf man es, was immer es ist, nicht tun.« Ich war auf Entzug. Nichts hätte ich lieber getan, als meine »Nüchternheit« zu beenden.